8.7 · Aortenaneurysma 8239
Akute Aortendissektion / Aortenaneurysma-Ruptur !
Symptomatik
Thorakales Aortenaneurysma (meist Aortendissektion):
• akuter Thoraxschmerz
• zuerst oft keine Schocksymptomatik, später Blutdruckabfall usw.
• häufig Verwechslung mit Myokardinfarkt oder Angina pectoris
• evtl. Blutdruckdifferenz zwischen rechtem und linkem Arm
Abdominelles Aortenaneurysma (Ruptur; häufiger):
• plötzlicher Bauchschmerz, Ausstrahlung (Rücken, Flanken oder Leisten)
• häufig Verwechslung mit Harnleiterkoliken
• evtl. pulsierender „Tumor“ im Abdomen tastbar
• evtl. Blutdruckabfall und Schocksymptomatik
Notfalltherapie
• Basischeck, Basismaßnahmen
• Achtung: Volumentherapie nur bei Blutdruckabfall/Schocksymptomatik!
• Untersuchung, Standardtherapie (venöser Zugang; Anlegen von Voll-
elektrolytlösung)
• Volumentherapie vor Schocksymptomatik kontraindiziert!
• Sichern mehrerer großlumiger venöser Zugänge!
• Bei Schock: aggressive Volumentherapie mit Vollelektrolytlösung und
kolloidalem Volumenersatzmittel!
• Versuch des Abdrückens der Aorta ist kontraindiziert! (Gefahr der freien
Perforation mit sofortigem Verbluten)
• Indikationsstellung zum Transport mit Sondersignal
• Abnahme von Kreuzblut (➯ Bluttransfusion)
Praxistipps
• Generell ist bei allen Formen aufgrund der Rupturgefahr höchste Eile gebo-
ten. Eine Volumentherapie sollte vorbereitet werden, darf aber nur bei einset-
zender Schocksymptomatik verordnet werden, da vorher durch Blutdruck-
erhöhung die Rupturgefahr vergrößert wird. Auch haben Manipulationen im
Bauchraum zu unterbleiben, weil auch hierdurch eine (freie) Ruptur ausgelöst
werden kann.
• Klinik mit Möglichkeit einer entsprechenden gefäßchirurgischen Opera-
tion anfahren.
• Sofern es der Patientenzustand erlaubt, sollte eine Narkoseeinleitung erst in der
Klinik auf dem OP-Tisch mit bereitem Chirurgen erfolgen (Wegfall der Eigen-
tamponade durch die Bauchdeckenspannung nach Gabe von Narkotika und
Relaxanzien).
Kardiozirkulatorische Notfälle 240 Kapitel 8 · Kardiozirkulatorische Notfälle
Lungenembolie
Verschluss der Lungenarterien oder ihrer Äste - Folgen:
Mechanische Verlegung der Lungenstrohmbahn ➯ Druckanstieg im kleinen
Kreislauf (akute Rechtsherzbelastung = akutes „Cor pulmonale“) ➯ Verminde-
rung der rechtsventrikulären Koronarperfusion ➯ Verminderung des Rück-
stromes zum linken Herzen, Blutdruckabfall ➯ Verschlechterung des
Ventilations-Perfusions-Verhältnisses mit Zunahme des funktionellen Tot-
raumes ➯ Hypoxämie, Schock
Ursachen
• Verschleppung von Thromben aus Bein-/Beckenvenen (90 % der Fälle)
• Fettembolien (selten !) meist 2 - 3 Tage (!) nach Frakturen von Becken- oder
langen Röhrenknochen oder im Verlauf eines protrahierten Schocks (Bildung
von Fettaggregaten aus den Blutfetten). Verdacht bei: Z.n. entspr. Verletzung o.
Operation und Tachykardie, Fieber und akuter Atemnot, petechialen Haut-
blutungen oder zentralnervösen Symptomen (Somnolenz, Verwirrtheit, Koma)
• Fruchtwasserembolie (s. S. 319)
• Luftembolie nach Eindringen von ungefähr 50 - 100 ml Luft in den venösen
Kreislauf bei Thoraxtrauma oder Eingriffen an herznahen Venen (Beachte: nied-
riger ZVD) oder in krimineller / suizidaler Absicht zugeführtes Luftvolumen
oder als Komplikation bei einer Abtreibung
Einteilung in Schweregrade (nach Grosser)
• Schweregrad I: kleine Embolie, geringe klinische Symptomatik, normaler
Blutdruck, normale Sauerstoffsättigung (Verschluss weniger peripherer Äste)
• Schweregrad II: submassive Lungenembolie (ungefähr 25 % der Lungen-
strombahn verlegt), anhaltende schwache klinische Symptomatik, eventuell
leicht erniedrigter Blutdruck, Sauerstoffsättigung normal, evtl. Hypokapnie
• Schweregrad III: massive Lungenembolie (z. B. Verlegung eines Pulmonal-
arterienastes), anhaltende schwere klinische Symptomatik, erniedrigter
Blutdruck, Sauerstoffsättigung erniedrigt, Hypokapnie - Letalität > 25 %
• Schweregrad IV: fulminante Lungenembolie (z. B. Verschluß des Pulmonal-
arterienhauptstammes oder mehrerer Lappenarterien), anhaltende schwer-
ste klinische Symptomatik, mit Schock, stark erniedrigter Blutdruck, stark
erniedrigte Sauerstoffsättigung - Letalität > 50 %
Bei ausgeprägter Zyanose, die sich trotz einwandfreier Beatmung (100 % O2)
nicht bessert, muss immer der Verdacht auf Lungenembolie entstehen!
Hauptziele der präklinischen Therapie
• Oxygenierung (Ausnutzung des Euler-Liljestrand-Reflexes)
• Analgesie und Anxiolyse (auch um den O2-Verbrauch zu senken)
• Verhinderung appositionellen Thrombuswachstums (Heparin)
8.8 · Lungenembolie 8241
Akute Lungenembolie !
Symptomatik
• Evtl. initialer Kollaps, Synkopen (15%)
• Plötzliche Atemnot (80%), Tachypnoe (80%), oft Zyanose (20-25%)
• Meist anamnestische Hinweise (nach Risikofaktoren fragen; vgl. S. 228)
• Puls tachykard (50%), Blutdruckabfall (bis hin zum Schock)
• Sauerstoffsättigung niedrig entsprechend den Ausmaßen der Embolie
• Unruhe, Angst (60 %), Schwindel, Hustenreiz (50%), evtl. Bluthusten (25%)
• atemabhängige Thoraxschmerzen (retrosternal, evtl. auch ausstrahlend - 70%)
• Bewusstseinsstörung bis Bewusstlosigkeit, zentralnervöse Symptome wie
Verwirrtheit, Koma usw. bei gleichzeitiger Fettembolie oder zerebraler Hypoxie)
• Zeichen der Rechtsherzbelastung (80%), z.B.:
- gestaute Halsvenen (akute Rechtsherzinsuffizienz)
- EKG: in mind. 10% der Fälle aussagekräftige Veränderungen, z.B.:
SIQIII-Typ (Mc-Ginn-White-Syndrom), RSB, Q und ST-Hebung in III und aVF,
ST-Hebung und terminalnegatives T in den rechtspräkordialen Ableitungen
(V1, V2, Vr3), Sinustachykardie (aber auch andere, z.B. Vorhofflimmern)
• feuchte, kühle Extremitäten; Schweißausbruch; bei massiver Embolie: auch
Bradykardie, Schocksymptomatik oder abrupter Herz-Kreislaufstillstand mgl.!
Notfalltherapie
• Basischeck, Basismaßnahmen, insbesondere maximale O2-Gabe (100%) !
• Untersuchung, Standardtherapie (keine i.m.-Injektionen: Verfälschung der
Enzymdiagnostik; Kontraindikation für eventuell bevorstehende Lysebehandlung)
• Schweregrad I / II:
- ggf. Analgetika, z. B. Morphin (2 - 5 mg i.v.) - Cave: Atemdepression!
- Antikoagulanzien, z. B. Heparin (10.000 I. E. initial i.v.;
dann 7,5 - 24 I. E. / kg KG / h i.v. über ein exaktes Dosiersystem)
- ggf. Benzodiazepine, z. B. Diazepam (5 - 10 mg i.v.) - Cave: Atemdepression!
• Schweregrad III / IV:
- ggf. Intubation u. Beatmung (100% O2!) - Cave: Möglichst lange darauf ver-
zichten (aber 100% O2 per Maske!); nach Intubation häufig Verschlechterung
(stärkere Rechtsherzbelastung; positiver Beatmungsdruck)! CPR-Bereitschaft!
- bei akutem Rechtsherzversagen:
- Blutdruck stabil halten (RCA-Perfusion!); z.B. Noradrenalin einsetzen
- Volumengabe! (im Gegensatz zur Herzinsuffizienz, s. a. S. 226)
- Bei dringendem V. a. Lungenembolie Grad IV (mit rechtsventr. Dekompen-
sation/ CPR-Bedingungen) ist auch ohne apparative Diagnostik die präkli-
nische Lysetherapie als Ultima Ratio (vgl. S. 216 f.) zu erwägen.
Zielklinik
• Die Zielklinik sollte auch bei hämodynamisch stabilen Pat. über die baldige
Möglichkeit zur Pulmonalis-Angiographie oder Spiral-CT verfügen; bei
schwerer Lungenembolie auch über eine Herz-Thorax-Gefäß-Chirurgie.
Kardiozirkulatorische Notfälle 242 Kapitel 8 · Kardiozirkulatorische Notfälle
Akuter venöser Verschluss
Verschluss einer Vene (komplett oder inkomplett) durch einen Thrombus; meist
sind die Extremitätenvenen (vor allem die Beinvenen) betroffen.
Ursachen (Virchowtrias)
1.Verletzung oder Veränderungen an der Gefäßinnenschicht
2.Veränderte Blutzusammensetzung (Viskositätserhöhung bei
Hämatokritanstieg)
3.Verminderte Strömungsgeschwindigkeit des Blutes (Stase, z.B. bei
Immobilisation durch Bettlägerigkeit)
Auslöser / begünstigende Faktoren
• Bettlägerigkeit (Immobilisation)
• Frakturbehandlung, Trauma
• Schwangerschaft
• Nikotingenuss
• Einnahme von Kontrazeptiva / Ovulationshemmern („Pille“)
• lokale Kompression von Venen, vor allem Beckenvenen, z. B. durch Tumor
Lokalisation
• meist Bein- oder Beckenvenenthrombosen
• V. cava (Hohlvene)
• V. subclavia / V. axillaris (Paget-von-Schroetter-Syndrom)
• Hirnvenen
Gefahr: Es besteht (vor allem bei der tiefen Bein- bzw. Beckenvenenthrombose)
die Gefahr der Thrombenverschleppung. Der losgelöste Thrombus wandert als
Embolus in die Lungenstrombahn (➯ akute Lungenembolie). Daher ist jede ak-
tive Bewegung des Patienten kontraindiziert. Der Patient darf auf keinen Fall
aufstehen oder zu Fuß zum Krankenwagen / Rettungswagen gehen !
Sonderform: Phlegmasia coerulea dolens; komplette Thrombosierung der ge-
samten Venen einer Extremität: Rasches Anschwellen der Extremität, zyanotische
Verfärbung, stärkste Schmerzen, arterielle Pulse nicht mehr tastbar (Rückstau
mit Behinderung des kapillären und arteriellen Blutflusses). Ausbildung von Ne-
krosen innerhalb von Stunden !
Klinische Therapie: Strenge Bettruhe, Antikoagulation (Heparin), ggf.
Lysetherapie, ggf. operative Thrombektomie
8.9 · Gefäßverschluss 8243
Akuter venöser Verschluss !
Symptomatik (periphervenöser Verschluss / Extremität)
• Schmerzen, Druckgefühl, Druckschmerz
• Schmerzlinderung bei Hochlagerung
• zunehmendes Schweregefühl der Extremität
• Rötung oder Zyanose
• warme Haut, evtl. Fieber
• Schwellung, Ödem (Differenz der Extremitätenumfänge)
• pralle Venenfüllung
• Fußsohlendruckschmerz, Wadenschmerz bei Dorsalreflexion des Fußes
Notfalltherapie
• Basischeck, Basismaßnahmen
• Lagerung: liegend; betroffene Extremität hochgelagert
• Ruhigstellung / strenge Bettruhe / Patient nicht aufstehen lassen !
• Untersuchung, Standardtherapie
• Medikamente:
• Antikoagulanzien, z. B. Heparin (initial 5.000 I.E. i.v.)
• ggf. Analgetika, z. B. ein Opiat wie Piritramid (0,1 - 0,2 mg / kg KG i.v.)
Vorsichtsmaßnahmen
• Während der Verschluss einer oberflächlichen Vene meist folgenlos bleibt, droht
bei Thrombosen tiefer venöser Gefäße eine Thrombusverschleppung mit der
Folge einer Lungenembolie. Daher ist die betroffene Extremität unbedingt
ruhigzustellen. Strenge Bettruhe!
Bewegung und Aufstehen sind zunächst kontraindiziert.
• Kein venöser Zugang an der betroffenen Extremität
Kardiozirkulatorische Notfälle 244 Kapitel 8 · Kardiozirkulatorische Notfälle
Akuter arterieller Verschluss
Ursachen
• Embolien (Verschleppung von Thromben, z. B. aus dem linken Herzvorhof
(bei Vorhofflimmern, Mitralklappenfehler usw.) oder von thrombotischen
Auflagen an den Arterienwänden bzw. an Herzwandaneurysmen)
• Akute arterielle Thrombose: arteriosklerotische Thrombenbildung,
Endarteriitis obliterans, Gefäßprothesen usw.
• Aneurysma dissecans mit Verlegung des Gefäßlumens
• Arterienspasmus (z. B. bei intraarterieller Injektion oder Arterienverletzung;
versehentliche Punktion; s. S. 40)
Merke: Ein akuter Gefäßverschluss bei gering ausgebildeten Kolateralkreisläufen
führt zu ischämischen Beschwerden am betroffenen Gewebe: Hypoxie, Azidose,
Nekrose.
Klinisches Bild
• Extremitäten: Ein akuter peripherer arterieller Verschluss führt zu der auf
der folgenden Seite dargestellten Symptomatik.
• Aorta: Mit plötzlichen Schmerzen in beiden Beinen und beidseits fehlenden
Leisten- und peripheren Fußpulsen mit entsprechenden neurologischen
Ausfällen wird Leriche-Syndrom genannt (schnelles gefäßchirurgisches
Eingreifen notwendig !).
• Mesenterialinfarkt: Angina abdominalis, Sofortschmerz, vor allem nach
Nahrungsaufnahme, mit anschließendem schmerzfreien Intervall und
danach beginnender Peritonitis-Symptomatik (s. Akutes Abdomen S. 290 ff.)
• Hirnarterien: s. TIA, PRIND, Apoplex (S. 198 ff.)
• Herzkranzarterien: s. Herzinfarkt (S. 214 ff.)
• Nierenarterien: Akutes Nierenversagen
Klinische Therapie
Antikoagulation mit Heparin, Fibrinolysetherapie, operative Embolektomie (me-
chanische Entfernung des Thrombus) mittels Katheter oder direkter
Thrombendarteriektomie; Hinweis: Auch Ausschalten der Emboliequelle !)
Die Zeitgrenze für ein Einschreiten bei kompletten Ischämiesymptomen an
den Extremitäten beträgt ungefähr 6 Stunden. Danach muss mit irreversi-
blen Schäden am betroffenen Gewebe gerechnet werden.
8.9 · Gefäßverschluss 8245
Akuter arterieller Verschluss !
Definition
Verschluss einer Arterie / Arteriole durch einen Embolus (z. B. aus dem Herzen, bei
Vorhofflimmern) oder durch Thrombenbildung. Im Extremitätenbereich findet
sich das Bild des akuten peripheren arteriellen Verschlusses.
Symptomatik
„6 x P“ nach Pratt (jeweils an der betroffenen Extremität):
• pain - Schmerzen (plötzlich, evtl. peitschenschlagartig einsetzend)
• paleness - Blässe, kühle Haut
• paraesthesia - Gefühls- und Bewegungsstörungen
• paralysis - Lähmungserscheinungen
• pulselessness - Fehlen des peripheren Pulses
• prostration - evtl. Schocksymptomatik
• evtl. Schmerzlinderung bei Tieflagerung der Extremität
• Tachykardie
Notfalltherapie
• Basischeck, Basismaßnahmen
• Lagerung: liegend in Abhängigkeit von der Kreislaufsituation; die betroffene
Extremität herunterhängen lassen (Förderung der Durchblutung)
• Ruhigstellung (jede Bewegung verursacht Schmerzen und schadet wegen
Sauerstoffverbrauch; keine Wärmeanwendung (Steigerung des O2-Bedarfes)
• Extremität umpolstern (wegen mangelnder Durchblutung entstehen eher
Druckschäden)
• Untersuchung, Standardtherapie
• Medikamente:
• Analgetika, z. B. ein Opiat wie Piritramid (0,1 - 0,2 mg / kg KG i.v.)
• Antikoagulanzien, z. B. Heparin (initial 5.000 I. E. i.v.)
• ggf. Benzodiazepine, z. B. Diazepam (5 - 10 mg i.v.)
Achtung
• Kein venöser Zugang an der betroffenen Extremität!
