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Ausgewählte Texte zur erweiterten Grundlagenbildung für Kommunistinnen und Kommunisten

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Published by An, 2025-12-16 18:53:38

Texte zur Kommunistischen Grundlagenbildung

Ausgewählte Texte zur erweiterten Grundlagenbildung für Kommunistinnen und Kommunisten

Keywords: Kommunismus,Marx,Engels,Lenin,Marxismus,Marxismus-Leninismus

Theorie-Reader “Klassiker und Aktuelles”Texte zurKommunistischenGrundlagenbildung


Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft 3I. 3II. 11III. 17Die Mark 30Die deutsche Ideologie - Ausgewählte Kapitel 41Feuerbach 43Lenin - Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken 87Vorwort 87I. Die Aktualität der Revolution 88II. Das Proletariat als führende Klasse 91III. Die führende Partei des Proletariats 97IV. Der Imperialismus: Weltkrieg und Bürgerkrieg 105V. Der Staat als Waffe 118VI. Revolutionäre Realpolitik 125Zu den Fragen des Leninismus 135I. Die Definition des Leninismus 135II. Das Wichtigste im Leninismus 137III. Die Frage der „permanenten“ Revolution 139IV. Die proletarische Revolution und die Diktatur des Proletariats 140V. Partei und Arbeiterklasse im System der Diktatur des Proletariats 148VI. Die Frage des Sozialismus in einem Lande 165VII. Der Kampf für den Sieg des sozialistischen Aufbaus 175Modernes Proletariat 184Staat und Revolution - Klassengesellschaft und Staat 1911. Der Staat – ein Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze 1912. Besondere Formationen bewaffneter Menschen, Gefängnisse u.a. 1943. Der Staat – ein Werkzeug zur Ausbeutung der unterdrückten Klasse 1964. Das „Absterben“ des Staates und die gewaltsame Revolution 198Zur Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus 203Der Imperialismus - Ausgewählte Kapitel 218Konzentration der Produktion und Monopole 218Der Kapitalexport 228Die Aufteilung der Welt unter die Großmächte 232Der Platz des Imperialismus in der Geschichte 240Brief an die MLPD 2441


Friedrich EngelsDie Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zurWissenschaftin: Karl Marx/Friedrich Engels - WerkeI.Der moderne Sozialismus ist seinem Inhalte nach zunächst das Erzeugnis der Anschauung,einerseits der in der heutigen Gesellschaft herrschenden Klassengegensätze vonBesitzenden und Besitzlosen, Kapitalisten und Lohnarbeitern, andrerseits der in derProduktion herrschenden Anarchie. Aber seiner theoretischen Form nach erscheint eranfänglich als eine weitergetriebne, angeblich konsequentere Fortführung der von dengroßen französischen Aufklärern des 18. Jahrhunderts aufgestellten Grundsätze. Wie jedeneue Theorie, mußte er zunächst anknüpfen an das vorgefundne Gedankenmaterial, sosehrauch seine Wurzel in den materiellen ökonomischen Tatsachen lag.Die großen Männer, die in Frankreich die Köpfe für die kommende Revolution klärten, tratenselbst äußerst revolutionär auf. Sie erkannten keine äußere Autorität an, welcher Art sieauch sei. Religion, Naturanschauung, Gesellschaft, Staatsordnung, alles wurde derschonungslosesten Kritik unterworfen; alles sollte sein Dasein vor dem Richterstuhl derVernunft rechtfertigen oder aufs Dasein verzichten. Der denkende Verstand wurde alsalleiniger Maßstab an alles angelegt. Es war die Zeit, wo, wie Hegel sagt, die Welt auf denKopf gestellt wurde1, zuerst in dem Sinn, daß der menschliche Kopf und die durch seinDenken gefundnen Sätze den Anspruch machten, als Grundlage aller menschlichenHandlung und Vergesellschaftung zu gelten; dann aber später auch in dem weitern Sinn,daß die Wirklichkeit, die diesen Sätzen widersprach, in der Tat von oben bis untenumgekehrt wurde. Alle bisherigen Gesellschafts- und Staatsformen, alle altüberliefertenVorstellungen wurden als unvernünftig in die Rumpelkammer geworfen; die Welt hatte sichbisher lediglich von Vorurteilen leiten lassen; alles Vergangne verdiente nur Mitleid undVerachtung. Jetzt erst brach das Tageslicht, das Reich der Vernunft an; von nun an sollte derAberglaube, das Unrecht, das Privilegium und die Unterdrückung verdrängt werden durchdie ewige Wahrheit, die ewige Gerechtigkeit, die in der Natur begründete Gleichheit und dieunveräußerlichen Menschenrechte.1 Folgendes ist die Stelle über die Französische Revolution: \"Der Gedanke, der Begriff des Rechtsmachte sich mit einem Male geltend, und dagegen konnte das alte Gerüst des Unrechts keinenWiderstand leisten. Im Gedanken des Rechts ist also jetzt eine Verfassung errichtet worden, und aufdiesem Grunde sollte nunmehr alles basiert sein. Solange die Sonne am Firmament steht und diePlaneten um sie kreisen, war das noch nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf,das ist auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerstgesagt, daß der Nûs, die Vernunft, die Welt regiert; nun aber erst ist der Mensch dazugekommen, zuerkennen, daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle. Es war dieses somit ein herrlicherSonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hatin jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zurVersöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen.. (Hegel, \"Philosophie der Geschichte\",1840, S. 535.) - Sollte es nicht hohe Zeit sein, gegen solche gemeingefährliche Umsturzlehren desweiland Professor Hegel das Sozialistengesetz in Bewegung zu setzen?”2


