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Published by ce, 2018-06-05 09:58:26

KOMPLETT_3Ausgaben

KOMPLETT_3Ausgaben

dukts. Über eine halbe Million Menschen sind in der deutschen der gesellschaftlichen Wahrnehmung primär auf Provision aus
Versicherungswirtschaft erwerbstätig. Das Wirtschaftsforschungs- ist, nicht auf das Wohl seiner Kunden. Vor rund einem Jahr ha-
und Beratungsinstitut Prognos hat feingerechnet: Eine Branche, ben der Branche Berichte über Lustreisen nach Budapest, Jamaika
auf die volkswirtschaftlich lediglich 1,4 Prozent der Erwerbstätigen und Mallorca auf Firmenkosten schweren Imageschaden bereitet.
entfallen, ist demnach für ein Achtel des Wachstums verantwort- Dabei hat der Gesamtverband einen klaren „Verhaltenskodex“ für
lich. Zusätzlich zum Risikoschutz übernimmt die Versicherungs- seine Mitglieder aufgelegt. Mit dem markanten Kernsatz, dass für
wirtschaft für die Volkswirtschaft auch die wichtige Funktion eines einen Versicherungsvermittler der gleiche Anspruch an Integrität
langfristig orientierten Kapitalgebers mit einem Anlagevolumen gilt wie für einem „ehrbaren Kaufmann“. Unternehmen, die dem
von etwa 1,35 Billionen Euro. Kodex beitreten, stellen sich alle zwei Jahre einem Test durch ex-
Noch einmal: 1,35 Billionen Euro. Eine unfassbare wirtschaftliche terne Wirtschaftsprüfer. Aktuell haben rund zwei Drittel aller Un-
Macht verbirgt sich hinter dieser Summe. Die auch nachhaltig ein- ternehmen den Kodex unterzeichnet. Gemessen an den Beitrags-
gesetzt wird? Wie lässt sich der Begriff „Nachhaltigkeit“ überhaupt einnahmen vertreten sie 70 Prozent des Marktes.
auf eine eben schwer zu greifende Branche anwenden? Überra- Zum guten Schluss – mehr als nur ein Nebenthema: Die deut-
schend direkt. Nachhaltiges Wirtschaften und Investieren ist ein schen Versicherungsunternehmen investieren auch in die aktive
zentrales Merkmal des Versicherungsgeschäfts: Die langfristige Ab- Schadensvermeidung. In der ersten Reaktion könnte man dies als
sicherung der Menschen durch den Risikoausgleich über Vertrags- reinen Selbstschutz auslegen. Doch das Engagement geht tiefer.
generationen hinweg ist im Wortsinn nachhaltig. Entsprechend Bis hin zur wissenschaftlich fundierten Unfallforschung – deren
sind Versicherer an langfristigen, nachhaltig wertschöpfenden In- Ergebnisse publiziert werden und der Allgemeinheit zugute kom-
vestitionen interessiert, um ihre lang laufenden Verpflichtungen men. Das schönste Beispiel zum Jahreswechsel und für unser aller
erfüllen zu können. Poesiealbum: Die Zahl der Wohnungsbrände steigt zum Jahresen-
Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft gibt de dramatisch an – um über 40 Prozent. Auslöser sind: die dunkle
auch ethische Maßstäbe vor –  wie eben Versicherungsunterneh- Jahreszeit, die Feiertage und der Trend zum Kerzenlicht. Auf ihren
men in Deutschland bei der Anlageentscheidung nach sozialen Websites geben die Versicherer beachtenswerte Ratschläge, wie
und ökologischen Standards vorgehen sollen. Der GDV legte ei- man die züngelnden Flammen am besten unter Kontrolle hält.
gens ein „Positionspapier zur Verbesserung der Bedingungen für Die Nachricht hinter der Nachricht: Obwohl die Zahl der Brände
Investitionen in Infrastruktur und Erneuerbare Energien“ auf. in den letzten fünf Jahren beständig abgenommen hat, stieg der
Mit klaren Ratschlägen, wie Kapital für gesellschaftlich relevante wirtschaftliche Schaden pro Fall deutlich.
Projekte mobilisiert werden soll. „Dabei unterscheiden sich Ver-
sicherungsunternehmen fundamental von anderen Anlegern wie DIE DEUTSCHE VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT
etwa Hedgefonds oder Investmentfonds, da sich ihr besonderes
Geschäftsmodell – die langfristige Absicherung von Risiken – auch EINZIGARTIGE KOMPETENZLANDSCHAFT
in der Ausrichtung der Kapitalanlagen widerspiegelt: Ein beson-
deres Merkmal ist, dass Versicherer ihre Kapitalanlagen oftmals Der Wirtschaftsstandort Deutschland wird zumeist mit Branchen wie
bis zur Fälligkeit halten, um ihre ebenfalls lang laufenden Verbind- dem Maschinenbau, der Fahrzeugherstellung, der chemischen Industrie
lichkeiten erfüllen zu können. Versicherer sind deshalb an siche- oder der Elektrotechnik verbunden. Die ökonomische Bedeutung der
ren, beständigen und lang laufenden Kapitalflüssen interessiert. deutschen Versicherungswirtschaft wird dagegen verkannt. Die deutsche
Mit diesem Fokus auf nachhaltig wertschöpfende Investitionen Versicherungswirtschaft nimmt international eine Spitzenposition ein.
unterscheiden sie sich deutlich von anderen, eher auf kurzfristige Deutschland hat den weltweit sechstgrößten Erstversicherungsmarkt.
Gewinnmaximierung fixierten Finanzmarktakteuren.“ Deutsche Erstversicherer gehören zu den führenden Anbietern auf vielen
Das ideale Ziel der Versicherer sind erneuerbare Energien – lang- ausländischen Versicherungsmärkten. Im Rückversicherungsgeschäft ist
fristig wird hier mit kalkulierbaren Erträgen gerechnet. Zugleich die Bundesrepublik mit einem Anteil von 31 Prozent der globalen Beiträge
auch ein politischer Hebel angesetzt – pro Energiewende. Die sogar der weltweit führende Standort. Diese Stärke spiegelt sich in einer
aktuellen Verhandlungen zur Bildung einer neuen Regierung in einzigartigen Kompetenzlandschaft wider, die durch eine große Vielfalt
Berlin werden deshalb von der Versicherungsbranche mit Argus- von Versicherungsunternehmen, leistungsfähige Verbands- und Aufsichts-
augen verfolgt. Nicht zuletzt, weil die deutschen Versicherer auch strukturen, eine Vielzahl fachlicher Organisationen sowie Forschung und
zu den führenden Risikoträgern gehören, wenn es um Techniken Lehre gekennzeichnet ist.
wie Wind, Sonne und Biogas geht. Beim Ausbau und Betrieb von Als eines der drei weltweit exportstärksten Länder ist Deutschland be-
Windparks auf dem offenen Meer entsteht ein Schadenpotenzial sonders auf die Absicherung von Handelsrisiken angewiesen. Hierzu zäh-
von bislang ungeahntem Ausmaß: Naturgewalten können an Off- len etwa Transport- und Kreditrisiken. Versicherungslösungen sind eine
shore-Windparks, Konverterplattformen und Stromnetzen Schä- Voraussetzung dafür, dass sich die deutschen Unternehmen international
den in Milliardenhöhe verursachen. Nur verständlich, dass die engagieren. Versicherungsschutz stabilisiert die wirtschaftliche Leistung
Branche nachfragt, wie ernst es eine kommende Bundesregierung einer Volkswirtschaft.
mit der Energiewende tatsächlich meint. Wer die tiefere Botschaft Analysen zeigen, dass die wirtschaftliche Bedeutung der Versicherungs-
liest: Die Versicherer selbst wollen sich absichern gegen mögliche wirtschaft überproportional hoch ist. Eine Branche, auf die direkt nur 1,4
Stromausfälle, Havarien oder gar Terroranschläge. Prozent der Erwerbstätigen entfallen, ist für rund ein Achtel des gesamten
Das nächste, überraschend offen angesprochene Ziel auf der Agen- Wirtschaftswachstums in Deutschland verantwortlich.
da: Die deutschen Versicherer wollen dem bösen Klischee ihrer Die Bedeutung für die Gesamtwirtschaft wird auch durch die Relation
Zunft begegnen. Wonach ein typischer Versicherungsvertreter in von Umsatz zu Wertschöpfung deutlich: So entsteht aus dem Umsatz von
einem Euro in der Versicherungswirtschaft eine gesamtwirtschaftliche
Wertschöpfung von 1,30 Euro. Zum Vergleich: Im Durchschnitt aller Bran-
chen entsteht durch einen Umsatz von einem Euro nur eine Wertschöp-
fung von 24 Cent.

(Quelle: Studie Prognos AG für den Gesamtverband der Deutschen Versicherungs­
wirtschaft e.V. GDV)

WIRTSCHAFT // Versicherungen

01

ALLIANZ SE

ELEKTRISCH MOBILISIERTER VORSTAND spezifischen Mindeststandards für Versicherungen, Asset Manage-
ment und das Bankgeschäft sowie dem Allianz Verhaltenskodex
„Die Finanz- und Schuldenkrise kann mehr als alle Sonntagsreden zusammensetzt. Darunter nicht nur ein klares Bekenntnis, son-
der Vergangenheit dazu beitragen, dass der Wert nachhaltigen dern auch ein Zielplan pro Umweltschutz. So hat die Allianz ihren
Wirtschaftens wieder stärker in das Bewusstsein rückt. Wir werden CO2-Ausstoß seit 2006 um 35,6 Prozent reduziert. Als einer der
nicht für immer über unsere Verhältnisse leben können.“ Sagt Mi- ersten Kunden nahm erst kürzlich Oliver Bäte, Vorstandsmitglied
chael Diekmann, Vorsitzender des Vorstands der Allianz Societas der Allianz, in der BMW-Welt einen i3 entgegen. Dieser Elektro­
Europaea. Der Begriff wie der Sinn des Wörtchens Nachhaltigkeit antriebler kommt in den Münchner Vorstands-Fuhrpark der
wird an der Konzernspitze ebenso gelebt wie in kleinen, aber über- Allianz – der bereits zu zehn Prozent elektrisch unterwegs ist.
raschenden Projekten. So ließ beispielsweise der Allianz Mitarbei-
ter Ashraf El Sharkawy sein Leben in München hinter sich, um in Allianz SE
seinem Heimatland Ägypten mit dem eigenen Projekt „Freedom
Bus“ zur Demokratie beizutragen – der dabei entstandene Doku- Gründungsjahr: 1890
mentarfilm wurde auf dem Filmfest München 2013 mit dem Publi- Sitz: München
kumspreis ausgezeichnet. Heute arbeitet Ashraf El Sharkawy für Mitarbeiter: 144.000
die Allianz in Kairo, dort verantwortlich als Vorstandsmitglied für Umsatz 2012: 106,4 Milliarden Euro
54 55 cMaatirok ents.Mana gement, Custome r Service und Corporate Communi- Vorstandsvorsitzender: Michael Diekmann
Der Nachhaltigkeitsansatz wird durch ein konzernweites Rahmen-
werk geregelt, das sich aus der Allianz Konzernrichtlinie (Allianz
Group Policy), den damit verbundenen Richtlinien und segment-

02

AXA GRUPPE

MIT DEM WISSEN UM DIE RISIKEN tiert bei den Eltern also eine deutliche Diskrepanz zwischen sub-
jektiv gefühlter Sicherheit zu Hause und objektiver Unfallgefahr.
Corporate Responsibility gehört seit 2008 zu den 15 strategischen Für den AXA Konzern gilt die Aufklärung über Gefahren als wich-
Schwerpunktthemen der AXA Gruppe. Der Fokus liegt dabei auf tigste Präventionsmaßnahme. „Sicherheit beginnt mit dem Wissen
Risikoforschung und Bildung. Unter anderem arbeitet AXA mit an über Risiken. Wir wollen uns dafür einsetzen, dass Eltern und Kin-
der International Strategy for Disaster Reduction (UNISDR) der der Risiken kennen, verstehen und bewusst mit ihnen umgehen“,
Vereinten Nationen. In Deutschland hat der Versicherungskonzern so Dr. Thomas Buberl, Vorstandsvorsitzender der AXA Konzern AG.
die AXA Kindersicherheitsinitiative ins Leben gerufen. Der AXA
Kindersicherheitsreport betrachtet die Sicherheitserziehung von AXA Konzern AG
Kindern aus der Perspektive von Eltern und Pädagogen. Ziel der
Studie ist es, Diskrepanzen zwischen Gefahrenwahrnehmung und Gründungsjahr: 1817
objektivem Risiko herauszustellen und so Eltern für unterschätzte Sitz der Firmenmutter AXA SA: Paris
Gefahren zu sensibilisieren. Sitz AG: Köln
So unterschätzen Eltern von Kleinkindern beispielsweise die Un- Mitarbeiter: 10.000 (AG), 163.000 (SA)
fallgefahren im eigenen Haushalt massiv. Erst mit deutlichem Umsatz 2012: 90,1 Milliarden Euro
Abstand zum Straßenverkehr nennen sie an fünfter Stelle das Zu- Vorstandsvorsitzender AG: Thomas Buberl
hause oder die Wohnung einer Betreuungsperson als einen der Vorstandsvorsitzender SA: Henri de Castries
gefährlichsten Orte. Dabei ist die Gefahr für Kleinkinder, zu Hause
einen Unfall zu erleiden, nach aktuellen Forschungsergebnissen
zehnmal höher als im Straßenverkehr. Bei kleinen Kindern machen
die häuslichen Unfälle über 60 Prozent aller Unfälle aus. Es exis­

03

BARMENIA

NEUER HAUPTSITZ MIT VORBILDFUNKTION dige Kühlung – vollständig ohne den Einsatz von FCKW. Nebenbei:
Dem Wuppertaler Stadtteil Barmen verdankt die Versicherung
Seit 2001 verfügt die Barmenia über einen Beirat, der die besten ihren Taufnamen.
ökologischen Investitionen mitsteuert. Das Kapital wird dabei in Die Hauspolitik führt die Barmenia bis zum Endkunden: Für Pkw
Aktien und festverzinslichen Wertpapieren angelegt, die teils di- werden die Beiträge sowohl in der Kfz-Haftpflicht- als auch in der
rekt und teils indirekt über nachhaltige Publikumsfonds gehalten Kaskoversicherung um fünf Prozent reduziert, sofern das Fahrzeug
werden. Als konkrete, nachvollziehbare Beispiele führt die Barme- am Tag der Antragsaufnahme maximal ein Jahr alt ist und der Hub-
nia an: Pictet European Sustainable Equities, Sarasin OekoSar raum des Fahrzeuges maximal 1.100 ccm beträgt oder wenn es sich
Portfolio, Sarasin FairInvest Universal-Fonds und Warburg Zukunft um ein Elektro- oder Hybridfahrzeug handelt. Wenigfahrer werden
Strategiefonds. Die nachhaltigen Anlagen will die Barmenia aus- entsprechend der jährlichen Fahrleistung mit günstigen Prämien
bauen. So investiert man inzwischen in den Aufbau eines Port­ belohnt.
folios aus Solarparks.
Hausintern wurde das Ziel festgelegt, die Barmenia bis zum Jah- Barmenia VVaG, AG
re 2016 CO2-neutral arbeiten zu lassen. Über den Ausgleich von
Emissionen, vor allem aber über Vermeidung und Reduzierung. Gründungsjahr: 1904
Der Hauptsitz in der Wuppertaler Kronprinzenallee kann als Para- Sitz: Wuppertal
debeispiel herhalten: Im Juli 2010 wurden nach sechs Jahren Bau- Mitarbeiter: 3500
zeit die neuen Gebäude mit 49.700 qm Bruttogrundfläche bezogen. Beitragseinnahmen 2012: 1,82 Milliarden Euro
Der Neubau war an strenge ökologische Anforderungen geknüpft. Vorstandsvorsitzender: Andreas Eurich
Energie aus Fernwärme wird zur Beheizung und Kühlung der Ge-
bäudekomplexe genutzt. Wo nicht auf Klimaanlagen verzichtet
werden kann, sorgt innovative Kälteklimatechnik für die notwen-

04

V V VERSICHERUNGSGRUPPE

KRAFT-WÄRME-HANDBALL-KOPPLUNG Um das Thema „Unternehmerische Verantwortung“ zentral steuern
zu können, hat die ERGO Gruppe 2011 die Einheit Corporate Re-
Wir lesen viele Nachhaltigkeitsberichte. So emotional verbindlich sponsibility gegründet. Sie ist an den Bereich Interne Unterneh-
hat kein Vorstandsvorsitzer die einleitenden Worte niedergeschrie- menskommunikation angeschlossen, der direkt an den Vorstands-
ben wie Torsten Oletzky von der ERGO Gruppe: „Wir geben Ihnen vorsitzenden berichtet. Bis 2015 will ERGO den Geschäftsbetrieb
das Versprechen, unsere Verpflichtungen dauerhaft und über lange CO2-neutral stellen. Am ERGO Hauptsitz in Düsseldorf werden
Zeiträume zu erfüllen.“ Dieser Ton ist wichtig und schlau gewählt rund 50 Prozent des Strom- und Wärmebedarfs durch gasbetrie-
– hatte die ERGO Gruppe doch als Zielobjekt für Schmährufe und bene Blockheizkraftwerke mit Kraft-Wärme-Kopplung gedeckt.
Schelte herhalten müssen, als Stern und Spiegel vereint über Lust­ ERGO ist zudem Sponsor des Deutschen Basketball Bundes, des
ausflüge der Mitarbeiter berichteten. Eigentlich keine Not, dieses Deutschen Handballbundes – und des FC Schalke 04.
Thema abermals im hauseigenen Nachhaltigkeitsbericht aufzu-
greifen. Doch Oletzky ist es offenbar Herzensanliegen: „Eine Serie ERGO Versicherungsgruppe
von Berichten über tatsächliches und vermeintliches Fehlverhal-
ten in der Vergangenheit hat unsere Reputation im Jahr 2011 stark Gründungsjahr: 1997
belastet. Wir sind jedem einzelnen Vorwurf mit viel Aufwand nach- Sitz: Düsseldorf
gegangen und haben aus Fehlern Konsequenzen gezogen.“ Mitarbeiter: 29.700
Eine gewaltige Aufgabe. Schließlich ist die ERGO Gruppe ein Bilanzsumme: 18,5 Milliarden Euro
ebenso gewaltig verzweigter, nicht immer leicht zu überschauen- Vorstandsvorsitzender: Torsten Oletzky
der Riese. Das Organigramm liest sich wie ein Who‘s Who: Die
DKV, D.A.S. und Victoria gehören zu den Töchtern. Man selbst ist
ebenfalls Tochter: Die ERGO Versicherungsgruppe ist im Besitz der
Munich Re.

