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Published by thomas.pleiner, 2021-05-29 14:11:59

THE SPHERE

THE SPHERE

Eberhard Mestwerdt – Die Kugel verließ den Ganslberg nie 49

Exakt an der Stelle, an der ab 1968 die Sphere entstand, erinnerte nach 9/11
das kleine Bronze-Modell der Kugel auf einer dunklen Natursteinplatte an diese
ereignisreiche Zeit auf dem Ganslberg. Im Hintergrund an der Galerie die alten
50 Schwarz-Weiß-Fotos der ersten Arbeitsschritte: Metallgerüst und Gips-Aufbau.

Fritz König war ein begeisterter Sammler von alten Stelen, Brunnentrögen 51
und Kapitellen aus dem Granit der Region Bayerischer Wald. Hier markiert auf
einer alten Gewölbestütze das Bronze-Modell der Sphere die Mitte der großen
Hauswiese, flankiert vom Ganslberger »Wappen-Vogel«.

Künstlerische Weltläufigkeit und ländliche Bodenständigkeit gingen auf dem
Ganslberg eine in dieser Form selten zu erlebende Symbiose ein. Die Sphere auf
dem prominenten, viel genutzten Ausstellungsplatz der Atelier-Hofmauer und
52 das kleine Volk der Italiener-Hühner von Maria Koenig.

Auf einem alten Mühlstein aus Koenigs Stein-Sammlung, der, lange vergessen und 53
von Gestrüpp überwachsen, durch Zufall bei Mäharbeiten wieder gefunden wur-
de, stand die Sphere bis zu Koenigs Tod im Zentrum des Hof-Atriums.

The Sphere auf einem Kortenstahl-
Sockel, am Treppenabgang von der
Hauswiese in den Hof. Die Winter-
sonne erhellt das volle Alphabet von
Fritz Koenigs hier verwendeter bild-
54 nerischer Sprachkraft.

Der Blick vom Atelierdach aus auf das geschlossene Hof-Atrium mit dem Sphere- 55
Modell, dem Dreiseithof und der Hofmauer: das Lebens- und Schaffenszentrum
von Fritz und Maria Koenig.

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Kurt Martin – Die Kugelkaryatide N.Y. 57

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Die Kugelkaryatide N.Y. 59

Katalog Staatsgalerie Moderner Kunst München 1974

Kurt Martin

Im Frühjahr 1967 erhielt Fritz Koenig die Anfrage, ob er bereit sei, für das World
Trade Center, das die New York Port Authority am Hudson-Ufer errichten ließ, einen
Auftrag für eine Brunnenanlage anzunehmen. Der amerikanische Architekt japa-
nischer Abstamm­ ung Minuro Yamasaki, nach dessen Plänen dieses Zentrum ent-
stehen sollte, kannte von Koenig Arbeiten, die er in amerikanischen Ausstellungen,
besonders in der Staempfli Gallery, N. Y., der die Vermittlung zu Koenig zu danken
ist, gesehen hatte. Sein Eindruck überzeugte ihn davon, dass Koenig besonders
geeignet und fähig sei, in dem gigantischen Ausmaß der Architektur den entschei-
denden plastischen Akzent zu setzen.

Als das erste Gespräch stattfand, arbeitete man noch in der gewaltigen Baugrube
an den Fundamenten und Substruktionen für alle die Anlagen, Versorgungsstellen
und Installationen, ebenso für den unterirdischen Stadtverkehr mit seinem Bahn-
hof, für den Vertikalverkehr in den Hochhäusern und alles, was sonst ein so außer-
ordentliches Unternehmen benötigt. Für die werktätige Arbeit von etwa 50.000
Menschen und für rund 80.000 Besucher, also für die Bevölkerung einer mittle-
ren deutschen Stadt war das World Trade Center auf einer Bodenfläche von rund
einem Quadratkilometer ausgelegt worden.

Zwei Bürotürme mit je 110 Stockwerken und 410 m Höhe – dreimal so hoch wie
das Colonia Haus in Köln, das zur Zeit höchste Wohnhaus in Europa – umgrenzen
zusammen mit vor- und zurückspringenden, niedrigen, aber untereinander gleich
hohen Gebäuden die Plaza, zu der ein azentrischer, sehr breiter Zugang führt. Die-
ser Platz – eher ein gewaltiger Innenhof – ist gegen die Stadt durch Stufen ange-

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hoben, so dass er von keinem Fahrverkehr berührt werden kann, der ausschließlich 61
unterirdisch geleitet wird. Das Niveau neigt sich gegen den Standort der Plastik;
die Platzfläche ist als Freiraum für die Architektur verstanden, ist für den Menschen
bestimmt, der sich hier entspannen und ergehen soll.

Hier also, wiederum azentrisch im Platz und zur Zugangsstraße war die Plastik
vorgesehen. Wie David gegen Goliath mußte sie mit ihrer eigenen Bedeutung,
gewissermaßen aus sich selbst, einer alle bisherigen Vorstellungen sprengenden
Architektur entgegentreten.

Koenig mußte sich für seine Vorstellung auf Pläne und ein Situationsmodell stüt-
zen. Welche Schwierigkeiten, sich Dimensionen von 400 m Höhe so deutlich zu
machen, dass Entscheidungen begründet werden konnten? Wie würde eine Plastik
gegen diese giganti­schen, rechteckigen Kuben stehen, deren unzählige, scheinbar
kleine Fenster wie ein textiles Ornament gleichmäßig in eine schimm­ ernde Alumi-
niumfolie eingewebt sind, so dass die einzelnen Stockwerke in der Ansicht nicht
mehr in Erscheinung treten.