Wir wissen jetzt, daß dies Reich der Vernunft weiter nichts war als das idealisierte Reich derBourgeoisie; daß die ewige Gerechtigkeit ihre Verwirklichung fand in der Bourgeoisjustiz;daß die Gleichheit hinauslief auf die bürgerliche Gleichheit vor dem Gesetz; daß als einesder wesentlichsten Menschenrechte proklamiert wurde - das bürgerliche Eigentum; und daßder Vernunftstaat, der Rousseausche Gesellschaftsvertrag ins Leben trat und nur ins Lebentreten konnte als bürgerliche, demokratische Republik. So wenig wie alle ihre Vorgängerkonnten die großen Denker des 18. Jahrhunderts hinaus über die Schranken, die ihnen ihreeigne Epoche gesetzt hatte.Aber neben dem Gegensatz von Feudaladel und dem als Vertreterin der gesamten übrigenGesellschaft auftretenden Bürgertum bestand der allgemeine Gegensatz von Ausbeuternund Ausgebeuteten, von reichen Müßiggängern und arbeitenden Armen. War es dochgerade dieser Umstand, der es den Vertretern der Bourgeoisie möglich machte, sich alsVertreter nicht einer besondern Klasse, sondern der ganzen leidenden Menschheithinzustellen. Noch mehr. Von seinem Ursprung an war das Bürgertum behaftet mit seinemGegensatz: Kapitalisten können nicht bestehn ohne Lohnarbeiter, und im selben Verhältniswie der mittelalterliche Zunftbürger sich zum modernen Bourgeois, im selben Verhältnisentwickelte sich auch der Zunftgeselle und nichtzünftige Taglöhner zum Proletarier. Undwenn auch im ganzen und großen das Bürgertum beanspruchen durfte, im Kampf mit demAdel gleichzeitig die Interessen der verschiednen arbeitenden Klassen jener Zeit mit zuvertreten, so brachen doch, bei jeder großen bürgerlichen Bewegung, selbständigeRegungen derjenigen Klasse hervor, die die mehr oder weniger entwickelte Vorgängerin desmodernen Proletariats war. So in der deutschen Reformations- und der Bauernkriegszeit dieWiedertäufer und Thomas Münzer; in der großen englischen Revolution die Levellers; in derGroßen Französischen Revolution Babeuf. Neben diesen revolutionären Schilderhebungeneiner noch unfertigen Klasse gingen entsprechende theoretische Kundgebungen; im 16. und17. Jahrhundert utopische Schilderungen idealer Gesellschaftszustände; im 18. schon direktkommunistische Theorien (Morelly und Mably).Die Forderung der Gleichheit wurde nicht mehr auf die politischen Rechte beschränkt, siesollte sich auch auf die gesellschaftliche Lage der einzelnen erstrecken; nicht bloß dieKlassenvorrechte sollten aufgehoben werden, sondern die Klassenunterschiede selbst. Einasketischer, allen Lebensgenuß verpönender, an Sparta anknüpfender Kommunismus warso die erste Erscheinungsform der neuen Lehre. Dann folgten die drei großen Utopisten:Saint-Simon, bei dem die bürgerliche Richtung noch neben der proletarischen eine gewisseGeltung behielt; Fourier und Owen, der, im Lande der entwickeltsten kapitalistischenProduktion und unter dem Eindruck der durch diese erzeugten Gegensätze, seineVorschläge zur Beseitigung der Klassenunterschiede in direkter Anknüpfung an denfranzösischen Materialismus systematisch entwickelte.Allen dreien ist gemeinsam, daß sie nicht als Vertreter der Interessen des inzwischenhistorisch erzeugten Proletariats auftreten. Wie die Aufklärer wollen sie nicht zunächst einebestimmte Klasse, sondern sogleich die ganze Menschheit befreien. Wie jene wollen sie dasReich der Vernunft und der ewigen Gerechtigkeit einführen; aber ihr Reich ist himmelweitverschieden von dem der Aufklärer. Auch die nach den Grundsätzen dieser Aufklärereingerichtete bürgerliche Welt ist unvernünftig und ungerecht und wandert daher ebensogutin den Topf des Verwerflichen wie der Feudalismus und alle früheren Gesellschaftszustände.Daß die wirkliche Vernunft und Gerechtigkeit bisher nicht in der Welt geherrscht haben,3