WIRTSCHAFT // Versicherungen

05

GENERALI

WIE ÄLTERE MENSCHEN LEBEN Umsetzung lag beim Institut für Demoskopie Allensbach. Als Ge-
genpart zur Shell Jugendstudie setzt sich die Generali Altersstu-
Im Sinne der Nachhaltigkeit ist es schade, dass sich im globalen die damit auseinander, wie Deutschlands Ältere leben, denken
Wandel manche Firmennamen und -Strukturen ändern, die wir aus und sich engagieren. Ein Kernergebnis: Die 65- bis 85-Jährigen in
unserer Jugend als autonome Unternehmen kennen. Ohne Ressen- Deutschland fühlen sich im Durchschnitt zehn Jahre jünger, als es
timents ein kleines Beispiel: Die Wurzeln dieses Unternehmens ihrem tatsächlichen Lebensalter entspricht. Und: 80 Prozent der
reichen zurück auf eine 1824 in Aachen als regionaler Feuerver- Befragten wünschen sich eine starke politische Interessenvertre-
sicherer gegründete Gesellschaft. 1998 ging sie als Aachener und tung. Wer es genau nachlesen will – die Generali Altersstudie ist
Münchener Beteiligungsgesellschaft in die heutige italienische auch im Buchhandel erhältlich:
Muttergesellschaft Assicurazioni Generali mit Hauptsitz in Triest Fischer Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-596-18935-9.
über. Im Jahr 2009 firmierte die Konzern-Holding zur „Generali
Deutschland Holding AG“ um. Unter deren Dach weitere große
Namen agieren: Nach wie vor die AachenMünchener, die Advocard Generali Deutschland Holding AG
Rechtsschutzversicherung und nicht zuletzt die Volksfürsorge.
Die Deutsche Generali hat sich einem besonderen Thema ver- Gründungsjahr: 2001
schrieben. Unter dem Leitgedanken „Der demografische Wandel Sitz: Köln
– unsere gemeinsame Herausforderung“ bündelt die Holding seit Mitarbeiter: 14.500
56 57 2n0e0ra8l idZieukAukntifv tsitfäotnedns.ih Dreers ugnetsee rlslstüchtzatftjälihchrleicnhEmneghagr eamlse3n0tsPriomjeGkete- Umsatz: 17,1 Milliarden Euro
mit dem Schwerpunkt „Förderung des Engagements von und für Vorstandsvorsitzender: Dietmar Meister
die Generation 55plus“. Der Zukunftsfonds hat unter anderem
die Generali Altersstudie 2013 mit entworfen und publiziert. Die

06

MUNICH RE

KUNSTSINNIGER GIGANT eine enge Partnerschaft für die kommenden drei Jahre eingegan-
gen. Ziel der Kooperation ist es, die Vermittlung zeitgenössischer
Kein Riese, sondern ein Gigant. Müssen auch die Mitbewerber an- Kunst zu fördern, gesellschaftlich relevante Fragestellungen im
erkennen. Die Munich Re ist einer der weltweit führenden Rück- Dialog mit jungen Kunstschaffenden kritisch zu diskutieren und
versicherer. Die sogenannten Erstversicherungsaktivitäten handelt verschiedene innovative Projektmodelle umzusetzen.
die „Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft Aktiengesell- Programmatisch in diesem Kontext der kunstsinnigen Company:
schaft in München“ über ihre Tochter, die ERGO Versicherungs- Vor das Geschäftsgebäude in der Münchner Leopoldstraße setzte
gruppe, ab. Trotz Klimawandel und weltweiter Großschäden hält die Munich RE 1995 die imposante, 17 Meter hohe und 16 Ton-
man Kurs auf das selbstgesteckte Jahresziel. Darunter ein so poli- nen schwere Figur „Walking Man“ des internationalen Kunststars
tisch bedeutender Schritt wie Rückkauf von eigenen Anteilen – bis Jonathan Borofsky.
zu 13 Millionen Aktien im Wert von maximal einer Milliarde Euro
will die Munich RE laut Reuters erwerben, knapp vier Prozent des Munich RE
Grundkapitals.
Die Munich Re gehört in Bezug auf Nachhaltigkeit zu den Top- Gründungsjahr: 1880
Performern des Finanzsektors. Sagt die aktuelle Nachhaltigkeits- Sitz: München
bewertung des Vermögensverwalters RobecoSAM. Hier glänzt die Mitarbeiter: 45.000
Munich RE mit besonders guten Ergebnissen in der gesellschaft- Umsatz: 51,9 Milliarden Euro
lichen Dimension, darunter in den Bereichen „Stakeholder Dialo- Vorstandsvorsitzender: Nikolaus von Bomhard
gue“, „Human Capital Development“ und „Financial Inclusion“.
Im kulturellen Sektor ist Munich Re beispielsweise Ende 2012 mit
der Städtischen Galerie im Lenbachhaus am Standort München

07

SIGNAL IDUNA GRUPPE

ABSICHERN AUF GEGENSEITIGKEIT tischen Problemlösungen und Umsetzungen im Umwelt- und
Arbeitsschutz –  bewusst nicht von Industrieunternehmen, von
Nachhaltigkeit ist keine modische Idee der Gegenwart, sondern für Forschungseinrichtungen oder Hochschulen.
viele Versicherer schlichtweg die Verbindung zu den Wurzeln. Bei- Zudem hat die Gruppe ein eigenes Versicherungspaket für alter-
spielhaft die Signal Iduna Gruppe – sie geht zurück auf zwei kleine native Energieversorger aufgelegt. Abgesichert sind beispielswei-
Krankenunterstützungskassen, die 1906 und 1907 in Hamburg und se Solarthermie- und Photovoltaikanlagen. Fällt eine Anlage aus,
Dortmund gegründet wurden. Beide waren in ihrem Kernauftrag springt die Versicherung ein und übernimmt bei Ertragsausfall
ausgerichtet auf den wirtschaftlichen Mittelstand aus Handel, von Photovoltaikanlagen bis zu 2,50 Euro pro Kilowatt und Tag
Handwerk und Gewerbe. Die Idee, mehr Sicherheit für diese Be- für die Dauer von bis zu drei Monaten.
rufsgruppen zu schaffen, entstand in einer Zeit, in der die Sozi-
alsysteme noch unterentwickelt waren. Als Versicherungsverein SIGNAL IDUNA Gruppe
auf Gegenseitigkeit sieht sich die Signal Iduna nach wie vor in ge-
nossenschaftlicher Tradition primär den Interessen der Mitglieder Gründungsjahr: 1907
verpflichtet. Die Obergesellschaften der Signal Iduna Gruppe Dort- Sitz: Dortmund, Hamburg
mund und Hamburg stehen seit 1999 unter einheitlicher Führung Mitarbeiter: 13.000
und bilden einen Gleichordnungsverein. Beitragseinnahmen: 5,5 Milliarden Euro
Die Nähe zu den Berufsgruppen stellt die Gruppe noch immer Vorstandsvorsitzender: Ulrich Leitermann
aus – beispielsweise über den Umwelt- und Gesundheitspreis der
Handwerkskammer Hamburg. Kleinere Unternehmen und Institu-
tionen, aber auch Einzelpersonen, Erfinder und der Nachwuchs
sind angesprochen, sich um den mit 15.000 Euro dotierten Preis
zu bewerben –  bereits seit 1987. Gefragt sind Ideen zu pragma-

08

WÜSTENROT & WÜRTTEMBERGISCHE AG

GROSSE GESCHICHTE, MODERNER DRUCK Großteil ihres Kundengeschäfts im zinsnahen Bereich erzielen.“
Die ungebrochen guten Nachrichten: W&W legt in der Entspre-
Auf vier Bausteinen ruht das Geschäftsmodell: Absicherung, chungserklärung zum Deutschen Nachhaltigkeitskodex (DNK)
Wohneigentum, Risikoschutz und Vermögensbildung. Die W&W- seine Aktivitäten im Bereich Nachhaltigkeit offen. Im Rahmen der
Aktiengesellschaft ist nominell jung, erst 1999 aus dem Zusam- Umweltschutzmaßnahmen wurde beispielsweise eine konzern­
menschluss der Traditionsunternehmen Wüstenrot und Württem- weite Regelung eingeführt, um den CO2-Ausstoß der Dienstwagen-
bergische entstanden. Wobei die Wüstenrot Bausparkasse auf das flotte langfristig zu senken. Ebenso unterstützt die W&W-Gruppe
Jahr 1921 zurückgeht – als im gleichnamigen Ort bei Heilbronn der ihre Kunden beim energieeffizienten Bauen und Modernisieren.
Laienprediger Georg Kropp einen Vorläufer gründete. Man sieht Die Wüstenrot Bausparkasse bietet zudem Treffen mit Energie-
sich als Erfinder des Bausparens. Die Württembergische Privat- fachberatern an.
Feuer-Versicherungs-Gesellschaft kann mit dem Gründungsdatum
1828 noch ein rundes Jahrhundert mehr an Tradition dazupacken. Wüstenrot & Württembergische AG
Doch gerade die Tradition und das Bild vom fürsorglichen, unei-
gennützigen Unternehmen beschwört mitunter Konflikte herauf. Gründungsjahr: 1999
So hat die Wüstenrot Bausparkasse AG kürzlich Bausparverträge Sitz: Stuttgart
gekündigt – die als „überspart“ galten. Die Niedrigzinspolitik sieht Mitarbeiter: 9,900
die Firmenleitung als größte Herausforderung. Alexander Erdland, Bilanzsumme: 77,2 Milliarden Euro
Vorstandsvorsitzender der W&W: „Die jüngste Leitzinssenkung Vorstandsvorsitzender: Alexander Erdland
der Europäischen Zentralbank (…) zementiert die Phase des billi-
gen Geldes weiter. (…) Für Sparer und Anleger in Deutschland ist
die Politik des billigen Geldes auf jeden Fall ein Ärgernis. Damit
verschärft sich auch der Handlungsdruck für die Anbieter finanzi-
eller Vorsorge wie die Wüstenrot & Württembergische, die einen

WIRTSCHAFT // Porzellanmarkt 01

DESIGN   Porzellanexplosion:
/  „L’Eclat Joyeux“ heißt diese
Installation aus lachenden
N A C H H A LT I G K E I T
Porzellan-Buddhas, die
 Ingo Maurer im Jahr 2005
Fast ein jeder von uns hat wohl ein Stück von
ihr im Schrank stehen: eine Vase von Meissen, gestaltet hat. Als Einzel-
eine Teetasse von KPM oder ein Kaffeegedeck stück konzipiert, befindet
von Rosenthal. Doch die deutsche Porzellan­ sich das absurd-komische
industrie – einst Wiege des Handwerks – ist in Objekt mit Kunstanspruch
Gefahr. Mit ihr drohen eine jahrhundertealte
in Privatbesitz.
Tradition und Tausende von Arbeitsplätzen
unterzugehen. Und dabei ist Porzellan
so nachhaltig wie kaum ein anderer
Werkstoff. Es hält und hält
und hält.

58 59

In Scherben

DIE DEUTSCHE PORZELLANINDUSTRIE KÄMPFT: gegen sinkende Absatzzahlen,
Konkurrenz aus Fernost und veränderte Konsumgewohnheiten. Was tun gegen die
Krise? Erfolgreich wehren sich Hersteller, die traditionelle Werte mit Innovations­
kraft verbinden

Von Claudia Simone Hoff

Nicht erst seit der Übernahme der Markenrechte von Arzberg durch
die Rosenthal Sambonet Group schreitet die Marktkonzentration
unaufhaltsam voran. In der Porzellanindustrie bricht gerade ein
ganzes Segment weg: das Mittelfeld. Was sich durchsetzt, sind ent-
weder Billiganbieter oder das Luxussegment. Da wirkt es fast wie
eine Verzweiflungstat, dass sich viele deutsche Hersteller so vehe-
ment für hohe Schutzzölle auf chinesisches Porzellan eingesetzt
haben – ungeachtet der Tatsache, dass viele von ihnen Geschenk-
artikel oder ganze Service aus China importieren und anschließend
mit dem eigenen Label versehen. Doch Schutzzölle, Preisschlach-
ten und Plagiate sind nur eine Seite der Medaille. Denn der chine-
sische Markt ist durchaus interessant für deutsche Hersteller – für
Villeroy & Boch sogar ein Fokusmarkt. Neben der Gründung einer
eigenen Vertriebsgesellschaft lancieren die Mettlacher speziell auf
den chinesischen Markt zugeschnittene Produkte. Während deut-
sche Hersteller auf die Affinität der chinesischen Konsumenten zu

WAS REIZT EINEN DESIGNER AM GESTALTEN MIT PORZELLAN?

Porzellan ist eines der sinnlichsten Materialien überhaupt. Durch die Geschichte des Porzellans hat man eine ganz an­
dere Achtung und Verantwortung beim Gestalten, als wenn man beispielsweise mit Kunststoff oder Metall arbeitet. Uns
ist bewusst, dass man mit den eigenen Produkten zum Aufstieg oder Niedergang eines Unternehmens beitragen kann.
Deshalb sollte man immer wieder hinterfragen, was man macht.

Michael Kindler, Designer, Metz & Kindler



WIRTSCHAFT // Porzellanmarkt

03

60 61 02

Tischlein, deck dich! Egal ob klassisch, fern-
östlich oder casual – „Jade“ von Rosenthal
ist mit seiner klaren Form und eleganten
Linienführung ausgesprochen zeitlos gestal-
tet. Die Vielzahl an Kollektionsteilen – egal
ob rechteckiger Teller, ovales Tablett oder
runde Suppentasse – setzt der Kombinati-
onsfreude des Porzellan-Aficionados keine
Grenzen. (Foto: Andreas Hoernisch)

03

Holz ist warm und uneben, Porzellan kühl

und glatt. Beide Materialien zusammen-

gebracht hat die Produktdesignerin Katja

02 Falkenburger mit ihren sechs Sammeldosen
„Origamibox“ für Rosenthal. Während

die Dosenkörper aus Holz gefertigt sind,

erinnern die Deckel aus Porzellan in ihrer

Struktur an Papier und Stoffbänder.

(Foto: Andreas Hoernisch)

europäischen Marken hoffen, drängen andererseits Unternehmen wollen sie im Markt bestehen. Niemand hat das so gut erkannt wie
aus dem Land der Mitte auf die hiesigen Märkte. Und das sind Kahla. Seit über zwanzig Jahren arbeiten die Thüringer mit Barbara
nicht nur böse Plagiatoren. Einige von ihnen setzen auf traditio- Schmidt zusammen und beweisen, dass es nicht unbedingt be-
nelles Handwerk und verkörpern ein verheißungsvolles „Made in rühmte Designer sein müssen, die den Erfolg eines Unternehmens
China“. Asianera beispielsweise stellt Bone China her, das hand- ausmachen. Gestalterisches Gespür, Weitblick und ein gutes Kon-
bemalt wird. Nicht nur das Design der Produkte changiert zwischen zept genügen mitunter. So wie bei Update – ein Entwurf, der schon
China und dem Westen. Auch die Geschichte hinter dem Label 1998 zeigte, wohin die Reise heute geht: Massenproduziertes Ge-
spielt sich zwischen beiden Welten ab: 1995 hatte Grace Liu genug schirr muss multifunktional sein und nicht zu teuer. Kahla ist auch
von ihrem Job in der Marketingabteilung von IBM, machte sich von ein seltenes Beispiel für ein Unternehmen im Porzellangeschäft,
New York auf in das Land ihrer Eltern und gründete Asianera. Das das sein Sortiment nach zwei Insolvenzen Mitte der Neunziger fast
Unternehmen produziert in der eigenen Fabrik nicht nur Porzellan komplett neu aufgestellt hat. Denn genau da liegt das Problem vie-
für Labels wie Alessi und Shanghai Tan. Grace Liu ist auch stolz auf ler Hersteller, wie Michael Kindler vom Designbüro Metz & Kind-
die eigenen Entwürfe. Gleichwohl ärgern sie dreiste Kopisten, die ler meint: „Viele Unternehmen setzen nach wie vor auf etablierte
nicht nur die Zukunft ihres Unternehmens, sondern der gesamten Klassiker. Das ist ein Dilemma, weil so viele gute Neuentwicklun-
Branche gefährden. gen schon im Keim getötet werden. Auch der Handel setzt nämlich
lieber auf gut Laufendes als auf Neues.“ Dass Klassiker die jungen
Viele der Schwierigkeiten europäischer Porzellanhersteller haben Käufer längst nicht mehr locken, hat auch KPM erkannt. Die Berli-
ihre Ursache in den veränderten Lebensbedingungen, die sich ner haben sich deshalb nicht nur der stark marketinggesteuerten
wiederum auf das Konsumverhalten auswirken. So geht es beim RLF-Idee von Friedrich von Borries angeschlossen, sondern in Zu-
Thema Essen und Tischkultur heute weniger förmlich zu, weshalb sammenarbeit mit dem italienischen Fashion-Luxuslabel Bottega
kaum noch jemand ein mehrteiliges Service kauft. Auch unsere Veneta zum 250. Geburtstag der Manufaktur in diesem Jahr gleich
Essgewohnheiten haben sich verändert: Wir essen nicht mehr so zwei neue Produktlinien lanciert. Oder aber Fürstenberg: Auf der
oft zu Hause, sondern schnell mal unterwegs. Diesen gesellschaft- diesjährigen Ambiente präsentierten die Niedersachsen eine Va-
lichen Wandel müssen die Hersteller verstärkt berücksichtigen, senkollektion, die in Zusammenarbeit mit dem Handschuh- und

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07

04

WAS SPRICHT FÜR DEN STANDORT DEUTSCHLAND?

Der Standort Deutschland verfügt über qualifizierte Fachkräfte, eine hervorragende Infrastruktur und Nähe zu wesentlichen
Anlagenherstellern der feinkeramischen Industrie sowie über eine durch Jahrzehnte gewachsene Expertise bei der Ferti­
gung besonders schwierig herzustellender Produkte. Auch sind die Fertigungsanlagen in Deutschland hoch automatisiert
und besonders flexibel, was eine kostengünstige und zugleich qualitativ hochwertige Fertigung erlaubt.

Gianluca Colonna, Chief Operating & Sales Manager, Rosenthal Sambonet Group

04 06

Eine Vase ist nicht einfach nur eine Marguerite Friedlaender, Lei-
Vase. Jedenfalls nicht bei Rosenthal. terin der Keramikwerkstatt an
Der Hersteller aus Selb hat zum der Kunstgewerbeschule Burg
50. Geburtstag der legendären Giebichenstein in Halle (Saale),
Studio-Line fünfzig von ihnen in einer entwickelte 1931 für KPM die
limitierten Edition herausgebracht: Vasengruppe „Halle“. Mit ihren
aus jedem Jahrzehnt mindestens eine geometrischen Grundformen setzt
– entweder in Schwarz oder in Weiß. diese die keramisch-handwerkliche
(Foto: Andreas Hoernisch) Tradition des Bauhauses fort.

05

Eine Blume ist eine Blume ist eine 07

Blume. Das scheint sich – frei nach „New Chi“ heißt das 2005 gegrün-

Gertrude Stein – die Textildesignerin dete Label mit einer Kollektion von

Regula Stüdli gedacht zu haben. extravagant geformten Porzellan-

Ihr Dekor „Fleurs Sauvages“ für stücken, die allesamt von Heinrich

Rosenthal ist üppig und überraschend Wang entworfen werden. Um die

zugleich. Zweige, Blätter, Blüten technisch anspruchsvollen Objekte

ranken über glänzende Oberflächen herstellen zu können, gründete der

aus Bone China. Das naturalistische Designer in Shanghai eine eigene

05 Dekor setzt einen visuellen Kontra­ Porzellanfabrik, in der

punkt zur sachlichen Form „Brillance“. 60 Mitarbeiter tätig sind.

WIRTSCHAFT // Porzellanmarkt

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Die niedersächsische Porzellanmanu- Summsummsumm … Aus-
faktur Fürstenberg hat sich mit dem nahmsweise stört die Fliege mal
koreanischen Keramikmeister Kap- nicht. Denn sie ist ein Kunst-
Sun Hwang zusammengetan und werk in 24-karätigem Feingold
mit ihm die neue Form „Auréole“ oder Platin. Auf diesem Teller
entwickelt. Die Geschirrserie umfasst von Nymphenburg zieht sie ihre
verschiedene Teile vom Platzteller Bahnen und zeichnet ein Mono-
über Espresso- und Teetassen bis hin gramm. Ausgedacht hat sich das
zu einer Teekanne und Schüsseln – kunstvolle Ding der amerika-
alle in feinstem Porzellan gefertigt. nische Designer Ted Muehling.

09 11

Bekenntnis zum Kunsthandwerk: Kunst, Design oder Propaganda?
Zum 250. Geburtstag von KPM Das Porzellangedeck von KPM
in diesem Jahr hat die Berliner mit dem auffälligen schwarz-
Manufaktur in Zusammenarbeit weißen Dekor gehört zu einer
mit dem italienischen Luxuslabel limitierten Edition, die einer Zu-
Bottega Veneta eine Schmuck- und sammenarbeit mit Friedrich von
Taschenkollektion lanciert, die feinste Borries und dessen RLF-Projekt
Lederarbeiten mit Porzellanarte- entsprungen ist.
fakten vereint. (Foto: Dan Beleiu)

62 63

08 09
09
WAS MÜSSEN DIE HERSTELLER TUN, UM AM MARKT ZU
BESTEHEN?

Die über Jahrhunderte erworbene Design-Kompetenz weiter stärken
und leben. Auch muss die Qualität auf höchstem Niveau bleiben.
Eine angemessene, frische Kommunikation ist entscheidend dafür,
neue, junge Zielgruppen für die hochwertigen Artikel zu begeistern,
ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen und die Begierde nach Design-It-
Pieces aus Porzellan zu wecken. Zudem muss man Allianzen einge­
hen, um Herausforderungen meistern zu können und Aufmerksam­
keit zu gewinnen.

Maurice Freiherr von Dalwigk, Generalbevollmächtigter, KPM

www.rosenthal.de

MENSCHEN // Interview Holger Raithel

12 13

Noble Adresse: Hering Berlin Golddekore sind seit jeher Markenzeichen
hat in diesem Jahr einen eige- der Kollektionen von Reichenbach. Nun hat
nen Store in Berlin eröffnet: in die Porzellanmanufaktur zusammen mit
der Ladenpassage des Waldorf dem Gestalter Gerd Sommerlade Entwürfe
Astoria Hotels. Gestaltet wurde aus dem Archiv überarbeitet und in Gold
das edel anmutende Interior getaucht. Deshalb bewacht neben einem
von dem Architekten Götz putzigen Wellensittich und einem stolzen
Esslinger, der auch Mitinhaber Ara auch eine charmante Bulldogge aus
von Hering Berlin ist. güldenem Porzellan den gedeckten Tisch.

64 65 13
12
WIE SIEHT DIE ZUKUNFT DES PORZELLANS AUS?

Eigentlich kann man sich als Hersteller in Deutschland nur dadurch ab­
heben, dass man besonders hohe Qualität herstellt. Und dass man sich
konzeptionell ständig weiterentwickelt und schaut, was gebraucht wird,
wie die Lebensverhältnisse heute sind. Kahla argumentiert immer mehr
mit „Made in Germany“, denn das Unternehmen stellt alle Produkte
komplett in Deutschland her.