Wie war eine Proportion zu finden in solchen Dimensionen, die nicht gegliedert
und nur noch strukturiert sind? Lediglich das untere, höhere Geschoß wurde zu
einer Folge eleganter Spitzbogen zusammengefasst. Wie sollte sich die Plastik zu
den Menschen verhalten und diese zu ihr? Die Berücksichtigung und Erhaltung
humaner Beziehungen musste ein wesentliches Anliegen sein in einer Umgebung
von Ausmaßen, die die menschliche Aufnahmefähigkeit überfordern.

Von vorn herein stand für Koenig, der für seinen Entwurf an keine Vorschrift oder
Empfehlung gebunden war, fest, dass nur eine Gegenhaltung zu solchem Überge-
wicht der Volumina sinnvoll war. Schon in der ersten Intuition wurde deutlich, dass
gegen solche stereometrische Überdimension nur ein Gegenextrem sich behaup-

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ten kann, eine kugelige Gestaltung als Kontrast zu der großartig abstrakten Formel 63
dieser Architektur. Die Plastik musste sich als Dominante auf der Plaza frei, eigen-
ständig und eigenthematisch so bestätigen, dass sie in keiner Weise als Anspielung
auf die Kugelgestalt der Erde und damit auf die weltumspannende Funktion des
World Trade Center missver­standen werden konnte: keine Designer-Vorstellung,
kein vergrößertes Geschäftszeichen. Ebensowenig durfte es sich lediglich um eine
formale Auseinandersetzung handeln; Koenig hatte nicht nur sein Werk, sondern
auch sich selbst gegen die Macht und das Andrängen des Überdimensionalen zu
schützen.

Aus einem Wasserspiel hebt sich ein wie aus der Erde sich befreiender, aufbrechen-
der, wachs­ ender Keim, der die Kugel eher zu halten als zu tragen scheint. Dennoch
ist diese Begegnung nicht ungefährdet, nicht durch eine tragende Potenz und eine
lastende Dimension, sondern durch die Ambivalenz des freien Haltens, die schein-
bare Unbestimmtheit des Gleichgewichts. Keine beabsichtigte Unsicherheit, wohl
aber In-Frage-Stellung und zugleich die Bewährung einer Aussage. Diese Lösung
war nur möglich, weil sie sich aus Koenigs künstlerischer Entwicklung ergab. In der
langen Folge der »Karyatiden«, in denen das Problem: »Stütze und Last« immer
wieder aufgegriffen und abgewandelt worden war, ist nicht nur die Bewegung von
unten und oben dargestellt, sondern ebenso etwas Unausweichliches, Schicksal-
haftes geformt, das kreatürlicher Erfahrung entspricht.

Das Lastende äußert hier seine bedrückende Kraft ausschließlich in kubischen,
quadratischen Gebilden. Im Vergleich mit ihnen ist die Kugelform frei. Sie ist unge-
richtet, bietet sich dem Betrachter von allen Seiten an. Dementsprechend ruht sie
in New York auf einem unsichtbaren Drehtisch, der sie gleichmäßig in etwa einer
halben Stunde einmal um ihre eigene Achse dreht. Es ergibt sich keine festgelegte
Ansicht, sondern ein ständiger, allmählicher Ansichts- und Ausdrucksw­ echsel, der
als solcher jedoch nicht wahrgenommen wird.

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Die Kugel wird sich inmitten eines Wasserspiels bewegen als würde sie aus der 65
Tiefe gehoben und vom Wasser getragen. Dieses wird aus einer Ringdüse (600
Liter pro Sekunde) in einer geschlossenen Glocke von über einem Meter Höhe 3,50
m weit, nicht in ein Becken, sondern auf eine flache, runde, dunkle Porphyrscheibe
von 25 m Durchmesser geworfen, dann flach zum Rand hingedrückt, stürzt dort
etwa einen Meter tief ab und versinkt durch ein bronzenes Bodengitter, um von
hier wieder zur Mitte zurückgeführt zu werden. Der Mensch ist nicht distanziert, er
kann unmittelbar mit dem Wasser in Berührung kommen, dessen Bewegung und
Geräusch zum Gesamteindruck der Anlage gehören.

1967 begann die Arbeit, wie fast immer bei Koenig, ohne eigentliche zeichneri-
sche Vor­bereitung. Ein erstes kleines Modell von ca. 50 cm entstand, in dem der
Gedanke der Kugel sehr konkret formuliert und zugleich bei aller Abstraktion ein
»figürlicher« Anspruch festgelegt war. Von der künstlerischen Seite her ist schon in
dieser Vorstellung auch die Möglichkeit zu wesentlicher Vergrößerung enthalten.
Die grundsätzliche Formulierung war im ersten Anlauf gelungen.