kommt nur daher, daß man sie nicht richtig erkannt hatte. Es fehlte eben der genialeeinzelne Mann, der jetzt aufgetreten und der die Wahrheit erkannt hat; daß er jetztaufgetreten, daß die Wahrheit grade jetzt erkannt worden ist, ist nicht ein aus demZusammenhang der geschichtlichen Entwicklung mit Notwendigkeit folgendes,unvermeidliches Ereignis, sondern ein reiner Glücksfall. Er hätte ebensogut 500 Jahre frühergeboren werden können und hätte dann der Menschheit 500 Jahre Irrtum, Kämpfe undLeiden erspart.Wir sahen, wie die französischen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts, dieVorbereiter der Revolution, an die Vernunft appellierten als einzige Richterin über alles, wasbestand. Ein vernünftiger Staat, eine vernünftige Gesellschaft sollten hergestellt, alles, wasder ewigen Vernunft widersprach, sollte ohne Barmherzigkeit beseitigt werden. Wir sahenebenfalls, daß diese ewige Vernunft in Wirklichkeit nichts andres war als der idealisierteVerstand des eben damals zum Bourgeois sich fortentwickelnden Mittelbürgers. Als nun dieFranzösische Revolution diese Vernunftgesellschaft und diesen Vernunftstaat verwirklichthatte, stellten sich daher die neuen Einrichtungen, so rationell sie auch waren gegenüberden früheren Zuständen, keineswegs als absolut vernünftige heraus. Der Vernunftstaat warvollständig in die Brüche gegangen. Der Rousseausche Gesellschaftsvertrag hatte seineVerwirklichung gefunden in der Schreckenszeit, aus der das an seiner eignen politischenBefähigung irre gewordne Bürgertum sich geflüchtet hatte zuerst in die Korruption desDirektoriums und schließlich unter den Schutz des napoleonischen Despotismus. Derverheißne ewige Friede war umgeschlagen in einen endlosen Eroberungskrieg. DieVernunftgesellschaft war nicht besser gefahren. Der Gegensatz von reich und arm, statt sichaufzulösen in allgemeinen Wohlergehn, war verschärft worden durch die Beseitigung der ihnüberbrückenden zünftigen und andren Privilegien und der ihn mildernden kirchlichenWohltätigkeitsanstalten; die jetzt zur Wahrheit gewordne \"Freiheit des Eigentums\" vonfeudalen Fesseln stellte sich heraus, für den Kleinbürger und Kleinbauern, als die Freiheit,dies von der übermächtigen Konkurrenz des Großkapitals und des Großgrundbesitzeserdrückte kleine Eigentum an eben diese großen Herren zu verkaufen und so für denKleinbürger und Kleinbauern sich zu verwandeln in die Freiheit vom Eigentum; derAufschwung der Industrie auf kapitalistischer Grundlage erhob Armut und Elend derarbeitenden Massen zu einer Lebensbedingung der Gesellschaft. Die bare Zahlung wurdemehr und mehr, nach Carlyles Ausdruck, das einzige Bindeglied der Gesellschaft. Die Zahlder Verbrechen nahm zu von Jahr zu Jahr. Waren die früher am hellen Tage sichungescheut ergehenden feudalen Laster zwar nicht vernichtet, so doch vorläufig in denHintergrund gedrängt, so schossen dafür die, bisher nur in der Stille gehegten, bürgerlichenLaster um so üppiger in die Blüte. Der Handel entwickelte sich mehr und mehr zur Prellerei.Die \"Brüderlichkeit\" der revolutionären Devise verwirklichte sich in den Schikanen und demNeid des Konkurrenzkampfs. An die Stelle der gewaltsamen Unterdrückung trat dieKorruption, an die Stelle des Degens, als des ersten gesellschaftlichen Machthebels, dasGeld. Das Recht der ersten Nacht ging über von den Feudalherren auf die bürgerlichenFabrikanten. Die Prostitution breitete sich aus in bisher unerhörtem Maß. Die Ehe selbstblieb nach wie vor gesetzlich anerkannte Form, offizieller Deckmantel der Prostitution, undergänzte sich zudem durch reichlichen Ehebruch. Kurzum, verglichen mit den prunkhaftenVerheißungen der Aufklärer, erwiesen sich die durch den \"Sieg der Vernunft\" hergestelltengesellschaftlichen und politischen Einrichtungen als bitter enttäuschende Zerrbilder. Esfehlten nur noch die Leute, die diese Enttäuschung konstatierten, und diese kamen mit derWende des Jahrhunderts. 1802 erschienen Saint-Simons Genfer Briefe; 1808 erschien4