Barbara Schmidt, Chefdesignerin, Kahla

Accessoirehersteller Roeckl entwickelt wurde. Manufakturen kön- auch Kahla ist mit seinem ersten Point of Brand in der deutschen
nen nicht nur flexibler auf den Markt reagieren. Sie entwerfen Din- Hauptstadt präsent. Meissen – 1710 als erste Porzellanmanufak-
ge, die individueller sind als die Produkte der Massenhersteller, tur Europas gegründet – mag es eine Nummer größer: Unter dem
die sich gestalterisch kaum noch voneinander unterscheiden. Das Namen Villa Meissen zelebriert der Hersteller in einem Mailänder
bestätigt auch Maurice Freiherr von Dalwigk, Generalbevollmäch- Palazzo gleich eine ganze Lifestyle-Kollektion samt Home Collec-
tigter der KPM: „Wir setzen die Trends für Dekaden. Unsere Produk- tion, Couture, Schmuck und Uhren. Unter Firmenchef Christian
te stehen für Luxus, Lifestyle und Design und können über viele Kurtzke wird die Manufaktur zum internationalen Luxuskonzern
Jahrzehnte nachgekauft werden. Sie drücken Entschleunigung aus umgebaut und schreibt endlich wieder schwarze Zahlen. Doch
und stehen für Werte, die heute wieder an Bedeutung gewinnen.“ viele Hersteller haben nicht rechtzeitig auf den Wandel der Ver-
Für diese Werte steht auch die Ende der Neunziger gegründete triebsstrukturen reagiert. An designaffinen Orten beispielsweise
Manufaktur Hering Berlin, die rasend schnell in den Olymp des finden sich nur selten Produkte von deutschen Porzellanherstellern.
Porzellanhimmels geschossen ist. Warum, erklärt Stefanie Hering Stattdessen haben sich dort andere einen Platz erobert: Menu,
so: „Wir fühlten uns als Kunden von den etablierten Herstellern Iittala und Alessi.
nicht mehr verstanden und waren der Meinung, dass wir heute
ganz anders speisen. Oft waren die Leute auch nicht mutig genug, Und was wird die Zukunft bringen? Vorsicht als Mutter der Porzel-
andere Wege zu gehen.“ Zwar bewegt sich Hering Berlin in einem lankiste ist in der derzeitigen Krise sicher nicht angebracht – geht
Nischenmarkt, doch eines verbindet die Manufaktur mit einem es doch um kostbare Traditionen und Tausende von Arbeitsplät-
Massenhersteller wie Kahla: Im Fokus der Produktpalette stehen zen. Vor allem die großen, in ihren Strukturen oft trägen Hersteller
untereinander kombinierbare Einzelteile. müssen schneller auf sich wandelnde Märkte reagieren. Das hat
auch Rosenthal erkannt: „Um wettbewerbsfähig zu bleiben, ist es
Und wie kommen all die schönen Dinge auf unseren Tisch? Jeden- unerlässlich, konsequent neue Technologien zu nutzen, Trends zu
falls immer seltener über den traditionellen Fachhandel. Denn antizipieren und Produktentwicklungszeiten zu verkürzen“, sagt
auch der Vertrieb ist im Porzellangeschäft kräftig durcheinander- Gianluca Colonna, Chief Operating & Sales Manager des Unter-
gewirbelt. Gerade wird der Mono Store, in dem ausschließlich nehmens. Alles ganz schön kompliziert, wenn man bedenkt, dass
Produkte eines Unternehmens verkauft werden, wiederentdeckt. Porzellan neben Spurenelementen doch lediglich aus drei Dingen
Rosenthal hat zwei Geschäfte in Berlin und München eröffnet und besteht: Kaolin, Feldspat und Quarz.

FRAGEN AN HOLGER RAITHEL

„Augen und Ohren auf für die Bedürfnisse des Kunden“

HOLGER RAITHEL IST GESCHÄFTSFÜHRENDER GESELLSCHAFTER DER KAHLA / THÜRINGEN
PORZELLAN GMBH, die sein Vater Günther Raithel in den Neunzigern gekauft und neu posi­
tioniert hat. Wir sprachen mit ihm über umweltbewusstes Handeln, „Made in Germany“ und
Überraschungen beim Studenten-Workshop

pure: Hat die Porzellanherstellung in Deutschland noch eine Zukunft? mit personellen Ressourcen und die Förderung von Forschung
Raithel: Die Frage ist angesichts der schrumpfenden Anzahl an und Bildung. Die Günther Raithel Stiftung, die mein Vater 2010
Herstellern in Deutschland berechtigt, aber meine Antwort lautet: ins Leben rief, um unabhängig vom Geschäftserfolg der Kahla/
Selbstverständlich! Allerdings sehen Sie am Beispiel Kahla, dass Thüringen Porzellan GmbH Kreativprojekte zu fördern, unterstützt
für andauernden Erfolg und stetes Wachstum die Innovationskraft Hochschulen, schreibt Workshops und Wettbewerbe aus – mit dem
auf allen Ebenen entscheidend ist. Moderne Technologien führen Zweck, Porzellan gestalterisch und wissenschaftlich zu erforschen.
zu effizienter Ressourcennutzung und zu einem attraktiven Es ist eine Win-Win-Initiative: Die jungen Designer und Künstler
Preis-Leistungs-Verhältnis. Designorientierte, multifunktionale erhalten professionelle Anleitung und sammeln erste Erfahrungen
Produkte überraschen mit Mehrwert für die Nutzer und genießen in der Zusammenarbeit mit einem potenziellen Auftraggeber. Wir
große Beliebtheit. Die Öffnung zu neuen Vertriebskanälen sichert hingegen lernen unglaublich spannende Menschen und deren
die Erreichbarkeit der Konsumenten ab. Und nicht zuletzt schafft oft ungewöhnliche Herangehensweisen an das Material kennen.
eine klare Made-in-Germany-Strategie Vertrauen in unserem Die Messe Frankfurt bietet uns eine Plattform, diese Kunst-
Kundenkreis. Wer hier nicht konsequent bleibt, bereit ist zu und Designunikate zu präsentieren. Einige interessante Werke
investieren und sich stetig zu wandeln, muss schmerzlich erfahren, haben wir in die Atelier-Kollektion übergeführt. Mit dem Erwerb
was es heißt, wenn man am Markt vorbeigearbeitet hat. unterstützt der Käufer übrigens wieder die Arbeit der Stiftung.

Welche gesellschaftlichen und gestalterischen Trends beobachten Sie bei Was müssen die großen Hersteller tun, um am Markt zu bestehen?
Porzellan? Im Grunde genau die Dinge, die ich bereits erwähnt habe: Augen
Der wohl wichtigste Trend ist die Suche des Einzelnen nach und Ohren auf, um die Bedürfnisse des Kunden zu verstehen.
Einzigartigkeit und Mitbestimmung. Wir erleben einen Boom von Der Mensch sucht nach Ehrlichkeit und Authentizität. Er
individualisierten Produkten des täglichen Lebens. Auch Kahla möchte erfahren, wo die Produkte herkommen und wer hinter
bietet diese Mitgestaltungsmöglichkeiten an. Konsumenten Marke und Produkt steht. Und er möchte interagieren. Unser
können beispielsweise Geburtstagsmotive in die patentierte Familienunternehmen ist hochgradig transparent: Wir öffnen
Oberfläche „touch!“ einlasern oder persönliche Botschaften auf unser Werk für Führungen, Wir kommunizieren in Social-Media-
dem beschreibbaren Porzellan „Notes“ überbringen. Für uns Kanälen, wir zeigen die Gesichter der Menschen, die das Produkt
bedeutet diese Bewegung eine Explosion an neuen Produkten, gestaltet haben, und auch derer, die zum Erfolg des Unternehmens
die wir steuern müssen, einen enormen Anstieg intensiver, beitragen. Ich habe das große Glück, ein engagiertes, neugieriges
persönlicher Beratungsleistung, aber auch eine engere Bindung Team an meiner Seite zu wissen.  
zwischen Marke und Kunden.
 Nach seinem Physikstudium war Holger Raithel bei einer Un­
Kahla ist sehr aktiv in der Förderung junger Talente. Warum? ternehmensberatung und in verschiedenen Positionen in der
Unsere Strategie „pro Öko“, die eine Säule unserer Automobilindustrie tätig, eher er 2004 Assistent der Geschäfts­
Unternehmensphilosophie darstellt, manifestiert einerseits führung bei der Kahla/ Thüringen Porzellan GmbH wurde. Seit
umweltbewusstes Handeln durch ökologisch nachhaltige Prozesse 2005 ist er dort geschäftsführender Gesellschafter.
und Technologien, andererseits aber auch den sozialen Umgang

TECHNIK // Kameras

F2

66 67

DESIGN  
/ 

N A C H H A LT I G K E I T


Den Verbraucher muss beim Griff zu
den neuesten Digitalkameras ein Déjà-vu-
Gefühl überfallen: Statt den runden Formen
spricht eine ganze Industrie wieder einem
eckigen Design zu, das aus den Tiefen des
20. Jahrhunderts stammt. Fallen wir auf

ein Lebensgefühl herein? Oder gibt es
faktische Aspekte, die der Arche-
typ einer Kamera schlicht
erzwingt?

Form follows Retro

DIE AUTOMOBILINDUSTRIE HAT ES VORGELEBT: Retro-Design vom New Beetle bis hin
zum Mini bevölkert das Straßenbild. Auch die Marketingexperten der Kameraindustrie
scheinen nun davon überzeugt zu sein, dass dieser nostalgische Designansatz zum
Erfolg verhilft

Df

Von Fuji bis Olympus fühlt man sich, wenn man eine nagelneue Von Reinhart Buchner
Hightech-Kamera dieser Hersteller in die Hand nimmt, um vier
bis fünf Jahrzehnte zurückversetzt. Den Auslöser für dieses Gefühl auf der rechten Seite, die das Porro-Prisma hauteng umschloss.
nennt man wissenschaftlich Skeuomorphismus – eine Stilrichtung Diese Linie wurde für die 2009 vorgestellte digitale PEN EP-1 über-
im Design, bei der Objekte in ihrer Gestaltung die Form eines nommen. Auch hier verfolgten die Olympus Gestalter eindeutig
älteren, vertrauten Gegenstandes zitieren, ohne dass dies durch das Ziel, ein ikonisches Design der analogen Ära in die digitale
ihre Funktion begründet ist. Neuzeit zu übertragen, ohne dass dafür eine funktionale Notwen-
Ein gutes Beispiel hierfür: die spiegellose Systemkamera Olympus digkeit bestand. Offensichtlich wurde das nostalgische Design von
OM-D – der von 1972 bis 1987 gebauten analogen OM-1 wie aus den Verbrauchern positiv aufgenommen, denn das neueste Mo-
dem Gesicht geschnitten. Ein prägendes Designelement der OM-D dell, die PEN EP-5, ist, obwohl technisch nochmals aufgerüstet,
ist das von der OM-1 übernommene Dachkantenprisma, das hier formal noch näher am Original. Der japanische Hersteller hat dafür
aber rein funktional keine Rechtfertigung findet. Eine ähnliche das schöne Wort „Premium-Retrodesign“ geprägt.
Designphilosophie verfolgt Olympus bei einer zweiten Baureihe, Nikon schließt sich dem Trend zum Vintage-Design ebenfalls an.
der PEN. Als das Original 1963 auf den Markt kam, nahm es eine Nimmt man das gerade neu vorgestellte digitale Spiegelreflex-
Sonderstellung ein. Die PEN F war eine Halbformatkamera mit ei- Modell Df in die Hand, glaubt man an die Wiedergeburt der le-
nem selten anzutreffenden Porro-Spiegelsucher, der das übliche gendären Nikon F aus den Sechzigerjahren. Dieser Eindruck wird
Pentaprisma durch eine Anzahl planer Spiegel ersetzt und so ein durch die für eine Digitalkamera voluminösen Abmessungen noch
extrem kompaktes Design ermöglicht. Daraus ergab sich eine cha- unterstützt. Man muss aber anerkennen, dass es sich bei diesem
rakteristische, asymmetrische Form mit einer leichten Erhöhung Modell um eine echte Vollformatkamera mit einer Sensorgröße
von 23,9 x 36 Millimetern handelt, bei der man – so Nikon – beson-
deren Wert auf das haptische Erlebnis für den Fotografen gelegt

TECHNIK // Kameras

Leica auf Rekordkurs:
Dieses von den beiden
Stardesignern Jonathan
Ive (Apple) und Marc

Newson gemeinsam
entworfene Einzelstück

erzielte bei Sotheby’s
den Rekordpreis von 1,8

Millionen Dollar. Der
Erlös wird für karitative

Zwecke gespendet.

68 69

hat. Das Gehäuse ist in klassischem Schwarz oder in Silber mit einschaltet, und die Einstellungen bleiben auch erhalten, wenn
schwarzen Elementen erhältlich. Der strukturierte Griff, die mecha- man die Kamera wieder ausschaltet. Selbstverständlich übersetzt
nischen Wahlräder und die flache Oberseite gehen auf die analo- eine raffinierte Software diese mechanischen Befehle in digitale
gen Spiegelreflexkameras F2 und F3 zurück. Auch die Namensge- Signale. Unterm Strich also hoher Programmieraufwand für ein
bung verdient Beachtung: Die Typenbezeichnung „F“ beim Original nostalgisches haptisches Gefühl. Aber viele Fotografen kommen
von 1959 leitet sich aus Re f lex ab. Bei der Neuauflage steht das offensichtlich mit den gewohnten analogen Bedienabfolgen bes-
„f“ nun für „fusion“ und soll auf den Mix aus klassischem Erschei- ser zurecht als mit abstrakten Menüs. Selbst professionelle Tester
nungsbild und digitaler Technologie hinweisen. sagen, die X100 sei viel angenehmer zu bedienen als semi-pro-
fessionelle Digitalkameras anderer Hersteller, bei denen man sehr
Während Olympus und Nikon ihre eigene Designhistorie zitie- viel tiefer in das Software-Menü einsteigen muss.
ren, geht Fuji einen anderen Weg. Hier orientiert man sich an
der Stil­ikone schlechthin: der Leica. So hat die für den gehobe- Während sich japanische Hersteller am alten Leica Design orien-
nen Amateurmarkt entwickelte XF 1 ein Aluminiumgehäuse, das tieren, überrascht das Original mit einem vollkommen anderen
mit schwarzem Kunstleder überzogen ist wie sein Vorbild, dessen Gestaltungsansatz. Für ein Einzelstück, das am 23. November bei
Proportionen es – leicht verkleinert – übernimmt. Als Referenz an der RED-Auktion in New York für wohltätige Zwecke versteigert
den Zeitgeist hat der Kunde aber die Option, die Kamera alterna- wurde, hatte man den Apple Designer Jonathan Ive sowie Marc
tiv mit weinrotem oder braunem Kunstlederbezug zu ordern. Trotz Newson mit der Gestaltung beauftragt. Das Exemplar ging mit
des Analog-Feelings bietet die XF 1 natürlich alle Programm-Modi 1,8 Millionen US-Dollar als teuerste Digitalkamera der Welt in die
und Einstellmöglichkeiten einer modernen Digitalkamera und ein Geschichte ein. 725 Arbeitsstunden und fast 1.000 Teile brauchte
Display mit einer Bilddiagonalen von 7,6 cm. Leica für diese Kamera, die statt in klassischer Belederung in einer
Anders als die XF 1, die eine Neuinterpretation des 50er-Jahre- laserbearbeiteten, mit 21.000 Löchern versehenen Außenhülle aus
Designs darstellt, hat die Profikamera X 100 aus dem gleichen Aluminium glänzt. Laut Ive repräsentiert Leica „die Verbindung
Hause die Anmutung eines echten Oldtimers. Eine schwarze Be- von Ingenieurskunst, Spitzenobjektiven und einer Designphiloso-
lederung wie bei der kleineren Schwester, ein großer optischer phie, die Funktion und Form gleichermaßen hervorhebt“. Bleibt
Sucher und viele Einstellrädchen vermitteln den Eindruck, tatsäch- abzuwarten, ob dieses Einzelstück Einfluss auf Leicas zukünftiges
lich eine fünfzig Jahre alte Kamera in Händen zu halten. Muss man Design haben wird und so die Grundlage für künftige Zitate legt.
sich bei vielen auf alt getrimmten Digitalkameras zum Vornehmen Oder aber man hält es mit dem italienischen Schriftsteller Roberto
der Einstellungen mühsam durch zahlreiche Untermenüs auf dem Calasso, der da sagt: „Nichts ist, was es zu sein vorgibt. Alles ist
Display kämpfen, verblüfft die X 100 auch in diesem Punkt: Wie bei schon im Augenblick seines Erscheinens ein Zitat.“
einer alten Leica kann man Belichtungszeit und Blendenöffnung
an mechanischen Stellrädchen einstellen, bevor man die Kamera

Uwe Hüttner (links) im
Gespräch mit unserem
Autor Reinhart Buchner

FRAGEN AN UWE HÜTTNER

„Design ist ja nicht nur die schöne Form“

UWE HÜTTNER IST GESCHÄFTSFÜHRER EINES DER GROSSEN FOTOSTUDIOS. Hüttner+Consorten
residiert in einem umgebauten Kino in Hamburg Altona. Der Profi-Fotograf sprach mit unserem
Autor Reinhart Buchner über den harten Arbeitsalltag und die praktischen Ansprüche an das
Kamera-Design

pure: Sie sind schon über dreißig Jahre im Geschäft. Wie haben Sie den Was ist Ihnen noch wichtig, wenn Sie sich für eine Kamera entscheiden ?
Wandel von der analogen zur digitalen Fotografie empfunden? Neben den Basics wie Sensorgröße, Auflösung, Objektivauswahl-
Hüttner: Ich bin zwar mit der analogen Fotografie groß geworden, und Qualität spielen für mich zwei Dinge eine entscheidende
aber ich trauere ihr nicht nach. Das Arbeiten ist einfacher geworden. Rolle: Zum einen soll die Kamera gut in der Hand liegen. Dazu
Man macht heute, ohne dass dies Kosten verursacht, viel mehr muss sie eine gewisse Größe und ein bestimmtes Gewicht
Fotos als früher und sieht das Ergebnis sofort auf dem Computer. haben. Zum anderen lege ich großen Wert auf einen optischen
Das erleichtert die Qualitätskontrolle. Sucher. Der Blick durch den Sucher erfordert vom Fotografen
eine höhere Konzentration als der Blick auf ein Display. Er hat
Immer mehr Hersteller bieten Kameras im Retro-Design an. Wie stehen nur den tatsächlichen Bildausschnitt im Auge und wird nicht
Sie als Profifotograf dazu? Spielt das Design bei der Auswahl Ihrer vom Umfeld abgelenkt.
„Arbeitsgeräte“ überhaupt eine Rolle ?
Design ist ja nicht nur die schöne Form, sondern in hohem Maße Sie sagten, dass Sie der analogen Fotografie nicht nachtrauern. Gibt es
auch Ergonomie – und da muss man sagen, dass die Haptik bei trotzdem Dinge, die Sie vermissen?
den klassischen Analogkameras schon ziemlich ausentwickelt Das Mystische in der Fotografie ist verloren gegangen. Auch
war. Wenn ich dynamische Fotos mit sich bewegenden Objekten forderten alte Kameras wie die Hasselblad 500C mit ihrem
mache, muss ich die wesentlichen Parameter wie Blende, Zeit und seitenverkehrten Sucherbild vom Fotografen ein wesentlich
Schärfe nachstellen können, ohne dass ich mein Auge vom Sucher höheres Abstraktionsvermögen bei der Bildkomposition.
nehme. Die Einstellung über ein Display mit einer Vielzahl von Die großformatigen Plattenkameras, die in der Architektur-
Untermenüs wäre da kontraproduktiv. Da ist die Bedienung über und Studiofotografie eingesetzt wurden, boten darüber hinaus
Einstellräder wie bei den analogen Kameras einfach besser und viele Möglichkeiten, schon vor der Aufnahme Tiefenschärfe und
schneller. Insofern kann ich schon nachvollziehen, dass sich die stürzende Linien zu korrigieren. Diese Korrekturen müssen heute
Kamerahersteller, was die Bedienung anbelangt, wieder an ihren nachträglich am Computer vorgenommen werden.
alten Modellen orientieren.
 Uwe Hüttner ist seit 30 Jahren selbstständiger Fotograf mit
Schwerpunkt Werbe- und Foodfotografie. Aus dem kleinen
Farblabor, das er von seinem Vater übernahm, wurde zwischen-
zeitlich ein großes Studio, in dem auch Autos problemlos in
Szene gesetzt werden können (Foto oben).
www.uwe-huettner.com

TECHNIK // Kameras

70 71

Objektiv betrachtet

MEHR ALS NUR EINE SCHREIBTISCHÜBUNG: pure hat das Team von Phoenix Design bei der
Entwicklung einer neuen Objektiv-Serie belauscht und beobachtet