Der Kugelform ist die Vorstellung eines Kopfes zugrunde gelegt, dessen obere Hälf-
te an eine Schädelkalotte oder einen Helm zu erinnern vermag und damit Span-
nungen fühlbar macht, die dem Tod benachbart sind. Wie entfernt deuten sich
auch Gesichtszüge an. Wo die Oberfläche zerklüftet, aufgebrochen ist, als wäre
sie verletzt, wurde in den späteren Fassungen als etwas besonders Akzentuiertes
eine Kugel eingefügt und in der Ausführung durch geschliffene Teile noch hervor-
gehoben, auch sie durch äußere Kraft beschädigt, ein zyklopisches Auge mit »un-
abänderlichem Blick«, in den Bedrohliches, Bestürzendes gelegt zu sein scheint.
Koenig war 1965 an einem Augenleiden erkrankt. Dadurch angeregt erscheint in
diesem Jahr die Kugelform zum erstenmal im »Augenvotiv I«, in dem der Augapfel
in einen rechteckigen, quergespaltenen Körper eingelassen ist, verletzte Formen
auch hier, die das Lid und die starre Pupille bedrängen und zum Teil überdecken.

Hz 959 | Kugelkaryatide N. Y., 1967 | Kohle/Wasserfarbe | 44 x 62,5 cm | monographisch und datiert, unten rechts - F.K. 67

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Man empfindet etwas vom Schrecken des Ausweglosen, etwas Schicksalhaftes. In 67
der New Yorker Plastik ist das Motiv freier und selbständiger geworden, so dass
sich solche Assoziationen nur noch mittelbar einstellen.

Erlebtes und Erlittenes ist in ungegenständliche Formen und Zusammenhänge
übertragen und auf jede persönliche Aussage verzichtet worden. In aller Abstrak-
tion aber bleibt der unsichtbare Atem des Lebens, des Humanen erhalten.

In weiteren Modellen musste im wesentlichen nur die Binnenform entwickelt
werden. Die vierte Fassung, die erste, die in New York vorgelegt wurde, fand so-
gleich Zustimmung, so dass aus ihr die endgültige Formulierung abgeleitet wer-
den konnte. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, konzentrierte sich diese Arbeit auf
den Verzicht von Details, die das Hauptanliegen in seiner Eindeutigkeit störten.
Die physiognomische Struktur konnte vereinfacht, das gleiche Anliegen knapper
ausgedrückt und damit auch die Aussage nicht nur in ihrer inneren Spannung ver-
dichtet werden, sondern so ausgeglichen, dass keine Stelle unentschieden, leichter
oder schwerer blieb, weniger oder mehr galt, keine Stimme fehlte oder zu laut war,
keine Geste nur sich selbst meinte, sondern alles zur Einheit zusammenwuchs.

Während dieser Arbeit entstanden »Begleitzeichnungen«, nie ein Detail, sondern
stets nur die ganze Konzeption. Immer wieder aufs neue wird das Thema in ra-
scher Niederschrift in allen Möglichkeiten durchgespielt, Blätter mit zahlreichen
einzelnen Darstellungen, Variation nach Variation, alle ähnlich, keine gleich, meist
schriftartig in Zeilen angeordnet. Diese intensiven, geradezu wuchernden Ausein-
andersetzungen galten nicht mehr dem längst festgelegten Werk, sie waren und
blieben ohne jeden Nutzen für die unmittelbare Arbeit, wohl aber hielten sie die
schon gewonnenen Vorstellungen lebendig und bestätigten ihre Richtigkeit. Die
»Begleitzeichnungen« sind gefestigte Phantasien, in denen Koenig sich künstle-
risch auslebt, bis der innere Anlass ohne Ankündigung oder Absicht plötzlich ver-

Sk 415 | Kugelkaryatide N.Y., 1968 | Miniatur, Bronze

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siegt und weitere zeichnerische Darstellung verweigert. Gerade diese Zeichnungen 69
aber lassen den inneren Zwang erkennen, der sie auslöst. Sie enthüllen deutlicher
als das fertige Werk, wie persönliche Erlebnisse umschrieben und bewältigt wer-
den, wie sie sich in Formen sammeln, die solche Herkunft nur noch von fern her
andeuten, nicht mehr aussprechen und demnach als eine Sinnschicht bewahren.

Das sechste Modell im Maßstab 1:12 wurde für die Ausführung bestimmt und
der Auftrag erteilt. Eine große Werkhalle mußte am Wohnsitz von Fritz Koenig in
Ganslberg bei Landshut gebaut werden, ausgestattet mit Laufschienen, Kränen
und allem, was an Technik für eine außer­gewöhnliche Arbeit benötigt wird. Die-
ser Bau und seine Einfügung in die Landschaft verdeutlichen die ganze Lust des
Bildhauers an architektonischer Gestaltung. Die Höhe der Plastik von 7,60 m und
der Durchmesser der Kugel von 5,20 m konnten sich nur am Modellversuch be-
stätigen. Außerdem trägt jedes plastische Werk eine glaubwürdige Größe in sich,
die nicht zuletzt auch von technischen Problemen und Umständen bedingt ist. In
etwa einem halben Jahr wurde das originalgroße Gipsmodell unter Termindruck
in größter Anstrengung erstellt, zusammen mit einem aus dem Maurer- und Zim-
mererhandwerk kommenden Mitarbeiter und einem an technischen Problemen
besonders interessierten Bildhauer, vor allem aber auch mit der Beratung des spä-
teren Bronzegießers. Für den Guss musste der Gips in 67 Teile zerschnitten und
nach München in die Gießerei transportiert werden. Hier benötigte man ein Jahr,
bis die Arbeit im Sandgussverfahren abgeschlossen war. Inzwischen hatte man
bereits mit der Montage der fertigen Guss-Stücke in Ganslberg begonnen. Größte
Präzision war erforderlich, da nur dadurch die technischen Voraussetzungen für die
genaue Drehung eines so großen und so schweren Objektes gewährleistet wer-
den konnten. Die eigentlichen Kugelflächen wurden geschliffen, um ihre Formen
hervorzuheben. Unterteilungen, Aufspaltungen, Auswölbungen, die in ihrer Gestik
die Kugel akzeptieren und sich dabei unterordnen, blieben unbehandelt, um die
Differenzierung zu akzentuieren. Nachdem die ganze Plastik für eine Überprüfung