246 Kapitel 8 · Kardiozirkulatorische Notfälle
DD Akuter periphervenöser / peripherarterieller Verschluss
Akuter peripher- Akuter peripher-
arterieller Verschluss venöser Verschluss
blass Hautfarbe gerötet bis zyanotisch
der Extremität
kalt Hauttemperatur warm
der Extremität
nicht tastbar peripherer Puls tastbar
an der Extremität
schlecht Venenfüllung gut
an der Extremität
Kardiozirkulatorische Notfälle tief Lagerung hoch
der Extremität
keine Ödeme meist vorhanden
an der Extremität
plötzlich einsetzend, Schmerzen Druckschmerz
oft peitschenschlag-
in der Extremität
artiger Beginn
Kapitelübersicht 247 9
Chirurgische und traumatologische Notfälle
9.1 Verletzbare Strukturen ................................................ 248
Knochen: Frakturen ........................................ 248
Gelenke: Luxationen ....................................... 249
Weichteile / Gefäße: Wunde, Blutung ............ 250
Wundversorgung ........................................... 251
9.2 Schädel-Hirn-Trauma (SHT) ....................................... 252
9.3 Intrakranielle Blutung ................................................. 256
9.4 Gesichtsschädeltrauma / Nasenbluten ......................... 258
9.5 Zahn-, Mund-, Kiefernotfälle ....................................... 260
9.6 Bandscheibenvorfall (NPP) ........................................ 264
9.7 Wirbelsäulentrauma .................................................... 266
9.8 Thoraxtrauma ............................................................. 268
9.9 Pneumothorax / Hämatothorax ................................... 270
9.10 Abdominaltrauma ....................................................... 272
9.11 Amputationsverletzung ............................................... 274
9.12 Extremitätentrauma / Sportverletzungen ..................... 276
9.13 Polytrauma ................................................................. 278
Grundlagen ...................................................... 278
Unfallmechanismus ........................................ 279
Management .................................................... 280
Technische Rettung ........................................ 284
Algorithmus ..................................................... 287
9.14 Akute Magen-Darm-Blutung ....................................... 288
9.15 Akutes Abdomen ........................................................ 290
Traumatologische Diagnostik im Rettungsdienst s. S. 103.
248 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
Knochen: Frakturen
Frakturzeichen
Sichere Frakturzeichen:
• abnorme Beweglichkeit
• Fehlstellung (Dislokation)
• Knochenreibegeräusche (Krepitation; Prüfung obsolet!)
• sichtbare freie Knochenenden (bei offener Fraktur)
Unsichere Frakturzeichen:
• Schmerz
• Schwellung / Hämatom (Bluterguss)
• Funktionsstörungen
Cave: Erst das Röntgen bietet sicheren Frakturausschluss
Chirurgische Notfälle Einteilung der Frakturen
• Nach der Bruchform:
Inkomplett: Unvollständige Durchtrennung, z. B.:
• Fissuren: Bildung von Rissen oder Spalten
• Grünholzfraktur: vor allem bei Kindern und Jugendlichen bleibt
das Periost oft wegen der Biegsamkeit (Periost / Kortikalis) unversehrt.
Dadurch tritt keine Dislokation auf (s. u.)
Komplett: Der Knochen ist vollständig in mindestens zwei Teile getrennt.
• Disloziert: Knochenfragmente verschoben
• Nicht disloziert: Knochenfragmente in regelgerechter Stellung
• Nach der Gesamtverletzung:
Geschlossen:
Die Haut ist unversehrt. Der Knochen hat keine Verbindung nach außen.
Offen:
• Grad I (Durchspießung): Ein spitzes Knochenstück tritt durch die
Haut (punktförmige Verletzung); Verletzung von innen nach
außen
• Grad II: Ausgedehnte Gewebskontusion und Weichteilverletzung.
Meist Verletzung von außen
• Grad III: Ausgedehnte Weichteilzerstörung mit Verletzung tieferer
Strukturen (Muskeln, Gefäße, Nerven)
• Grad IV: Subtotale oder totale Amputation
Blutverluste bei geschlossenen Frakturen (Erwachsene)
Unterarm: bis zu 500 ml Unterschenkel: bis zu 1000 ml
Oberarm: bis zu 1000 ml
Oberschenkel: bis zu 2000 ml
Becken: bis zu 5000 ml
9.1 · Verletzbare Strukturen 249 9
Gelenke: Luxationen
Luxationszeichen
Sichere Zeichen:
• federnde Fixation
• leere Gelenkpfanne tastbar
• Gelenkkopf außerhalb der Gelenkpfanne tastbar
Unsichere Zeichen (wie unsichere Zeichen einer Fraktur):
• Schmerz
• Schwellung / Hämatom
• Funktionsstörungen
Cave: Erst das Röntgen bietet sicheren Frakturausschluss
Vorkommen (Ordnung nach abnehmender Häufigkeit)
Schultergelenk > Ellenbogen > Hand > Hüfte > Sprunggelenk
Ursachen
• Traumatisch (Kapsel- und Bandruptur; evtl. Knochen-, Knorpel-, Gefäß- und
Nervenschäden)
• Gelenkdysplasie (angeboren)
• Angeborene oder erworbene (posttraumatische) Gelenkinstabilität führt
schon bei minimaler Benutzung zur Luxation (sog. habituelle Luxation)
• Bestimmte chronische Gelenkleiden (z. B. Gelenkentzündung, gelenknahe
Muskellähmung) begünstigen das Auftreten (sog. pathologische Luxation)
• Auch Luxationen von Endoprothesen (bes. Hüfte, z.B. bei Hinsetzen auf
niedrige Sitzgelegenheit oder bei Bücken)
Diagnostik und Therapie bei Frakturen und Luxationen (vgl. S. 55)
• Kein differenzialdiagnostisches Austesten der verschiedenen Ver-
letzungen (z. B. mittels vorderer / hinterer Schublade und Steinmannzeichen
am Kniegelenk) im Rettungsdienst. Schmerzhafte Tests dem aufnehmenden
Unfallchirurgen überlassen. Ein mehrmaliges Durchführen dieser Maßnahmen
bringt dem Patienten keinen Vorteil sondern nur unnötige Schmerzen.
• Eine Kälteanwendung ist bei verschiedenen Sportverletzungen (z. B. Bänderriss
- s. S. 276 f.) indiziert, um Schwellungen zu vermindern und eine Schmerzlinde-
rung (Kälteanalgesie) zu erreichen.
Achtung: Ein Ausschluss von Verletzungen tieferer Strukturen (Bänder,
Knochen usw.) ist vor Ort in der Regel nicht möglich. Deswegen darf eine
Kälteanwendung nicht dazu führen, dass der Sporttreibende seine Betä-
tigung fortsetzt (Gefahr weiterer Schäden). Aufklären. ➯ Weitere diagnostische
Abklärung in der Klinik.
250 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
Weichteile / Gefäße: Wunde, Blutung
Wundarten
Die Form einer Wunde lässt auf ihren Entstehungsmechanismus schließen (rechts-
medizinische Plausibilitätsprüfung / Verdacht auf Schädigung tiefergelegener
Strukturen). Das wundverursachende Werkzeug zeichnet sich häufig in Größe
und Beschaffenheit direkt ab (z. B. Durchmesser eines Projektiles, Strangmarke,
Autoreifen nach Überrolltrauma). Die Form einer Wunde hat ferner Relevanz für
den aufnehmenden Chirurgen in Bezug auf die Versorgung (z. B. Desinfektions-
behandlung, Ausschneidung, Naht). Man unterscheidet:
• Schürfwunde: Oberflächlicher Hautabrieb (Epidermis) durch Entlangscheuern
an Flächen oder Kanten. Die Wunde ist von einem serösen Film bedeckt.
Evtl. Zeichen von Verbrennungen (Blasen) bei Wärmeentwicklung.
• Stich- und Schnittwunde: Glatte Wundränder. Je nach Lokalisation u. U.
lebensbedrohlich! Bei Schnitt- und Stichwunden wird oft die Frage nach Selbst-
oder Fremdbeibringung (Suizidalität, kriminelles Delikt, Vortäuschung einer Straf-
tat, Unfall, Versicherungsbetrug) aufgeworfen. Folgende Indizien können
Hinweise geben (mit Vorsicht zu deuten - wertungsfreie Behandlung!):
Chirurgische Notfälle Spricht für Spricht für
(absichtl.) Selbstbeibringung (absichtl.) Fremdbeibringung
Anzahl - einzelne / wenige - viele
Region - vorher entblößte Haut - alle (Kleiderschnitte)
- Hände (Unfall) - Hände (typische Abwehr-
- Herz (Suizid)
- Unterarm (Suizid; häufig verletzungen an der
parallele Probierschnitte) Innenseite)
- Brust, Rücken
Tiefe - eher gering - eher tief
- unterschiedlich
Schnitt- - parallel
richtung
• Risswunde: Zerfetzte Wundränder.
• Bisswunde: Stich- oder Quetschwunde, durch Tiere oder Menschen verursacht.
Stets ärztliche Abklärung (Tollwut und andere Infektionskrankheiten). In der
Literatur finden sich bei Tollwutverdacht Anweisungen zum sofortigen
Reinigen / Spülen der Wunde mit medizinischer Seifenlösung (20 %).
• Platzwunde: Stumpfe Gewalteinwirkung auf Haut, die direkt einen Knochen
bedeckt, führt zu einer Riss-Quetschwunde, die häufig wegen darunterliegenden
Strukturen auseinandergezogen wird und klafft. Meist stärkere Blutung, die oft
primär durch Verband gestillt werden muss. Häufig sieht man zum Beispiel Kopf-
platzwunden (Aufschlagen auf den Boden bei Sturz).
9.1 · Verletzbare Strukturen 251 9
Wundversorgung
Grundsätze
Die Gefahren einer Wunde liegen in einer Verletzung wichtiger Gewebestrukturen
(Organe), einer ggf. starken Blutung (Volumenmangelschock, s. S. 228 ff.!), u. U.
starken Schmerzen (➯ ggf. Analgesie) und dem Eintritt von Krankheitserregern.
Jede Wunde sollte einem Arzt vorgestellt werden - allein schon, damit dieser
verifizieren kann, ob ausreichender Tetanusschutz besteht. (Eine Impfung muss
alle 10 Jahre aufgefrischt werden. Bei schweren Verletzungen schon früher, z. B.
nach 5 Jahren.)
Vorgehen bei der Wundversorgung
• Bei leichter Blutung keimfreies Abdecken
• Bei starker Blutung: Externe Blutstillung (s. S. 18) - Besonderheiten:
• A. carotis: Blutung sowohl aus proximalen als auch aus distalem Schenkel
des verletzten Gefäßes (Zusammenfluss aller Hirnarterien am Hirnstamm -
Abdrücken beider Schenkel!)
• Aorta abdominalis: Ultima Ratio bei Abriss eines Beines in Höhe des Hüftgelen-
kes bei Unmöglichkeit oder Versagen der direkten digitalen Kompression (Ab-
drücken der Bauchaorta in Nabelhöhe gegen die Wirbelsäule).
• Kann eine starke arterielle Blutung einer Extremität nicht mittels Abdrücken
oder Druckverband gestillt werden, besteht als ultima ratio - wenn alle
anderen Maßnahmen versagt haben - die Möglichkeit der Abbindung (z. B.
Blutdruckmanschette anlegen, weit über systolischen Wert aufpumpen;
Abschnüren durch einschneidendes Material vermeiden! Keine Abbindung
am Gelenk!), Zeit notieren (setzt die Durchblutung in einem für längere Zeit
nicht versorgten Körperteil wieder ein, kommt es zum sog. Tourniquet-
Syndrom = Reperfusionssyndrom: systemische Krankheitserscheinungen, z.
B. durch Azidose, Kaliumanstieg mit Gefahr des Herz-Stillstandes und Frei-
setzung toxischer Zerfallsprodukte mit Gefahr der Crush-Niere. Daher muss
nach längerer Abbindung in enger Zusammenarbeit zwischen Anästhe-
sisten und Chirurgen eingegriffen werden). Auch bei massiven Blutungen
bei reanimationspflichtigem Patient ➯ Abbindung aus Zeitgründen erwägen.
• Der Versuch des direkten Abklemmens einzelner Gefäße mit Gefäßklemmen
ist obsolet!
• Pfählende Gegenstände sind in der Wunde zu belassen, da sie evtl. die Blutungs
quelle, z. B. ein durchtrenntes Gefäß, tamponieren und somit die Blutung stil-
len. Außerdem Schmerzbelastung, Verschleierung des Wundkanals, zusätzli-
che Verletzungen und Abbrechen möglich. ➯ Keine Manipulation ! Abpolstern!
Fixieren! Große Gegenstände ggf. abschneiden lassen (Feuerwehr).
• Im RD ist eine Wundreinigung (Fremdkörperentfernung) - außer bei Verätzung
(s. S. 356 f.) und ggf. Tollwutbiss (s. vorherige Seite) - nicht indiziert. Jedoch
unbedingt keimfreie Abdeckung, um vor weiterer Kontamination zu schützen.
Chirurgische Notfälle 252 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
Schädel-Hirn-Trauma (SHT) I
Einteilung
• offen/geschlossen
- offenes SHT: SHT mit Verletzung der Dura mater; Verbindung des Liquor
raumes nach außen ➯ Infektionsgefahr (Meningitis, Enzephalitis)
- geschlossenes SHT: SHT ohne Eröffnung der Dura mater
• nach Schwere von Pathomechanismus und Symptomatik
I. Commotio cerebri = Gehirnerschütterung: Bewusstlosigkeit (bis zu 10 - 15
min), retrograde Amnesie, vegetative Symptome wie Übelkeit und Erbrechen
II. Contusio cerebri = Gehirnprellung: Bewusstseinsstörungen bis zu
24 h, vegetative und neurologische Symptomatik bis zu 2 - 3 Wochen
III. Compressio cerebri = Gehirnquetschung: Bewusstlosigkeit über mehr
als 24 Stunden, neurolog. Ausfallerscheinungen über mehr als 3 Wochen
Sonderfälle
• Schädelbasisfraktur: geht meist mit Zerreißung der Dura mater (➯ offenes
SHT) einher ➯ Monokel- bzw. Brillenhämatom und Liquorausfluss aus Nase, Ohr
(Rhinoliquorrhö, Otoliquorrhö) oder Mund.
• Kalottenfraktur: Fraktur im Bereich des Schädeldaches; erhöhte Gefahr
intrakranieller Blutungen (auch postakut).
Pathophysiologie und Gefahren des SHT (Akutphase):
Initiales direktes oder indirektes Akzelerations- / Dezelerationstrauma führt
zu Schädigung von Calvaria, Meningen, Hirngewebe und Gefäßen. Posttrauma-
tisch katecholaminvermittelter Anstieg von HF, RR und ICP (s.n.S.). Kompensa-
torische Verschiebung von Liquor in das spinale Spatium subarachnoideum.
Zusätzlicher hypoventilationsbedingter Anstieg von pCO2 und Laktat (Hirngefäße),
daraufhin autoregulative Vasodilatation mit erheblichem Anstieg des zerebralen
Blutvolumens (CBV). Folge ist ein weiterer Anstieg des ICP, welcher über Absin-
ken des zerebralen Perfusionsdrucks (CPP) eine zerebrale Oligämie (Anämie)
erzeugt. Bei exzessivem Anstieg des ICP kommt es u.U. zum sog. Cushing-Re-
flex (als zentrale Reaktion auf die beeinträchtigte zerebrale Perfusion - s. S. 254).
Eine starke ICP-Erhöhung führt zu Verschiebung und ggf. Einklemmung von Hirn-
teilen. Die Verdrängung der mediobasalen Anteile der Lobb. temporales in den
Tentoriumsschlitz verursacht das Mittelhirnsyndrom (Koma, Anisokorie,
zirkulatorische/respiratorische Störungen) und führt zur Einklemmung der
Kleinhirntonsillen in das Foramen magnum. Die Kompression der Medulla
oblongata löst das Bulbärhirnsyndrom aus: Ausfall der Pupillomotorik, Arreflexie,
Schädigung von Regulationszentren (z.B. Atem- / Herz-Kreislauf-Zentrum): u.U.
Atemstillstand, Herz-Kreislauf-Stillstand.
Direkt einsetzende, multifaktoriell bedingte, ständige Abnahme des CBF (Ursa-
chen: Aufhebung der Autoregulation, Freisetzung von Arachidonsäuremetaboliten,
Schädigung der zerebr. Gefäße, hypoxievermittelte Verschlechterung der Blut-
viskosität, zerebrale Azidose, Vasospasmus). Vasogenes Permeabilitätsödem
9.2 · Schädel-Hirn-Trauma 253 9
Schädel-Hirn-Trauma (SHT) II
durch mikrovaskuläre Schädigung, Zusammenbruch der Blut-Hirn-Schranke mit
Zunahme der Gefäßpermeabilität. Zusätzliche Ausbildung eines zytotoxisch-in-
trazellulären Ödems bei Zusammenbruch der Ionenpumpen der Zellmembranen.