In Zeiten der analogen Fotografie war es fast eine Glaubensfrage Von Reinhart Buchner
unter Fotografen, für welches Objektiv man sich entschied. Aus-
schlaggebend für die Wahl war natürlich die optische Qualität der für Schneider Kreuznach als Partner, während Nokia sein neues
entsprechenden Linse. Das Design spielte, wenn überhaupt, eine Modell Lumia 925 mit Zeiss „PureView“ Objektiven bestückt.
untergeordnete Rolle. Aber schon in den Fünfziger- und Sechziger­ Ernsthafte Amateure greifen aber zunehmend zu handlichen Sys-
jahren hatten die Optiken der führenden Hersteller, auch ohne temkameras mit Wechselobjektiven, die den klassischen Spiegel-
Hilfe eines Designers, ein unverwechselbares Aussehen. Exemp- reflexkameras mehr und mehr den Rang ablaufen. Dieses neue
larisch seien hier die Leitz Objektive mit ihrem charakteristischen Segment der spiegellosen Systemkameras soll zukünftig auch im
versenkbaren Tubus und den wertigen Objektivdeckeln aus Metall Profibereich seinen Platz finden, einer Zielgruppe mit einer tra-
mit eingeprägtem Leica-Logo genannt. Zu dieser Zeit bestanden ditionell extrem hohen Erwartungshaltung. Ein Großteil dieser
die Kameragehäuse noch überwiegend aus verchromtem Messing, Klientel hat noch mit der Hasselblad und Zeiss Wechselobjekti-
entsprechend waren auch die Objektive silberfarben und selbst- ven gearbeitet. Folgerichtig offeriert Zeiss nun unter dem Namen
verständlich aus Metall. „Touit“ erstmals zwei extrem lichtstarke Weitwinkel-Objektive mit
Heute stehen wir einem stark diversifizierten Kameramarkt gegen- 12 mm und 32 mm Brennweite für spiegellose Systemkameras.
über. Analoge Kameras sind fast vollständig von der Bildfläche ver- Das Touit 2.8/12 bietet die extremste Weitwinkel-Festbrennweite
schwunden und bei Digitalkameras spielen Spiegelreflexmodelle für Kameras mit APS-C-Sensoren. Mit dem Design der Objektive
nur noch eine Nischenrolle. wurde Phoenix Design aus Stuttgart beauftragt. Zeiss wollte sich
Immer mehr Hobbyfotografen benutzen dagegen ihr Smartphone von der sehr technisch geprägten Optik der bisherigen Produkt-
(von dem übrigens 2013 weltweit schätzungsweise 865 Millionen reihen entfernen und anwenderfreundlichere Objektive anbieten.
Stück ausgeliefert worden sein sollen) als Kamera. Das Objektiv Das Ergebnis der Zusammenarbeit beschreibt Tom Schönherr, Ma-
versteckt sich meist millimeterklein auf der Gehäuserückseite und naging Partner von Phoenix Design, so: „Wir haben für Zeiss eine
taugt kaum als zentrales Designelement. Dennoch versuchen ei- Designsprache entwickelt, die zu modernen Kameras passt und die
nige Hersteller, zumindest mit großen Namen der Optikbranche optische Qualität auch an der Oberfläche sichtbar macht. Die re-
zu punkten. LG entschied sich beim Modell „New Chocolate“ levanten Aspekte lagen für uns in der Reduktion der Komplexität
und formalen Integration.“ So entwickeln sich die Streulichtblen-
den formal aus den Objektiven heraus und verbinden sich mit die-

Designbesprechung
bei Phoenix Design in
Stuttgart: Tom Schönherr
(Zweiter v. r.) zollt den
Ingenieuren von Zeiss
Respekt für die kompro-
misslose Umsetzung der
gestalterischen Vorgaben.

sen zu einer optischen Einheit. Die Objektive haben vorne einen Alle Einstellringe befinden sich auf gleicher Höhe und das ZEISS
deutlich größeren Durchmesser als an der Anschlussseite. Dies Logo, das an die Dimensionen des kleineren Objektivs angepasst
ist ein Trick, um die extreme Lichtstärke zu visualisieren. Glatte wurde, weist das gleiche Format auf.
Oberflächen, breite Ringe für die manuelle Einstellung und eine
klare Beschriftung der Skalenanzeige sind weitere Kennzeichen Die Touit-Objektive gibt es zunächst für Sony-NEX-Kameras mit
des neuen Designs, das Präzision und Anwenderfreundlichkeit si- E-Mount- und für Fujifilm-Kameras mit X-Mount-Anschlüssen.
gnalisiert. Geringe Spaltmaße und präzise Kanten unterstreichen Parallel zu den Touit-Objektiven bietet Zeiss das ebenfalls von
den hohen Qualitätsanspruch der Marke. Schönherr betont, dass Phoenix Design gestaltete Hochleistungsobjektiv 1.4/55 für Nutzer
die Zeiss Ingenieure alles gegeben haben, um die ambitionierten professioneller Spiegelreflexkameras an.
Vorgaben der Designer umzusetzen. Mit welcher Stringenz Phoenix Alle drei Entwürfe wurden mit dem iF product design award 2013
beim Gestaltungsprozess vorging, erkennt man auch, wenn man ausgezeichnet, das Weitwinkelobjektiv 1.8/32 für spiegellose Sys-
die Objektive nebeneinanderstellt: temkameras erhielt das Prädikat Gold.

In den harten Fakten: Eine Kompaktkamera mit festem Zoomobjektiv 04
(28 bis 100 Millimeter, F1:1,8 – 4,9) und CMOS-Sensor mit 20,2 Mega­
pixeln. SONY CYBERSHOT RX100 II
Der Lichtfänger
In den weichen Fakten: Der Traum von einer „Immer-dabei-Kamera“ – 
für eine überraschend breite Zielgruppe vom Schnappschuss-Laien bis Der größte Feind aller Kamerahersteller? Die Handy-Industrie
zum ambitionierten Profi. Das größte Pfund: die maximale Lichtausbeute. mit ihren Winz-Objektiven hinter dem Display. Dieser Schnell-
schuss-Wertewelt begegnet man am besten mit einer knappen
Größenstufe darüber – und deutlich besserer Optik. Wer hier das
Retro-Prinzip auf das kleinste wertige Maß getrieben sehen möch-
te, der sollte die RX100 II von Sony in die Hand nehmen. Eine
Kompaktkamera – also keine Heimat für Wechselobjektive. Doch
mit erstaunlich starkem, rauscharmem CMOS-Sensor bei effektiv
20,2 Megapixeln. Sony kombiniert ein Carl Zeiss Vario-Sonnar T Ob-
jektiv hinzu (Minimalblende: F1.8) und den hauseignen SteadyShot
Bildstabilisator. Egal wie düster die Welt gerade ist – diese Ka-
mera wird ein scharfes, verwacklungsfreies Foto schießen. Ohne
Stativ, aus der Hüfte. Einige Motive in diesem Magazin sind mit
der RX100 II entstanden – ohne dass sich ein Profi dafür schämen
müsste. Dabei gelingt es Sony sehr clever, den Ich-halte-drauf-­
Fotografen ebenso anzusprechen wie den Bildgestalter. Die Bedie-
nung ist intuitiv, reduziert, im besten Sinn narrensicher. „Motiv­
erkennung“ bedeutet hier keine Bevormundung, sondern sinnige
Option. Bei dieser Lichtfänger-Stärke eigentlich eine verzichtbare,
aber technisch faszinierende Zugabe: ein ultra-kompakter Blitz,
ausklappbar und konfektionierbar. Nicht zuletzt ein großes Lob an
die „passive“ Praxistauglichkeit: Statt aus großen, externen Lade-
schalen zum beschwerlichen Mitschleppen bezieht die DSC-RX100
II ihre Energie ganz einfach über ein handelsübliches USB-Kabel.

TECHNIK // Kameras 05

72 73 OLYMPUS OM-D
In den harten Fakten: Systemkamera für Micro-Four-Thirds-Objektive In bester Tradition
mit 16-Megapixel-Live-MOS-Sensor.
In den weichen Fakten: Ultraschneller Autofokus, extrem leistungsfähiger Bereits damals, als in Kameras noch Zelluloidfilme eingelegt wer-
Sensor, hervorragend verarbeitetes, spritzwassergeschütztes Gehäuse. den mussten und die Reflexkamera mit ihrem für den Moment der
Die E-M1 kann so manches noch etwas besser (noch schnellerer Belichtung rauf- und runterklackenden Schwingspiegel der Maß-
Autofokus, verbesserter Sensor und Sucher, W-LAN-Steuerung stab für Bildqualität war – bereits damals war die Olympus OM-1
integriert, griffigeres Gehäuse) etwas ganz Besonderes. Im Prinzip eine Spiegelreflex-Systemka-
mera mit Wechselobjektiven wie viele andere auch – aber was für
eine: Kleiner, leiser, kultivierter als all die Canons, Minoltas und
Nikons. Und auch ein wenig versnobbter mit ihrem vorne rund um
das Bajonett angesiedelten Verschlusszeitenrad. Damals, in den
1970ern, war eine OM-1 oder später OM-2, OM-3 oder OM-4 (die
mit dem ersten autodynamischen Messsystem) mit ihren filigranen
Zuiko-Objektiven ein Statement. Und heute? Heute erinnert sich
Olympus zum Glück auch wieder an dieses ruhmreiche Kapitel der
Firmenhistorie und lässt den Anspruch und Spirit, den die OM-
Kameras seinerzeit verkörpert haben, erneut aufleben. Und zwar
in Form von inzwischen zwei Micro-Four-Thirds-Kameras (der ein
wenig sperrige Begriff steht für ein Sensorformat etwas kleiner als
APS-C im Format 4 zu 3), der preiswerteren OM-D E-M5 und der
neueren und weiter aufgewerteten OM-D E-M1 (im Bild oben). Bei-
de sind spiegellose Systemkameras mit rein elektronischem Such-
erbild, das allerdings in Auflösung und Reaktionsgeschwindigkeit
voll überzeugen kann und dem optischen Sucher voraushat, dass
die Belichtung bereits vor der Belichtung „real“ beurteilt werden
kann. Das kompakte Sensorformat und der Wegfall des Spiegel-
gehäuses lässt die beiden OM-D Schwestern wunderbar kompakt
ausfallen und damit die OM-Tradition nicht nur formal aufleben.

In den harten Fakten: Eine Systemkamera für Micro-Four -Thirds-
Objektive mit 16-Megapixel-Live-MOS-Sensor.

In den weichen Fakten: Ausstrahlung von höchster Wertigkeit, effektiv
im Handling, herausragende Bild-Ergebnisse auch bei schwierigen
Lichtverhältnissen.

01

OLYMPUS PEN E-P5
Blick zurück in Freude

Ganz offen? Olympus hat lange gekämpft, um an die Erfolge der
Vergangenheit anzuknüpfen. Der Abschied aus der analogen Ära
kostete Kraft, Geld und Manpower. Die Branchenriesen legten zu,
Olympus hielt sich in der Rolle des Robin Hood beharrlich. Jetzt
mit steigenden Umsatzzahlen und Testsiegen – auch dank diesem
Modell.
Die PEN E-P5 ist die ästhetisch wie technisch stärkste Huldigung
an das Ur-Modell der PEN F vor 50 Jahren. Wer sie in die Hand
nimmt, verfällt zuerst dem hohen Wertgefühl der Verarbeitung.
Dann das Staunen über den Preis: 1.000 Euro sind zutiefst hu-
man – und abermals eine Verbeugung vor dem analogen Mutter-
tier, das vor 50 Jahren, wenn man es zuspitzt, das Gegenmodell
zur unerreichbaren Leica war. Dabei protzt heute Olympus mit
Optionen und Features. So bietet die PEN E-P5 ein integriertes
WLAN, das es nicht nur ermöglicht, Bilder online zu teilen. Mit
einem Apple- oder Android-Smartphone lässt sich die Kamera
auch fernsteuern, inklusive Autofokus und Auslöser. Die Displays
von Kamera und Smartphone können synchronisiert werden –
Informationen der Kamera sind dann auch auf dem Touchscreen
des Smartphones zu sehen.

In den harten Fakten: Eine Systemkamera für Micro-Four-Thirds- 02
Objektive mit 16-Megapixel-Live-MOS-Sensor.
PANASONIC GM1
In den weichen Fakten: Das Maximum an Miniaturisierung bei Kameras Macht in Magnesium
mit Wechselobjektiven. Dabei mit einer Bildausbeute, die auch Profis auf
Reportage-Ausflügen mehr als nur befriedigt. Panasonic ist eine Macht in der Branche – vielfach verzweigt, mit
Ambition und großem Hunger. Der japanische Konzern unterhält
seit 2002 eine Kooperation mit Leica. Japanische Sensoren wan-
dern nach Wetzlar, deutsches Optik-Know-how nach Japan. Zudem
agiert Panasonic als Impresario und Fürsprecher der Micro-Four-
Thirds-Fraktion, des mächtigen Standards für Sensoren, spiegel-
lose Systemkameras und deren Objektive.
Naive Gemüter hatten prophezeit, dass Panasonic mit dem Eigen-
label „Lumix“ eine strikte Trennung vom Leica-Hochpreissegment
anstrebt und nur in den Billigmärkten wildert. Doch die Japaner
wollen mehr. Können mehr – wie insbesondere die gerade vorge-
stellte Lumix GM1 vorlebt. 173 Gramm im Magnesiumgehäuse,
kompakter lässt sich eine Kamera mit Wechselobjektiv nicht
denken, nicht greifen. Im Wortsinn: Das ist auch ein Fest der ge-
schickten Reduktion, gepaart mit hoher Handlichkeit. Über drei
Aluminium-Einstellräder findet man schnell den Weg in Unter-
menüs und umfassende Bildgestaltungsmöglichkeiten. Die echte
Überraschung: Die Panasonic-Designer haben bei aller kompakten
Bauweise sogar noch Platz gefunden für einen Pop-up-Blitz. Wer
tiefer forscht – entdeckt, dass ein neuer Schlitzverschluss im Body
waltet. Wer noch tiefer forscht – erfährt, dass genau dieser Ver-
schluss um 80 Prozent kleiner ausgefallen ist als bei den Schwes­
termodellen. Dazu schrumpfen noch die Sensorschaltkreise. Per-
fekt ergänzt Panasonic den Trend zu Klein-Fein in einem Set mit
Weitwinkel-Zoom im flachen Pancake-Format. Diese Kombi passt
tatsächlich in die Sakko-Tasche.

03 In den harten Fakten: Eine Systemkamera im APS-C-Format mit
20-Megapixel-Auflösung, inklusive Aufsteckblitz.
SAMSUNG NX300
Kantig mit Schwung In den weichen Fakten: Genau in der Mitte zwischen schweren
Spiegelreflex-Modellen und überleichten Kompaktschnellschuss-
In the mix: Samsung ist die jüngste unter den marktmächtigen Kameras. Adressiert an Freunde des Social Sharings inklusive WiFi.
Foto-Companys. Aber mit einem erstaunlich hohen Wiedererken-
nungswert. Wo andere historisch auf alte Analog-Bodys zurück-
reiten können, muss Samsung zurückscheuen. Einerseits, weil es
diese hauseigene Vergangenheit eben nicht gibt, andererseits,
weil man bewusst ein Design zwischen Retro-Kantigkeit und or-
ganischem Schwung entwickelt hat. Die neue NX300 ist die stärks­
te Inkarnation dieses Gedankens. Der Body hat die klaren Linien
historisierender Modelle und flankierend den Schwung für die
rechte Hand – eine Neuinterpretation der Griffmulde. Sieht mit
Zoom-Objektiv auf dem Foto nebenan regelrecht wuchtig aus.
Ist es aber nicht. Das fasst sich leicht, trägt sich leicht – auch auf
einen Berggipfel. Der Body allein wiegt magere 280 Gramm.
Wo sich die Koreaner noch ausprobieren: Die Menüführung ist
bilderreich, nicht immer intuitiv und stringent. Die Anbindung an
die Welt des Social Sharings ist offenbar unabdingbar – und für
Freunde des Spartanischen nicht wirklich verdrängbar. Zudem ent-
deckt man sich ausgerechnet „bei der Ernte“, also beim Sichern
der Fotos, zwischen den politischen Fronten: Wer mit der NX300
beispielsweise Bilder im RAW-Format schießt, wird an einem
Mac-Rechner auf Ablehnung stoßen. Apples eigene Programme
(iPhone, Aperture) wandeln die Files nicht, eine Ausgabe von
Adobes Lightroom muss installiert werden.

WIRTSCHAFT // Smart City

74 75

Modell für eine DESIGN  
bessere Welt / 

N A C H H A LT I G K E I T


Smart City Projekte wollen rund um
den Globus den Weg in eine bessere
Zukunft weisen. Im japanischen Fujisawa
entsteht unter der Federführung von
Panasonic ein in mehrfacher Hinsicht

bemerkenswertes Modell – es ist
wirtschaftlich, ganzheitlich und
wird zügig in die Praxis
umgesetzt

IN JAPAN ENTSTEHT IN REKORDGESCHWINDIGKEIT EINE STADT, DIE SICH WEITGEHEND
SELBST MIT ENERGIE VERSORGT UND MEHR LEBENSQUALITÄT VERSPRICHT: Fujisawa Smart
Sustainable Town. Realisiert wird das Projekt von Panasonic – als Bühne für seine nachhaltigen
Produkte und Technologien

Nachhaltigkeit im Rekord­
tempo: Zwischen Baubeginn
und Einzug der ersten
Bewohner im Frühjahr 2014
sollen in Fujisawa nur wenige
Monate liegen. Bis 2018 soll
das Smart-City-Projekt mit
sämtlichen Einrichtungen
fertig sein – pünktlich zum
100sten Geburtstag von
Panasonic.

Japan ist das Geburtsland der schnellen Züge. Pünktlich zu den Von Klaus-Peter Bredschneider
Olympischen Spielen nahm die japanische Eisenbahngesellschaft
1964 den Hochgeschwindigkeitsverkehr auf, seitdem bewältigen shima erschüttert wurde. Ein gewaltiger Tsunami hat dabei nicht
„Bullet Trains“ auf eigens errichteten „Shinkansen“-Strecken die nur die drei Reaktoren überrollt, sondern die komplette, bis dahin
400 Kilometer von Tokio nach Osaka in zweieinhalb Stunden. Das stark auf Atomkraft abgestellte Energieversorgung des Landes in
wirklich Imposante ist dabei nicht einmal die schiere Geschwin- Frage gestellt. Seit Fukushima ist Japan atomstromfrei, sämtliche
digkeit, sondern der fast lautlose Schwebezustand, der die Pas- Reaktoren wurden heruntergefahren und vom Netz genommnen.
sagiere während der Fahrt einhüllt. Und die für ICE-erprobte Nut- Von einer vollmundig propagierten Energiewende kann dennoch
zer geradezu unglaubliche Präzision: Die Shinkansen stoppen im nicht die Rede sein, es tobt vielmehr ein politischer Richtungs-
Bahnhof punktgenau und rauschen exakt 60 Sekunden später wie- streit: Während die aktuelle Regierung mit Ministerpräsident
der davon – Zeit genug, um bequem ebenerdig aus- und einzustei- Shinzo Abe wieder Kernkraftwerke in Betrieb nehmen will, hat sich
gen. Die durchschnittliche Verspätung liegt bei sechs Sekunden, sein nach wie vor äußerst populärer Vorgänger Junichiro Koizumi
überschreitet sie die kritische 10-Sekunden-Marke, muss sich der zum Fürsprecher der Gegner gemacht. Tatsächlich steckt Japan in
Zugführer schriftlich rechtfertigen. In Japan ticken die Uhren eben einer besonders misslichen Lage, weil das Land bislang kaum auf
einfach anders. erneuerbare Energien gesetzt hat (ihr verschwindend geringer An-
teil von insgesamt vier Prozent stammt zu drei Viertel aus Was-
Japan ist ein traditionell äußerst technikgläubiges Land, das am serkraft), deshalb inzwischen zum größten Gas- und Ölimporteur
11. März 2011 umso heftiger durch die Atomkatastrophe von Fuku- der Welt wurde – und sich meilenweit von den Klimazielen eines
Kyoto-Protokolls entfernt hat. Von der problematischen Versor-
gungssicherheit ganz abgesehen.

WIRTSCHAFT // Smart City

Technologien für ein intelli-
gentes Haus: Das Auto wird

in den Energiekreislauf des
Hauses miteinbezogen, es

kann Strom sowohl beziehen
wie im Notfall auch liefern.
Rechts im Bild eine Brenn-
stoffzelle (groß), die aus Gas
Strom und Wärme erzeugt,
sowie eine Speicherbatterie,

die über eine intelligente
Steuerung eingebunden wird.

76 77

So viel zum Hintergrund, während wir uns von Tokio auf die ein- Weder Standort noch straffer Terminplan sind zufällig. Dahinter
stündige Fahrt nach Fujisawa begeben. In Fujisawa leben 50 Ki- steckt vielmehr mit Panasonic ein Industriekonzern, der sich gera-
lometer südlich von Tokio knapp eine halbe Million Menschen, de selbst neu erfindet und bis 2018 zum weltweit nachhaltigsten
die Wohnlage ist begehrt, der Shonan Beach berühmt – vor allem Unternehmen seiner Branche werden will, das vor allem für eines
wächst hier eines der innovativsten Projekte in Japan heran. Eine steht – für grüne Innovationen. Fujisawa soll dann wie ein überdi-
Stadt in der Stadt, eine „Smart City“: Fujisawa Smart Sustainable mensionaler Showroom demonstrieren, was ein Konzern leisten
Town, kurz FSST. Fujisawa soll so etwas wie eine Blaupause für kann, der sich komplett grün aufstellt und seine Produktpalette
eine bessere Welt werden – und zugleich ein praktischer Lösungs- nachhaltig ausrichtet. Passend zum Jubiläum – dann feiert das von
ansatz für die Probleme, die Japan mit seiner Energieversorgung Konosuke Matsushita 1918 gegründete Unternehmen nämlich sein
heraufbeschworen hat. Ein Modell für eine Stadt, die sich nicht hundertjähriges Bestehen. Matsushita war, ähnlich wie vor ihm
nur weitgehend selbst mit Energie versorgt, sondern ihren Be- Werner von Siemens in Deutschland oder Thomas Alva Edison in
wohnern in jeder Hinsicht mehr Lebensqualität verspricht. 1.000 den USA, ein Erfinder in der Elektrotechnik, der mit Glühlampen-
Häuser für insgesamt 3.000 Bewohner sowie eine komplett eigen- fassungen anfing, die Produktion auf Hausgeräte ausweitete und
ständige Infrastruktur werden in Fujisawa auf einem neun Hektar schließlich einen gewaltigen Mischkonzern schuf, der pünktlich
großen ehemaligen Werksgelände von Panasonic bis 2018 aus dem zum Jubiläum und vermutlich ganz im Sinne des sehr sozial einge-
Boden gestampft. stellten Firmengründers neu aufgestellt sein soll.