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zusammengebaut und wieder in sechs transportfähige Teile zerlegt worden war, 71
wurde sie zur endgültigen Montage auf Tiefladewagen nach Bremen transportiert.
Hier hat sie Koenigs Freund, der Münchener Bronzegießer Hans Mayr endgültig
montiert. In einer eigens konstruierten »Kiste«, angeblich der größten, die je von
einem deutschen Hafen verladen wurde, trat sie die Reise nach New York an und
wurde dort am endgültigen Ort aufgestellt. Hier war in der Zwischenzeit, zwei
Stockwerke tief, der Unterbau erstellt worden, sowohl für die Plastik als auch für
die komplizierte Mechanik des Drehtisches, der Wasserspiele und alle zugehörigen
Steinarbeiten. Durch Verzögerung der Bautermine ist die Anlage heute [Anmer-
kung der Redaktion: Zum Zeitpunkt des Erscheinens des Artikels, Anfang 1974]
noch nicht in Betrieb. Erst dann aber, wenn ihre Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit
durch die drehende Bewegung der Bronze und die statische Unwirklichkeit des
Wassers in seinem Wurf und lebhaften Fluss in ständiger Aktion sein werden, ist
die von Koenig von allem Anfang an gewollte künstlerische Einheit der gestalteri-
schen Idee verwirklicht.

In Koenigs Schaffen bedeutet die New Yorker Plastik einen Wendepunkt, nicht als
außerg­ ewöhnliche Forderung, als außergewöhnlicher »Typus«, sondern durch ih-
ren Einfluß auf seine weitere Arbeit. So bewirkten die technischen Anforderungen
und Erfahrungen eine präzisere Formgebung. Aber auch die künstlerische Absicht
äußert sich entschiedener, die Aussage ist bestimmter, objektiver geworden. Vor
allem: es entsteht keine Plastik mehr ohne ein Kugelmotiv. Sie sind nicht mehr
»belastet«, tragen nicht mehr, sondern heben Kugeln oder Kugelsegmente in die
Höhe. In den »Rufzeichen« wird die Umkehrung anerkannt, die Kugel als Basis,
die den Schaft als Geste entläßt. Doch die Begegnung in diesem gewährleisteten
Gleichgewicht bleibt kritisch, jetzt aber nicht mehr als individuelle Gefährdung, als
Gefährlichkeit eines einzelnen Schicksals, sondern als Gefahr schlechthin, Gefahr
als Element unseres Lebens und unserer Zeit.

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World Trade Center N.Y. | Blick vom Dach des Nordturms auf das 65. Stockwerk des Südturms, 1971

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Wolfgang Till – Fritz Koenigs Kugel 75

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Fritz Koenigs Kugel 77

Wolfgang Till

Aus: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2003,
Festschrift anlässlich des 8o. Geburtstages von Lenz Kriss-Rettenbeck

In den Tagen nach dem 11. September 2001 war das Schicksal des berühmten
Kugelbrunnens auf der Plaza des World Trade Center in New York kein Thema.
Zwar rief schon drei Tage nach der Zerstörung Bür­germeister Rudolph Guilia-
ni zum Wiederaufbau der Hochhäuser auf, aber das Werk des Landshuter Bild­
hauers Fritz Koenig galt angesichts der ungeheuren Ausmaße dieses Desasters
schlichtweg als verloren. Für die Große Kugelkaryatide erhielt Fritz Koenig 1967
den Auftrag. Sie wurde in einem eigens errichtet­en Ateliergebäude in Ganslberg
ausgeführt und auf dem Seeweg nach Amerika gebracht. Der Skulptur liegt die
Vorstellung eines Kopfes zu Grunde, dessen obere Hälfte an einen Helm – ein
Rezensent sprach sogar von einem Football-Helm – erinnert.

Seit der Einweihung 1972 durch Nelson Rockefeller (der damalige Präsident der
Vereinigten Staaten, Ric­ hard Nixon, steckte mittendrin im »Watergate« Skandal)
drehte sie sich auf einer wasserumspülten Porphyrscheibe um sich selbst. Der
Brunnen bildete fast 30 Jahre lang den formalen Gegenpol zu den Twin Towers
und war ein beliebter Treffpunkt für die New Yorker.