• Pathophysiologie des intrakraniellen Druckes (ICP): Kompression des
Gehirns durch Blutung, Hirnschwellung / Ödem. Eine Steigerung des ICP führt
zu zerebraler Hypoperfusion mit Ischämie, da der zerebrale Perfusionsdruck
(CPP) sinkt. Dieser ist direkt vom (mittleren) arteriellen Blutdruck (MAP)
abhängig, wie folgende Beziehung zeigt: CPP = MAP - ICP. Rechenbeispiele:
a) Normal: MAP = 90, ICP = 5 ➯ CPP = 85 (Einheit jeweils mmHg)
b) SHT: MAP = 90, ICP = 30 ➯ CPP = 60 (Einheit jeweils mmHg)
c) SHT + RR Ø: MAP = 40, ICP = 30 ➯ CPP = 10 (Einheit jeweils mmHg)
Fällt der CPP unter 60 mmHg ab, kommt es zur zerebralen Ischämie! Der Extrem-
fall CPP = 0 bedeutet Perfusionsstillstand ➯ Hirntod.
[Der MAP ergibt sich näherungsweise zu: RRdiast + 1/3 x (RRsyst - RRdiast).
Die direkte Abhängigkeit des CPP von MAP und ICP gilt bei gestörter bzw. aus-
gefallener Autoregulation der zerebralen Durchblutung, wie sie z. B. bei SHT
auftritt. - Der zerebrale Blutfluss (CBF) folgt passiv den Druckveränderungen.]
Maßnahmen bei SHT
• Der wichtigste Grundsatz bei der Behandlung des SHT lautet daher:
Blutdruckabfälle vermeiden! Adäquate Behandlung von Hypovolämie /
Hypotonie, ggf. auch hochdosiertes Dopamin o. Noradrenalin (nach RR).
• Bei steigendem ICP kann ein ausreichender CPP nur über Regulierung des MAP
gewährleistet werden. Husten u. Pressen, z.B. bei Intubation u. Beatmung
steigern den ICP! Ausreichende Sedierung, Analgesie und ggf. Relaxierung
verhindern diese krisenhafte Steigerung des ICP.
• Weitere wesentliche Ursache für sekundäre Hirnschädigungen ist die Hypoxämie:
Daher reichliche O2-Gabe, frühzeitige Intubation und Beatmung.
• Ggf. Behandlung eines gesteigerten ICP:
- Die bislang propagierte Hyperventilation führt über Hypokapnie (➯ Konstrik-
tion der Arterien) zu einer unkontrollierten Senkung der Hirnperfusion, sodass
grundsätzlich eine kapnometrisch kontrollierte Normoventilation (bei
pCO2 = 35 mmHg) anzustreben ist.
- Die um 30° erhöhte Lagerung des Oberkörpers begünstigt den venösen
Rückstrom aus dem Schädel und stellt somit eine wirkungsvolle Methode
zur Behandlung erhöhten Hirndruckes dar. Beachte aber: Blutdruckabfälle!
- Der Kortikoid-Einsatz bei SHT gilt mittlerweile als kontraindiziert.
(CRASH-Studie, 2004, erhöhte Mortalität bei Kortikoidgabe)
- Eine blinde Diurese- bzw. Osmotherapie (z.B. mit hyperosmolarer
NaCl-Lsg. o. Mannitol) im RD sollte wegen potenzieller Gefahren unterlassen
werden: RR-Abfall (folgende Ischämie), Hirnblutung. Allenfalls als kurzfristig
wirksame Notfallmaßnahme bei drohender Einklemmung.
Chirurgische Notfälle 254 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
! Schädel-Hirn-Trauma (SHT) I
Symptomatik
• Unfallmechanismus, Prellmarken, Hämatome beachten
• ggf. Stufenbildung im knöchernen Schädel
• Bewußtseinsstörungen bis Bewusstlosigkeit, (evtl. erneutes) Eintrüben nach
symptomlosem Intervall ➯ an Blutung denken!)
• Kopfschmerz, Schwindel, Erinnerungslücke, Übelkeit, Erbrechen
• Unruhe
• Atemstörungen (zentral) bis Apnoe
• evtl. Anisokorie, Mydriasis („Aufblenden“ - die Entwicklung weiter lichtstarrer
Pupillen ist als Warnsignal für eine akute Einklemmung bzw. ICP-Erhöhung zu
werten)
• evtl. Streck- oder Beugekrämpfe
• bei offener Schädel-Hirn-Verletzung evtl. Hirnsubstanz sichtbar, Liquoraustritt
• bei Neugeborenen und Säuglingen kann eine vorgewölbte Fontanelle auf
erhöhten Hirndruck hinweisen
• Sprachstörungen / Sehstörungen
• evtl. Lähmungen und / oder Gefühlsstörungen
• bei Schädelbasisfraktur: Blutung oder Liquorausfluss aus Nase, Ohren und /
oder Mund; Monokel- / Brillenhämatom (Liquor kann von sonstigen
Körperflüssigkeiten (Sekreten) wegen seines Glucosegehaltes (2/3 der
Blutzuckerkonzentration) mit Blutzuckertest unterschieden werden.)
• Puls tachykard, evtl. arrhythmisch;
• Cushing-Reflex: bradykarder Puls mit Blutdruckanstieg (“Druckpuls”)
als Hinweis auf (langsame) Entwicklung eines Hirnödems
• Blutdruck normal, erniedrigt oder erhöht
• evtl. neurogenes Lungenödem
Notfalltherapie
• Basischeck, Basismaßnahmen
• frühestmögliche HWS-Immobilisation (inline / HWS-Stützkragen; jedes SHT
ist verdächtig auf Verletzungen der Hals-Wirbelsäule!)
• Oberkörperhochlagerung (30°) / bei Bewusstlosigkeit: stabile Seitenlage
(freie Atemwege!)
• kein Zurückdrücken von Hirnsubstanz, sondern steriles Abdecken und
ggf. (Ring-) Polster
• bei der Überwachung vor allem: Atemkontrolle und Pupillenkontrolle
9.2 · Schädel-Hirn-Trauma 255 9
Schädel-Hirn-Trauma (SHT) II !
Notfalltherapie II
• Untersuchung, Standardtherapie
• Blutdruck stabil halten! (Blutdruckabfälle vermeiden)
• Großzügige Indikation zur Narkose, Intubation und Beatmung (kapnometrisch
kontrollierte Normoventilation; pCO2 bei 35 - 38 mmHg; vgl. S. 239). Auf aus-
reichende Narkosetiefe achten!
• Medikamente:
- ggf. Analgetika, z. B. ein Opiat wie Piritramid (0,1 - 0,2 mg / kg KG i.v.)
- ggf. Benzodiazepine, z. B. Midazolam (0,05 - 0,1 mg / kg KG i.v.)
- bei Krampfanfall ggf. Diazepam (10 - 20 mg i.v.)
- ggf. Narkotika, z. B. Etomidat (0,1 - 0,2 mg / kg KG i.v.)
- Bei isoliertem SHT auch Thiopental möglich (3 - 5 mg / kg KG i.v.;
Vorsicht: Blutdruckabfall möglich)
- bei Einklemmungszeichen (z. B. Mydriasis, Streckkrämpfe) ggf.
Osmotherapeutika, z. B. Mannitol (0,4 mg / kg KG über 15 - 30 min i.v.) erwägen
Praxistipps
• Blutdruckabfälle vermeiden!
• Bei Auftreten des Cushing-Reflexes (RRsyst > 300 mmHg möglich) darf der RR
nicht gesenkt werden, da es sonst zu einem Perfusionsstillstand im Gehirn
kommt (➯ Hirntod). Der hohe Blutdruck ist zur Überwindung des intrakraniellen
Druckes notwendig („Bedarfshypertonus“). Schnelle neurochirurgische Versor-
gung geboten!
• Kein Zurückdrücken ausgetretener oder vorfallender Hirnsubstanz!
• Bei Hinweisen auf ein isoliertes Schädel-Hirn-Trauma: Neurochirurgische
Klinik (CCT- / NMR-Möglichkeit) anfahren oder Sekundärverlegung nach
primärer Notfallversorgung, sofern kein Krankenhaus mit
neurochirurgischer Abteilung im Umkreis; ggf. Hubschraubertransport !
• Wichtig: kontinuierliche Überwachung des Bewusstseinszustandes, um
Veränderungen (z. B. Eintrüben des Patienten) sofort zu erkennen.
Entscheidend ist nicht das einmalige Feststellen des Patientenzustandes,
sondern die zeitliche Entwicklung von Störungen. Dokumentation des
Bewußtseinszustandes nach der Glasgow-Coma-Scale (s. S. 578). - Motorik
aller Extremitäten prüfen!
• Im RD ist bei Schädelfraktur immer von einer Hirnbeteiligung auszugehen.
• An Kombination mit weiteren Verletzungen denken.
• Bei der Deutung mydriatischer Pupillen im Sinne eines Hirndruckanstieges ist
Vorsicht geboten (Cave: Andere mögliche Ursachen wie Bulbustrauma oder kürz-
liche Augen-OP in Betracht ziehen und ausschließen)! Verlaufskontrolle!
• Wesentliche Senkung der Häufigkeit von SHT durch Anschnall- und Helmpflicht.
Hier ist auch der RD in seiner Vorbildfunktion gefragt!
256 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
Intrakranielle Blutung
Anatomie der Hirnhäute
Lokalisation der intrakraniellen Blutungen
[A] Haut [1] [A]
[B] Unterhautbindegewebe [G] [B]
[C] Schädelknochen (Kalotte) [C]
[D] Dura mater (harte Hirnhaut) [D]
[E] Arachnoidea (Spinnengewebshaut) [E]
[F] Pia mater (weiche Hirnhaut) [F]
[G] Gehirn (Cerebrum, Enzephalon)
[2]
[3]
[4]
• Epidurale Blutung [1]: in der Mehrzahl arterielle Blutungen, vor allem,
wenn Schädelfrakturen die Meningealarterien kreuzen; Letalität < 50 %
(abhängig von der Lokalisation).
• Subdurale Blutung [2]: arterielle oder venöse Blutungen im Bereich der
Hirnrinde; hohe Letalität (> 50 %).
• Subarachnoidale Blutung (SAB) [3]: s. S. 198 ff.
• Intrazerebrale Blutung [4]: Auftreten im Rahmen von Hirnkontusionen;
Letalität > 50 %.
Hauptsymptome der intrakraniellen Blutungen
Chirurgische Notfälle • primäre Bewusstlosigkeit
• Anisokorie
• motorische Ausfälle (evtl. Halbseitensymptomatik - s. S. 178 f.)
• evtl. symptomfreies Intervall und erneutes Eintrüben (Vorsicht bei
Mitfahrverweigerung!)
• neurologische Verschlechterung
Praxistipps
• Es besteht die große Gefahr, intrakranielle Blutungen bei alkoholisierten und
Schädel-Hirn-traumatisierten Patienten zu übersehen, da jeweils die Symptomatik
verdeckt ist. Jegliche Bewusstseinsstörung darf erst dann als alkoholbedingt
gelten, wenn alle anderen möglichen Ursachen sicher ausgeschlossen
sind.
• Die intrakranielle Blutung gefährdet das Leben des Patienten durch ihre raum-
fordernde Wirkung (zu Hirndruckanstieg s. SHT S. 252 ff.).
• Epidurale Blutungen sind im Kindesalter häufig, da die Dura mater noch nicht
am Schädelknochen angewachsen ist (z. B. Sturz vom Wickeltisch, Kindesmiss-
handlung).
99.3 · Intrakranielle Blutung
257
Intrakranielle Blutung !
Symptomatik
• zunehmende Bewusstseinsstörung bis Bewusstlosigkeit (evtl. anfänglicher
Bewußtseinsverlust mit anschließendem Aufklaren und Wiedereintrüben
nach symptomfreiem Intervall)
• Atemstörungen bis Apnoe
• Pupillenveränderungen (weit, Seitenunterschied, keine Lichtreaktion)
• Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Unruhe, Wesensveränderung
• evtl. (Streck-)Krämpfe, evtl. Einnässen
• evtl. motorische Ausfälle (auch Gesichtsmuskel- und Lidhebeschwäche
durch den Ausfall entsprechender Nervenfunktion)
• Puls tachykard, evtl. arrhythmisch
• Blutdruck normal, erniedrigt oder erhöht
• bei Vernichtungskopfschmerz mit Meningismus auch an Subarachnoidalblutung
denken (s. S. 198 ff.).
• Cushing-Reflex: bradykarder Puls mit Blutdruckanstieg (“Druckpuls”)
als Hinweis auf Entwicklung eines Hirnödems (kann bei schnellem
Hirndruckanstieg fehlen)
Notfalltherapie
• Basischeck, Basismaßnahmen
• Oberkörperhochlagerung (30°), bei Bewußtseinsstörung Seitenlage
• Bei der Überwachung besonders: Atem-, Bewusstseins- und Pupillenkontrolle
• Untersuchung, Standardtherapie
• bei Beatmung und Intubation: kontrollierte Normoventilation anstreben
(pCO2 = 35 - 38 mmHg), vgl. S. 253.
• Medikamente:
- ggf. Analgetika, z. B. ein Opiat wie Piritramid (0,1 - 0,2 mg / kg KG i.v.)
- ggf. Benzodiazepine, z. B. Midazolam (0,05 - 0,1 mg / kg KG i.v.) bzw.
Diazepam (10 - 20 mg i.v.) [Krampfdurchbrechung]
- ggf. Narkotika, z. B. Etomidat (0,1 - 0,2 mg / kg KG i.v.)
Praxistipps
• Blutdruckabfälle vermeiden (vgl. S. 253 ff.)
• Bei Auftreten den Cushing-Reflexes (RR > 300 mmHg möglich) darf der RR
nicht gesenkt werden, da es sonst zu einem Perfusionsstillstand im Gehirn
kommt (➯ Hirntod). Der hohe Blutdruck ist zur Überwindung des intrakraniellen
Druckes notwendig. Schnelle neurochirurgische Versorgung notwendig.
• Bei Neugeborenen und Säuglingen kann eine vorgewölbte Fontanelle auf
erhöhten Hirndruck hinweisen. Säuglinge und Kleinkinder können durch
eine intrakranielle Blutung verbluten!
258 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
Gesichtsschädeltrauma / Nasenbluten
Mittelgesichtsfrakturen
Stufenbildung, eingedrücktes Mittelgesicht, evtl. Liquorausfluss aus der Nase /
aus dem Ohr (Liquor enthält Glucose; 2/3 des Blutzuckergehaltes; Nachweis mit
Blutzuckertest). Typische Frakturlinien nach LeFort:
normal LeFort I LeFort II LeFort III
LeFortI: basale Absprengung des Oberkiefers
LeFortII: Absprengung von Oberkiefer und knöcherner Nase
LeFortIII: Absprengung des gesamten Mittelgesichts
Chirurgische Notfälle Frakturen sonstiger knöcherner Strukturen
• Nasenbeinfraktur: Formveränderungen der Nase und Nasenwurzel,
Nasenbluten, behinderte Nasenatmung, Störungen des Riechvermögens.
• Kieferfrakturen: Stufenbildung des Knochens, Frakturzeichen; vgl. S. 248).
• Kiefergelenkfrakturen: Störungen der Beweglichkeit, Kiefersperre, evtl.
Blutung aus dem Gehörgang.
• Jochbeinfrakturen: evtl. Stufenbildung am unteren Orbitarand.
Orbitaboden-Fraktur (Blow-out-Fraktur)
• Stufenbildung der Orbitaränder, Doppelbilder.
Epistaxis
• Blutung im Bereich der Nasenschleimhäute, bevorzugt durch Zerreißen kleiner
Arterien, vor allem im sogenannten Locus Kiesselbachi (kaudales Septumende).
Gehäuft in Wintermonaten, bei trockener Luft und bestimmten Gruppen
(Kinder, Jugendliche, Schwangere, Ältere) sowie im Rahmen der Menstruation.
• Ursachen (Auswahl):
a) lokal: Trauma (Schädelbasisfraktur; Manipulationen im Bereich der
Nasenschleimhäute, z.B. “Nasenbohren” oder iatrogen), Fremdkörper,
Rhinolithen, Entzündung, Polypen / Tumoren, Aneurysma der A. carotis int.
b) systemisch: Hypertonie, Infektionskrankheiten (z.B. Influenza, Masern,
Typhus), hämorrhagische Diathese (z.B. kongenitale Koagulopathie, Ein-
nahme von Kumarinen oder ASS) u. a. m.
Achtung: Bei Gesichtsverletzungen keine(n) Magensonde / Absaugkatheter
/ Wendltubus durch die Nase einführen u. keine Versuche einer nasotrache-
alen Intubation. (➯ Abgleiten auf falschen Weg in das Schädelinnere möglich!!)
9.4 · Gesichtsschädeltrauma 259 9
Gesichtsschädeltrauma / Nasenbluten !
Symptomatik
a) Gesichtsschädeltrauma (auch an Schädel-Hirn-Trauma denken! S. 252 ff.)
• sichtbare Verletzungen, Blutung aus Mund/Nase/Ohr
• Prellmarken, Hämatome, Knochensplitter
• abnorme Beweglichkeit von Gesichtsknochen, Stufenbildung,
eingedrücktes Gesicht, Reibegeräusche (Krepitation; nicht testen!)
• Schmerzen, evtl. Gefühlsstörungen, Schwellungen
• lockere oder ausgebrochene Zähne, Kiefersperre (s. a. S. 260 ff.)
• evtl. Doppelbilder (Orbitabeteiligung)
• Bewusstseinsstörungen bis Bewusstlosigkeit
b) Nasenbluten
• Blut sickert, rinnt oder spritzt aus der Nase (nicht obligat)
• Bluterbrechen (verschlucktes Blut !)