Hierzulande steht die Marke vor allem für Fernseher, Kameras
(Lumix) und Hausgeräte. Tatsächlich ist Panasonic sehr viel breiter
aufgestellt. Das Unternehmen zählt zu den führenden Anbietern
in der LED-Lichttechnik sowie der Akku-Technologie – beides Ge-
schäftsfelder mit extrem nachhaltigen Auswirkungen. So konnte
Panasonic gerade in Kyoto die zum UNESCO-Weltkulturerbe zäh-
lende buddhistische Tempelanlage Kiyomizu-dera ebenso kom-
plett mit energieeffizientem LED-Licht erleuchten wie zuvor mit
dem Tokioer Skytree das zweithöchste Gebäude der Welt. Auch
hier gelingt also der Bogen zwischen Tradition und Moderne. In
jedem fortschrittlichen Tesla steckt ein Stück Panasonic, denn die
Japaner steuern immerhin die Lithium-Ionen-Akkus bei, aus denen
die Elektroautos ihre Kraft und Reichweite schöpfen. Panasonic
produziert Solarzellen, aber auch Wärmepumpen oder Brennstoff-
zellen für Häuser. Vier Geschäftsbereiche unterscheidet die „Green
Innovation Company“ seit ihrer strategischen Neuausrichtung:
Hausgeräte (auch hier steht inzwischen Energieeffizienz im Mit-

telpunkt), den Bereich Unterhaltungselektronik inklusive Kameras, dazu. Das Gelände wurde an einen Immobilienentwickler verkauft,
Öko-Solutions (von der Energieerzeugung bis zur Speicherung) der wiederum die Häuser vermarktet. Die Smart City in Fujisawa ist
sowie den Automotive-Bereich, wo Panasonic nicht nur Batterien, ein privatwirtschaftlich finanziertes und organisiertes Projekt, das
sondern auch intelligente Steuerungstechnik anbietet. Und wenn aber auch den energiepolitischen Zielen der Regierung entgegen-
man das alles kurz Revue passieren lässt, kann man sich bereits kommt, weil es dezentrale und umweltverträgliche Versorgungs­
vorstellen, wie der „Showroom Fujisawa“ aussehen könnte. sicherheit verspricht.

Accenture ist eine Unternehmensberatung, die immerhin 92 der In konkreten Zahlen lauten die Vorgaben für Fujisawa: 70 Prozent
weltweit 100 größten Unternehmen zu ihren Kunden zählt. Ein weniger CO²-Emissionen, 30 Prozent weniger Wasserverbrauch, 30
Schwerpunkt liegt inzwischen auf Nachhaltigkeitsstrategien und Prozent erneuerbare Energien und – im Post-Fukushima-Japan be-
verschiedenen Smart-City-Projekten sowie ihrer unterschiedlichen sonders wichtig – drei volle Tage Versorgungssicherheit im Notfall.
Ausrichtung rund um den Globus – von der Smart City in Madrid, Die Häuser leisten dazu den wesentlichen Beitrag, weil sie weniger
wo Energieeffizienz und Abfallvermeidung im Vordergrund stehen Energie benötigen (intelligente Haustechnik- und Steuerung), weil
bis Amsterdam, wo es vor allem um CO²-Reduktion und ehrgeizige sie selbst Strom produzieren (Solaranlagen gehören zur Grund-
Klimaziele geht. Nobuko Asakai, die FSST bei Accenture betreut, ausstattung) bzw. umweltschonend Strom und Wärme aus Erd-
sieht zwei wesentliche Unterschiede zu allen anderen Smart-City- gas gewinnen (Brennstoffzellen werden gegen Aufpreis installiert,
Projekten: „In Fujisawa wird ein umweltorientiertes Städteprojekt aber von der Regierung subventioniert). Last but not least verfü-
nicht nur im Reagenzglas gezüchtet, sondern in der Praxis er- gen sämtliche Häuser über Lithium-Ionen-Energiespeicher, damit
probt.“ Asakai weiter: „Ein großer Unterschied ist schlicht und ein- die Energie auch dann zur Verfügung steht, wenn die Sonne nicht
fach das Tempo.“ Im September 2013 wurde mit den Bauarbeiten scheint. Die Technik und die Geräte dazu liefert – Thema „Show-
begonnen, als wir gut zwei Monate später nach Fujisawa kommen, room“– Panasonic.
stehen bereits ganze Straßenzeilen der in Holzständerbauweise er- Fujisawa Smart Sustainable Town bedeutet aber viel mehr als
richteten Energie-Häuser im Rohbau, und die Prognose, dass hier „nur“ energieeffiziente, intelligente Häuser. Es bedeutet mehr Si-
im Frühjahr bereits die ersten Bewohner Japans erste grüne Stadt cherheit für die Bewohner (Bewegungsmelder steuern die LED-
mit Leben füllen sollen, erscheint angesichts des Baufortschrittes Beleuchtung, Videokamera-Überwachung). Es beinhaltet nachhal-
durchaus glaubwürdig. tige Mobilität (Elektroautos, E-Bikes und elektrische Motorräder
im Mietpool). Es bedeutet umfassende Versorgungseinrichtungen
In einer Untersuchung hat Accenture herausgefunden, dass sich (vom Kindergarten bis zum betreuten Wohnen und der eigenen
japanische Vorstände von Nachhaltigkeitsstrategien vor allem Klinik) und letztlich ein Konzept, das aus Fujisawa eine „Green
Wettbewerbsvorteile versprechen – und dass sie politische Wei- Community“ machen will für Bewohner, die ein gesundes und um-
chenstellungen dabei als eher hinderlich betrachten. Erfolgreiche weltverträgliches Leben anstreben. Für japanische LOHAS dürfte
Unternehmen warten nicht auf die Regierung, sondern ergreifen damit 2018 endgültig ein Traum in Erfüllung gehen. Und dass die-
wie in Fujisawa selbst die Initiative. Initiative wie Baugrund kom- ser Fahrplan im Geburtsland der schnellen Züge exakt eingehalten
men von Panasonic, weitere Projektpartner wie Tokyo Gas kamen wird, daran sollte kein Zweifel bestehen.

LEBENSART // Diäten

78 79

DESIGN  
/ 

N A C H H A LT I G K E I T


Zu häufig bedient eine Industrie das
Bild vom Menschen als Effizienz–Maschi-
ne: Hier ein Stellrädchen verändern – und
schon purzeln die Pfunde. Wir werden bei
unserer Sehnsucht gepackt und sind nur

zu gern naiv. Dabei gilt es nicht, sich
selbst zu reduzieren, sondern die
Frage zu stellen: Was ist über-
haupt dick, was dünn?

Dick im Geschäft

DER KAMPF UM DAS IDEALGEWICHT bringt der Diätindustrie allein in Europa jährlich rund
93 Milliarden Euro Umsatz. Während auf der einen Seite Kassen und Konten zulegen – werden
wir im Durchschnitt aber nicht leichter. Der neuste Traum: über die Analyse des genetischen
Metatyps abnehmen

Von Dr. Thomas Hauer

In seiner bekannten Diät-Satire „Willkommen in Wellville“ erzählt Hungerstoffwechsel um und fährt den Grundumsatz, also den ak-
Kultautor T. C. Boyle vom Alltag im luxuriösen Battle-Creek-Sana- tivitätsunabhängigen Energiebedarf des Körpers, deutlich zurück.
torium von Dr. John Harvey Kellogg. Der hat die Welt nicht nur So können gesunde Erwachsene bei ausreichender Wasserzufuhr
mit Cornflakes und Erdnussbutter beglückt, sondern ist im Jahre bis zu 200 Tage „auf Sparflamme“ überleben, ohne eine einzige Ka-
1907 sogar felsenfest davon überzeugt, auf diätetischem Wege nun lorie zu sich zu nehmen (verdursten kann man unter ungünstigen
endlich auch den uralten Menschheitstraum vom ewigen Leben Umständen dagegen schon innerhalb von 24 Stunden).
erfüllen zu können. Und dafür verehren ihn seine schwerreichen Nicht einmal 10 Prozent der Diätwilligen schaffen es, ihr Gewicht
und ziemlich neurotischen Patienten wie einen Messias. dauerhaft zu reduzieren. Denn die Vorstellung, die über Jahre an-
Doch der Doktor ist nicht der Einzige, der es in Wahrheit vor allem gefutterten überflüssigen Pfunde könnten in ein paar Tagen oder
auf das Geld seiner Kurgäste abgesehen hat, denn in dieser ur­ Wochen durch simples Fasten oder alle erdenklichen Formen von
amerikanischen Version von Thomas Manns Zauberberg wimmelt Wunderdiäten von FdH über Trennkost und Schlankheitspillen bis
es nur so von Scharlatanen jedweder Couleur. Und deren Jünger hin zu teuren Nahrungsergänzungsmitteln einfach und unkom-
müssen wie der Romanheld mit dem treffenden Namen Will Light- pliziert wieder zum Verschwinden gebracht werden, ist vor allem
body vor allem eines: leiden. Denn Dr. Kellogg und seine Kollegen eines: hoffnungslos naiv.
fordern nicht nur den strikten Verzicht auf Alkohol, Tabak, Fleisch Aber die Verlockung ist einfach zu groß. Schließlich spielen auch
und Sex – sondern natürlich in erster Linie: strenge Diät. Millionen Menschen jede Woche Lotto, obwohl die Wahrschein-
Nun bedeutet das amerikanische Wort „diet“ anders als der deut- lichkeit, vom Blitz erschlagen zu werden, dreimal höher ist als
sche Begriff weit mehr als Diät im Sinne von Reduktions- oder die Chance, den Jackpot zu knacken. Was hier verkauft wird, ist
Schonkost. Es umschreibt in umfassenderem Sinne die Summe ein Traum, der Traum vom ewig jungen, attraktiven und vor allem
der von einer Person verzehrten Nahrungsmittel, vor allem aber schlanken Körper. Und so macht die Diätindustrie allein in Europa
die der Auswahl und Zubereitung von Nahrungsmitteln zugrunde mit ihren haltlosen Versprechen pro Jahr sage und schreibe rund
liegenden persönlichen Motive und kulturellen Anschauungen, 93 Milliarden Euro Umsatz.
die eine Gesellschaft und deren Ernährungsgewohnheiten prägen. Trotzdem – oder wohl eher gerade deswegen – werden wir im
Damit knüpft es an die ursprüngliche Wortbedeutung des griechi- Durchschnitt immer schwerer. Fast alle, die es schon einmal mit
schen δίαιτα an, das von Hippokrates, dem Urvater der Heilkunst, einer Diät versucht haben – und das sind nach jüngsten Zahlen
im Sinne von (richtiger) Lebensführung gebraucht wurde. rund 80 Prozent aller Deutschen –, machten diese Erfahrung: Am
Heute wird dieses Forschungsfeld deshalb auch Diätetik genannt. Anfang purzeln die Pfunde wie von selbst, aber dann geht irgend-
Und vielleicht ist dieser zunehmend aus den Augen geratene Zu- wann mit sinkendem Grundumsatz praktisch nichts mehr und der
sammenhang auch einer der Gründe, weshalb wir immer wieder Diätfrust schlägt zu. Nach einer Weile gibt man die guten Vorsätze
billigen Diätversprechen auf den Leim gehen, die uns mit Slo- schließlich entnervt auf und schnell sind die alten Essgewohnhei-
gans à la „Drei Kilo in drei Tagen“ für dumm verkaufen. Denn der ten wieder da. Doch halt: Plötzlich zeigt die Waage sogar mehr an
Körper ist nun mal keine simple Maschine, bei der es mit dem als vor der Diät. Wie kann das sein? Ganz einfach: Der berüchtigte
Herumdoktern an ein paar Stellschrauben getan wäre, sondern ein Jojo-Effekt ist eingetreten, denn der Grundumsatz fällt während
hochkomplexer Organismus. Alleine an der Regulation von Hun- einer Diät wesentlich schneller, als er nach Rückkehr zu alten Ge-
ger- und Sättigungsgefühl sind Dutzende biochemische Schalt­ wohnheiten wieder ansteigt. Die Devise des Körpers lautet: Man
kreise beteiligt. weiß ja nie – also besser noch ein paar Kilo zulegen für die nächste
So ist zum Beispiel nur wenigen Menschen bewusst, dass eine dau- Hungerkrise, denn unsere Hülle kann nun mal nicht zwischen Nah-
erhafte Reduzierung der Kalorien – und damit der Energiezufuhr – rungsknappheit infolge einer Missernte und freiwilligem Verzicht
den Körper in höchsten Alarmzustand versetzt und er deshalb unterscheiden. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir uns wi-
alles tut, um sein ursprüngliches Gewicht zu verteidigen. Schon der besseres Wissen der nächsten Abmagerungskur unterziehen,
wenige Tage nach Beginn einer Diät schaltet der Organismus auf um im Bikini, beim Bewerbungsgespräch oder bei einem Date im

LEBENSART // Diäten

2. 3. 4.

DINNER SCHLANK WEIGHT
1. CANCELLING IM SCHLAF WATCHERS
Abendessen Abnehmen in
Insulin- der Gruppe                          
FDH weglassen Trennkost                          

Gesamt-

nahrungsmenge

reduzieren                                

7. 5.

HOLLYWOOD-DIÄT 8. MONODIÄT
Beschränkung
6. Eiweißreiche BRIGITTE-DIÄT   auf ein bestimmtes
Lebensmittel                  
FORMULA- Luxusvariante der Ausgewogene
DIÄT
Low-Carb-Diät                          R  e  duktionskost       
Slimfast und
Co.                         

9. 10.

DUKAN-DIÄT METABOLIC
Tierisches Eiweiß BALANCE
bis zum Abwinken                                     
Kostspielige Gurudiät
mit „Geheimformel“     

80 81

wahrsten Sinne des Wortes keine schlechte Figur zu machen. Ein Waren Diäten bis in die Neuzeit aber tatsächlich in erster Linie
Teufelskreis: Nach einem Dutzend Diäten oder mehr bleibt der Frauensache, ist der Wunsch nach einem Traumkörper nun längst
Grundumsatz schließlich dauerhaft im Keller und abnehmen wird auch in der Phantasie vieler Männer fest verankert. Und so sind
beinahe unmöglich. wir mittlerweile mehr oder weniger alle ständig auf Diät, immer
Viele Menschen wollen auch nicht akzeptieren, dass es zu den auf der Hut, nicht in vermeintliche Fettnäpfchen zu treten und uns
elementaren Schutzmechanismen des Körpers gehört, mit stei- des überbordenden Kalorienangebots und seiner unzähligen Ver-
gendem Lebensalter tendenziell leicht an Gewicht zuzulegen. Sie lockungen erfolgreich zu erwehren.
versuchen deshalb alles, um wieder so dünn zu werden, wie sie Wer sich dem Diätenterror verweigert oder gar nicht erst versucht,
mal als 15-Jährige waren – und erreichen dabei nicht selten genau einen perfekten Body Mass Index zu erreichen, wird da schnell zum
das Gegenteil. Außenseiter, gilt Übergewicht heute doch mehr denn je als sozialer
Die andere Seite der Medaille: Schon Acht- bis Zehnjährige ma- Makel, Zeichen mangelnder Selbstkontrolle, geringer Bildung und
chen sich heute vor dem Hintergrund eines für die meisten zwar Armut. Das Schlaraffenland hat sich in sein Gegenteil verwandelt,
unerreichbaren, aber trotzdem absolute Gültigkeit beanspruchen- so scheint es. Dabei wird völlig ausgeblendet, dass das Ideal vom
den Schönheitsideals Sorgen um ihr Gewicht und finden ihre Rol- fettfreien Adonis- oder Twiggykörper genauso kulturell geprägt ist
lenvorbilder in Mager-Models mit hervorstehenden Knochen, die wie die Vorliebe für Muskelberge oder androgyne Jünglinge ohne
ihre quälenden Hungergefühle mit Hilfe von schwarzem Kaffee erkennbare Körperkonturen, Schnauzbärte und Brusthaare oder
und Zigaretten sowie durch das Kauen von Papiertaschentüchern eben deren Abwesenheit. Stattdessen halten es heute die meisten
zu bändigen versuchen. Schöne neue schlanke Welt. für ein unabänderliches Naturgesetz, das dünn schön, dick häss-
Dabei sind Körperkult und Reduktionsdiäten beileibe keine Erfin- lich, glattrasiert sexy und beharrt unerotisch ist.
dung der Neuzeit. Schon vor mehr als 2.000 Jahren gaben beleibte Die vielleicht gefährlichste Nebenwirkung von Körperkult und
Römer in den antiken Seebädern entlang der Mittelmeerküste ein Diätenwahn ist aber die dramatische Zunahme von Essstörungen
Vermögen dafür aus, überflüssige Pfunde wieder loszuwerden, die wie Magersucht oder Bulimie. In zahllosen Fällen war hier eine
sie bei üppigen Festgelagen, begleitet von reichlich Falerner Wein, harmlose kleine Diätkur der Einstieg in eine lebensbedrohliche
zugelegt hatten. Galt im alten Rom doch das von der griechischen Abwärtsspirale, in der die eigene Körperwahrnehmung am Ende
Kunst inspirierte Ideal des gestählten Athleten- bzw. Kriegerkör- völlig entgleist und sich selbst spindeldürre Gerippe kurz vor dem
pers, während bei den Frauen etwas üppigere Rundungen durch- Hungertod noch für zu fett halten.
aus gern gesehen waren. Doch was ist überhaupt dick, was dünn? In der Medizin setzt man
Der erste Diätpapst moderner Prägung war der Venezianer Luigi auf den Body Mass Index, der nach der Formel Körpermasse in
Cornaro, dessen 1558 erschienener und bis ins 19. Jahrhundert ein- Kilogramm geteilt durch Körpergröße in Metern zum Quadrat be-
flussreicher Bestseller „Discorsi della vita sobria“ („Vom maßvollen rechnet wird. Nach dieser Definition bringt es ein 1,80 Meter großer
Leben“) eine ziemlich wirre Liste verbotener und erlaubter Speisen Mann mit 75 Kilo Körpergewicht auf einen BMI von ca. 23 (75:3,24)
enthält und sich vielleicht auch deswegen so gut verkauft hat, weil und liegt damit im Normbereich, der bei Männern laut BMI-Tabelle
er den Herren neben Gewichtsverlust auch die Wiedererlangung zwischen 18,5 und 25 liegt, bei Frauen zwischen 19 und 24.
verloren gegangener Manneskraft in Aussicht stellt – das Verspre- So gesehen sind bereits mehr als die Hälfte aller Deutschen über-
chen von mehr und besserem Sex dank Gewichtsverlust hat also gewichtig – Wasser auf die Mühlen der Diätindustrie. Echtes Über-
offenbar schon damals als Marketingmasche funktioniert. gewicht (Adipositas Stufe 1) beginnt gemäß dieser Formel bei