Zeitgenössische Kunst und Künstler gehören nicht zum Einzugsbereich her-
kömmlicher volkskundlicher Betrachtung. Lenz Kriss-Rettenbeck hat, häufig zu-­
sammen mit seiner Frau Ruth, Neuland betreten und dem Fach Volkskunde, aber
auch der Kunstbetracht­ung im Allgemeinen fruchtbare Impulse gegeben.1 Der
Bildhauer Fritz Koenig und der von Lenz Kriss-­Rettenbeck für eine Gruppe seiner

78 Sk 284 | Großes Votiv K., 1962/64 | Lenbachhaus München

Arbeiten vorgeschlagene Votiv-Begriff ragen als Beispiel für diese Zusammen- 79
schau heraus. Es ist kein Zufall, wenn als Folge davon auch die Kunstwissen-
schaft auf volksk­ undliche Methodik und Erkenntnisse zurückzugreifen begonnen
hat. Ein Buch wie Hans Beltings opus magnum »Bild und Kult«,2 in dem unter
anderen schon einmal ein Aufsatz von Leopold Kretzenbacher rezipiert wird,
mag hier als singuläres Beispiel stehen. Doch nach wie vor gibt es frustrierende
Erlebnisse, wenn kunstsinnige Besucher von Kirchen und Klös­tern in ihren ge-
druckten Führern zwar jedes architekt­urgeschichtliche Detail finden, aber nichts
über Sinn und Bedeutung z.B. einer Arme-Seelen-Grotte, über eine Wand mit
Votivtafeln und Opfergaben einer Wallfahrtskirche oder ausgefallenere ikono-
grafische Tatbestände erfahren.

Kriss-Rettenbeck hat, was er mit dem Begriff »Votiv« gemacht hat – ihn zu-
mindest versuchsweise in die Interpretation zeitgenössischer Kunst einzuführen
– auch mit großem Echo mit der Krippe getan. Den Münchner Bildhauer Anton
Hiller hat er zu einer ents­prechenden Arbeit animiert und er hat die kühne In-
stallation »Nativity« von Edward Kienholz im Bayerischen Nationalmuseum aus-
gestellt. An Stelle des Jesuskindes blinkte da eine Baustellenbeleuchtung in der
Wiege. Nach Protesten von Bayerns Krippen­freunden standen öffentliche Mittel
zum Erwerb für die Krippensammlung nicht mehr zur Verfügung.

Als die Aufräumtruppen im Februar 2002 im Schutt von »Ground Zero« die Kugel
fanden, und zwar in relativ unbeschädigtem Zustand, kam dies einem Wunder
gleich. Die Skulptur wurde mit Wissen des Künstlers zerlegt, um vom Ort der Zer-
störung in den Battery Park versetzt werden zu können. Bei der Einweihung am
11. März 2002 sagte der Bürg­ ermeister von New York Michael Bloomberg: »Sie
hat den Zusammenbruch der Twin Towers überlebt, wie auch die Idee überlebt
hat, die sie symbolisiert: eine friedliche Welt, die auf Handel und freier Bewe­

»Prayers Wall«

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gung von Menschen und Ideen gegründet ist.«3 Gegenüber einem Journalisten4 81
hat Fritz Koenig bekannt, dass er solche Interpretationen seines Werkes als Un-
sinn betrachtet. Katastrophenahnungen streiften Koenig schon beim Entwerfen.
»Wenn der Turm einstürzt, stützt sich die Kugel durch ihre Form.« Erst die Turm-
zerstörung hat die intensive Sicht auf die Skulptur ausgelöst.

Die Bemühungen New Yorker Museen, Bibliotheken, Historischer Vereine und
Archive, aussagekräftige Exp­ onate vom »Ground Zero« einzusammeln, sind viel-­
fältiger Art. Das Museum of the City of New York hat etwa den »Wall of prayers«
aus dem Bellevue Hospital übernommen. Auf dieser Wand hatten Familien Fotos
ihrer nach dem 11. September vermissten Angehörig­ en angebracht. Über den
über 50 Meter langen Zaun sagte der Direktor des Museums Robert McDonald:
»Für künftige Generationen wird das eine der Ikonen für den 11. September in
New York City sein.« Der Fotograf Joel Meyerowitz wurde beauftragt, ein visu-
elles Archiv der Veränderungen am »Ground Zero« zu erstellen. Und zusammen
mit der Port Authority of New York and New Jersey wurden bestimmte Fund­
stücke für die museale Aufbewahrung ausgewählt, u. a. ein verbeulter Fahrrad-
ständer von einem der Eingäng­ e der Twin Towers, Staubmasken, Schutzhelme
und Beatmungsgeräte der Rettungstrupps.5

Durch Zerstörung, Bewegung und Wiederaufstellung als versehrtes, aber un-
gebrochenes Mahnmal erhält die Kugelkaryatide visionären Symbolcharakter,
der über den allen Kunstwerken immanenten Ewigkeitsan­spruch hinausgeht.
»Kulturelles Schaffen bemüht sich um Leistungen, die möglichst lange Zeiten
überdau­ern und möglichst viele Menschen erreichen sollen. Diese Sehnsucht
nach innergeschichtlicher Ewigkeit ist kein Zeichen von Maßlosigkeit, sondern
entspricht dem Bewusstsein, dass die Kultur, die den Menschen zum Menschen
macht, sich als Lernprozeß über die Generationen hinzieht.«6 Beschädigung

82 Sk 1022 | Votiv N.Y. 11. September 2001 | Papier, Bronze

oder Beseiti­gung von Kunstwerken in einem größeren politischen, ideologischen
oder ökonomischen Kontext, in der Abs­icht oder mit der Folge einer Bewusst-
seinsänderung, also eine »negative Kulturgeschichte« (Alexander Demandt), ist
in der volkskundlichen Literatur mit dem »verletzten Kultbild« auf den Begriff
gebracht worden. Speziell die nicht von Menschenhand gem­ achten Bilder sind
es, die sich als unzerstörbar erweis­en können, z. B. die legendäre Martersäule
Christi, die trotz zerstörerischen Sägens und Schabens am Stein leuchtender und
herrlicher hervortritt.7