• Atemstörungen, evtl. Atemnebengeräusch
• bei länger dauerndem Nasenbluten auch Schocksymptomatik möglich
Notfalltherapie
• Basischeck, Basismaßnahmen (Oberkörperhochlagerung)
• Untersuchung, Standardtherapie
• bei Nasenbluten:
- Lagerung möglichst sitzend, nach vorne gebeugt (Blut läuft nach vorne ab),
ggf. auch Bauch-/Seitenlage,
- Nasenflügel für mehrere Minuten komprimieren (lassen) - wirksam bei
Blutungen im Locus Kiesselbachi,
- nasse, kalte Wickel / Eisbeutel im Nacken und auf der Stirn anlegen
- Blut nie schlucken lassen! (wirkt emetisch; erhöhtes Aspirationsrisiko)
- Blutdruckkontrolle (Hypertonie auslösend oder fördernd? Schock?)
• bei isoliertem, anhaltend starken Nasenbluten: Nasen-Tamponade
erwägen (vorher abschwellende Nasentropfen lokal anwenden, z. B.
Xylometazolin [Otriven®] oder Oxymetazolin [Nasivin®]); im Notfall Ballon-
tamponade mit Blasenkatheter (Bellocq-Tamponade) - s. S. 60.
• bei Gesichtsschädeltrauma:
großzügige Indikation zur Intubation und Beatmung (Aspirationsprophylaxe)
• Medikamente:
- Analgetika, z. B. ein Opiat wie Piritramid (0,1 - 0,2 mg / kg KG i.v.)
- ggf. Benzodiazepine, z. B. Midazolam (0,05 - 0,1 mg / kg KG i.v.)
- ggf. Narkotika, z. B. Etomidat (0,1 - 0,2 mg / kg KG i.v.)
- ggf. Behandlung einer Hypertonie (s. S. 208 f.)
- ggf. Volumenersatz (s. S. 228 ff.)
• Bei Kieferfraktur oder V.a. Schäden von Gesichtsnerven (N. facialis): Klinikein-
weisung in mund-kiefer-gesichtschirurgische Fachabteilung.
260 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
Zahn-, Mund-, Kiefernotfälle
Grundlagen (im Hinblick auf die Dokumentation von Zahntraumata)
Das Milchgebiss besteht aus 20, das bleibende Gebiss aus 32 Zähnen.
Jeder Zahn gliedert sich in
- eine sichtbare Zahnkrone
- einen den Übergang zwischen Zahnkrone und Zahnwurzel begrenzenden,
gerade noch sichtbaren Zahnhals und
- eine im Alveolarknochen durch das Desmodont (Wurzelhaut) federnd
aufgehängte Zahnwurzel.
Im Innern jedes Zahns befindet sich die Zahnpulpa (Zahnmark mit Bindegewebe,
Gefäßen und Nerven), die vom Dentin (Zahnbein) umschlossen wird. Im Bereich
der Zahnkrone wiederum wird das Dentin vom Zahnschmelz, im Bereich der Zahn-
wurzel vom Wurzelzement ummantelt.
Wurzelzement, Desmodont, Alveolarknochen und Gingiva (Zahnfleisch) werden
zusammen Parodontium (Zahnhalteapparat, Zahnbett) genannt.
Der Zahnarzt benutzt bei der Benennung der einzelnen Zähne eine Gebissformel
(Zahnformel) und ein Zahnschema (Gebissschema).
Die Gebissformel ist eine schematische Darstellung der artspezifischen Anatomie
des Gebisses, wobei die vier verschiedenen Zahnarten
- Schneidezähne (Incisivi [I])
- Eckzähne (Canini [C]),
- Backenzähne (Praemolares [P]) und
- Mahlzähne (Molares [M])
abgekürzt werden. Für Milchzähne werden Kleinbuchstaben verwendet.
Chirurgische Notfälle Das Zahnschema ist eine vom Betrachter aus gesehene, schematische Darstellung
eines individuellen, aktuellen Gebisszustandes, wobei die Zahlen einzeln gespro-
chen werden. Das heute meist verwendete Gebissschema ist das FDI-System der
Fédération dentaire internationale von 1970 nach DIN 13920.
1. Quadrant (Oberkiefer, rechts) 2. Quadrant (Oberkiefer, links)
Gebissformel M3 M2 M1 P2 P1 C I2 I1 I1 I2 C P1 P2 M1 M2 M3
Zahnschema
bleibendes 18 17 16 15 14 13 12 11 21 22 23 24 25 26 27 28
Gebiss
Zahnschema 55 54 53 52 51 61 62 63 64 65
Milchgebiss 85 84 83 82 81 71 72 73 74 75
Zahnschema
bleibendes 48 47 46 45 44 43 42 41 31 32 33 34 35 36 37 38
Gebiss
Gebissformel M3 M2 M1 P2 P1 C I2 I1 I1 I2 C P1 P2 M1 M2 M3
4. Quadrant (Unterkiefer, rechts) 3. Quadrant (Unterkiefer, links)
9.5 · Zahn-, Mund-, Kiefernotfälle 261 9
Zahn-, Mund-, Kiefernotfälle !
Einteilung von Zahn-, Mund-, Kiefernotfällen
a) Fachfremde Notfälle bzw. Komplikationen in der Zahnarztpraxis (z. B.
Kreislaufdysregulation, Anästhesiezwischenfall), siehe entspr. Kapitel
b) Zahnmedizinischen Notfälle, die während der Behandlung in der
Zahnarztpraxis auftreten (z. B. Blutungen im Zahn-Mund-Kieferbereich),
geringe Relevanz im Notarztdienst; ggf. Transport in Spezialklinik.
c) Zahnmedizinische Notfälle außerhalb der zahnärztl. Behandlung, die
einer zahnärztlichen (-chirurgischen) bzw. mund-kiefer-gesichtschirurgischen
Abklärung bedürfen (z. B. Zahnavulsion). Meist traumatisch bedingt (Sturz,
Rohheitsdelikte, Sport-/Spielunfälle) - diese werden im folgenden behandelt.
Allgemeine Maßnahmen/Therapie bei Zahnverletzungen
1. Schädigung der Zahnhartsubstanz (Zahnfragmente jeweils asservieren!)
• Schmelzfraktur ➯ Überweisung an Zahnarzt
• Schmelz-Dentin-Fraktur ➯ Überweisung an Zahnarzt
• Eröffnung der Zahnpulpa ➯ sofortige Überweisung an Zahnarzt
• Wurzelfraktur ➯ sofortige Überweisung an Zahnarzt
2. Schädigung des Parodontiums (s.u. und folgende S.)
• Zahnluxation ➯ sofortige Überweisung an Zahnarzt oder Klinik-
einweisung in zahnärztlich-chirurgische Fachabteilung
• Zahnavulsion ➯ sofortige Überweisung an Zahnarzt oder Klinikein-
weisung in zahnärztlich-chirurgische Fachabteilung
Grundsätze
• Bei Bewusstlosigkeit, Amnesie, vegetat. Symptomen (z. B. Kopfschmerzen,
Erbrechen) o. extraoralen Weichteilverletzungen immer Klinikeinweisung!
• Ausschluss Kieferfraktur (s.n.S.) und Kindesmisshandlung (s.S. 344 f.)!
• Aus versicherungsrechtlichen Gründen Anamnese konsequent und ausführ-
lich erheben (Zeitpunkt Unfall, Unfallort, Unfallhergang, eigenes Erinnerungs-
vermögen an Unfall, evtl. Zeugen usw.) sowie gut dokumentieren.
Zahnavulsion (ausgeschlagener Zahn)
(Exartikulation, totale Luxation, Eluxation, vollständige Luxation nach peripher)
Maßnahmen/Therapie
• Zahnfragmente u. avulsierte Zähne aus Mund entfernen (Aspirationsgefahr!)
• Zahnfragmente und avulsierter Zähne spätestens nach 30 - 60 min, ohne
Alveolenwand und Desmodont zu berühren sowie ohne Desinfektion, in
geeignete Aufbewahrungsflüssigkeit einbringen (z. B. Zahnrettungsbox
[Medice Dentosafe®, Iserlohn], kalte H-Milch, physiologische Kochsalzlösung
[Zellen überleben bis zu 24 bzw. 6 bzw. 2-3 Stunden]).
• Sofortige Überweisung an Zahnarzt oder Klinikeinweisung in zahnärzt-
lich-chirurgische Fachabteilung. Ggf. Analgesie.
• Zahnfragmente und avulsierte Zähne weder in Wasser aufbewahren (da Desmo-
dontalzellen durch veränderten osmotischen Druck unweigerlich platzen) noch
unter die Zunge legen (Aspirationsgefahr! Warmer Speichel führt zu Stoff-
Chirurgische Notfälle 262 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
! Zahn-, Mund-, Kiefernotfälle
wechselerhöhung in Desmodont und schnellem Zelltod (Zahnpulpa stirbt auch
bei regelrechter Aufbewahrung ab))
• Milchzähne sollten aufgrund möglicher Schädigung des Zahnkeims nicht
replantiert werden. Bei bleibenden Zähnen Replantation anstreben!
• Grundsätzlich müssen unter forensischen Aspekten aber alle avulsierten Zähne
und möglichst auch Zahnfragmente asserviert werden!
• Altersverteilung: Häufigkeitsgipfel zwischen 2 u. 5 sowie 8 u. 12 Jahren,
Geschlechtsverteilung: Jungen : Mädchen = 2 : 1
Häufigste Lokalisation (bleibendes Gebiss): ca. 80 % OK I1
• Bei Zahnavulsionen sollte das Zeitintervall bis zur Replantation (z.B.
durch direkte Einweisung in zahnärztlich-chirurgische Fachabteilung)
minimiert werden, sofern nicht andere Verletzungen Priorität haben.
Oberkieferfraktur s. Gesichtsschädeltrauma (S. 258 f.)
Unterkieferfraktur (Unterkiefer = UK)
Ursachen: traumatisch (z. B. Sturz auf das Kinn, Schlag auf den UK); iatrogen
Symptomatik:
• palpierbare Dislokation und abnorme Beweglichkeit der UK-Fragmente
• Okklusionsstörungen (evtl. offener Biss)
• (reflektorische) Kieferklemme (behinderte Mundöffnung)
• evtl. Sensibilitätsstörungen in Bereich des N. mentalis (Kinnbereich)
• evtl. Blutungen aus äußerem Gehörgang (➯ Ausschluss Gehörgangverletzung
und Schädelbasisfraktur!)
• speziell: Gelenkfortsatzfraktur (Kondylusfraktur, 30% der UK-Frakturen):
• Prellmarken/Platzwunde am Kinn
• Stauchungsschmerz (Druck auf das Kinn ➯ Schmerzen im Kiefergelenk)
• UK-Abweichen zur Frakturseite bei Mundöffnung (bei einseitiger Fraktur)
Maßnahmen/Therapie:
• provisorische Fixation (Frakturruhigstellung, Schmerzminderung) mittels
Kopf-Kinn-Kappe (zwei sich im Schläfenbereich überkreuzende elastische
Binden in vertikaler u. horizontaler Richtung in normaler Okklusion anlegen,
aufgrund Stauungsgefahr im Gesicht nicht zu straff fixieren), Analgesie.
• Klinikeinweisung in mund-kiefer-gesichtschirurgische Fachabteilung,
sofern nicht andere Verletzungen Priorität haben (z.B. Polytrauma, SHT).
• Bei Absprengung des UK mit konsekutivem Zurückfallen des Kinns besteht
Erstickungsgefahr! Dann Esmarch-Handgriff! (Kinn nach vorne ziehen, dazu
Zeigefinger unter die Zunge schieben u. mit dem Daumen unter Kinn fassen)
Kiefergelenkluxation (Kondylusluxation)
Definition: meist doppelseitige Verlagerung des Gelenkköpfchens (Capitulum
mandibulae) aus Gelenkgrube (Fossa mandibularis) mit (meniskotemporale Luxa-
tion) oder ohne Diskus (meniskokondyläre Luxation) vor Gelenkhöcker (Tuberculum
articulare); selten dahinter, zur Mitte oder zur Seite; immer ohne Kapselriss.
9.5 · Zahn-, Mund-, Kiefernotfälle 263 9
Zahn-, Mund-, Kiefernotfälle !
Ursachen: extreme Mundöffnung (v. a. durch Gähnen; Erbrechen, heftiges
Schreien), Trauma, durch Einnahme von Medikamenten gegen M. Parkinson und
Metoclopramid bedingte Störungen des extrapyramidalen Systems.
Symptomatik:
• extreme Schmerzen der Kiefergelenke und der Kaumuskulatur
• Kiefersperre (behinderter Mundschluss)
• protrudierte UK-Position in federnder Fixation bei doppelseitiger Kiefergelenk-
luxation (v. a. bei extremer Mundöffnung)
• Abweichen des UK zu gesunder Seite bei Mundöffnung bei einseitiger
Kiefergelenkluxation (v. a. bei Trauma)
• oft deutliche Delle vor dem Tragus (Ohrknorpel)
Maßnahmen/Therapie:
• Sofortige bimanuelle Reposition durch den Versierten (außer bei sicheren
Frakturzeichen, auch Versuch vor Ort statthaft): Hippokrates-Handgriff
zunächst auf einer, dann ggf. auf der anderen Seite. Vorgehen: beide mit Mull-
binden umwickelte Daumen auf seitliche Zahnreihen des UK legen, während
übrige Finger den UK von außen umfassen, anschließend kräftigen inter-
mittierenden Druck nach unten und geringen Schub nach hinten ausüben.
Wenig Druck nach hinten ausüben, da ansonsten eine Gelenkfortsatzfraktur
(s. linke Seite) provoziert werden könnte! Vorsicht wegen reflektorischer
Anspannung der Kaumuskulatur beim Einrenken, da Kräfte in der Größenord-
nung eines Zentners auftreten können! Ggf. Analgesie o. Narkose (Klinik).
• Ruhigstellung mittels Kinnschleuder (Funda maxillae).
• Auch nach Erfolg Überweisung möglichst in zahnärztl.-chirurgische bzw. mund-
kiefer-gesichtschirurgische Fachabteilung zum Ausschluss einer UK-Fraktur
(radiolog. Frakturausschluss ggf. auch in unfallchirurgischer Klinik mgl.) u.
ggf. zur definitiven Versorgung.
Cave: Auch Kiefergelenkluxation nach oben als zentrale Kiefergelenkluxation mit
Schädelbasis- und meist Gelenkfortsatzfraktur (s. linke S.) möglich!
Blutungen im Mundbereich
Ursachen:
• verschiedene Traumata
• Frühblutung: ca. 3 Stunden nach chirurgischem Eingriff aufgrund reaktiver
Hyperämie bei Nachlassen Vasokonstriktor-Wirkung des Lokalanästhetikums
sowie kaffee- und alkoholbedingter Vasodilatation
• Spätblutung: ca. 3 Tage nach chirurgischem Eingriff durch Wundheilungs-
störung aufgrund erhöhter t-PA-Konzentration, vermindertem Speichelfluss,
verminderter IgA-Konzentration im Speichel sowie lokaler Wundinfektion
Maßnahmen/Therapie:
• Kompression durch 20-minütiges Aufbeißenlassen auf sterilen Gazetupfer
(falls Blutung persistiert: direkte digitale Kompression)
• Bei starkem Blutverlust Schocktherapie s. S. 216 f. Ggf. Analgesie.
• Bei Trauma Klinikeinweisung (möglichst zahnärztlich-chirurgische bzw. mund-
kiefer-gesichtschirurgische Fachabteilung), sonst Überweisung an Zahnarzt.
Chirurgische Notfälle 264 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
Bandscheibenvorfall (NPP)
Grundlagen
Die Wirbelsäule besteht aus 32 - 34 Wirbeln, die sich aus einem Wirbelkörper,
einem Wirbelbogen und mehreren dornartigen Fortsätzen zusammensetzen. Die
einzelnen Wirbel sind voneinander durch die Bandscheiben (Disci intervertebrales)
getrennt. Bandscheiben bestehen aus einem zentralen gallertigen Kern (Nucleus
pulposus) und einer Hülle aus faserigem Bindegewebe (Anulus fibrosus). Auf-
gaben der Bandscheiben: Stoßdämpfung des Gehirns, Gelenkfunktion zwischen
den einzelnen Wirbelkörpern Beweglichkeit der Wirbelsäule). In dem durch die
Wirbelbögen gebildeten Raum liegt, gut geschützt, das Rückenmark als Schalt-
stelle zwischen dem ZNS und dem PNS. Aus dem Rückenmark treten aus den
Zwischenwirbellöchern jeweils paarig 31 Spinalnerven aus, über die alle Infor-
mationen (sensible und motorische) über das Rückenmark zum Gehirn bzw.
umgekehrt geleitet werden. Dadurch erklären sich auch die neurologischen Aus-
fälle durch z. B. ein Wirbelsäulentrauma.
Bandscheibenvorfall
Der gallertige Kern der Bandscheibe tritt entweder aus der Bindegewebshülle aus
(Nucleus pulposus prolaps / NPP/ “Pulposushernie”) oder er beult sie derge-
stalt aus (Protrusion), dass der Kern den Spinalkanal einengt bzw. auf eine der
Spinalnervenwurzeln drückt und dadurch zu Schmerzen oder neurologischen
Ausfällen führen kann. Typ. Lokalisationen: LWS (L5/S1, L5/L4), HWS (C6/C7).