Fouriers erstes Werk, obwohl die Grundlage seiner Theorie schon von 1799 datierte; am 1.Januar 1800 übernahm Robert Owen die Leitung von New Lanark.Um diese Zeit aber war die kapitalistische Produktionsweise, und mit ihr der Gegensatz vonBourgeoisie und Proletariat, noch sehr unentwickelt. Die große Industrie, in England ebenerst entstanden, war in Frankreich noch unbekannt. Aber erst die große Industrie entwickelteinerseits die Konflikte, die eine Umwälzung der Produktionsweise, eine Beseitigung ihreskapitalistischen Charakters, zur zwingenden Notwendigkeit erheben - Konflikte nicht nur dervon ihr erzeugten Klassen, sondern auch der von ihr geschaffnen Produktivkräfte undAustauschformen selbst -; und sie entwickelt andrerseits in eben diesen riesigenProduktivkräften auch die Mittel, diese Konflikte zu lösen. Waren also um 1800 die derneuen Gesellschaftsordnung entspringenden Konflikte erst im Werden begriffen, so gilt diesnoch weit mehr von den Mitteln ihrer Lösung. Hatten die besitzlosen Massen von Pariswährend der Schreckenszeit einen Augenblick die Herrschaft erobern und dadurch diebürgerliche Revolution, selbst gegen das Bürgertum, zum Siege führen können, so hattensie damit nur bewiesen, wie unmöglich ihre Herrschaft unter den damaligen Verhältnissenauf die Dauer war. Das sich aus diesen besitzlosen Massen eben erst als Stamm einerneuen Klasse absondernde Proletariat, noch ganz unfähig zu selbständiger politischerAktion, stellte sich dar als unterdrückter, leidender Stand, dem in seiner Unfähigkeit, sichselbst zu helfen, höchstens von außen her, von oben herab Hülfe zu bringen war.Diese geschichtliche Lage beherrschte auch die Stifter des Sozialismus. Dem unreifenStand der kapitalistischen Produktion, der unreifen Klassenlage, entsprachen unreifeTheorien. Die Lösung der gesellschaftlichen Aufgaben, die in den unentwickeltenökonomischen Verhältnissen noch verborgen lag, sollte aus dem Kopfe erzeugt werden. DieGesellschaft bot nur Mißstände; diese zu beseitigen war Aufgabe der denkenden Vernunft.Es handelte sich darum, ein neues, vollkommneres System der gesellschaftlichen Ordnungzu erfinden und dies der Gesellschaft von außen her, durch Propaganda, womöglich durchdas Beispiel von Musterexperimenten aufzuoktroyieren. Diese neuen sozialen Systemewaren von vornherein zur Utopie verdammt; je weiter sie in ihren Einzelheiten ausgearbeitetwurden, desto mehr mußten sie in reine Phantasterei verlaufen.Dies einmal festgestellt, halten wir uns bei dieser, jetzt ganz der Vergangenheit angehörigenSeite keinen Augenblick länger auf. Wir können es literarischen Kleinkrämern überlassen, andiesen, heute nur noch erheiternden Phantastereien feierlich herumzuklauben und dieÜberlegenheit ihrer eignen nüchternen Denkungsart geltend zu machen gegenüber solchem\"Wahnwitz\". Wir freuen uns lieber der genialen Gedankenkeime und Gedanken, die unterder phantastischen Hülle überall hervorbrechen und für die jene Philister blind sind.Saint-Simon war ein Sohn der großen ranzösischen Revolution, bei deren Ausbruch er nochnicht dreißig Jahre alt war. Die Revolution war der Sieg des dritten Standes, d.h. der großen,in der Produktion und im Handel tätigen Masse der Nation, über die bis dahinbevorrechteten müßigen Stände, Adel und Geistlichkeit. Aber der Sieg des dritten Standeshatte sich bald enthüllt als der ausschließliche Sieg eines kleinen Teils dieses Standes, alsdie Eroberung der politischen Macht durch die gesellschaftlich bevorrechtete Schichtdesselben, die, besitzende Bourgeoisie. Und zwar hatte sich diese Bourgeoisie nochwährend der Revolution rasch entwickelt vermittelst der Spekulation in dem konfisziertenund dann verkauften Grundbesitz des Adels und der Kirche sowie vermittelst des Betrugs an5