Am 18. Dezember 2002 wurden die neuen Architek­tur-Projekte für »Ground
Zero« der Öffentlichkeit vorg­ estellt. Die »developer« haben sich am 31.01.2003
für den Entwurf Daniel Libeskinds entschieden, der einer vollkommen freigehal-
tenen Fläche an Stelle der alten Plaza noch höhere Wolkenkratzer gegenüber-
stellt. In diesem Konzept hat Koenigs Kugel keinen Platz mehr gefunden. Das
Resümee hat der Künstler selbst gezog­ en mit einer Arbeit, entstanden 2002:
Votiv World Trade Center 8. Eine kleine Miniaturbronze­kugel ist montiert vor ei-
nem zerknitterten schwarzen Papier als Hintergrund, der an Art Spiegelman und
sei­nen berühmten Titel für den »New Yorker« erinnert. Und darunter stehen im
Stil einer Promulgationsformel traditioneller Votivtafeln drei Zeilen:

»EIN TERRORANSCHLAG LEGTE AM 11. SEP­TEMBER 2001 DAS WORLD TRADE CENTER N.Y.
IN SCHUTT UND ASCHE. NUR DIE ›GROSSE KUGELKARYATIDE‹ ÜBERLEBTE SCHWERVERLETZT
IHRE GESTALT BEWAH­REND, DAS INFERNO.«

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ANMERKUNGEN

1 Zu Fritz Koenig: Lenz Kriss-Rettenbeck: Bilderschrift - Halbku­gel. In: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst XXVI
(1975), S. 232; Lenz u. Ruth Kriss-Rettenbeck: Kreuz und Kruzifix bei Fritz Koenig. In: Studien zur Geschichte der eu-

ropäischen Plas­tik. Festschrift für Theodor Müller zum 19. April 1965. München 1965, S. 331-340; diess.: Ars viva:
Tradition und Kontinuität. Das Votiv bei Fritz Koenig. In: Hermann Bausinger u. Wolfgang Brückner (Hrsg.): Kontinui-
tät? Geschichtlichkeit und Dauer als volkskundliches Problem. Berlin 1969, S. 87-101; diess.: Votiv und Epitaph. In:
Fritz Koenig. Ausstellungskatalog. München 1974, S.11-17.

2 Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 1992.
3 Zit. nach: Sibylle Hofter (Hg.): Kugeln. Ausstellungskatalog Mecklenburgisches Künstlerhaus Schloss Plüschow 2002;

Doku­mentarfilm von Percy Adlon: Fritz Koenigs Kugel. Der Bildhauer und der 11. September (pelemele Film und
Bayerischer Rund­funk, Erstausstrahlung am 11.09.2002 in der ARD).
4 Tagesspiegel vom 14.04.2002: Hillary, Koenig und die Kugel. Nach dem 11. September schien es für immer verloren.
Nun steht das Kunstwerk wieder in Manhattan. Eine Fortsetzungsge­schichte von Jürgen Schreiber.
5 Sarah Henry (Museum of the City of New York): The Role of a City Museum in a Time of Crisis. Vortrag gehalten auf der
Brüsseler Tagung europäischer Stadtmuseen, März 2002; Jason Kauf­man: Lest we forget. US organisations are going
to great lengths to collect the myths, relicts and records of the terrorist attacks. In: The Arts Newspaper, 05.07.2002.
6 Alexander Demandt: Vandalismus. Gewalt gegen Kultur. Berlin 1997, S. 9. – »Firmitas« (Unzerstörbarkeit) ist neben
»utilitas« (Nützlichkeit) und »venustas« (Schönheit) eine der Vitruvschen Forderungen an Architektur und Werke der
Bildhauerei.
7 Leopold Kretzenbacher: Das verletzte Kultbild. Voraussetzungen, Zeitschichten und Aussagenwandel eines abend-
ländischen Legendentypus (Sitzungsberichte der BAdW, Phil.-hist. Klasse Jg. 1977, H. 1). München 1977, S. 61.
8 Abgebildet in: Fritz Koenig, Papierschnitte, Kartonreliefs. Landshut 2002, Nr. 16

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Holger A. Klein – Von Ganslberg nach Manhattan 87