Hexenschuss (Lumbago / “Ischias”)
Intensiver Schmerz im Lendenbereich mit Ausstrahlung in Gesäß, Oberschenkel,
Knie usw. sowie schmerzbedingte Bewegungseinschränkung ➯ Schonhaltung
(Reizung der Nervenwurzel ➯ Anspannung und Verkrampfung der Rücken-
muskulatur - sogenannter “Hartspann”(Myogelose) ➯ weitere Reizung der Nerven-
wurzel ➯ verstärkte Verkrampfung = Teufelskreis). (DD: Arthritische Veränderun-
gen können eine ähnliche Symptomatik hervorrufen.)
Ursachen: Bandscheibenvorfall, Zwischenwirbelluxation u. a. m.
Akuttherapie bei typischer Symptomatik: Bettruhe (zu Hause), Wärmean-
wendung, periphere Analgetika (z.B. Diclofenac 3 x 25-50 mg p.o. oder Ibuprofen
3 x 400-800 mg p.o.), Benzodiazepine mit muskelrelaxierender Komponente (z. B.
Tetrazepam 25-50 mg/d), ggf. zusätzl. Myotonolytika (z.B. Methocarbamol 3 x 1,5
g/d oder Baclofen 15 mg/d). In manchen Fällen („Blockade“) ist auch eine
chiropraktische Therapie (Einrenken) durch einen erfahrenen Behandler möglich.
Nach (i.m.-/i.v.-) Injektion Überwachung sicherstellen (mind. 1 h).
Beachte: Bei bestehender neurolog. Beeinträchtigung (z.T. erst nach Schmerz-
therapie feststellbar!) ist immer die Akutbehandlungsbedürftigkeit eines Band-
scheibenvorfalles zu prüfen (Klinikeinweisung, MRT-Diagnostik anstreben).
Diagnose- und Therapiekontrolle durch Hausarzt sicherstellen (< 24-48 h).
9.6 · Bandscheibenvorfall 9265
Bandscheibenvorfall (NPP) !
Symptomatik
• Unfallmechanismus (z. B. Verheben) / Vorerkrankung (z. B. Tumor)
• Schmerzen (LWS: in der Lendengegend; HWS: im Nacken)
• Schonhaltung, Bewegungsunfähigkeit, verspannte Rückenmuskulatur
• Sensibilitätsstörungen, motorische Ausfälle, Reflexabschwächungen /
-verluste. Versorgungsgebiete betroffener Spinalnervenwurzeln:
Nerven- Motorik Sensibilität Reflexe (Fehlen /
wurzel (Ausfälle) (Ausfälle) Abschwächung)
C6 Außenseite der Ober- Bizeps-
und Unterarme, den sehnenreflex
C7 Daumen zugewandte Trizeps-
Seiten der Unterarme bis sehnenreflex
zum Zeige-, Mittel- und
Ringfinger
C8 Kleinfingerseite der
Unterarme bis zum Klein-
und Ringfinger
L4 Heben des Beines Außenseite der Ober- Patellar-
schenkel, Innenseite sehnenreflex
der Unterschenkel
L5 Hackengang, Fußrücken,
Stehen auf Außenseite der
betroffenem Bein Unterschenkel
S1 Stehen auf den Fußkante, Achilles-
Zehenspitzen Seiten der Unterschenkel sehnenreflex
• Lasègue-Zeichen positiv
• Alarmzeichen: beginnende Lähmungen, plötzliches Verschwinden des
Schmerzes (Hinweis auf beginnendes Absterben der Nervenwurzel),
„Reithosenanästhesie“, Blasen- / Mastdarmstörungen (V.a. Kaudasyndrom); in
diesen Fällen ist eine zügige Klinikeinweisung unumgänglich!
Notfalltherapie
• Basischeck, Basismaßnahmen, HWS-Stützkragen bei zervikalem NPP
• Umlagerung mit Schaufeltrage und Vakuummatratze,
• bei der Lagerung Patientenwunsch beachten
(z. B. bei lumbalem NPP Stufenlagerung: Beugung in Knie u. Hüfte, je ca. 90°)
• schonender Transport
• Untersuchung, Standardtherapie
• Medikamente:
Analgetika, z. B. ein Opiat wie Piritramid (0,1 - 0,2 mg / kg KG i.v.)
266 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
Wirbelsäulentrauma
Ursachen für Wirbelsäulenverletzungen
• Direktes Trauma (z. B. Stich, Schuss)
• Indirektes Trauma durch Einwirkung von Zug- und Scherkräften (z. B. bei
Verkehrsunfällen: HWS-Schleuder-Trauma; Wirbelsäulenkompressions- /
-stauchungsfrakturen (z. B. Sturz aus großer Höhe auf die gestreckten Beine
➯ meist Höhe Th 12 und L 1).
• Pathologische Frakturen (z.B. bei Tumor, Metastasen).
HWS-Schleuder-Trauma (posttraumatisches HWS-Syndrom)
Durch ein sogenanntes Peitschenschlagphänomen bei Auffahrunfall kommt es
zu einer Dehnung des Band- und Kapselapparates der Halswirbelsäule sowie
Reizung von Nervenwurzeln und vegetativen Nervengeflechten. Die Beschwer-
den treten bei leichteren Schweregraden oft erst über eine Stunde nach dem
Ereignis ausgeprägt auf (fehlt das symptomfreie Intervall, so ist von einem schwe-
reren Trauma auszugehen). Einteilung:
Grad I: Nacken- und Bewegungsschmerz (Nicht testen!).
Grad II: Zusätzlich in den Hinterkopf ausstrahlende Schmerzen.
Grad III: Unfähigkeit, den Kopf, in einer Position zu halten. Sensibilitätsstörungen
an Armen und Händen, evtl. Schluckstörungen bei retropharyngealen Ein-
blutungen.
Schema zur segmentalen Nerven-
versorgung der Haut
(Dermatome)
Chirurgische Notfälle C2 C3
C5
C8 Th1
Th1 Th4
Th6
Th6 Th10
Th12
Th12 L1
L1 L2
S2
L5 S3
S1 L3
S2 L4
C8 L5
S3
S1 S1
S2
L5 L4
9.7 · Wirbelsäulentrauma 9267
Wirbelsäulentrauma !
Symptomatik
• Unfallmechanismus
• Schmerzen (insbes. Druck- und / oder Klopfschmerz über der Wirbelsäule)
• Nackenschmerz / Nackensteifigkeit (HWS !)
• ggf. Querschnittssymptomatik: meist beidseitige motorische und
sensorische Ausfälle bis zur Höhe des verletzten Rückenmarksegments
• Bewusstseinsstörungen bis Bewusstlosigkeit
• unwillkürlicher Harn- und Stuhlabgang
• Blutdruckabfall, Puls tachykard, evtl. bradykard (spinaler Schock, s. S. 235)
• Atemstörungen bei hohem Querschnitt (HWS - N. phrenicus: C3 - C5)
Notfalltherapie
• Basischeck, Basismaßnahmen
• keine unnötige Umlagerung; frühestmögliche Ruhigstellung der HWS
mit passendem HWS-Stützkragen oder In-Line-Immobilisation (s. S. 19)
• Umlagerung mit Schaufeltrage oder mindestens 5 Helfern auf vorgeformte
Vakuummatratze; sofern vorhanden und geübt, sollte bei der Rettung aus Kraft-
fahrzeugen oder entsprechenden Situationen immer ein Rettungskorsett
benutzt werden (z. B. K.E.D. ®)
• keine Kopfreklination, zur stabilen Seitenlage bei HWS-Trauma s. S. 19
• besonders schonender Transport
• Untersuchung, Standardtherapie; ggf. Intubation und Beatmung
• ggf. Volumenersatz
Medikamente:
- Methyl-Prednisolon (hochdosiert; 30 mg / kg KG über 15 min i.v.)
Die Kortikoidtherapie bei Wirbelsäulentrauma wird derzeit wieder kritisch
diskutiert. Bis zum Abschluss der Meinungsbildung sollte sie Bestandteil der
Akutversorgung bleiben. Bei SHT gilt die Kortikoidgabe nun als obsolet.
- Analgetika, z. B. ein Opiat wie Piritramid (0,1 - 0,2 mg / kg KG i.v.)
- ggf. Benzodiazepine, z. B. Midazolam (0,05 - 0,1 mg / kg KG i.v.)
Praxistipps
• Jegliche Funktionsprüfung der Wirbelsäule, speziell der Halswirbelsäule,
hat bis zum Ausschluss einer Fraktur (Röntgen, in der Klinik) zu unterbleiben
(Gefahr der Querschnittslähmung).
• Jeder Bewusstlose (Unfallverletzte) muss so behandelt und transportiert
werden, als ob ein Wirbelsäulentrauma vorläge. (HWS-Stützkragen;
Schaufeltrage, Vakuummatratze - vgl. S. 20 ff.)
• Jedes Schädel-Hirn-Trauma ist bis zum Beweis des Gegenteils verdächtig auf ein
Trauma der Halswirbelsäule.
268 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
Thoraxtrauma
Definition: Stumpfe (geschlossene) oder offene Verletzung des Brustkorbes (Tho-
rax) und seiner Organe. Bei einem Thoraxtrauma können sich ereignen:
• Rippen(serien)frakturen
• Lungenkontusion, Lungenriss (Einblutung in das luftführende System
möglich; Gefahr der inneren Aspiration, Symptome ähnlich wie Lungenödem)
• Pneumothorax, Spannungspneumothorax, Hämatothorax (s. S. 270 f.)
• Herzkontusion (Symptome: Herzschmerzen, Symptome eines Herzinfarktes)
• Herzbeuteltamponade (s. S. 237), Ruptur großer Gefäße, z. B. der Aorta
• Tracheal- oder Bronchusabriss, erhebliche Lungenverletzungen
Versorgungsstrategien bei Thoraxtrauma
• Bei intrathorakaler Blutung kann eine Stabilisierung des Patienten u.U. nur
operativ herbeigeführt werden. Der Patient wird vor Ort mit venösen Zugängen
versorgt und bei vorliegender Indikation intubiert. Spätestens bei fehlender
Stabilisierung (RRsyst > 80 mmHg) nach Druckinfusion von 1000 ml VEL und
500 ml kolloidalem Volumenersatzmittel oder alternativ Small-Volume-
Resuscitation (s.S. 229) ist ein schnellstmöglicher Transport in
eine geeignete Klinik mit Voranmeldung indiziert.
• Bei Brustkorbverletzungen locker und steril abdecken (nicht luftdicht, sonst
Gefahr eines Spannungspneumothorax).
• Fremdkörper in der Wunde belassen (Blutstillung durch Eigentamponade).
MCL MAL Lokalisation der Punktionsstellen
Chirurgische Notfälle A Zur Entlastung eines Spannungs-
pneumothoraxes (2. ICR-MCL),
B/Czur Entlastung eines Hämatothoraxes
• [A] (4. / 5. ICR-MAL),
• D zur Herzbeutelpunktion (xyphoido-sternocostaler
[D] Winkel) - Durchführung:
• [B] • Punktion unter EKG-Monitoring und
Defibrillationsbereitschaft
• [C] • Pneumothorax-Ausschluß vorausgesetzt
• Stichrichtung: 45° zur Frontalebene auf das
Zentrum des linken Schulterblattes zu
• unter Aspiration vorschieben bis Flüssigkeit
aspiriert wird
• EKG-Veränderungen beachten
• Durchführung im RD als ultima ratio bei
Herzbeuteltamponade
MCL = Medioclavicularlinie, MAL = Mittlere Axillarlinie
9.8 · Thoraxtrauma 9269
Thoraxtrauma !
Symptomatik
• Unfallmechanismus, Prellmarken, äußerlich sichtbare Verletzungen
• Druckschmerz beim Palpieren des Thorax
• Blasenbildung im Wundbereich: Hinweis auf offenes penetrierendes Trauma
• Atemnot, atemabhängiger Schmerz, schnelle, flache Atmung (Schonatmung)
• zunehmende Atemnot ➯ V. a. Spannungspneumothorax
• zunehmend erschwerte Beatmung ➯ dringender V. a. Spannungs-
pneumothorax
• asymmetrische Atembewegungen
• evtl. paradoxe Atmung (instabiler Thorax): bei Rippenserienfraktur
• aufgehobenes Atemgeräusch (oft nur einseitig):
- bei Pneumothorax (hypersonorer Klopfschall) und
- bei Hämatothorax (gedämpfter Klopfschall)
• prallgefüllte Halsvenen (fehlt u. U. bei gleichzeitiger Schocksymptomatik):
bei Spannungspneumothorax und bei Herzbeuteltamponade
• Hautknistern (Hautemphysem = subkutane Luftansammlung):
bei Tracheal- / Bronchusabriß oder Platzen einer Emphysemblase
• (Blut-) Husten
• Blässe bis Zyanose
• Puls evtl. tachykard, kaum tastbar; Blutdruckabfall, Volumenmangelschock
Notfalltherapie
• Basischeck, Basismaßnahmen; Wundversorgung s. vorhergehende Seite
• Lagerung auf der verletzten Seite (Schienung des Thorax), Oberkörper hoch
- nicht erzwingen! Nur, wenn der Patient es toleriert.
• Untersuchung, Standardtherapie
• großzügige Indikation zu Intubation und Beatmung (100 % O2)
(Narkoseeinleitung, s. S. 65)
Solange ein Spannungspneumothorax nicht ausgeschlossen ist, ist ein PEEP
kontraindiziert!
• bei V. a. Spannungspneumothorax: Sofortige Entlastung (s. S. 53 f.)
• ggf. Schocktherapie (s. S. 228 ff.)
• bei schwerer, akuter (hämorrhagischer) Hypovolämie
(z.B. geschätzter Blutverlust > 30%, ATLS-Stadium III)
ggf. Small-Volume-Resuscitation (möglichst initial): s.S. 229
• bei V. a. Herzbeuteltamponade (präklinisch schwer zu diagnostizieren!): ggf.
Herzbeutelpunktion durch den in dieser Technik Geübten (s. S. 237)
• Medikamente:
• Analgetika, z. B. ein Opiat wie Piritramid (0,1 - 0,2 mg / kg KG i.v.) oder
Ketamin (0,2 - 0,5 mg / kg KG i.v.)
270 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
Pneumothorax / Hämatothorax
Definitionen
• Pneumothorax: Kollabieren eines Lungenflügels durch Eigenelastizität nach
Verletzung der Lunge und / oder Brustwand (z. B. Thoraxtrauma,
Alveolarruptur), durch Eintreten von Luft in den Pleuraspalt von innen oder
außen. Ein Pneumothorax kann auch ohne äußere Gewalteinwirkung auftreten;
man spricht in diesem Fall von einem Spontanpneumothorax.
• Spannungspneumothorax: Pneumothorax, bei dem die eintretende Luft den
Pleuraspalt nicht mehr verlassen kann (Ventilmechanismus). Bei Inspiration
strömt Luft nach ➯ Kompression der Restlunge u. Mediastinalverlagerung.
• Hämatothorax: Eindringen von Blut in den Pleuraspalt. (Auch im Rahmen
von Entzündungen können sich größere Mengen seröser Flüssigkeit (über 2l)
im Pleuraspalt bilden und sammeln (Serothorax) und ähnliche Symptome wie
ein Hämatothorax hervorrufen. Die Entwicklung ist i.d.R. deutlich langsamer.)
Chirurgische Notfälle Wichtige Hinweise zur Versorgung im Rettungsdienst
• Bei offenem Pneumothorax kein luftdichter Verband, da insbesondere beim
beatmeten Patient dann ein Spannungspneumothorax entstehen kann.
• Fremdkörper in der Wunde belassen (Fixieren).
• Bei intrathorakaler Blutung kann eine Stabilisierung des Patienten u.U. nur
operativ herbeigeführt werden. Der Patient wird vor Ort mit venösen Zugängen
versorgt und bei vorliegender Indikation intubiert. Spätestens bei fehlender
Stabilisierung (RRsyst > 80 mmHg) nach Druckinfusion von 1000 ml VEL und
500 ml kolloidalem Volumenersatzmittel oder alternativ Small-Volume-
Resuscitation ist ein schnellstmöglicher Transport in eine geeignete Klinik mit
Voranmeldung indiziert.
Differenzialdiagnose
Pneumothorax Spannungspneumothorax
Atemnot / Schmerzen? gleichbleibend zunehmend
Besserung einer ja wenig oder gar nicht;
Zyanose bei O2-Gabe i. d. R. sogar Zunahme
(100 %) / Beatmung? des Spannungspneumo-
thoraxes bei Beatmung
Blutdruckabfall? keiner bis leicht stark
Einflussstauung? gering bis gar nicht vorhanden
(gestaute Halsvenen)
Maßnahmen Lagerung, Lagerung,
Punktion Punktion,
ggf. Wundspreizung
Beim Hämatothorax treten im Gegensatz zum (Spannungs-) Pneumothorax ein
aufgehobenes Atemgeräuschsowie ein gedämpfter (nicht hypersonorer) Klopf-
schall auf.
9.9 · Pneumothorax/Hämatothorax 271 9
Pneumothorax / Hämatothorax !