einem BMI von 30, in unserem Beispiel wären das ca. 98 kg. Doch was tun, wenn jemand wirklich unter seinem Gewicht leidet
Schwere Adipositas (Stufe 2) bei einem BMI von 35 also etwa bei oder aus sonstigen Gründen abnehmen will? Gibt es überhaupt
113 Kilo. Von massivem Übergewicht (Stufe 3) sprechen Ärzte dann einen dauerhaft Erfolg versprechenden Weg?
bei einem BMI von 40 und mehr, also ab ca. 130 Kilogramm auf- Übliche Diäten haben vor allem eines gemeinsam: Es handelt
wärts. Anders als die vor dem BMI lange Zeit gebräuchliche Formel sich um Pauschalmethoden, bei denen alle Menschen über einen
des französischen Mediziners und Anthropologen Paul Broca, der Kamm geschoren werden. Da sind die mittlerweile etwas aus der
das „Normalgewicht“ Mitte des 19. Jahrhunderts nach der Rasen- Mode gekommenen Mono-Diäten à la Kartoffel-, Kohlsuppen-
mähermethode als Summe aus Körpergröße in Zentimetern minus oder Ananas-Diät, bei denen bevorzugt ein bestimmtes Lebens-
100 definierte, berücksichtigt der Body Mass Index also auch die mittel oder Gericht verspeist wird. Andere zielen stattdessen auf
Körpergröße. auf eine optimierte Nahrungszusammensetzung ab.
Der in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts in Mode gekomme- Galten in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, also zur Hochzeit
ne Begriff des „Idealgewichts“ lag für Männer noch einmal 10 Pro- der Atkins-Welle, als man praktisch grenzenlos Fleisch und Fett
zent und für Frauen, je nach Mode, 15-20 Prozent niedriger als die verzehren durfte, die Kohlenhydrate als Ursache allen Übels, dreh-
Broca-Norm und ist im Wesentlichen die „Erfindung“ eines ameri- te sich der Spieß Ende der 80er Jahre um. Nun geriet das „böse“
kanischen Lebensversicherungskonzerns, der vor allem eines zum Fett ins Visier der Diätindustrie, die die Supermärkte alsbald mit
Ziel hatte: noch mehr Geld verdienen. Über die Jahre geriet diese Light-Produkten zu fluten begann. Fortan sollten wir uns näm-
Fiktion dann aber trotzdem zum allseits angestrebten Gewichts- lich mit einer eiweiß- und kohlenhydratbetonten Kost schlank
(Pardon!) Schönheitsideal. und glücklich schlemmen. Anfang der 2000er Jahre waren dann
plötzlich erneut die Kohlenhydrate an allem schuld und die Low-
Sind diese Zahlen aber wirklich aussagekräftig? Ist ein Bodybuil- Carb-Welle inklusive ihrer Spin-offs wie Glyx- und Logi-Methode
der mit einem Körperfettanteil von 6 Prozent und 110 Kilogramm oder zuletzt der Steinzeitdiät eroberten die Diätszene im Sturm.
Gewicht bei 1,85 Meter Größe stark übergewichtig? Nein. Trotzdem Wie praktisch für die Industrie, dass sie den Begriff Light nicht neu
wäre er es sowohl nach Broca wie nach der BMI-Formel, vom Ideal- erfinden musste, da der sich ja problemlos auch auf Low-Carb-
gewicht ganz zu schweigen. Lebensmittel übertragen ließ.
Spannender ist da schon die sogenannte Waist-Hip-Ratio, also Mittlerweile geraten auch die Eiweiße in Verdacht, nicht ganz un-
das Verhältnis von Taillen- zu Hüftumfang. Im Idealfall liegt es bei schuldig an überflüssigen Pfunden zu sein, und selbst die über
Frauen bei maximal 0,85, bei Männern unterhalb von 1,0. Jahrzehnte als Schlank- und Sattmacher gepriesenen Ballaststoffe
Tatsächlich empfinden Männer Frauen mit einer Waist-Hip-Ratio stehen nun auf einmal am Pranger, verwandeln sie sich im Darm
von exakt 0,7 kulturübergreifend als besonders attraktiv. Forscher doch teilweise in kalorienträchtige, kurzkettige Fettsäuren, die
erklären das damit, dass diese „Sanduhr-Silhouette“ ein Hinweis das Abnehmen deutlich erschweren. Auch hier kommen wir also
auf besondere Fruchtbarkeit und Gesundheit einer Frau sei. Da nicht wirklich weiter. Vielleicht doch besser eine ganzheitliche
staunt der Mann von Welt. Ernährungsumstellung?
Doch obwohl Schönheit im Auge des Betrachters liegt und üppige Wie wäre es mit der Mittelmeerdiät, die regelmäßig wieder aus
Hüften und Schenkel zu Rubens Zeiten durchaus geschätzt wur- der Versenkung auftaucht? Ihr „Geheimnis“: reichlich Fisch und
den, gibt es tatsächlich Hinweise darauf, dass die Waist-Hip-Ratio Ölivenöl, Milchprodukte wie Joghurt und Schafskäse und vor al-
nicht ohne Bedeutung ist. Studien belegen, dass Menschen, ins- lem viel Obst und Gemüse. Klingt ziemlich vernünftig, oder? Tat-
besondere Männer, mit WHR-Werten von deutlich über 1, also mit sächlich attestierten Forscher den Einwohnern Kretas in den 50er
klassischem Bierbauch, besonders viel viszerales Bauchfett mit Jahren des 20. Jahrhunderts im Rahmen einer Ernährungsstudie
sich herumschleppen. Das scheint diesen „Apfeltyp“ besonders eine erstaunlich robuste Gesundheit. Der Haken: Die Studien­
anfällig für alle Arten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu machen. ergebnisse wurden in den folgenden Jahrzehnten völlig verfälscht,
Außerdem fördert das Bauchfett auch zahlreiche entzündliche Pro- denn die Kreter aßen damals ganz anders, als es die moderne Form
zesse im Körper. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass ein der Mittelmeerdiät nahelegt. In der Nachkriegszeit war etwa der
paar Pfund mehr an Hintern und Hüften nicht unbedingt schaden. Olivenölverbrauch im Vergleich zu heute extrem niedrig, Fisch gab
Bei dieser Betrachtungsweise wird also vor allem die Körperform es allenfalls ein- oder zweimal die Woche, Zucker gar nicht und
bzw. die Fettverteilung, nicht aber das Verhältnis von Körpergröße auch Milchprodukte nur sehr selten. Stattdessen selbst gezogenes
und Gewicht zugrunde gelegt. Obst und Gemüse, Hülsenfrüchte, Reis und Brot. Und zwar gerade
so viel, wie nötig war, um nicht zu hungern. Die Ernährungsweise
Am Ende bleiben wir etwas ratlos zurück, denn mit keiner die- der Mönche vom Berg Athos auf der nordgriechischen Halbinsel
ser Formeln kann schlussendlich wissenschaftlich untermauert Chalkidiki entspricht noch heute weitgehend diesem traditionel-
ein normales oder gar ideales Gewicht festgelegt werden – weil len Muster. Sollen wir jetzt also alle ins Kloster?
es das nämlich ganz einfach nicht gibt. Zu viele Faktoren spielen Schließlich gibt es noch die Gurudiäten, die vor allem durch einen
hier eine Rolle. Forscher sprechen deshalb in jüngster Zeit auch charismatischen Erfinder zu überzeugen suchen, der vollmundige
vermehrt vom sogenannten Wohlfühlgewicht – und dessen Band- Behauptungen aufstellt. Die lassen sich zwar in der Regel wissen-
breite ist deutlich größer als das, was sich mit oben beschriebener schaftlich nicht belegen, aber das spielt auch gar keine Rolle, denn
Zahlenakrobatik fassen lässt. Jüngste Forschungsergebnisse legen hier geht es ja ums Glauben, nicht ums Wissen. Idealerweise hat
sogar nahe, dass die Lebenserwartung bei einer – nach gängigen der Erfinder dank seiner Diät selbst mindestens 50 Kilogramm ab-
Formeln – als leichtes Übergewicht zu bezeichnenden Körperfülle gespeckt und nebenbei noch schwere Krankheiten besiegt – be-
am höchsten ist. vorzugt Krebs oder Depressionen. Der bekannteste Vertreter die-

MENSCHEN // Interview Jürgen Weihofen

ses Typus ist wahrscheinlich Dr. Howard Hay und seine Trennkost, denn hier könnte tatsächlich der Schlüssel zur Antwort auf die
mit der er auch noch ganz nebenbei sein schweres Nierenleiden Frage liegen, warum manche Menschen durch bestimmte Diäten
heilen konnte. Aktuell ganz dick im Geschäft ist Dr. Pierre Dukan, tatsächlich abnehmen, andere jedoch nicht.
in dessen Heimat Frankreich Millionen auf die Radikalmethoden So hat das junge Kölner Startup-Unternehmen Center of Genetic
des Mediziners schwören, mit denen dieser in wenigen Jahren ein Analysis and Prognosis, kurz CoGAP, den MetaCheck entwickelt,
Vermögen gescheffelt hat. bei dem mit Hilfe einer Zellprobe aus einem Mundabstrich der
sogenannte genetische Metatyp des Probanden ermittelt wird.
In der Kategorie „Wundermittelchen“, die die Pfunde „über Nacht“ Unterschieden werden dabei Alpha-, Beta-, Delta- und Gamma-
dahinschmelzen lassen, steht seit Kurzem ein Extrakt aus grü- Typen, die sich in etwa gleichmaßig auf die Bevölkerung verteilen.
nem Kaffee ganz oben auf der Hitliste und hat damit den Hoodia- Hintergrund sind evolutionäre Unterschiede – sozusagen Jäger
Kaktus aus der Kalahari-Wüste, den Buschmänner angeblich seit und Sammler versus Ackerbauer –, die auch nach Hunderten von
Generationen zur Unterdrückung des Hungergefühls verwenden, Generationen und einer vielfachen Durchmischung des Genpools
von der Spitzenposition verdrängt. Die im grünen Kaffee reichlich noch wichtige Stoffwechselvorgänge im Körper mitbestimmen und
enthaltene Chlorinsäure soll wahre Wundereigenschaften besitzen so darüber entscheiden, ob wir bei einer bestimmten Ernährungs-
– was Hollywoodstars selbstverständlich bestätigen – und schon weise zu- oder abnehmen. Was im ersten Moment ein wenig wie
rotiert das Millionenkarussell von Neuem. Diese Liste ließe sich das Horrorszenario aus Aldous Huxleys „Brave New World“ klingt,
beliebig fortsetzen. könnte sich als Durchbruch in Sachen Gewichtsmanagement er-
weisen. Identifiziert werden nämlich anhand der Analyse die be-
82 83 gDeo?chD wieasvifeolll egitcahut swaic llhdtiegmst?e W EerklcehnentMniesthimodeunisdtunrcuhndrdiineglriicchhetin- sonderen Eigenschaften, die den persönlichen Metabolismus
Diätendickicht ist: Es gibt womöglich gar keine für alle Menschen prägen, denn die haben unmittelbare Auswirkungen darauf, wie
allgemeingültigen Ernährungsempfehlungen. Wie wäre es sonst zu der Körper Nahrung verwertet, also unterschiedliche Nahrungs­
erklären, dass die grönländischen Inuit, die sich seit Generationen bestandteile wie Eiweiß, Fette, Kohlenhydrate verstoffwechselt.
fast nur von fettem Fisch und Robbenfleisch ernähren, dabei ger-
tenschlank bleiben? Dass afrikanische Stämme, für die Fett und Die Quintessenz: Während Alpha-Typen vor allem Eiweiß optimal
Eiweiß seit Jahrhunderten absolute Mangelware sind, sich trotz ex- verdauen können, Fette und Kohlenhydrate tendenziell dagegen
trem einseitig kohlenhydratbetonter Kost bester Gesundheit und eher in Hüftgold verwandeln, sind für Beta-Typen vor allem Koh-
nach europäischen Maßstäben traumhafter Körperproportionen lenhydrate problematisch. Gammas müssen bei Fett und Eiweiß
erfreuen? Oder dass bestimmte Menschen durch eine modifizierte vorsichtig sein, können dagegen bei Kohlenhydraten zuschlagen,
Zusammensetzung der Nahrungsbausteine, also von Fetten, während Deltas Fette und Kohlenhydrate optimal verwerten, sich
Eiweißen und Kohlenhydraten, tatsächlich deutlich an Gewicht jedoch vor zu viel Proteinen hüten sollten.
verlieren – während ihre Nachbarn oder Freunde mit derselben Aufbauend auf dem Ergebnis des MetaChecks erfolgt eine indivi-
Methode scheitern? duelle Ernährungsberatung auf Basis eines über mindestens sie-
Sicher ist: Bleibender Gewichtsverlust lässt sich langfristig nur ben Tage akribisch zu führenden Ernährungstagebuchs. Dadurch
durch eine dauerhafte Ernährungsumstellung in Verbindung mit kann ein Arzt oder Ernährungsberater den Ist-Zustand mit dem
Bewegung erreichen. Am Ende muss einfach die Summe der ver- genetischen „Idealzustand“ vergleichen und den Speisezettel ent-
brauchten Kalorien größer sein als die Kalorienmenge, die in sprechend modifizieren. Das Wichtigste: Es gibt keine Verbote, nur
demselben Zeitraum zugeführt wurde. Das ist simple Arithmetik. Empfehlungen. Das ganze Programm kann außerdem problemlos
Dennoch legen experimentelle Untersuchungen nahe, dass es in den Alltag integriert werden und eignet sich daher zur dauerhaf-
nicht völlig egal ist, was man isst, wenn man abnehmen will. So ten Anwendung – einer der ausschlaggebenden Punkte, an dem
hat eine Studie des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung konventionelle Diäten als Schnellschussmethode oft scheitern.
aus dem Jahr 2005 gezeigt, dass es offenbar einen direkten Zusam- Ohne zusätzliche Bewegung kommt man aber auch mit der CoGAP-
menhang zwischen dem Verzehr von Fruchtzucker und Übergewicht Methode nicht ganz ans Ziel. Allerdings werden hier ebenfalls auf
gibt. Wobei das Übergewicht nicht auf vermehrte Kalorienaufnah- Grundlage der Gen-Analyse konkrete Empfehlungen gegeben, ob
me zurückzuführen ist, sondern darauf, dass der Fruchtzucker im man eher Ausdauer- oder Kraftsportarten ausüben sollte.
Stoffwechsel Veränderungen bewirkt, die wiederum die Bildung
von Körperfett begünstigen. In diesem Sinne sind Ansätze wie CoGAP eine Art Hightech-Varian-
Außerdem wichtig: Am Ende der Diätphase muss der Körper re- te der ursprünglichen altgriechischen Vorstellung von Diät als eine
gelrecht auf das neue Gewicht umprogrammiert werden. Nach ausgeglichene Lebensweise, die den ureigensten Bedürfnissen
der Set-Point-Theorie muss man das neu erreichte Körpergewicht entspricht. Deshalb gibt es bei CoGAP auch keine Gewichtsvor­
dazu mindestens ein Jahr lang in einem eng nach oben bzw. unten gaben oder festen Ziele, die erreicht werden müssen. Eine Studie
abgegrenzten Korridor halten. Dann erst wird es vom Körper als der Sporthochschule Köln mit 107 Probanden zeigte allerdings,
neuer Standard akzeptiert und er versucht nicht länger, den alten dass die Teilnehmer der MetaCheck-Testgruppe ihr Gewicht gegen-
Zustand wiederherzustellen. über jenen Probanden, die eine Ernährungsberatung ohne Gentest
Aufbauend auf diesen Erkenntnissen rückt deshalb zunehmend die erhielten, innerhalb von neun Monaten deutlich stärker reduzieren
genetische Disposition jedes Einzelnen in den Fokus, das heißt die konnten und sich vor allem auch wesentlich besser gefühlt haben.
individuelle Fähigkeit des Körpers, Nährstoffe zu verstoffwechseln, Für knapp 300 Euro kann jeder diese Typisierung inklusive Ernäh-
rungsberatung durchführen lassen.

„Die Erfolge treten langsamer ein,
sind dafür aber nachhaltig“

FRAGEN AN JÜRGEN WEIHOFEN

Dr. Jürgen Weihofen betreibt seit mehr als 30 Jahren eine Praxis für integrative Naturheilkunde
in Bonn. Der Ernährungswissenschaftler über den Jojo-Effekt, unser aller Grundtypus und den
TRAUM VOM MASTERPLAN ZUR LANGFRISTIGEN UMPROGRAMMIERUNG DES ERNÄHRUNGS­
VERHALTENS ...

pure: Wie hat sich aus Ihrer Sicht in den letzten Jahrzehnten unsere Ernährungsform. Wohlgemerkt, es handelt sich dabei nicht um eine
Einstellung zum Thema Essen verändert? Diät! Die Erfolge treten langsamer ein, sind dafür aber nachhaltig.
Weihofen: Die meisten Menschen wenden für ihr Essen immer
weniger Zeit und Mühe auf, konsumieren haufenweise Fastfood Sie geben Trainingsempfehlungen? Liefert der CoGAP MetaCheck denn
und industriell hergestellte Fertiggerichte. Bei den anderen läuft auch hierfür konkrete Hinweise?
die Entwicklung genau in die entgegengesetzte Richtung. Sie Ja, denn neben dem Stoffwechseltyp ermittelt der Gentest auch
machen sich aus ethischen, ökologischen oder gesundheitlichen den Bewegungstyp. So erfährt man, ob man leichter mit Ausdauer-
Gründen mehr Gedanken um ihre Ernährung. Ihnen geht Qualität oder mit Schnellkraftbewegungen Kalorien verbrennt.
vor Quantität oder Zeitgewinn.
Und der genetische Grundtypus bleibt das ganze Leben lang unverändert?
Und mit welchen Problemen kommen Menschen in Ihre Praxis? Gerade das macht diesen Ansatz ja so erfolgreich.
Zum einen suchen sie meinen Rat als Ernährungswissenschaftler
und Heilpraktiker. Zum anderen geht es um den Wunsch nach Also liefert der CoGAP MetaCheck quasi die Grundlagen für einen
einer dauerhaften Reduktion des Körpergewichtes. Masterplan zur langfristigen Umprogrammierung des Ernährungs­
verhaltens auf Grundlage der individuellen genetischen Disposition?
Sie bieten als Alternative zu den meist nicht funktionierenden Hunger­ Fast richtig! Denn das CoGAP-Laborergebnis alleine reicht zur
kuren den MetaCheck an. Was verbirgt sich dahinter? Umprogrammierung nicht aus. Ändern können Sie erst etwas,
Diese Methode geht – wie meine auf den Einzelnen zugeschnittene wenn Sie wissen, wie und wo Ihre derzeitige Ernährungsform
Ernährungsberatung – von der Tatsache aus, dass jeder Mensch ein davon abweicht. Angenommen, Sie sind ein Typ, der Eiweiß gut
Individuum ist. Und jeder Mensch Lebensmittel deshalb anders verstoffwechselt. Der Gentest empfiehlt Ihnen, relativ viel Energie
verträgt und verarbeitet. Im Laufe der Evolution mussten wir uns in Form von Eiweiß zuzuführen, zum Beispiel 22 %. Ohne eine
immer wieder an neue Lebensbedingungen anpassen. Dieser Auswertung Ihrer jetzigen Ernährungsform würden Sie demnach
Prozess verlief jedoch nicht bei allen Menschen gleich, daher Ihren Eiweißkonsum steigern. Was aber, wenn Sie bereits jetzt
entwickelten sich verschiedene Stoffwechsel- bzw. Metabolismus- bei 30 % oder gar 50 % liegen? Dann kann eine weitere Steigerung
Typen. Mit Hilfe einer modernen DNA-Analyse wie sie zum sogar negative Effekte haben. Deshalb sind ein Soll-Ist-Vergleich
Beispiel das Labor CoGAP anbietet, lassen sich relativ preiswert und eine fachlich fundierte Beratung absolut notwendig.
diese genetischen Veranlagungen ermitteln.
Welchen Nutzen außer Gewichtsreduktion bringt das Programm?
Wie läuft so eine Analyse ab? Meine Klienten berichten, dass sie sich mit der auf ihren Typ
Eine Speichelprobe wird anonymisiert an das Labor geschickt. optimierten Ernährung besser fühlen. Sie sind nicht mehr so
In der Zwischenzeit notiert der Klient über sieben Tage, was er müde und energielos nach dem Essen, sondern insgesamt fitter
isst und trinkt. Das werte ich aus hinsichtlich der Verteilung und leistungsfähiger. Das führe ich neben der Optimierung der
der Hauptnährstoffe Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate sowie der Hauptnährstoffe auch auf meine Empfehlungen zur Versorgung
Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente. Bei Frauen ermittle mit Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen zurück, die
ich zudem den Typus in Bezug auf die Geschlechtshormone. stets Teil meines Beratungspakets sind.
Das Ergebnis aus dem Genlabor zeigt den Stoffwechseltyp
mit Empfehlungen für die angepasste Zufuhr von Eiweiß, Fett  Dr. Jürgen Weihofen promovierte in Ernährungswissenschaf-
und Kohlenhydraten. Diesen „Soll-Wert“ vergleiche ich mit ten an der Universität Bonn. Seit 1983 ist er als selbstständiger
dem „Ist-Wert“ aus der Ernährungsauswertung. Anschließend Ernährungsberater und Buchautor tätig. In seiner integrativen
gebe ich auf die individuellen Ess- und Lebensgewohnheiten Naturheilpraxis in Bonn arbeitet der Diplom-Ökotrophologe
angepasste Ernährungs- und Trainingsempfehlungen. Man muss und Heilpraktiker mit konventionellen sowie komplementären
also nicht seine Gewohnheiten komplett aufgeben, sondern Methoden, individuell auf den einzelnen Klienten zugeschnit-
nur dort korrigieren, wo sie nicht zum genetischen Typ passen. ten Außerdem gründete er ein Reformhaus-Einzelhandels­
Die Empfehlungen münden in einer gesunden, vollwertigen unternehmen, einen Verlag für Gesundheits-Ratgeber und ein
interdisziplinäres Gesundheits-Zentrum. www.dr-weihofen.de

LEBENSART // Kaviar
84 85

Prall, glänzend und tau­
frisch – so präsentiert sich
Topkaviar dem Connaisseur.
Störe, aus deren Rogen er
gewonnen wird, kommen
in freier Natur ausschließ­
lich auf der nördlichen
Hemisphäre vor und sind
mittlerweile von der Ausrot­
tung bedroht. Ist Störzucht
eine gute Alternative?

Es darf doch DESIGN  
Kaviar sein / 

N A C H H A LT I G K E I T


Dass höchste Kaviar-Qualität nicht zwin-
gend aus Wildfang stammen muss, be-
weist das Schweizer Familienunternehmen
ZwyerCaviar mit seinem nachhaltigen, ambi-
tionierten „Wildzucht“-Projekt in Uruguay –
der bisher ersten und einzigen Störzucht
auf der südlichen Hemisphäre. Das

Endprodukt erfreut den Gaumen,
seine edel designte Verpa-
ckung das Auge.