88 Abb. 1 - Große Kugelkaryatide, N.Y., Neuaufstellung, 2017

Von Ganslberg nach Manhattan 89

Fritz Koenigs Große Kugelkaryatide N.Y. 1967 – 1972

Ausstellungskatalog Florenz, 2018 – Fritz Koenig 1924 – 2017 Die Retrospektive

Holger A. Klein

Die Große Kugelkaryatide N.Y. (Abb. 1, Seite 88)1 gehört zu Fritz Koenigs wohl be-
deutendsten und aufgrund des Terroranschlags vom 11. September 2001 zwei-
fellos auch bekanntesten internationalen Aufträgen. New Yorkern eher unter
dem Namen The Sphere (die Kugel) geläufig, steht sie heute, schwer beschädigt,
aber dennoch aufrecht, auf einer erhöhten Plattform im Liberty Park in unmittel-
barer Nähe der orthodoxen St. Nicholas Church in Lower Manhattan.2 Mit Blick
auf das 9/11 Memorial und Museum befindet sich Koenigs Kugel somit wieder
ganz nahe an ihrem ursprünglichen Standort, wo sie einst als Herzstück einer
Brunnenanlage auf der Austin J. Tobin Plaza, der großen öffentlichen Platzanla-
ge zwischen den Twin Towers, aufgestellt war. Sie erinnert dort heute einerseits
an die einstige Präsenz der beiden Architekturgiganten von Minoru Yamasaki,
fungiert andererseits aber auch als Denkmal ihres katastrophalen Einsturzes.3
Fritz Koenig hat die Aufstellung seiner Skulptur im Liberty Park nicht mehr
erlebt. Dennoch war er über die im Juli 2016 gefällte Entscheidung der Port
Authority unterrichtet, die Kugel wieder an ihren alten Standort zu versetzen.
Der von Patrick J. Foye, dem Geschäftsführer der Port Authority, als »Heim-
kehr«4 bezeichnete Umzug von Koenigs Kugel im Herbst 2017 markiert somit
das vorerst letzte Kapitel im Leben des vielleicht prominentesten »Kindes«
des Bildhauers, der dessen Geschicke stets hautnah verfolgt hat: von seiner
Zeugung und Geburt in Ganslberg bis zu seinem Auszug an einem Herbst-

90 Abb. 2 - Minoru Yamasaki, World Trade Center, Modell, 1964.

tag im Jahr 1971, seiner partiellen Zerstörung, Bergung und Wiedergeburt in 91
Manhattan als trotziges Symbol des Widerstands und der Trauer im Angesicht
der Tragödie des 11. Septembers.5 Aufgrund der überragenden Bedeutung des
Auftrags der Port Authority für das künstlerische Schaffen Fritz Koenigs und der
unerwarteten Verwandlung seiner Skulptur von einem Brunnenmonument zu ei-
nem Denkmal für eine nach den Ereignissen des 11. Septembers aus den Fugen
geratenen Welt, erscheint es angebracht, am 50. Jahrestag ihrer Aufstellung und
20. Jahrestag der Terroranschläge auf die Genese und das Nachleben der Gro-
ßen Kugelkaryatide N.Y. näher einzugehen.

Fritz Koenig, Minoru Yamasaki und das Projekt World Trade Center

Die Umstände, die dazu führten, dass die Port Authority eine Skulptur und
einen Brunnen für die zwei Hektar große Plaza zwischen den Zwillingstür-
men des neuen World Trade Centers in New York in Auftrag gab, wurzeln im
Entwurfsprozess ihres Architekten, Minoru Yamasaki (1912–1986). Die Ge-
schichte dieses Auftrags lässt sich mit Hilfe von Interviews, Dokumenten und
veröffentlichten Berichten, die im Zusammenhang mit der Genesis seines de-
finitiven Entwurfs für das Projekt entstanden, recht präzise rekonstruieren.6
Die Schaffung einer oder mehrerer öffentlicher Platzanlagen war bereits An-
fang der 1960er Jahre Teil der frühesten Planungen für das World Trade Center
in New York. Doch erst zwischen Februar 1964, als Yamasaki seine ersten
Pläne und ein Modell für den Komplex des World Trade Centers vorstellte,
und 1966, als er seine Planungen noch einmal überarbeitete, um das Erlebnis
der Zwillingstürme und ihrer skulpturalen Qualität als freistehende glänzende
Monolithe zu verstärken, nahm seine endgültige Vision für die Plaza und ihren
skulpturalen Schmuck Gestalt an.7 Die ursprüngliche Planung hatte vorgese-

92 Abb. 3 - Minoru Yamasaki, World Trade Center, Modell, 1966.

hen, die Twin Towers durch flache Reflexionsbecken von der Plaza zu trennen und 93
die Verbindung zwischen den beiden Türmen durch einen Ring aus niedrigeren
Gebäuden mit Arkadengängen rund um den zentralen Platz zu betonen, die in
ihrer Anlage an die Piazza San Marco in Venedig erinnerten (Abb. 2, Seite 90).8
Der zweite, überarbeitete Entwurf verzichtete hingegen sowohl auf die Idee
der Reflexionsbecken als auch auf die umlaufende Struktur niedrigerer Ge-
bäude mit verbindenden Galerien zugunsten einer offeneren Gestaltung der
Plaza (Abb. 3, Seite 92). Man hat vermutet, dass Yamasaki so versuchte, die
Türme direkt mit der Plaza zu verbinden, um deren Bedeutung innerhalb des
Gesamtentwurfs zu unterstreichen und den Besuchern Gelegenheit zu geben,
ihre soliden Formen »als eine gigantische metallene Skulptur« von der Pla-
za aus betrachten zu können.9 Es bleibt jedoch ungewiss, in wie weit diese
Planänderungen wirklich das Resultat einer veränderten Vision des Architek-
ten waren oder eher als eine Antwort auf den steigenden Druck von Seiten der
Port Authority angesehen werden müssen, die Kosten des Projekts zu senken
und Geschäfte und Restaurants des World Trade Centers in die unterirdische
Durchgangsebene zu verlegen, die in Zukunft den meisten der über fünfzig-
tausend im World Trade Center arbeitenden Menschen als Eingang dienen
würde.10 Wie dem auch sei, Yamasakis neuer Entwurf für die Plaza beinhaltete
nun einen großen Brunnen mit fast 30 Metern Durchmesser und verstreut
aufgestellte zeitgenössische Skulpturen.11 Umgeben von »konzentrisch ange-
ordneten Bänken, einem eleganten Bogen aus Straßenlaternen und einem 40
Meter langen Ring aus Blumenkästen«12 sollte die Brunnenanlage auf einer
Linie mit dem Nordturm stehen und somit asymmetrisch in die große Weite des
offenen Raums eingefügt werden. Yamasaki selbst gab später seiner Hoffnung
Ausdruck, »dass es an schönen Tagen viele Menschen dorthin ziehen wird,