Symptomatik
• atemabhängige, einseitige Thoraxschmerzen
• zunehmende Dyspnoe ➯ V. a. Spannungspneumothorax
• zunehmend erschwerte Beatmung ➯ dringender V. a. Spannungspneumothorax
• veränderte Atembewegungen (Seitendifferenz)
• (meist einseitig) fehlendes Atemgeräusch und Klopfschalldifferenz
bei Pneumothorax (hypersonorer Klopfschall) und
bei Hämatothorax (gedämpfter Klopfschall)
• prallgefüllte Halsvenen (fehlt u. U. bei gleichzeitiger Schocksymptomatik): bei
Spannungspneumothorax und bei Herzbeuteltamponade
• Blutdruckabfall und Kaltschweißigkeit bei Spannungspneumothorax
• Blässe bis Zyanose
• häufig Prellmarken / Druckschmerz (bei stumpfem Trauma)
• Husten, evtl. Abhusten von blutig-schaumigem Sekret
• evtl. Hautknistern (Hautemphysem)
• Puls tachykard
Notfalltherapie
• Basischeck, Basismaßnahmen
• Oberkörperhochlagerung, dabei auf die verletzte Seite drehen (Schienung
des Thorax); bei Bewusstlosigkeit Seitenlage
• Thoraxwunden locker und steril abdecken
• Untersuchung, Standardtherapie
• bei offenem Thorax: offenlassen - Intubation und Beatmung (100 % O2)
(Narkoseeinleitung s. S. 44)
Solange ein Spannungspneumothorax nicht ausgeschlossen ist, ist ein PEEP
kontraindiziert !
• bei Verdacht auf Spannungspneumothorax: Sofortige Entlastung durch
Punktion mit großlumiger Venenverweilkanüle (im 2. ICR nach Monaldi,
Medioclavicularlinie, am Oberrand der Rippe)
• bei Verdacht auf akuten Hämatothorax: Erwägen einer Thorax-Drainage
(im 5. ICR nach Bülau, mittlere Axillarlinie; Sog ca. 20 cm H2O - s. S. 53 f.)
• ggf. Schocktherapie (s.S. 230 f.)
bei schwerer, akuter (hämorrhagischer) Hypovolämie
(z.B. geschätzter Blutverlust > 30%, ATLS-Stadium III)
ggf. Small-Volume-Resuscitation (möglichst initial): s.S. 229
• Medikamente:
• Analgetika, z. B. ein Opiat wie Piritramid (0,1 - 0,2 mg / kg KG i.v.) oder
Ketamin (0,2 - 0,5 mg / kg KG i.v.)
Chirurgische Notfälle 272 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
Abdominaltrauma
Definition
Verletzung von Organen oder Weichteilen des Bauchraumes durch äußere Gewalt-
einwirkung. Vgl. a. Akutes Abdomen.
Ursachen
• Stumpfes (geschlossenes) Bauchtrauma: z. B. Schlag, Stoß, Auto- /Fahrrad-
unfall, dabei häufig: Milz- und Leberverletzungen.
• Perforierendes (offenes) Bauchtrauma: z. B. Schuss-, Stich- und Pfählungs-
verletzungen.
Pathogenese
• Einriss / Perforation / Zerreißung eines Bauchorgans (z. B. Leber, Milz,
Zwerchfell usw.) ➯ Blutung, Peritonitis.
• Gefäßverletzung oder Verletzung des Mesenteriums ➯ intraabdominelle
Blutung.
• Prellung eines Organs (Kontusion).
Milztrauma
• Ätiologie: meist stumpf (z. B. Thoraxtrauma links mit Rippenfraktur),
seltener perforierend (z. B. Messerstich) oder Spontanruptur (Vorerkrankung
mit Milzvergrößerung - Bagatelltrauma reicht dann für eine Ruptur).
• Wichtige Besonderheit:
• Einzeitige Ruptur: Parenchym- und Kapselruptur gleichzeitig
• Zweizeitige Ruptur:
1. Nur Parenchymruptur mit subkapsulärem Hämatom.
➯ Symptomfreies Intervall.
2. Nach Stunden bis Wochen Kapselruptur.
➯ Lebensbedrohliche Blutung.
• Symptome: Schmerzen im linken Oberbauch, Ausstrahlung in die linke Schul-
ter (= Kehr-Zeichen). Volumenmangelschock.
Lebertrauma
• Ätiologie: meist stumpf (z. B. Lenkradaufprall,
Sicherheitsgurtkompression), seltener perforierend (z. B. Messerstich).
• Symptomatik:
• Druckschmerz im rechten Oberbauch
• Volumenmangelschock
• Hinweise:
• An Blutverlust denken!
• Subkapsuläres Hämatom mit späterem Kapselriss möglich.
• Häufigkeit: Bei etwa 20 % der Patienten mit stumpfem Bauchtrauma ist die
Leber beteiligt.
9.10 · Abdominaltrauma 9273
Abdominaltrauma !
Symptomatik
• Unfallmechanismus, Prellmarken
• Schmerzen, Übelkeit
• Bild des Akuten Abdomens mit Abwehrspannung, Schocksymptomatik usw.
• ggf. offene Verletzung (evtl. mit Austreten von Darmschlingen)
• Abdominalwunde mit Blasenbildung bei Husten als Zeichen einer Eröffnung
des Peritoneums
Notfalltherapie
• Basischeck, Basismaßnahmen, ggf. Schocklage, Schonhaltung des Patien-
ten ermöglichen (z. B. Beine anziehen / Knierolle), (bei Bewusstlosigkeit Seiten-
lage!)
• Wundabdeckung und ggf. zusätzlich Ringpolster
• pfählende und sonstige Fremdkörper in der Wunde belassen (abpolstern;
ggf. abschneiden / absägen lassen, z. B. durch Feuerwehr)
• ausgetretene Darmschlingen belassen (kein Reponieren!); abpolstern
mit feuchten Kompressen (sterile NaCl 0,9 %)
• Untersuchung, Standardtherapie
• Schocktherapie (s. S. 215 ff.)
• ggf. Kreuzblutabnahme
• ggf. Magensonde (zur Entlastung des Magens)
• Medikamente:
- Analgetika, z. B. ein Opiat wie Piritramid (0,1 - 0,2 mg / kg KG i.v.) oder
Ketamin (0,2 - 0,5 mg / kg KG i.v.)
- Benzodiazepine, z. B. Midazolam (0,05 - 0,1 mg / kg KG i.v.)
- ggf. Narkotika, z. B. Ketamin (0,5 - 2 mg / kg KG i.v.)
Praxistipps
• Bei Milz- oder Leberverletzung immer auch an Verletzung weiterer Organe
denken. Ein Zweitbefund ist häufig vorhanden.
• Bei intraabdominellen Blutungen kann eine Stabilisierung des Patienten u.U.
nur operativ herbeigeführt werden. Der Patient wird vor Ort mit venösen
Zugängen versorgt und bei vorliegender Indikation intubiert. Spätestens bei
fehlender Stabilisierung (RRsyst > 80 mmHg) nach Druckinfusion von
1000 ml VEL und 500 ml kolloidalem Volumenersatzmittel oder alternativ nach
Small-Volume-Resuscitation (s. S. 229) ist ein schnellstmöglicher Transport in
eine geeignete Klinik mit Voranmeldung indiziert.
Chirurgische Notfälle 274 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
Amputationsverletzung
Definitionen
Amputation: Kompletter bzw. inkompletter (= subtotale A.) Abriss bzw. Abtren-
nung (von Teilen) einer Extremität oder eines anderen Körperteiles so, daß deren
Durchblutung ganz oder teilweise aufgehoben ist. Den abgetrennten Körperteil
nennt man Amputat. Das Amputat wird auch als Replantat bezeichnet, wenn es
mit dem Ziel, wieder an den Körper anzuwachsen, behandelt wird.
Differenzierung
• glatte Amputationsverletzung (z. B. Schnittverletzungen)
• zerfetzende Amputation (z. B. Kreissägenverletzung)
• Ausrissamputation (z. B. Motorradunfall)
• Quetschamputation (z. B. mechanische Presse)
• Sonderfall: dentale Amputation (exartikulierte / luxierte Zähne)
Therapieziel Replantation
1. knöcherne Versorgung
2. Sehnennaht
3. Versorgung von Venen, Arterien und Nerven
4. Weichteile und Haut (Nasenspitze, Ohrläppchen, Lippe, Zungenspitze und
Fingerkuppe können ohne Gefäßnaht replantiert werden)
Asservierung (Sicherstellung und Versorgung) des Replantats:
Lagerung und Transport in doppelwandigem
Replantatbeutel bei trockener Kälte (4°C). Keine
Reinigung oder sonstige Behandlung des
Replantats! Einwickeln des Replantats in steriles
Verbandmaterial. Wichtig: Generell ist jedes abge-
trennte Körperteil korrekt asserviert in die Klinik mit-
zunehmen - unabhängig von Unfallmechanismus,
Funktion am Körper, Zustand und Größe! Hierfür gibt
es medizinische und forensische Gründe.
Hinweise:
• Für den Fall, dass kein Eis verfügbar ist, gibt es die Möglichkeit, spezielle
Kältepackungen (“Künstliches Eis” - nicht: Trockeneis!) zu bevorraten (laut
DIN EN 1789 für RTW und Notfall-KTW vorgeschrieben), die im Bedarfsfall mit
Wasser (z.B. Infusion) vermengt ihre kühlende Wirkung entfalten.
• Das Replantat darf auf keinen Fall gefroren werden oder direkten Kontakt
zur kühlenden Substanz haben (in Verbandtuch einwickeln).
• Zur Replantation exartikulierter Zähne s. S. 261 f.
9.11 · Amputationsverletzung 275 9
Amputationsverletzung !
Symptomatik
• Schmerzen
• Wunde mit evtl. fehlendem Körperteil
• evtl. vorliegendes Amputat
• evtl. (spritzende arterielle) Blutung; fehlende Durchblutung des Amputats
• ggf. Schocksymptomatik (Tachykardie, Blutdruckabfall, Kaltschweißigkeit)
Notfalltherapie
• Basischeck, Basismaßnahmen
• Blutstillung mit sterilem Druckverband, keine Reinigung, keine Gefäßklemmen,
möglichst keine Abbindung
• Versorgung des Amputats mit Replantatbeutel, bei subtotaler Amputat ion
lediglich steriler Verband (ohne Kühlung)
• falls das Amputat nicht auffindbar, z. B. Polizei oder Feuerwehr mit der
Suche beauftragen
• Untersuchung, Standardtherapie
• ggf. Schocktherapie (s. S. 228 ff.)
• Medikamente:
- Analgetika, z. B. ein Opiat wie Piritramid (0,1 - 0,2 mg / kg KG i.v.) oder
Ketamin (0,25 - 0,5 mg / kg KG i.v.); keine Lokalanästhesie!
- ggf. Benzodiazepine, z. B. Midazolam (0,05 - 0,1 mg / kg KG i.v.)
- ggf. Narkotika, z. B. Ketamin (0,5 -2 mg / kg KG i.v.)
Praxistipps
• Geeignetes Transportziel auswählen (z. B. bei Fingeramputation Klinik mit
Möglichkeit der mikrochirurgischen Versorgung).
• Replantationsentscheidung wird in der Klinik getroffen. Das Amputat
ist ausnahmslos sicherzustellen (ggf. suchen lassen) und adäquat zu
asservieren. Juristische Verpflichtung! (Eine Vernachlässigung dieser
Pflicht könnte gemäß §226 StGB in Verbindung mit §13 StGB
(Garantenstellung) als “Schwere Körperverletzung durch Unterlassen”
geahndet werden. Außerdem könnte das Amputat für forensische Gutachten
eine wichtige Rolle spielen.)
276 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
Extremitätentrauma / Sportverletzungen
1. Frakturen s. S. 247
2. Luxationen s. S. 248
3. Blutung und Wunde s. S. 249 f.
Allg. Erstmaßnahmen bei Sportverletzungen nach dem PECH-Schema
• Pause, Ruhigstellung
• Eis im Wasserbeutel, Kühlung (s. S. 31, S. 248!)
• Compressionsverband
• Hochlagerung der betroffenen Extremität
nach: Schmidt / Engelhardt / Ziesché / Gesenhues (Hrsg.); „Praxisleitfaden Allgemeinmedizin“; Gustav Fischer Verlag 1996
Chirurgische Notfälle Spezielle Symptome und ggf. Maßnahmen
• Muskelkrampf: Muskel zieht sich zusammen, verhärtet sich; dumpfer
ziehender Schmerz bei Belastung.
- Maßnahmen: Sofern Muskelschäden ausgeschlossen sind (Zerrung, Faser-
riss), Vorsichtige passive Dehnung des betroffenen Muskels bzw. Anspan-
nung der entsprechenden Gegenspieler, Lockerungsmassage.
• Muskelzerrung: Spannungsgefühl, zunehmender krampfartiger Schmerz,
insbesondere bei Druck, Dehnung, Anspannung und Widerstand.
• Muskelfaserriss: Nadel- oder messerstichartiger Schmerz bei Belastung
(Anspannung), evtl. Hämatom.
• Muskelriss: wie Muskelfaserriss, zusätzlich Bildung eines Muskelwulstes
und einer Muskellücke bei Anspannung, teilweiser bis völliger Funktionsverlust.
• Bänderriss / Bänderdehnung: “Umknicken mit dem Fuß”; instabiler
Bandapparat, starkes Anschwellen, Hämatom, Bewegungs- und
Belastungsschmerz, evtl. Bewegungseinschränkung, evtl. abnorme
Gelenkbeweglichkeit, evtl. hat der Patient die Zerreißung akustisch
wahrgenommen; (“Gelenkverstauchung” = Bänderdehnung).
• Achillessehnenruptur: evtl. peitschenknallartiges Geräusch,
Zehenstand nicht möglich, Delle in der Sehne (bei starker Belastung oder
Tritt in die Ferse).
• Meniskusschaden: Schmerz, Bewegungseinschränkung des Kniegelenks, evtl.
Blockade.
Praxistipps
• Blutverlust bei geschl. Frakturen nicht unterschätzen (s. S. 247) !
• Offene Frakturen stellen eine Indikation zur OP dar; daher muss der Patient
nüchtern bleiben (Narkose).
• Regelmäßige Kontrolle und Dokumentation von peripheren Pulsen (Durch-
blutung), peripherer Sensibilität und peripherer Motorik.
99.12 · Extremitätentrauma
277
Extremitätentrauma !
Symptomatik
• Schmerzen, Bewegungs- und Gefühlsstörungen, Unfallmechanismus
• Schwellung, Prellmarken
• Wunde, Blutung, Knochensplitter sichtbar / tastbar
• abnorme Lage und / oder Beweglichkeit
• evtl. Knochenreibegeräusch (nicht testen!)
• evtl. Störungen der Durchblutung oder Sensibilität unterhalb der Frakturstelle
(Prüfen, da ggf. Repositionsindikation vor Ort durch NA!)
• evtl. fehlende Belastbarkeit der Extremität
• evtl. kalte, blasse Extremitäten
• Puls tachykard, evtl. Schocksymptomatik
Oberschenkelhalsfraktur (meist ältere Menschen betroffen):
• Druckschmerz in der Hüfte; Stauchungsschmerz
• Bein nach außen rotiert und verkürzt
• vorausgehend meist Sturz (pathologische Fraktur auch ohne Sturz möglich)
Notfalltherapie
• Basischeck, Basismaßnahmen
• Erstversorgung (leichter Sportverletzungen) nach dem PECH-Schema s. S. 276
• verletzte Extremität schonend entkleiden (z. B. Kleidung aufschneiden), soweit
möglich: Schmuck entfernen und sicher verwahren (Dokumentation!)
• Ruhigstellung inklusive angrenzender Gelenke, Schienen bei Oberschen-
kel- und Oberschenkelhalsfraktur: Umlagerung mit Schaufeltrage auf
Vakuummatratze!
• bei Wunden: Fremdkörper belassen, steriler Verband
• Fraktur: beim Umlagern die Extremität achsengerecht unter leichtem Zug hal-
ten (Verhindern von Knochenreiben am Frakturspalt = Schmerzen / Schäden)
• Untersuchung, Standardtherapie, ggf. Schocktherapie (s. S. 228 ff.)
• bei Sensibilitäts- und / oder motorischen Störungen (Nervenversorgungsgebiet)
oder fehlenden peripheren Pulsen: Reposition vor Ort (Analgesie !)
• Medikamente (ggf. auch prophylaktisch bei Umlagerung / Reposition):
- Analgetika, z. B. ein Opiat wie Piritramid (0,1 - 0,2 mg / kg KG i.v.) oder
Ketamin (0,2 - 0,5 mg / kg KG i.v.)
- ggf. Narkotika, (z. B. bei Einklemmung oder Reposition, Narkoseeinleitung
zur Befreiung), z. B. Ketamin (0,5 - 2 mg / kg KG i. v.)
Zu Reposition s. S. 55.
278 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
Polytrauma / Grundlagen
Definition
Unter Polytrauma versteht man gleichzeitig entstandene Verletzungen mehrerer
Körperregionen (Organsysteme), von denen wenigstens eine oder ihre Gesamt-
heit lebensbedrohlich ist. [nach Tscherne et al.]
Ursachen
Verkehrsunfälle (ca. 80 %), Arbeitsunfälle (ca. 10 %), häusliche Unfälle
(4 %), Suizid und Tötung (4 %), Spiel und Sport (3 %).