AN SO MANCHEN DELIKATESSEN SCHEIDEN SICH DIE GEISTER – nicht nur in kulinarischer
Hinsicht: Gänseleber, Trüffeln, Froschschenkel – oder eben Kaviar. Den gibt es jetzt aber auch
für reinen Genuss mit gutem Gewissen

Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein galt der frische, nur mit ein we- Von Dr. Thomas Hauer
nig Salz konservierte Störrogen als Arme-Leute-Essen der Fischer
entlang der Wolga und am Kaspischen Meer. Dann avancierte das bedeutet ein dicker Beluga im Netz doch beinahe einen Sechser
„schwarze Gold“ innerhalb weniger Jahrzehnte zum Inbegriff von im Lotto und Abnehmer für die heiße Ware gibt es immer. Die ein-
Luxus und Gourmandise. Wer es schaffte, die leicht verderbliche zige Alternative zum Totalverzicht ist die Zucht. Die verzeichnet
Ware seinen Gästen in Top-Qualität zum Dinner zu servieren, be- seit Jahren weltweit exponentielle Zuwachsraten und hat an vielen
wies damit nämlich nicht nur guten Geschmack, sondern vor allem Orten – vor allem in China – schon beinahe industrielle Dimen-
seine wirtschaftliche Potenz, die sensible Ware eisgekühlt per Ex- sionen angenommen. So vegetieren mittlerweile Tausende Störe
press nach Moskau oder St. Petersburg liefern lassen zu können. in dunklen Fabrikhallen in Betonbottichen in Wasser fragwürdiger
Heute dagegen ist „echter“ Kaviar wie kaum eine andere Delikates- Qualität vor sich hin und müssen mit einem Antibiotikacocktail
se zum Sinnbild menschlichen Raubbaus an unseren natürlichen vor Infektionen geschützt werden – ähnlich den Lachsen in Norwe-
Ressourcen mutiert, hat die gnadenlose Überfischung zahlreiche gens Fjorden, die wenigstens noch im freier Natur leben. Schöne
Störarten doch bereits an den Rand der Ausrottung gebracht. Oder neue Kaviarwelt.
auch darüber hinaus. Der parallel zum Schwinden der frei leben- Natürlich ist auch der auf diese Weise produzierte Kaviar von sehr
den Störbestände in astronomische Höhen gestiegene Kaviar- fragwürdiger Qualität und erinnert, trotz horrender Preise, eher
Preis läutete schließlich endgültig das Totenglöcklein für Beluga, an schwarzen Tapetenkleister mit Fischgeschmack. Dass es auch
Sevruga, Ossietra und Co. ein. anders geht, beweist das kleine Schweizer Familienunternehmen
Heute ist Wildfang praktisch weltweit strengstens verboten, aber ZwyerCaviar in Teufen im Appenzeller Land, sonst auf der kulinari-
noch immer fahren Raubfischer hinaus und stellen den letzten frei schen Weltkarte eher für seinen Käse bekannt.
lebenden Stören nach – trotz drakonischer Strafen. Kein Wunder, Gezüchtet wird allerdings nicht in den Alpen, sondern in einem
Naturschutzgebiet an den Ufern des Rio Negro in Uruguay. Dort le-
ben die prachtvollen Tiere 10 Jahre in einem verzweigten Flussarm-

LEBENSART // Kaviar

Inmitten eines Natur­
reservats wachsen die

Störe über 10 Jahre
artgerecht im kristall­
klaren Wasser der Anden­

gletscher heran und
werden anschließend zu

100 % verwertet.

86 87

system. Das wird rund um die Uhr von Abermillionen Litern frischem Gletscherwasser
aus den Anden durchflossen – so wachsen die Störe nicht nur artgerecht, sondern auch
antibiotikafrei heran. Der am Ende von den fair bezahlten Mitarbeitern der Fischfarm
geerntete Rogen braucht deshalb keinen Vergleich mit „echter“ Wildware zu scheuen.
Außerdem laufen Herstellung und Transport der Delikatesse komplett CO2-neutral ab.
Denn ZwyerCaviar bezahlt dafür einen Kompensationsbetrag an die Stiftung myclimate,
die das Geld wiederum für Forschungsprojekte im Amazonasgebiet einsetzt. Zudem wer-
den die Störe zu 100 Prozent verwertet – aus dem Fleisch werden Terrinen, aus der Haut
hochwertiges Fischleder und aus den Knochen entstehen Grundstoffe für die Naturme-
dizin. Dass Zwyer seinen Kaviar dazu noch in einer eigens entwickelten, wunderschönen
Thermobox anbietet, die an eine überdimensionale Kaviarperle erinnert, macht dieses
Spitzenprodukt auch vom ästhetischen Standpunkt aus zu einer Delikatesse.

Nicht nur kulinarisch ein
Genuss: Die innovative,
einer Kaviarperle nach­
empfundene Black Pearl

von Zwyer mit eingebauter
Kühlfunktion schützt ihren

kostbaren Inhalt optimal
vor Luftsauerstoff und
Wärme.

Fotos: ZwyerCaviar GmbH
www.zwyercaviar.com

Wertvoll, Weißgold, wunderschön – mit feinstem Glashütter Kaliber. Lambda Weißgold und andere Uhren der neuen Goldkollektion von NOMOS Glashütte
gibt es jetzt hier: Augsburg: Bauer & Bauer; Bayreuth: Böhnlein; Berlin: Christ im KaDeWe, Leicht, Lorenz, Wempe; Bielefeld: Böckelmann; Bonn: Hild; Bremen:
Meyer; Chemnitz: Roller; Darmstadt: Techel; Dortmund: Rüschenbeck; Dresden: Leicht; Düsseldorf: Blome, Wempe; Erfurt: Jasper; Erlangen: Winnebeck; Essen:
Mauer; Frankfurt: Wempe; Glashütte: NOMOS Kaufhaus; Hamburg: Bucherer, Wempe; Hannover: Wempe; Kassel: Schmidt; Koblenz: Hofacker; Köln: Bergho ,
Rüschenbeck; Leipzig: Wempe; Lübeck: Mahlberg; Ludwigsburg: Hunke; Mainz: Willenberg; München: Bucherer, Fridrich, Möller, Wempe; Münster: Oeding-Erdel;
Nürnberg: Wempe; Regensburg: Kappelmeier; Stuttgart: Wempe; Ulm: Scheuble; Wiesbaden: Epple. www.nomos-store.com und www.nomos-glashuette.com.

MOBILITÄT // BMW i3

88 89

DESIGN  
/ 

N A C H H A LT I G K E I T

 Der schöne

So schrecklich es für Elektromobilitäts-Muffel
sein muss: Mit dem i3 ist die Zeit gekommen,
in der alte Argumente nicht mehr greifen. BMW
hat hier von einem leeren Blatt Papier aus ein
umfassend neues Konzept der Mobilität ge-

schaffen. Nicht einer Mobilität von morgen,
sondern von heute – der i3 ist greifbar
und das beste Argument, dass nun
auch die deutsche Politik in die
Gänge kommen muss.

Realitätsschock

Für die meisten Menschen ist Elektromobilität nur eine ungefährliche Zukunftsprojektion.
Mit dem i3 hat BMW ein gefährliches Stück Gegenwart geschaffen – effektiv, schlau und
überraschend günstig. EIN FAHR- UND FASZINATIONS-BERICHT AUS DER MUSTERSTADT
AMSTERDAM

Faszinierte Blicke an den Von Andreas Günther
Grachten: BMW lud zur
Premierenfahrt des neuen Die Luft flirrt leicht von Nervosität. Was man sonst von BMW nicht
i3 Journalisten aus aller kennt – die Praxisausflüge für Journalisten sind in der Regel ent-
Welt nach Amsterdam ein. spannt durchgeplante Show-Läufe. Im hohen Bewusstsein der ei-
Mit Hintersinn: Wie kaum genen Souveränität. Doch in diesem Fall gibt es keine Basis, kein
eine andere Stadt auf dem Fundament der Erfahrung. Oder in der Fachsprache der Automo-
Globus hat sich die nieder- bilbauer: keine gemeinsame Plattform. Im Wortsinn: BMW hat den
ländische Metropole auf die i3 faktisch aus dem Nichts erschaffen. Der Legende nach trafen
Infrastruktur für Stromer sich im Jahre 2008 handverlesene Vordenker und Ingenieure in der
eingestellt. Firmenzentrale. Der Vorstand selbst hatte rund 20 Mitarbeitern
freie Hand und ein definiertes Budget gegeben. Und ein weißes
Blatt: Wie soll die Mobilität der Zukunft aussehen? Die Antwort
steht nun in der offiziellen Preisliste. Für rund 35.000 Euro.
Erstaunlich wenig Geld. Denkt man bereits in jenem ersten Mo-
ment, da die Tür in das Schloss gefallen ist und der Innenraum
einen perfekt inszenierten Mix aus Behaglichkeit und dem Ver-
sprechen von Dynamik ausstrahlt. Hier hat sich BMW elegant-re-
duziert ins Zeug gelegt – und den Preis offenbar politisch taxiert.
Die Augen haben von außen zuerst einen rundlichen Kompakt-

MOBILITÄT // BMW i3

Bitte kopieren! Amsterdam
fördert Elektromobile durch
lebensnahe Lösungen:
Neubesitzer bekommen eine
Zapfsäule vor die Haustür,
unter der Oper stehen
Sonderparkplätze zur Ver-
fügung – dort wird einzig
die Parkgebühr berappt,
den Strom gibt‘s kostenlos.

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ling wahrgenommen – umso mehr überraschen die Platzverhält- Willens. Das man – Ironie und Kritik – im Mutterland und in der
nisse drinnen: Der i3 bietet auch großen Passagieren genügend Vaterstadt von BMW vergebens sucht. Doch ganz offenbar: Der
Lebensraum. Aufgeräumt, fein, schlau. Hier punktet das Bau- Münchner Autobauer hat erkannt, dass man die Dynamik hinter
prinzip: Da ist eben vorn unter der Haube kein Motorblock, der der e-Mobilität gerade in Deutschland selbst in die Hand nehmen
Platz aus der Fahrgastzelle wegfrisst. Wer die kleine Klappe hin- muss. In Kooperation mit überregionalen Stromanbietern will
ter der BMW-Niere öffnet, trifft ein Ladekabel an. Die eigentli- BMW beispielsweise das deutsche Autobahnnetz mit Schnelllade-
che Kraftübertragung findet unter den Pobacken statt. Lithium- stationen in taktisch sinnvollen Entfernungen ausstatten. Also für
Ionen-Batterien füttern einen Synchron-Elektromotor, der 125 einen kombinierten Toilettengang-Kaffeepause-Stopp von 30 Mi-
Kilowatt bereitstellt, und zwar (noch entscheidender) bei einem nuten – bei dem der Akku zu 80 Prozent aufgeladen werden kann.
maximalen dynamischen Drehmoment von 250 Newtonmetern. Genau an diesem Knackpunkt trifft BMW auf die größten emotio-
Merkt man. Ein Tipp auf das Gaspedal – und der i3 schiebt freudig nalen Hindernisse. Der Erfolg des i3 hängt davon ab, wie schnell
anspringend über den Asphalt. Vielmehr in dieser Startphase noch sich die Welt ändert – und das Bewusstsein der Käuferschaft. Denn
über den Estrich im Parkhaus am Flughafen Schiphol. Nach der ein i3 hat „nur“ 160 Kilometer an Bewegungsradius „im Tank“. Wer
ersten, rein optischen Präsentation des i3 in London und anderen mehr will, kann eine Version mit „Range Extender“ ordern – für
Weltstädten hat BMW die internationalen Fachjournalisten zum 4.500 Euro gibt es dann einen Zweizylinder-Benzinmotor mit an
Test des serienreifen Modells nach Amsterdam eingeladen. Warum Bord. Der nicht selbst in den Antrieb eingreift, sondern schlicht
in die Hauptstadt der Niederlande? Weil wir uns von den Nieder- nur weiteren Strom für den Akku produziert – und den Radius auf
ländern eine Scheibe abschneiden sollten. Eigentlich ein Treppen- 300 Kilometer erweitert. Ganz offen: ein fauler Kompromiss, der
witz der Automobilgeschichte: Obwohl bei unseren Nachbarn im den i3 seiner smarten Schlauheit beraubt. Wer partout einen grö-
Nordwesten kein Hersteller zu Hause ist, leben die Holländer das ßeren Radius möchte, muss für sich entscheiden, ob er den stän-
Thema Elektromobilität vor wie ein Musterstaat. Mit Verstand, Lei- dig braucht – beispielsweise im Arbeitsalltag. Dann scheidet der i3
denschaft und politischer Tatkraft. Beispiel: Würde ich mir als Bür- aus. Wer aber nur zwei, drei Mal im Jahr mit der Familie zu einem
ger in Amsterdam ein Elektroauto zulegen und hätte kein eigenes über 300 Kilometer entfernten Urlaubsort braust, kann bei BMW
Haus mit Garage, dann würde mir der örtliche Stromanbieter in auf eine ganz besondere Form von Verständnis zählen: Die Münch-
die nächste Parkbucht vor der Wohnungstür eine Zapfsäule stellen. ner stellen ihm auf Abruf einen klassischen Benziner oder Diesel
Mit doppeltem Anschluss – falls der Nachbar auch angelockt wäre. als Leihwagen innerhalb eines Mobilitätspakets bereit.
Das Prinzip der Infizierung mit hoher Werbewirksamkeit: Schaut Nebenbei: Man muss kein Prophet sein, um dem i3 auch eine
her – hier, in dieser schönen Stadt, gibt es schlaue Menschen, glänzende Zukunft als Firmenwagen im Nahkampf vorhersagen
schlaue Mobilität und eine ebenso intelligente Infrastruktur. Die zu können. Schon jetzt ordern Mittelständler den i3 – um gefragte
Flotte der Testwagen haben wir beispielsweise am Abend in der Fachkräfte zu locken. Neben dem Firmenwagen gibt es dann einen
Tiefgarage unterhalb des Opernhauses abgestellt. Auf gesondert eigenen Stellplatz auf dem Firmengelände mit Strom gratis.
deklarierten Parkplätzen mit Zapfgelegenheit. Als Elektromobiler Überhaupt: Die große Rechnung muss her – was kosten mich hun-
darf man sich in Amsterdam in dem Gefühl wiegen, ein besonderer dert Kilometer mit dem i3 im Vergleich zu einem klassischen Ben-
Gast zu sein, der nur die reinen Parkgebühren zahlen muss – den ziner? Verblüffend wenig. Gerade wenn man bedenkt, dass der i3
gezapften Strom spendiert die Stadt. Ein Zeichen des politischen als ideales Stadtgefährt konzipiert wurde. Für ein Lebensumfeld,

Ein Zwei-Komponenten-
System: Die Fahrgastzelle
baut BMW aus Carbon auf,
die Antriebseinheit inklusive

Batterien wird in ein
Aluminiumkorsett

gezwängt. Wer partout
möchte, kann einen kleinen

Benzinmotor als „Range
Extender“ dazunehmen.
Was den Radius auf 300

Kilometer verdoppelt.

in dem selbst ein sparsamer Benziner zehn Liter auf hundert Kilo- SAUBER, STILL UND LEISE
meter verbrennt. Was einem Elektroautobesitzer aber völlig egal
sein kann – der Verbrauch im Stop-and-go-Verkehr ist weitgehend  Der i3 wird in Leipzig gebaut. Wer dort das
identisch mit dem auf der Landstraße. Kurzum und pauschal: Ein BMW-Werk betritt, staunt vor allem über
Benziner frisst auf hundert Kilometer 15 Euro, ein i3 begnügt sich das, was nicht da ist: Lärm. Der i3 wird nicht
mit vier Euro. Im besten Fall. Den man aber herbeizwingen kann. geschweißt, sondern von Robotern voll-
Beispielsweise über die Wahl des Zeitfensters beim Laden – BMW automatisch verklebt. Das Fahrmodul aus
liefert auf Wunsch eine „i Wallbox Pure“ nach Hause, die, von ge- Aluminium wird mit einer Fahrgastzelle aus
schulten Fachkräften montiert, die Batterien des angeschlossenen Carbon verbunden. Komplett wiegt ein i3
i3 mit dem günstigsten Nachtstrom des regionalen Anbieters auf- gerade einmal 1.195 Kilogramm. Insgesamt
füllt. Drei Stunden genügen in der Regel, maximal sechs Stunden hat BMW in Leipzig 400 Millionen Euro inves­
garantieren einen vollen Akku. An der gewöhnlichen Steckdose tiert, für die BMW i Fertigung entstanden
kann eine Vollladung dagegen bis zu acht Stunden dauern. Die 800 neue Arbeitsplätze. Und weil es so schön
vielleicht schönste Lösung: Ein Carport mit eigenem Solar-Dach. ist, sei auch dieses Detail verraten: Die kom-
Auch hier vermittelt BMW den Kontakt zu Fachinstallateuren. In plette Energie für den Bau eines i3 stammt
der Summe: Der Automobilhersteller der Zukunft ist zugleich auch von Windrädern auf dem Werksgelände.
erster Ansprechpartner bei der Versorgung mit Antriebskraft.
Und es geht noch schlauer. BMW hat eine App für iPhone und An-
droid entwickelt – die kleinste Leistung hier: die simple Anzeige
des aktuellen Ladestandes und des daraus resultierenden Radius.
Egal wo sich der eigene i3 gerade befindet. Denn App und Mo-
bil kommunizieren nicht direkt, sondern über die Cloud. Ich kann
also in Rostock bei einer Besprechung schnell überprüfen, ob mein

MOBILITÄT // BMW i3 Das geheime Highlight:
92 93 BMW hat zum i3 eine App
entwickelt. Während der
Mittagspause kann man
den Ladestand überprüfen
oder die Innenraumtempe-
ratur vorbestellen. Die Kür:
Schlaue Wegempfehlungen
auch für den Umstieg auf
öffentliche Verkehrsmittel.

i3 frisch geladen ist, wenn ich wieder in München lande und vom Alles nur schöne Versprechen? Nein. So schrecklich es für Elek-
Flughafenparkhaus heimfahren will. Noch mehr: Per App kann ich tromobilitäts-Muffel sein muss: Mit dem i3 ist die Zeit gekom-
meinen i3 wissen lassen, wann die Fahrt beginnt – pünktlich erwar- men, in der die Argumente der eigenen Verweigerung nicht mehr
tet er mich dann mit vorklimatisierter Fahrgastzelle. greifen. Wir haben den dynamischen Stadtbrauser in Amsterdam
Wirklich spannend wird es, wenn sich der Dialog zwischen Mensch erlebt. Zugegeben in einem Umfeld mit perfekter e-Infrastruktur,
und Maschine zu einem gesellschaftlichen Diskurs erweitert. Die wenn es um Ladestationen und Grundversorgung geht. Amster-
BMW-App rät auf Wunsch auch aktiv zum Umstieg auf öffentli- dam zeigt aber auch „brutalstmöglich“, wie dumm und unterlegen
che Verkehrsmittel – wenn beispielsweise ein Stau droht oder konventionelle Antriebe in einer modernen Großstadt sind. Der
ein günstig gelegener Parkplatz mit Ladesäule den schnelleren Stop-and-go-Verkehr in den Abendstunden raubt Energie – den
und schlaueren Weg in die Innenstadt verspricht. Überhaupt der Menschen in den Autos wie denen am Straßenrand. Freilich kann
Stromradar: Flankierend zur App zeigt BMW natürlich auch im Na- sich der i3 nicht den Verkehrsmassen entziehen. Doch seine Null-
vigationsdisplay des i3 an, wo denn überall auf der Route Strom zu Emmision-Konstruktion verschafft das bessere Gefühl.
zapfen wäre. Bei zeitidentischer Recherche: Ein rotes Symbol zeigt Also ethischer Snobismus mit herabwürdigendem Blick auf den
eine gerade besetzte Säule an, Gelb steht für eine einseitig belegte Porsche-Fahrer nebenan? Ja, auch das. Dann aber ebenso die er-
Doppelsäule, Grün für umfassend verfügbare Leistungskraft. Und staunliche Souveränität: Besagter Porsche-Fahrer sah alt aus, als
wie, bitte schön, zapfe ich denn in einer fremden Stadt wie Amster- unser i3 seinen Newtonmeter-Vorteil auf den Asphalt brachte.
dam? Mit der „ChargeNowCard“, die BMW jedem i3-Besitzer emp- Er ist eben schlicht das dynamischere Auto. Mit gewaltigem
fiehlt und die von nahezu allen öffentlichen Ladesäulen in Europa Einschlagwinkel – die schmalen Grachten und Einbahnstraßen
akzeptiert wird. Wie im Markt der Handy-Netze geht BMW davon schienen für diesen Wagen erfunden worden zu sein. Freude am
aus, dass sich ein „eRoaming“ für Elektromobile durchsetzen wird. Fahren mal ganz anders definiert. Nahezu arbeitslos dabei: Das

Das Magazin „Der
Spiegel“ konnte nicht vom

kleinen Kritteln lassen:
Der neue i3 sei „wendig,
fix und ein wenig filzig“.
Eine Anspielung auf die
unter anderem mit Hanf
verfeinerte Türverkleidung.
Dazu gibt es noch Euka-
lyptusholz aus nachhaltiger
Forstwirtschaft – vor allem
aber ein erstaunlich großes

Platzangebot.