Abb. 4 - Minoru Yamasaki, World Trade Center, Plaza mit Großer Kugelkaryatide, N.Y.,1972

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um ein Erlebnis von Weite zu spüren, das ganz im Gegensatz zum Verkehr, 95
der Enge und Menschendichte von Lower Manhattan steht. Für Besucher und
Menschen, die im Trade Center arbeiten, wird diese 20.000 Quadratmeter gro-
ße Plaza ein Mekka sein, eine Erholung vom Erlebnis der engen Straßen und
Gehsteige der Umgebung von Wall Street. Ich erinnere mich noch an die Zeit,
als ich in der 44th Street in New York arbeitete und beinahe jeden schönen
Tag nutzte, um bis zum Rockefeller Center zu gehen, die Gärten zu betrachten
und die Aktivitäten auf diesem relativ kleinen Platz zu verfolgen.«13 Yamasakis
ausdrücklicher Bezug auf das Rockefeller Center und seine Plaza ist in diesem
Kontext nicht unbedeutend, denn in der Tat stehen die beiden Projekte, wie
schon Anthony Robins betonte, in »untrennbarer Beziehung« zueinander in
ihrem Versuch, eine urbane Oase zu schaffen, in der das Erlebnis von Archi-
tektur mit der Erfahrung von öffentlichen Räumen und Plätzen verbunden ist,
die mit sorgfältig platzierten Werken zeitgenössischer Skulptur ausgestattet
sind.14 Dennoch könnte die Plaza des World Trade Centers in ihrer endgültigen
Ausgestaltung als eine von der sie umgebenden Stadt isolierte, weitläufig ge-
pflasterte und erhöhte Anlage (Abb. 4, Seite 94), kaum unterschiedlicher sein
als das aus Straßen und Gehwegen bestehende urbane Geflecht, das Midtown
Manhattan mit dem Rockefeller Center verbindet und den Besucher sukzessiv
zur tiefer gelegenen Plaza hinleitet.15
Die Bauarbeiten auf dem Gelände des World Trade Centers begannen im
Sommer 1966 mit dem Ausheben einer enormen, oft als »Badewanne« be-
zeichneten Baugrube, in der die Fundamente der Twin Towers im Felsgestein
verankert wurden. Es dauerte etwa zwei Jahre, bis die Türme selbst im Som-
mer 1968 aus dem Boden zu wachsen begannen – zwei Jahre, in denen sich
Yamasakis Vorstellung davon, wie sich die höchsten Türme der Welt mit der

Abb. 5 - Sk 377 Großes Kreuz VI, 1965

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Plaza zu ihren Füßen und der sie umgebenden Innenstadt in Beziehung set- 97
zen ließen, weiter entwickelte und verfestigte. »Es freut mich, dass ich diese
überaus großen Gebäude in einem für sie geeigneten und für den Menschen
notwendigen maßstäblichen Verhältnis habe entwerfen können«, schrieb er
später. »Sie sollen ein Gefühl des Aufstrebens und damit des Stolzes und der
Nobilität in ihrer Umgebung vermitteln. [...] Besonders interessant ist meiner
Ansicht nach die Tatsache, dass sie sich verändern, wenn man über die Plaza
auf sie zugeht. So viele Wolkenkratzer sagen einem gar nichts, wenn man
sich in ihrer Nähe befindet; ihre großen Träger und Pfeiler können von direkt
unterhalb düster und furchterregend wirken, wenn sie so massiv und nahe am
Gehsteig und an der Straße stehen«.16 Yamasaki hatte bereits im ersten Wett-
bewerbsentwurf seines Büros die Notwendigkeit eines »angemessenen Ver-
hältnisses im Maßstab« zwischen der gebauten Architektur des World Trade
Centers, seinen Besuchern und Nutzern, und der umgebenden Innenstadt zum
Ausdruck gebracht: »Die große Dimension Ihres Projektes«, so schrieb er in
diesem Zusammenhang, »verlangt nach einem Weg, es mit dem Menschen in
einen Maßstab zu setzen, so dass es nicht zu einem übermächtigen, bedrohli-
chen Gebäudekomplex wird, sondern einladend, freundlich und human wirkt.
Die weiten Räume verlangen Begeisterung und Freude daran, das Tempo zu
verändern, die Überraschung zu suchen, und ein Interesse daran, die Gefahr
einer überwältigenden Vielfalt sich wiederholender Module zu vermeiden. Um
ein Symbol seines hehren Zwecks zu sein, nämlich die Zusammenarbeit aller
Nationen der Welt im Handel zu verkörpern, sollte es ein Gefühl der Würde
und des Stolzes vermitteln und doch für die Menschlichkeit und die demokra-
tischen Ziele stehen, an die wir in den Vereinigten Staaten glauben«.17 Für die
Umsetzung dieser Vision muss es Yamasaki für unerlässlich gehalten haben,

Abb. 6 - Hz 939 Kugelkaryatide N. Y., 1967 | Kohle/Wasserfarbe | 73 x 102 cm | monographisch und datiert | unten rechts, F.K. 67

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