der Nation durch die Armeelieferanten. Es war gerade die Herrschaft dieser Schwindler, dieunter dem Direktorium Frankreich und die Revolution an den Rand des Untergangs brachteund damit Napoleon den Vorwand gab zu seinem Staatsstreich. So nahm im KopfSaint-Simons der Gegensatz von drittem Stand und bevorrechteten Ständen die Form andes Gegensatzes von \"Arbeitern\" und \"Müßigen\". Die Müßigen, das waren nicht nur diealten Bevorrechteten, sondern auch alle, die ohne Beteiligung an Produktion und Handel vonRenten lebten. Und die \"Arbeiter\", das waren nicht nur die Lohnarbeiter, sondern auch dieFabrikanten, die Kaufleute, die Bankiers. Daß die Müßigen die Fähigkeit zur geistigenLeitung und politischen Herrschaft verloren, stand fest und war durch die Revolutionendgültig besiegelt. Daß die Besitzlosen diese Fähigkeit nicht besaßen, das schienSaint-Simon bewiesen durch die Erfahrungen der Schreckenszeit. Wer aber sollte leiten undherrschen? Nach Saint-Simon die Wissenschaft und die Industrie, beide zusammengehaltendurch ein neues religiöses Band, bestimmt, die seit der Reformation gesprengte Einheit derreligiösen Anschauungen wiederherzustellen, ein notwendig mystisches und strenghierarchisches \"neues Christentum\". Aber die Wissenschaft, das waren die Schulgelehrten,und die Industrie, das waren in erster Linie die aktiven Bourgeois, Fabrikanten, Kaufleute,Bankiers. Diese Bourgeois sollten sich zwar in eine Art öffentlicher Beamten,gesellschaftlicher Vertrauensleute, verwandeln, aber doch gegenüber den Arbeitern einegebietende und auch ökonomisch bevorzugte Stellung behalten. Namentlich sollten dieBankiers durch Regulierung des Kredits die gesamte gesellschaftliche Produktion zu regelnberufen sein. Diese Auffassung entsprach ganz einer Zeit, wo in Frankreich die großeIndustrie und mit ihr der Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat eben erst im Entstehnwar. Aber was Saint-Simon besonders betont, ist dies: Es sei ihm überall und immer zuerstzu tun um das Geschick \"der zahlreichsten und ärmsten Klasse\" (la classe la plusnombreuse et la plus pauvre).Saint-Simon stellt bereits in seinen Genfer Briefen den Satz auf, daß\"alle Menschen arbeiten sollen\".In derselben Schrift weiß er schon, daß die Schreckensherrschaft die Herrschaft derbesitzlosen Massen war.\"Seht an\", ruft er ihnen zu, \"was sich in Frankreich ereignet hat zu der Zeit, als eureKameraden dort geherrscht, sie haben die Hungersnot erzeugt.\"Die Französische Revolution aber als einen Klassenkampf, und zwar nicht bloß zwischenAdel und Bürgertum, sondern zwischen Adel, Bürgertum und Besitzlosen aufzufassen, warim Jahr 1802 eine höchst geniale Entdeckung. 1816 erklärt er die Politik für dieWissenschaft von der Produktion und sagt voraus das gänzliche Aufgehn der Politik in derÖkonomie. Wenn hierin die Erkenntnis, daß die ökonomische Lage die Basis der politischenEinrichtungen ist, nur erst im Keime sich zeigt, so ist doch die Überführung der politischenRegierung über Menschen in eine Verwaltung von Dingen und eine Leitung vonProduktionsprozessen, also die neuerdings mit so viel Lärm breitgetretne \"Abschaffung desStaates\" hier schon klar ausgesprochen. Mit gleicher Überlegenheit über seine Zeitgenossenproklamiert er 1814, unmittelbar nach dem Einzug der Verbündeten in Paris, und noch 1815,während des Kriegs der hundert Tage, die Allianz Frankreichs mit England und in zweiterLinie beider Länder mit Deutschland als einzige Gewähr für die gedeihliche Entwicklung und6