Häufigkeit verletzter Körperregionen bei Polytrauma
Schädel-Hirn: 60% Abdomen und Becken: 10 %
Extremitäten: 45 % Wirbelsäule: 5%
Thorax: 25 %
Chirurgische Notfälle Notfallstrategie
Die Problematik für den Rettungsdienst gründet vor allem darin, daß
1. das Polytrauma ein seltener Einsatzgrund geworden ist
(< 2 - 5 % der NAW- / NEF-Einsätze),
2. das Polytrauma das Rettungsteam durch die Vielfalt der Aufgaben und
den Zeitdruck herausfordert,
3. ein Polytrauma oft nicht allein kommt (häufig mehrere Verletzte).
Die Mortalität bei polytraumatisierten Patienten ist mit 20 - 50 % hoch, kann aber
durch suffiziente Versorgung (standardisierte Versorgungsstrategie) gesenkt
werden. Dazu gehören unbedingt:
1. Zügige und effektive Bekämpfung der „5 tödlichen Hypotheken” [nach Dinkel]:
- HYPOXIE (Sauerstoff, Intubation, Beatmung, ggf. Pleurapunktion)
- HYPOVOLÄMIE (Schocklage, Infusion, vgl. S. 228 ff.)
- HYPOPERFUSION (Lagerung, Blutdruck, Medikamente)
- HYPOTHERMIE (Wärmeerhaltung; Decke, Fahrzeug, warme Infusion)
- HYPOTHERAPIE [NA] (Analgesie, Narkose, chirurgische Intervention)
2. Ein standardisiertes, algorithmisches Vorgehen am Unfallort, um
- frühzeitig die Arbeitsdiagnose Polytrauma zu stellen
und den Patienten als Polytrauma zu behandeln
- korrekt die Prioritäten zu beachten und nichts zu vergessen
- Zeit zu gewinnen und
- den Patient in eine geeignete Klinik zu bringen
Die vermeidbaren Fehler sind:
1. Unterbewertung. - 2. Zu wenig. - 3. Zu spät. - 4. Zu langsam.
3. Eine saubere Klinikübergabe und ein ebenfalls standardisiertes Schockraum-
management der Zielklinik.
9.13 · Polytrauma 9279
Unfallmechanismus
Der Unfallmechanismus gibt wertvolle Hinweise auf wahrscheinliche / mögliche
Verletzungen des Patienten, z. B.:
• Pkw-Frontaufprall
Alarmzeichen für schwere Verletzungen (Thoraxtrauma mit Herzkontusion und
Pneumothorax, HWS-Trauma, Leber- und Milzruptur, Beckenfraktur) sind z. B.
Knieanstoß am Amaturenbrett, “Bullaugenwindschutzscheibe” (Eindrücken der
Windschutzscheibe durch Anstoß mit dem Kopf), sichtbare Veränderungen des
Radstandes (z. B. Rad zur Seite geknickt / Achsenverschiebung (> 30 cm) am
Unfallfahrzeug), Fahrzeug-Deformierung um mehr als 50 cm.
• Pkw-Seitenaufprall
Typische schwere Verletzungen: HWS-Verrenkung, Thoraxtrauma, Akzelerations-
trauma der Aorta, seitenabhängig Leber- o. Milzruptur, Frakturen des Beckens.
• Pkw-Heckaufprall
- An HWS-Trauma (z. B. Schleudertrauma) denken!
- Frontalaufprallkomponente miteinbeziehen! Insasse wird nach vorne
geworfen ➯ Lenkradkontusion!
• Pkw-Unfälle allgemein
- Die Gewalteinwirkung auf den Patienten entspricht in ihrer Richtung in der
Regel der Einwirkung auf das Fahrzeug.
- Wird ein Insasse aus dem Fahrzeug geschleudert, steigert sich das Risiko schwe-
rer Verletzungen (SHT, WS, Thorax, Abdomen usw.) um 300 %. Auch bei den
im Auto verbliebenen Insassen ist mit schweren Verletzungen zu rechnen!
- Auch wenn ein Insasse getötet oder eingeklemmt wird, ist bei weiteren
Insassen das Risiko schwerer Verletzungen erhöht.
- Knieverletzungen bei einem Autounfall können Hinweise auf Oberschenkel-
und Beckenfrakturen sowie Hüftgelenksluxationen sein.
• Fußgänger wird von Kraftfahrzeug (frontal) erfasst
Generell mit schweren Verletzungen (vor allem SHT / WS) rechnen. Zur besseren
Einschätzung bei Pkw:
- bis 50 km / h: Aufschlagen des Kopfes auf die Kühlerhaube.
- bis 70 km / h: Aufschlagen des Kopfes auf die Windschutzscheibe.
- mehr als 70 km / h: Der Fußgänger wird über das Dach geworfen.
Lebensbedrohliche Verletzungen sind bereits möglich, wenn Radfahrer oder
Fußgänger mit mehr als 30 km/h durch ein Fahrzeug erfaßt werden (der Ver-
dacht muß bei Bremsspuren > 10 - 20 m bei trockener Fahrbahn entstehen).
Ebenso ist bei Überrolltraumen von schweren Verletzungen auszugehen.
• Sturz aus der Höhe (z. B. Leiter)
Stets an HWS- / WS- und SHT denken; bei Sturz auf die gestreckten Beine
typischerweise Fraktur der Fersenbeine, Stauchungsfraktur der WS (BWK 12 /
LWK 1), sowie Schienbeinplateau-Frakturen. Spätestens ab einer Sturzhöhe von
6 m ist von einer Polytraumatisierung auszugehen.
280 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
Polytrauma-Management I
A. Allgemeine Maßnahmen an der Einsatzstelle / Primärversorgung
1. Überblick verschaffen
• Eigenschutz! (s. S. 7 ff.).
! Arbeitsdiagnose Polytrauma, wenn der Unfallmechanismus darauf
schließen läßt (z. B. s. S. 279; die dort aufgeführten Kriterien sind als
Anhaltspunkte zu verstehen; ggf. können Polytraumen bei geringeren
Schäden auftreten oder bei größeren fehlen).
Im Zweifel wie Polytrauma behandeln, bis das Gegenteil feststeht!
• Bei Massenanfall von Verletzten s. S. 72 ff.
• Absichern der Unfallstelle (s. S. 7 ff., 285).
• Kurze Sichtung aller potenziellen Patienten:
- Ansprechbar? Puls tastbar? Atmung sichtbar? Eingeklemmt?
2. Sofortmaßnahmen
• Bei sichtbarer arterieller Blutung: Schnelle Blutstillung (Kompression).
• Bei Bewusstlosigkeit: Seitenlage (vgl. S. 20 f.).
• Ggf. kurze Anweisungen an Ersthelfer.
• Rückmeldung / Nachalarmierung (s. S. 13):
- Unfallereignis
- X Verletzte, davon Y Schwerverletzte
- Z eingeklemmte Patienten
- Gefahren an der Einsatzstelle
Notarzt, Feuerwehr (Gefahr / eingeklemmte Person), Polizei.
Chirurgische Notfälle • Ggf. Einweisen und Koordinieren nachrückender Kräfte.
• - Bei Gefahr im Verzug (z.B. Feuer): Ggf. (Crash-) Rettung des Pat. aus dem
Gefahrenbereich (Dabei an Wirbelsäulen-Trauma denken - wenn möglich
HWS-Immobilisation (s. 4.) und Schaufeltrage / Vakuummatratze!)
- Sonst: Zügige Versorgung, dann gezielt schonende u. rasche Rettung!!
• Möglichst frühzeitig:
1. Immobilisation der Hals-Wirbelsäule:
a) In-Line-Immobilisation (1 Helfer immobilisiert die HWS durch
achsengerechtes Halten des Kopfes) oder
b) HWS-Stützkragen.
2. Sauerstoffinsufflation 10 l / min
3. Wärmeerhaltung
3. Basischeck am Patienten
• Vitalparameter: GCS, kapilläre Füllungszeit, Puls, RR, EKG, AF, SaO2
• Verletzungsmuster: Bodycheck („head to toe“)
! Arbeitsdiagnose Polytrauma, wenn die Vitalparameter und das
Verletzungsmuster den Verdacht begründen.
Im Zweifel wie Polytrauma behandeln, bis das Gegenteil feststeht!
9.13 · Polytrauma 9281
Polytrauma-Management II
B. Stabilisierung der Vitalfunktionen / Initiale Schocktherapie
1. Atmung
• Freimachen / Freihalten der Atemwege, O2-Gabe (100 % !)
• ggf. (assistierte) Beatmung (100 % O2 !)
• ggf. endotracheale Intubation (ggf. Narkoseeinleitung); Indikationen:
GCS < 9, Hypoxie, schwerer Schockzustand,
instabiler Thorax, paradoxe Atmung,
offene Thoraxverletzung, Aspiration
• V. a. Spannungspneumothorax ➯ frühzeitig Entlastungspunktion.
2. Herz-Kreislauf
• Stillung von massiven Blutungen nach außen.
• Wärmeerhaltung / ggf. Schocklage (vgl. unten)
• Venöse Zugänge: Infundieren von VEL; ggf. Druckinfusion
• Ggf. Volumentherapie (s.S. 228 ff!). Anlegen weiterer großlumiger peripherer
venöser Zugänge (mind. 2). Ggf. Kreuzblutabnahme.
Wenn nach schneller Infusion von 1000 ml VEL und 500 ml Kolloid oder
alternativ Small-Volume-resuscitation (s.S. 229) keine Stabilisierung
der Kreislaufsituation eintritt (RRsyst > 80 mmHg) ➯ schnellstmögl.
Transport in geeignete Klinik (Sondersignal + Voranmeldung !).
• Bei Herz-Kreislauf-Stillstand ➯ CPR (s. Kapitel 5).
3. Lagerung
Entsprechend den Verletzungen und Herz-Kreislauf-Verhältnissen.
Vakuummatratze! - Prioritäten:
1. Atem- und oder Herz-Kreislauf-Stillstand ➯ Rückenlage
2. Bewusstlosigkeit, nicht intubiert ➯ Seitenlage (vgl. S. 20 ff.)
a) bei Thorax- / Extremitätentrauma: auf verletzte Seite
b) bei Fremdkörper / sonst: auf unverletzte Seite
3. a) Erschwerte Atmung ➯ Oberkörper hoch (z.B. 45°)
bei Thoraxtrauma [ggf. Patientenwunsch]
b) Abdominaltrauma ➯ Schonhaltung, Knierolle [ggf. Patientenwunsch]
c) Schädel-Hirntrauma ➯ Oberkörper hoch (30°)
d) Wirbelsäulentrauma ➯ Flachlagerung auf Vakuummatratze
4. Extremitätentrauma ➯ Extremität mit Schienen stabilisieren u. fixieren
5. Schocklage a) kombinierbar mit 1. und 2.
b) als Ganzkörperschräglage immer kombinierbar,
außer 3. a)/c)
Wenn eine in der Rangliste zahlenmäßig höher stehende Lagerung zutrifft,
haben weiter unten stehende Angaben keine Bedeutung, es sei denn, sie
ließen sich problemlos kombinieren. Stehen Lagerungen der Gruppe 3. unter-
einander oder mit 5. im Widerspruch, ist eine Flachlagerung anzustreben.
Chirurgische Notfälle 282 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
Polytrauma-Management III
C. Weitere Notfallmaßnahmen (Fortführung Schockbehandlung!)
1. Analgesie (s. S. 454)
2. Narkoseeinleitung, Intubation, Beatmung (s. S. 44 ff.)
• Großzügige Indikationsstellung - sofern noch nicht initial geschehen.
3. Monitoring
• Lückenlose Überwachung der Vitalfunktionen.
4. Genaues Verletzungsmuster bestimmen (s. S. 103)
• Vollständiges Entkleiden, damit keine Verletzungen übersehen werden.
• Wärmeerhaltung beachten - wenn möglich im geheizten Fahrzeug.
• Ausgangsbefunde dokumentieren!
5. Wunden steril abdecken
6. Ggf. Magensonde legen
(intubierter Patient; nicht bei Gesichtsschädeltrauma).
7. Vorbereiten des Transports
• Auswahl der Zielklinik; ggf. Spezialklinik (Verbrennung, SHT).
• Anmeldung in der Klinik über Rettungsleitstelle.
• Ggf. Transport mit Hubschrauber (langer Transportweg, Wirbelsäulen-
Trauma, Spezialklinik).
8. Dokumentation
• Unfallhergang.
• Untersuchungsdaten, die später evtl. nicht mehr erhoben werden können
(z. B. Unfallmechanismus, Beweglichkeit der Extremitäten (aktiv / passiv),
Schmerzen, Sensibilitätsstörungen).
D. Spezielle Maßnahmen - Versorgung einzelner Verletzungen
(Überprüfen, ob bereits abgearbeitet !)
1. Thoraxtrauma (s. S. 268 ff.)
1. Lagerung
2. Intubation und Beatmung bei instabilem Thorax
3. Entlastungspunktion bei Spannungspneumothorax;
Ggf. Thoraxdrainage (z. B. bei anstehendem Hubschrauber-Transport).
4. Ggf. Punktion einer Herzbeuteltamponade durch den Geübten
5. Bei intrathorakaler Blutung kann eine Stabilisierung des Patienten u.U. nur
operativ herbeigeführt werden. Der Patient wird vor Ort mit venösen Zugän-
gen versorgt und bei vorliegender Indikation intubiert. Spätestens bei feh-
lender Stabilisierung (RRsyst > 80 mmHg) nach Druckinfusion von 1000 ml
VEL und 500 ml kolloidalem Volumenersatzmittel ist ein schnellstmöglicher
Transport in eine geeignete Klinik mit Voranmeldung indiziert.
9.13 · Polytrauma 9283
Polytrauma-Management IV
2. Abdominaltrauma (s. S. 272 f.)
1. Lagerung.
2. Volumenersatz!
3. Steril-feuchtes Abdecken bei offenem Trauma / kein Reponieren
ausgetretener Bauchorgane!
4. Bei intraabdomineller Blutung kann eine Stabilisierung des Patienten u.U.
nur operativ herbeigeführt werden. Der Patient wird vor Ort mit venösen
Zugängen versorgt und bei vorliegender Indikation intubiert. Spätestens bei
fehlender Stabilisierung (RRsyst > 80 mmHg) nach Druckinfusion von 1000
ml VEL und 500 ml kolloidalem Volumenersatzmittel ist ein schnellstmögli-
cher Transport in eine geeignete Klinik mit Voranmeldung indiziert.
3. Schädel-Hirn-Trauma (s. S. 252 ff.)
1. Auf ausreichenden Blutdruck achten!
2. 30° Oberkörperhochlagerung (Seitenlage bei Bewusstlosigkeit)
3. Kontrollierte (Kapnometrie) Normoventilation anstreben (pCO2 = 35 - 38 mm
Hg)
4. Wirbelsäulentrauma (s. S. 252 f.)
1. Lagerung
2. Ruhigstellung (HWS-Krause, Vakuummatratze)
3. Ggf. Kortikoidgabe (Methylprednisolon, hochdosiert)
5. Extremitätentrauma (s. S. 266 f.)
1. Lagern, Reponieren (NA) und Ruhigstellen
2. Blutstillung, Verband
3. ggf. Amputatversorgung
E. Transport unter Fortführung von
Schockbehandlung, Narkose, Beatmung, Monitoring, Dokumentation
Praxistipps
• Zeit im Auge behalten! Bei Patienten ohne erschwerte Rettung sollten die
Stabilisierungsmaßnahmen bis zum Beginn des Transportes nicht mehr als
30 min in Anspruch nehmen! (Dies setzt trainierte Strategien voraus.)
• Schock, Alkoholanamnese und Alkoholgeruch gelten bis zum Beweis
des Gegenteils nicht als Erklärung für Bewusstseinsstörungen!
• Vorrang vor der Versorgung einzelner Verletzungen hat in jedem Falle
die Sicherung und Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen!
• Insgesamt haben Thoraxverletzungen (Atemstörungen) und Abdominal-
verletzungen (nicht abschätzbarer Blutverlust) Therapiepriorität (z.B. vor SHT).
• Schmerzen und Hilflosigkeit des Patienten ➯ Stress, Angst ➯ psychische
Betreuung nicht vergessen (vgl. S. 430 f.).
• Voranmeldung in aufnehmender Klinik: z.B. über RLS Verletzungsmuster,
Patientenzustand, Alter, Geschlecht, benötigtes Personal usw. mitteilen lassen.
Chirurgische Notfälle
Die technische Rettung selbst sollte sich – aus didaktischen und praktischen Gründen – soweit möglich in drei Phasen gliedern: 284 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
Eingeklemmter Patient / Technische Rettung I
Rettungs-Phase 1. Maßnahmen der Feuerwehr 2. Maßnahmen des Rettungsdienstes
I. Ziel: Erstzugang zum Patienten, möglichst Erster orientierender Blick, erste Parametererhebung (Basis-
Erstöffnung schnell muß ein Helfer (NA/RA) zum Patien- check), Erstbeurteilung, lebensrettende Sofortmaßnahmen (z. B.
ten. Primär notwendig: freies Gesicht für Blutstillung, Sauerstoffgabe – Vorsicht: Brandgefahr!), psychi-
•Bester Erstzugang aus Airway-Management, Arm / Bein für Puls- sche Betreuung. Ist die Feuerwehr noch nicht vor Ort und keine
medizinischer und kontrolle und Venenzugang; wenn möglich, Öffnung (z. B. unbeschädigte Tür) vorhanden: am besten über
technischer Sicht! erfolgt der Zugang ohne aufwendige techni- Heckfenster / Seitenfenster (nicht direkt am Patienten) z. B. mit
sche Maßnahmen (z. B. durch ein Pkw- Blechaufreißer; Schutz des Patienten vor Feuerwehr-Gerät,
Heckfenster); grobe Sicherung des Fahrzeu- Splitterflug (z. B. mit Decke oder Spezialfolie, Helm mit Visier) –
ges gegen Lageveränderung und zusätzliche Patienten über alle Maßnahmen informieren!