DER BMW I3 – IN ZAHLEN

Bremspedal – wer den Fuß vom Gas nimmt, staunt, wie plötzlich  Leistung: 125 kW / 170 PS
(nicht abrupt) der i3 zum Stehen kommt. Da jede Energie dem i3
wertvoll ist, nutzt BMW die nicht mehr benötigte Bewegungsener-  Drehmoment max.: 250 Nm
gie als Rückstrom zum Akku (Fachbegriff: Rekuperation).
Nirgends ein Haken, rundum nur Jubel? Nun ja, das Design muss  Maße: 1775 x 3999 x 1578 cm
man mögen. Oder persönlicher: Wir mögen es – BMW stellt hier  Höchstgeschwindigkeit: (Breite, Länge, Höhe)
ein schlaues Auto als intellektuelle Großinszenierung aus. Der
verantwortliche Designer Benoit Jacob ist Paradebeispiel auch der 150 km/h
Zielgruppe: Ein Großstädter mittleren Alters (43) mit Ambition,
Geschmack und Hirn. Jacob setzt auf ein „One-Box-Design“ – der i3  Reichweite: 130 - 160 Kilometer
lässt sich nicht in den Proportionen teilen. Auch konstruktionsbe-
dingt: Die Rückbänke sind über eine Halbtür zu erreichen, die sich  Beschleunigung 0-100 km/h: 7,2 Sekunden
gegenläufig zur Fahrertür öffnet – verwandt zum Mini-Clubman-
Konzept. Hinten warten vollwertige Sitzgelegenheiten für nicht zu  Wendekreis: 9,86 Meter
große Menschen und nicht zu lange Strecken. Passend eben zum
Gesamtkonzept des i3. Der mit hoher Wahrscheinlichkeit Passa-  Verbrauch: 12,9 kWh je 100 Kilometer
giere zumeist nur auf seinen Frontplätzen befördern wird, wo sie
in Arm- und Beinfreiheit regelrecht schwelgen können. Sehr ange- LADEZEITEN
nehm. Extrem sachlich hat Jacob den Innenraum konzipiert, doch
nie kühl. Die Zugaben wie die Zierleiste in Eukalyptusholz aus  Haushaltssteckdose: 6 - 8 Stunden
nachhaltiger Forstwirtschaft kann man als verzichtbar oder essen-
ziell wahrnehmen. Der i3 emotionalisiert in diesen Punkten. Von  BMW i Wallbox Pure: 3 - 6 Stunden
allen Automobilen der letzten Jahre ist er das Gefährt, das vom
Betrachter am stärksten einen eigenen Standpunkt fordert.  Schnellladefunktion bis 80%: 30 Minuten
Jetzt nicht herumlavieren: Mögen wir ihn? Ja – ohne Wenn und
Aber. Vor allem mögen wir am i3 seine politische Antriebskraft:  Basispreis: 35.000 Euro
Es muss ein Ruck durch die deutsche Mobilitäts-Infrastruktur
gehen – dieser erschwingliche und schlaue fahrbare Untersatz für
Millionen bundesrepublikanischer Wähler erzwingt Folgen.

MOBILITÄT // Sport Utility Vehicles

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Leben im SUV

RATIONALE ERKLÄRUNGEN SPRINGEN IM FALLE DER SUV ZU KURZ. Emotionale auch. Des-
halb hat sich pure auf die Spuren der Sport Utility Vehicles gesetzt und versucht, den Spagat
zwischen ständig steigenden Zulassungszahlen und hip gewordenem Unsinn zu klären. Denn
der eigentliche Nutzwert – so eine mögliche Übersetzung von Utility – wird selten bis nie in
Anspruch genommen

Theorie und Praxis: Das Marke-
ting verspricht Freiheit und Aben-
teuer mit dem SUV. Über Stock &
Stein und auch durch tiefen Sand.
In der Praxis ist aber oft die Bür-
gersteigkante vor der Schule, dem
Kindergarten oder dem Bäcker die
höchste Erhebung, die ein SUV in
seinem Lify-Cycle zu meistern hat.

DESIGN  
/ 

N A C H H A LT I G K E I T


Sie sind das erfolgreichste Segment,
das die Autohersteller in den letzten
Jahren erfunden haben – und zugleich
das umstrittenste: Sport Utility Vehicles,
kurz SUV, sind nicht nur Öko-Aktivisten

längst ein Dorn im Auge. Der aktuelle
Trend geht aber auch hier in Rich-
tung Sozialverträglichkeit und
Nachhaltigkeit.

Von Jo Clahsen
Hat es etwas mit dem Damdadadamdadadam-Bonanza-Feeling zu
tun? Mit Freiheit und Abenteuer? Mit Cowboyhut, Colt und dem
Weg, der durch die Wildnis führt? Vielleicht. Escape-Taste drücken,
die große, weite Welt auf dem 30-Zoll-Monitor des Rechners ver-
lassen, aufsitzen (statt einsteigen), die Sporen geben und quer-
feldein ins große Glück. Der Colt wird durch das Tablet ersetzt,
statt Stetson gibt es Google Glass plus Basecap und die Pferde
wühlen sich auch durch knietiefen Morast an ein Ziel, das Sehn-
sucht heißt. So weit die Theorie des SUV. CO²
Zu der Zeit, als die Cowboy-Saga rund um Bonanza unsere Bild-
schirme ausfüllte, gab es noch keine Sport Utility Vehicles. Aber
Offroader. Das waren meist knochig-kernige Diät-Fahrzeuge. Mit
schlechter Heizung, harten Sitzen, knüppeliger Federung. Kurz-
um: ohne jeglichen Komfort. Nur darauf ausgerichtet, da weiter

MOBILITÄT // Sport Utility Vehicles

Zwei Crossover: Der Fiat
Freemont (li.) ist der

American Dream der Ita-
liener auf Basis des Dodge

Journey. Der X6 missfiel
den Testern – und feierte
dennoch Verkaufserfolge.

Bald gibt‘s ein Update.

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zu kommen, wo andere gar nicht erst hinkommen. Und für Berufs- Es dauerte weitere 18 Jahre, bis Toyota sich traute. Mit dem RAV4,
gruppen erdacht, die bei ihrer täglichen Arbeit eben nicht auf aus- einem Recreational Activity Vehicle mit 4-Rad-Antrieb, erhielt
getretenen Pfaden verkehren, sondern im Querfeldein ihren Dienst auch das automobile Prekariat die Möglichkeit, den Duft der gro-
tun. Besondere Kennzeichen: Gitterrahmen, Sperrdifferenziale, ßen, weiten Welt zu schnuppern. Der weltweite Erfolg des ersten
Untersetzungen, Starrachsen. So sahen sie auch meist aus: dreck- Kompakt-SUV gab Toyota Recht. Und der sich daraus entwickeln-
verkrustet innen wie außen. Und sie waren so gebaut, dass man de SUV-Boom ließ andere Hersteller reagieren. Zunächst waren es
sie im Zweifelsfall innen wie außen mit dem C-Rohr abspritzen jedoch neben den Amerikanern mit ihren Fullsize-SUV wie Chevy
konnte. Jeep, Land Rover, Lada und Konsorten waren die Harten Blazer, Tahoe und Suburban, Ford Bronco, GMC Yukon und Jeep
für den Garten. Cherokee hauptsächlich japanische und koreanischer Autobauer,
die auf den Zug aufsprangen: Kia mit dem Sportage, Honda mit
Es gibt sie auch jetzt noch: Familien, die in den letzten Jahrhunder- dem Passport, Mitsubishi mit dem Montero, Nissan mit dem Path-
ten derartige Reichtümer und Ländereien angehäuft haben, dass finder, Suzuki mit dem Samurai und Toyota mit dem Land Crui-
sie ohne Vierradantrieb aufgeschmissen wären. Dieser Klientel ser – alles genau wie Defender, Discovery und Range Rover nicht
stellte Land Rover 1972 ein Auto auf die gekieste Auffahrt, das sich unbedingt reinrassige SUV, sondern immer noch eher Offroader.
zunächst schämte. Velar hieß es, was im Spanischen „verstecken“ Infiniti, die Luxusmarke von Nissan, legte dann den QX auf. Lexus,
bedeutet. Es war kein spartanischer Defender, sondern eine Trutz- Edeltochter von Toyota, fuhr mit dem LX vor. Das X für Vierradan-
burg, ein Blech gewordenes Wohnzimmer. Ein Allradler mit Kom- trieb wurde zum Markenzeichen der SUV-Society. Und eine selbst-
fort und Luxus satt. Dieser Range Rover war das erste Premium- tragende Karosserie mit Einzelradaufhängung. Auch die M-Klasse
SUV, auch wenn das damals noch niemand ahnte. Euer Lordschaft von Mercedes tauchte in den Statistiken von J.D. Power auf. Dodge
konnte damit kommod Freunde und Bluthunde nebst Büchsen und und Allrad-Spezialist Subaru reihten sich ein. Und es entstand ein
Picknick durch unwegsames Gelände zur Jagd kutschieren. zusätzlicher Trend, der die SUV-Autowelt in zwei Lager aufspaltet:
in Offroader und Softroader. Soft heißt SUV, die lediglich so aus-
Nur vier Jahre später verwunderte ein anderes Auto die Testge- sehen, als ob, aber letztlich nur über Zweiradantrieb verfügen und
meinde: der Matra Simca Rancho. Sieht aus wie ein R4-Kasten- somit den Sport der Utilities auf befestigte Straßen und Schotter-
wagen mit Indianer-Schminke. Und er vermittelte den Eindruck, pisten reduzieren. Hauptsache, beim Trend für Hipster dabei sein.
er würde durch dick und dünn gehen, um im Zweifelsfall mittels
Suchscheinwerfer nach der angepeilten Location zu fahnden. Lei- Die deutschen Hersteller verpennten den Trend fast. Mercedes-
der erkannte 1976 im PSA-Konzern niemand, wie weit der Rancho Benz rückte 1977 mit der M-Klasse aus, BMW folgte mit dem X5
seiner Zeit voraus war. Er hätte das erste Kompakt-SUV werden zwei Jahre später. VW und Porsche kamen erst 2002 mit dem Toua-
können, auch ohne Vierradantrieb. (Den gab es aus Kostengrün- reg sowie dem Cayenne auf den Markt, Audi stieg 2005 mit dem Q7
den ohnehin nicht.) Bevor seine Produktion eingestellt wurde, ein. Zu diesem Zeitpunkt hatten BMW (X3 – 2003) und Mercedes
vererbte der Rancho seine Gene noch an den Renault Espace – (GLK – 2004) bereits erkannt, dass Kompakt-SUV angesagt sind.
und somit nicht an ein SUV, sondern an einen Van. Und boten die Modelle als 2x4 und 4x4 an. Denn die großen Brüller

Die Mütter der SUV: Jeep war jahr-
zehntelang gleichbedeutend mit
Geländewagen. Wo er nicht hin-

kam, schaffte es keiner. Der Range
Rover (re.) gilt heute als erstes
Premium-SUV, das bis zu fünf
Erwachsene ins Offroad bringt.
Kommod und luxuriös.

Schwestermarke Jaguar legt dem-
nächst mit dem CX-17 ein eigenes

Premium-SUV auf.

Toyotas SUV-Ahnen.
Der Land Cruiser (li.)
ist der Millionen-Seller
vom Schlage quadratisch,
praktisch. Der FJ40,
in mehreren Versionen
angeboten, ist das Auto für
Outdoor-Arbeiter.

MOBILITÄT // Sport Utility Vehicles

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Gelände adé: Die neuen Kom-
pakt-SUV wie Opel Mokka
(oben) oder Nissan Qashqai
sehen schon optisch nicht
mehr nach Gelände-Kraxler
aus. In vielen dieser SUV wird
neben 4x4 auch der normale
2x4-Antrieb angeboten.

Urgestein auf groben Sohlen:
Mit martialischen Namen wie
Jeep Wrangler, Ford Bronco
oder GMC Yukon soll gleich
vermittelt werden, dass es
kein „Sissy-Car“ ist, sondern
einer der Harten für die Fahrt
durch den heimischen Garten.

Großstadt-Indianer: Der Jeep
Compass (li.) wird mit „Das
Original erobert die Stadt“
beworben. Der Porsche Macan
dürfte auch kaum öfter im
Morast unterwegs sein als das
SUV von Jeep. Premium fürs
grobe City-Geläuf.

fanden zwar reißenden Absatz, lösten aber auch viel Kritik aus. Au- Kaum ein Autobauer, der sich kein SUV leistet. Und sei es auch
torin Wiebke Brauer umschrieb es treffend so: „Zwei Tonnen Auto, nur ein kleines, kompaktes. Fiat etwa steht mit einem 500X in den
60 Kilo Frau.“ Dickschiffe und (Brauer) „Torpedokreuzer zwischen Startlöchern, nachdem beim alten Kultfloh alle gängigen Nischen
lauter Kuttern“, die der Luft so viel Widerstand entgegensetzen wie wie Limousine, Cabrio und XXL-Version durchdekliniert sind.
eine Schrankwand. Natürlich mit Vierradantrieb, der zusätzlich Ge- Opel, Volvo, Mini – keiner möchte den Zug verpassen. Ford will mit
wicht und Reibungswiderstand bedeutet. Obschon sie in ihrem Ar- dem Ecosport das Kompaktsegment bedienen und gleichzeitig mit
beitsalltag höchstens einmal die Bordsteinkante vor dem Bäcker/ dem Full-Size-SUV Edge punkten. Der neue Qashqai von Nissan
Metzger/Kindergarten überwinden müssen. Meist gar auf edlen steht ebenfalls in den Startblöcken, Lexus ist mit dem LF-NX im
High-Heels vom Kaliber 20 oder 21 Zoll, eingekleidet in hauchzarte Anmarsch, Toyota hat – in Zusammenarbeit mit dem Elektro­
30er- oder 35er-Flachbettreifen. Und mit einem Verbrauch, der sich pionier Tesla – den RAV4 sogar schon als Elektro-Auto (EV) auf
an Gewicht und Widerstand orientiert. Von Traktoren war schnell die Räder gestellt und Honda will mit einem Konzept namens
die Rede, auch wenn es sich um Limousinen mit dem Charme ei- Vezel ab 2015 auch eine Hybrid-Lösung anbieten.
nes Offroaders handelte. In der Schweiz ging die Kritik der „Jungen
Grünen“ gar so weit, dass sie via Volksentscheid die SUV verbieten Und die deutschen Hersteller? Volkswagen spendierte seinem
lassen wollten. Touareg bereits 2010 ein kleines Hybrid-System. Das erlaubte dem
Trumm zumindest fünf Kilometer rein elektrische Fahrt. Und nahm
Der SUV-Boom blieb aber trotz aller Bedenken bis heute unge- im Schiebebetrieb den Motor von der Angel, ließ den Touareg
brochen. Die einzige Kategorie, die aktuell mithalten kann, ist das „segeln“. Andererseits hat BMW bereits 2007 auf der IAA den X6
Segment der Kleinfahrzeuge wie VW Polo. Hier gab es auch im ers- vorgestellt, einen Kaventsmann von 2.500 Kilo. Das war das erste
ten Halbjahr 2013 ein Plus von 0,2 Prozent. Und das, obschon die Crossover, eine Mischung aus SAV (Sports Activity Vehicle – den
Zulassungen insgesamt rückläufig sind, wie das Kraftfahrt-Bun- Begriff hatten die Münchner beim X3 eingeführt) und Coupé, kurz
desamt belegt. SAC. Die Krönung dieser Entwicklung ist der GL von Mercedes.
Ebenfalls ein 2,5-Tonner, mit bis zu sieben Sitzen, aber durchaus
Bei den SUV verzeichnete man sogar ein Plus von 3,6 Prozent. Im noch tolerierbarem Verbrauch, wenn er als BlueTec bestellt wird.
Oktober 2013 bot sich folgendes Bild: Minis (7,1 %), Kleinw­ agen
(15,7 %) und Kompaktklasse (26,9 %) machen fast die Hälfte aus. Alle Hersteller arbeiten und arbeiten an Verbesserungen, weil die
Aber: „Die größten Zuwächse gab es im Monatsvergleich bei den Kritik, trotz toller Verkaufszahlen, nicht müde werden will. Gewicht
Utilities“, wie das KBA vermeldet. Satte 15,2 Prozent. Die reinen wird gespart (durch Leichtbau; beim neuen Range Rover bis zu
Geländewagen müssen ein Minus von 7,7 Prozent wegstecken, 400 Kilo), knauserige Diesel wurden entwickelt, die Zahl der Gän-
während die SUV proper dastehen und weiter wachsen. ge bei der Automatik von ehemals sieben auf inzwischen neun

MOBILITÄT // Sport Utility Vehicles

Das X-Chromosom von BMW:
Vom Einser bis zum Sechser

(demnächst auch in der Vierer-
Baureihe) adelt der Buchstabe

X die BMW-Modelle zum
SUV – Pardon! – SAV. Der
Lifestyle-Faktor der Bayern ist
keine Utility, sondern Activity.
Premium natürlich included.

100 101 Das G-Modell war der
unkaputtbare Wühler von
Mercedes. Die M-Klasse
ist, wie der GLK und der
demnächst käufliche GLA, die
weichgespülte Version für die
Stadt. Offroad geht auch –
mit optionalem 4x4. Aber
wer, bitte, würde so einen
Schönling über Stock und
Stein jagen?

(Mercedes und Land Rover) erhöht. Das Image soll sich bessern. deren SUV auch, die digitale Revolution längst Einzug gehalten.
Und in der Tat: Es bessert sich langsam etwas. Segelnde SUV ver- Assistenzsysteme und elektronische Helfer garantieren dafür, dass
sprechen Verbräuche um die zehn Liter – und halten (bei leichtem die hochbeinigen Karossen nicht zum „Roll-over“ neigen, wenn es
Gasfuß) dieses Versprechen sogar. Wer allerdings die volle Leis- brenzlig wird. Beim kleinen Porsche-SUV hat man aber noch eins
tung abruft und auf der Autobahn heizt, erreicht durchaus auch draufgesetzt: Es gibt den Neuling jetzt auch mit Luftfederung, die
das Doppelte. Das ist nicht zeitgemäß. bisher nur hochpreisigen Limousinen vorbehalten war.
Der Trend ist mithin ungebrochen. Er übernimmt immer mehr
Groß, schwer und durstig sind SUV also zweifellos. Aber sie jucken Nischen – vom ganz kleinen SUV (Fiat 500X, Opel Mokka) über
uns alle an einer Stelle, an der wir uns nicht kratzen können: am mittelgroße Kaliber à la RAV4 (jetzt in vierter Generation auf den
Ego. Denn sie sind ein Second Home mit einem Second Screen Straßen) bis hin zum nahezu amerikanischen Monster à la Q8
und mit den Cup-Holdern für die Hipster der To-go-Gesellschaft. (Gesamtlänge 5,20 Meter). Und dazu gesellen sich halt noch die
Wir steigen auf, nicht ein. Wir erheben uns über die Niederungen Crossover mit coupéartiger Form.
normaler Pkw. Wir besetzen einen Kokon mit vielfältiger Multime-
dia-Landschaft, in dem wir uns mit all dem versorgt sehen, was Paolo Tumminelli, Professor an der Köln International School of
die Always-on-Apologeten uns als Lifestyle verkaufen. Wir können Design, vertraute ZEIT online an: „In der Boomphase der neunziger
Mails und SMS vom Lenkrad aus diktieren und gleichzeitig die Jahre entdeckte das aufsteigende urbane Bürgertum plötzlich das
Von-oben-herab-Haltung einnehmen, wenn unser Big Bluff an der SUV. Inzwischen ist die breite Masse fasziniert von dem Konzept,
Ampel zum Stehen kommt. Wer sich von diesem Fahrgefühl nicht weil es ihr ermöglicht, zumindest in Gedanken dem Alltag zu
einlullen lässt, der werfe den ersten Stein. entfliehen. Das SUV ist das Fahrzeug des Eskapismus. Und es
strahlt jene Potenz aus, mit der sich Fahrer für jede Lage gut
Die deutschen Hersteller bedienen weiterhin den Markt der Mög- gerüstet fühlen.“
lichkeiten. Der GLA von Mercedes, seit November bestellbar,
wird 2014 ausgeliefert. Ein Kompakt-SUV auf A-Klasse-Basis. Und Bonanza? Aufgrund nachlassender Nachfrage sind normale
BMW hat mit dem X4 (auf Basis des X3) und dem neuen X6 Fahrzeuge nur noch mit Rabatten oder Abschlägen loszuwerden.
zwei weitere Eisen im Feuer. Audi könnte mit Q1 bis Q7 zufrie- Der Satz Winterreifen auf Stahlfelgen ist als Dreingabe so selbst-
den sein, entwickelt aber mit dem Q8 ein Riesentrumm, das wohl verständlich wie die bis zu 30 Prozent Nachlass auf den Listenpreis.
hauptsächlich in Richtung Russland, China, USA und Indien Nur bei den sehr stark nachgefragten SUV gibt es das nicht. Da
abzielt. Und die Zuffenhausener haben in Los Angeles und Tokio werden aus Basispreisen um die 40.000 Euro sehr schnell 65.000,
den Macan vorgestellt. Ein Porsche zunächst einmal. Außerdem denn die Listen der aufpreispflichtigen Sonderausstattungen sind
aber ein Kompakt-SUV, das dem Cayenne sicherlich einige Kun- ellenlang. Und so öffnet sich eine Bonanza (Goldgrube) – zumin-
den abspenstig machen dürfte. Und beim Macan hat, wie bei an- dest für alle Anbieter.

Architektur
Ikone 06

griechisch ikóna: Bilder,
die eine Kultur prägen.

DEMETRA

design Naoto Fukasawa
die led tischleuchte der zukunft

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BILDBÄNDE

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BRASÍLIA // In der Hauptstadt Brasiliens wurde Anfang der 1960er-Jahre

nicht gekleckert. Der Architekt Oscar Niemeyer durfte zahlreiche Gebäude ganz
nach seinen Vorlieben gestalten. Das Lichtspiel der Baukörper war ihm dabei ebenso
wichtig wie das Wechselspiel der Formen. An den Beispielen Abgeordnetenhaus und
Senatsgebäude kann man sein Faible für Rundungen deutlich erkennen. Das teilt er
im Übrigen mit dem Fotografen dieses neuen Bildbandes, Lucien Clergue, der durch
seine Aktaufnahmen bekannt wurde.


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