Gefahren.
II. Ziel: Schaffung eines Arbeitsraumes am Intensivierte Maßnahmen der Anmerkung:
Patienten, der die medizinische Notfall- medizinischen Rettung (Sicherstel- Eine derart optimierte
Versorgungsöffnung behandlung ermöglicht. lung der Atmung, Schockbehand- Zusammenarbeit kann nur
Z. B. Stabilisierung des Fahrzeuges, Dach- lung, Analgesie, Monitoring, funktionieren, wenn sich
•Ggf. Etappen zwischen entfernung, Abpolsterung gefährlicher Blech- ggf. Narkoseeinleitung). die beiden Einsatzleiter
Medizin und Technik! teile, ggf. mechanische Entlastung eines (Feuerwehr und Rettungs-
eingeklemmten Thorax. dienst [in der Regel der
III. Ziel: Befreiung aller eingeklemmten Körper- Stabilisierung (z. B. weiterführende Notarzt]) untereinander
Befreiungsöffnung partien (z. B. Beinraumöffnung - Beachte: Schockbehandlung) und absprechen. Es muß dabei
Immobilisierung (z.B. Rettungs- beachtet werden, daß
erhöhte perakute Schockgefahr bei Wegnah- korsett), Lagerung und Transport nicht immer die einfach-
sten oder die komplizierte-
me der Last !), Raum schaffen für Rettungs- zum Rettungsmittel.
•Technische Möglichkeiten? geräte (z. B. Schaufeltrage, Rettungskorsett, sten Möglichkeiten ergrif-
•Crash-Rettung notwendig? Wirbelsäulenbrett), Freimachen des Weges
zum Rettungsmittel (z. B. Leitplanken tren-
nen). fen werden müssen,
sondern die sinnvollsten.
Hinweis: Die technischen Maßnahmen und Geräte werden auf den folgenden Seiten erläutert.
9.13 · Polytrauma 9285
Eingeklemmter Patient / Technische Rettung II
Da es für den Rettungsdienst keine Möglichkeit gibt, Patienten unter Einsatz von schwerem
technischen Gerät schonend aus ungünstigen Lagen zu befreien, ist in solchen Fällen an eine
frühzeitige Nachalarmierung der Feuerwehr zu denken. Es sollte keine Zeit mit dem Versuch
verschwendet werden, Patienten aus Lagen zu retten, denen man offensichtlich - ohne Gerät
oder Fachkenntnis - nicht gewachsen ist. Die Feuerwehr sorgt bei guter Koordination schnell
und effektiv für einen sicheren und ausreichend großen Zugang zum Patienten. Vor jeder
qualifizierten technischen Rettung ist die Beachtung des Eigenschutzes, eine angemessene
Lageerkundung und eine fachgerechte Rückmeldung (Nachalarmierung) an die Leitstelle zwin-
gend notwendig (vgl. S. 21). Bei Unfällen mit Kraftfahrzeugen beachte bes. folgende Punkte:
• Schutzausrüstung (Gefahren durch Einsatzstelle, Verkehr und
Rettungsarbeiten): z. B. Schutzhelm mit Visier und Nackenschutz (nach
DIN EN 443), Warnkleidung oder Warnweste (nach DIN EN 471, Klasse 2),
Feuerwehrhandschuhe (nach DIN EN 659), Sicherheitsschuhe (z. B. nach
DIN EN 345, Kategorie S2 / Bewertungsgruppe R1 nach DIN 4843).
• Sichern der E-Stelle, z. B. durch entspr. Aufstellung der Fahrzeuge,
Blaues Blinklicht, Warndreiecke, Leitkegel.
• Zündung der Unfallfahrzeuge abstellen / Batterie abklemmen (Minuspol
zuerst) / Feuerlöscher positionieren.
• An Gefahren durch (nicht ausgelösten) Airbag denken (s. S. 9), bei
ausgelöstem Airbag evtl. noch heiße Zündkapsel.
Zu den Erstmaßnahmen der Feuerwehr am Einsatzort gehören
• die Sicherung des Fahrzeugs gegen Wegrollen, Umkippen bzw.
Abstürzen (soweit notwendig - z. B. Böschung / Abhang),
• die Sicherung der Brandgefahr (Bereitstellen von Feuerlöschern, ggf.
Vornahme eines Schnellangriffes: fertigangeschlossener Schlauch mit
Strahlrohr, mindestens Wasser bis zum Strahlrohr; ggf. Schaumteppich),
• Beseitigung von gefährlichen Gegenständen, Scherben und Splittern.
Sollte der Rettungsdienst vor der Feuerwehr eintreffen, muss der Eigen-
schutz im Hinblick auf diese Gefahren höchste Priorität genießen!
Kleine Werkzeugkunde
Zur patientengerechten technischen Rettung stehen seitens der Feuerwehr tech-
nische Spezialgeräte zur Verfügung, die auch dem Notarzt (zumindest vom Prin-
zip und in ihren Auswirkungen auf den Einsatz) bekannt sein sollten:
Hydraulisches Spreizgerät (Rettungsspreizer)
Er kommt zum Einsatz zum Auseinanderspreizen bzw. Zusammendrücken von Blechteilen und
zum Anheben kleiner Lasten. Er wird über eine Hydraulik-Pumpe angetrieben, die meist eines
Verbrennungsmotors in näherer Umgebung bedarf, der – wie auch die unten genannten
Hydraulikgeräte - über zwei Hochdruckschläuche mit dem Gerät in Verbindung steht. So kön-
nen z. B. Türen ohne Funkenbildung aufgesprengt und mit Hilfe von Zubehör (z. B. Ketten, die
den Weg verlängern) auch Bauteile (z. B. früher: Lenksäulen) verzogen werden. Spreizweg bis
zu ca. 80 cm, Spreizkraft an der Spitze ca. 45 - 80 kN; Spezialgeräte bis zu ca. 200 kN (selten
anzutreffen).
Hydraulisches Schneidegerät (Rettungsschere)
Technisch mit Spreizer vergleichbar, wird zum Durchtrennen von Blechen und Holmen genutzt
(z. B. A- und B-Säule mit dem Ziel des Wegklappens des Autodaches nach hinten). Auch
andere Metallteile, z. B. Torpfosten und Scharniere können abgeschnitten werden. Achtung:
gehärtete Metallteile (z. B. Achsen, Lenksäulen) können nicht durchtrennt werden. Unter
286 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
Eingeklemmter Patient / Technische Rettung III
Spannung stehende Teile und freie Metallstangenenden dürfen nicht geschnitten werden.
Schnittkraft je nach Öffnungsweite und Ansatz zwischen ca. 80 und 100 kN; Spezialgeräte bis
ca. 300 kN. Größte Öffnung ca. 8–20 cm. Vollmaterial bis zu ca. 2 cm schneidbar.
Anmerkung zu Schere und Spreizer
Der Einsatz von Spreizer und Schere läuft nicht immer ohne Funkenbildung ab (z.B. noch unter
Spannung stehende Elektrokabel - ggf. Batterie abklemmen!). Schneid- und Spreizgeräte gibt
es auch als Kombinationsgeräte. Lenksäulen werden heute nicht mehr mit dem Spreizer vor-
gezogen, heute klappt man das ganze Fahrzeugvorderteil nach vorne weg. Dazu sind zwei
Einschnitte im unteren Teil der A-Säulen notwendig; dann wird mit einem Rettungszylinder,
der in eine der beiden vorderen Türöffnungen positioniert wird, das Fahrzeugvorderteil weg-
gedrückt. Diese Maßnahme ist sicherer und schafft auch mehr Platz.
Hydraulikstempel (Rettungszylinder)
Teleskopartig sich verlängernden Kolben zum Auseinandergedrücken von Lasten (z. B. Kfz-
Türen). Spreizweg zwischen ca. 30 und 70 cm (hinzu kommt die Eigenlänge von ca. 50 - 100
cm). Die Spreizkraft gängiger Modelle beträgt ca. 130 kN, seltener bis zu 200 kN.
Hydraulischer Pedalschneider
Sehr kompaktes Gerät mit geringerer Leistung zum Trennen von Pedalsträngen und Lenkrad-
kranz. Eine gute Alternative besteht in einer Fangleine, die man am Pedal befestigt und dann
nach außen wegzieht. Wenn hierzu der Platz nicht ausreicht, kommt man mit dem Pedal-
schneider i.d.R. auch nicht weiter.
Trennschleifer
Entspricht einem handelsüblichen Gerät (elektrisch oder mit Verbrennungsmotor). Seltener
Einsatz wegen Funkenfluges, starker Lärmbelastung, Verletzungsgefahr und Erschütterungen.
Schneidbrenner
Schweißgerät, das mit thermischer Wirkung auch stabile Metallteile trennen kann. Er kommt
zum Einsatz, wenn hydraulische Rettungsgeräte versagt haben. Aber: Brandgefahr bedenken !
Chirurgische Notfälle Hebegeräte
Zum Heben von Lasten, z. B. unter denen eine Person eingeklemmt ist (Lasten über 10 t bei
entsprechend großer Auflagefläche), kommen Luftheber (Niederdruckkissen) und (Mini- / Hoch-
druck-) Hebekissen zum Einsatz. Technische Daten:
Arbeitsdruck: Niederdruckkissen: Hochdruckkissen:
Hubkraft: 0,1 bar / 0,5 bar / 1 bar 6 bar / 8 bar / 10 bar
Hubhöhe: 58 - 226 kN 10 - 677 kN
Einschubhöhe: bis 110 cm 1 Kissen bis 52 cm / 2 Kissen bis 104 cm
3 cm 2,5 cm
Fußnoten zum Algorithmus auf der folgenden Seite
1 Der Algorithmus wird verlassen, wenn der ursprüngliche Verdacht aufgrund von
Tatsachen widerlegt worden ist.
2 Crash-Rettung bedeutet, den Patienten schnellstmöglich vom Auffindeort an
einen geeigneten Platz zur Erstversorgung oder direkt in das bereitgestellte
Rettungsmittel zu verbringen. Dabei steht die Schnelligkeit aufgrund einer vitalen
Gefährdung gegenüber der schonenden Rettung (Prophylaxe von Sekundär-
schäden) im Vordergrund. Gründe, z.B. ohne die sonst gebotene Vorsicht zu
retten oder umzulagern können sein:
• Es besteht eine äußere akute, nicht abschirmbare Lebensgefahr für den Pat.
(z.B. Fahrzeugbrand, Feuerwehr nicht vor Ort, Feuerlöscher leer...).
• Das Leben des Patienten kann nur gerettet werden, wenn er eiligst der opera-
tiven Versorgung (Klinik) zugeführt wird (z.B. intraabdominelle Blutung).
• Die Versorgung des Pat. ist durch ungünstige Arbeitsbedingungen für den RD
gefährdet (z.B. Gewitter, gestörte Logistik in unwegsamem Gelände).
3 Algorithmus zum Advanced Airway-Management nach ERC siehe S. 205.
9.13 · Polytrauma 9287
Vorgehen bei Verdacht auf Polytrauma 1 !
(Verdacht durch Meldung, Unfallmechanismus, Verletzungsmuster oder Vitalparameter)
Entspricht die Lage der Meldung? NEIN Rückmeldung an RLS!
(s. S. 13) - Weiter bei *
JA Pat. in Lebensgefahr (z. B. Feuer): Crash-
Rettung unter Beachtung des Eigenschutzes2 MANV (S. 72 ff.)
Mehr Patienten als Rettungsmittel? JA
NEIN Eigengefährdung? JA Eigenschutz (S. 7 ff.)
NEIN Person eingeklemmt? JA Techn. Rettung (S. 284)
NEIN NEIN CPR (BLS / ALS)
JA * Patient ansprechbar? JA
(S.166 ff.)
Sichtbare Massenblutung? HWS kontinuierlich
stabilisieren
NEIN Blutstillung Airway-Management 3 ;
HWS-Immobilisation (Druckverband / Intubation bei
(Inline / Stützkragen) manuelle GCS<9, schwerem Schock,
Hypoxie (SaO2 < 90%),
Atmung suffizient? Kompression) Aspiration, schwerem
Thoraxtrauma (z.B.instabil)
NEIN
ggf. Entlastung eines
JA Sauerstoff über Maske Spannungspneumothorax
Insufflation 10-15 l/min
Basis-Check (s. S. 16)
Initiale Schockbekämpfung • GCS, RR, Puls, SaO2, EKG
(max. 5 min: 2 großlumige venöse • Bodycheck („head to toe“)
Zugänge; schnelle Volumengabe:
(1000ml VEL + 500ml Kolloid oder Zeichen klinischer Instabilität?
Small-Volume-Resuscitation s.S.229!)
(z. B. RRsyst < 80 mmHg)
• Wärmeerhalt (z. B. Decke)
NEIN Arbeitsdiagnose: JA
- Polytrauma -
• Analgesie, ggf. Sedierung, Monitoring • Angepasste Volumentherapie
• ggf. Narkose / Intubation • Analgesie, Narkose, Intubation
• Volumentherapie nach Bedarf • Monitoring; ggf. Thoraxdrainage
• Kreuzblutabnahme • ggf. Crash-Rettung
• Schonende Rettung, Entkleiden • schnellstmöglicher Sondersignal-
• Lagerung (Vakuummatratze) Transport in die nächste geeignete
• Verletzungsmuster bestimmen Klinik (OP)
• Notfalltherapie spezieller Verletzungs • Voranmeldung in der Klinik
muster (z.B.SHT);ggf.Thoraxdrainage • ggf. Kreuzblut mit NEF oder Polizei
• Transport mit Voranmeldung vorausschicken
Bei Transportzeiten > 15 min rechtzeitig Hubschraubertransport erwägen!
Chirurgische Notfälle 288 Kapitel 9 · Chirurgische Notfälle
Akute Magen-Darm-Blutung
Synonym: Gastrointestinale Blutung (im folgenden mit GIB abgekürzt).
Einteilung
• Obere GIB: Alle Blutungen von der Speiseröhre bis zum Ende des Zwölffinger-
darmes. 90 % aller GIB (davon 50 % Magen-Darm-Ulkus, 30 % entzündliche
Veränderungen der Schleimhäute, 10 % Ösophagusvarizen, 5 % Karzinome,
5 % Mallory-Weiss-Syndrom (s. nächste Seite)).
• Untere GIB: Alle Blutungen im Bereich des Dünndarmes (außerhalb des Zwölf-
fingerdarmes) und des Dickdarmes, des Sigmoid- und des Enddarmes, des
Rektums. 10 % aller GIB (davon 80 % Hämorrhoidalblutungen).
Kollateralen / Anastomosen des Pfortaderkreislaufs
Das venöse Blut aus den unpaarigen Bauchorganen gelangt über die Pfortader
zur Leber. Wenn die Leber krankheitsbedingt, z. B. durch Leberzirrhose (Alkohol-
konsum, Hepatitis), eine herabgesetzte Durchblutungsrate hat, kommt es zu ei-
ner Stauung im Pfortaderkreislauf. Dieser kann umgangen werden über
• Ösophagusvarizen (Umgehung über Venen des Magens und der
Speiseröhre in die obere Hohlvene),
• Hämorrhoiden (Plexus hämorrhoidalis / Umgehung über Venen des
Enddarmes und Rektalvenen),
• Caput medusae (Umgehung über Venen unter der Bauchhaut, um den
Nabel herum).
Diese Gefäße (portocavale Anastomosen) werden bei immer stärkerer Durchblu-
tung aufgeweitet (Varizen) und können zu Blutungen führen. Ösophagusvarizen-
blutungen beginnen oft akut. Schwallartiges Bluterbrechen. Oft kombiniert mit
massiven Teerstühlen. Volumenmangelschock!
Wichtige Symptome bei GIB / DD
• Bluterbrechen (Hämatemesis): frisches rotes Blut, welches der Patient
ausspuckt, stammt entweder aus
- Ösophagusvarizen, die schwallartig in die Speiseröhre bluten,
- dem Mund- oder Nasen- (Rachen-) Raum (z. B. Gefäßruptur) oder
- dem Atmungstrakt (Lunge, z. B. Tumorblutung / Bronchusabriss).
• Kaffeesatzerbrechen: Blut, welches im Magen angedaut wurde, ist braun bis
schwarz. Ursachen: z. B. obere GIB, Nasenbluten.
• Teerstuhl (Melaena): Blut aus oberen bis mittleren Darmabschnitten, welches
den Verdauungskanal passiert und ausgeschieden wird, färbt den Stuhl dunkel
bis schwarz. Kleine Blutmengen müssen, obwohl sie ebenfalls zu gefährlicher
Anämie führen können (über Tage bis Wochen), nicht augenfällig sein. Dunkler
Stuhl auch durch Nahrungsmittel (Spinat) oder Medikamente (Eisen, Kohle).
• Blutauflagerungen: Findet sich frisches rotes Blut im Stuhl, so ist die Quelle
im letzten Darmabschnitt zu suchen (z. B. durch Hämorrhoiden).