den Frieden Europas. Allianz den Franzosen von 1815 predigen mit den Siegern vonWaterloo, dazu gehörte in der Tat ebensoviel Mut wie geschichtlicher Fernblick.Wenn wir bei Saint-Simon eine geniale Weite des Blicks entdecken, vermöge deren fast allenicht streng ökonomischen Gedanken der späteren Sozialisten bei ihm im Keime enthaltensind, so finden wir bei Fourier eine echt französisch-geistreiche, aber darum nicht minder tiefeindringende Kritik der bestehenden Gesellschaftszustände. Fourier nimmt die Bourgeoisie,ihre begeisterten Propheten von vor und ihre interessierten Lobhudler von nach derRevolution beim Wort. Er deckt die materielle und moralische Misere der bürgerlichen Weltunbarmherzig auf; er hält daneben sowohl die gleißenden Versprechungen der frühernAufklärer von der Gesellschaft, in der nur die Vernunft herrschen werde, von der allesbeglückenden Zivilisation, von der grenzenlosen menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit,wie auch die schönfärbenden Redensarten der gleichzeitigen Bourgeois-Ideologen; er weistnach, wie der hochtönendsten Phrase überall die erbärmlichste Wirklichkeit entspricht, undüberschüttet dies rettungslose Fiasko der Phrase mit beißendem Spott. Fourier ist nicht nurKritiker, seine ewig heitre Natur macht ihn zum Satiriker, und zwar zu einem der größtenSatiriker aller Zeiten. Die mit dem Niedergang der Revolution emporblühendeSchwindelspekulation ebenso wie die allgemeine Krämerhaftigkeit des damaligenfranzösischen Handels schildert er ebenso meisterhaft wie ergötzlich. Noch meisterhafter istseine Kritik der bürgerlichen Gestaltung der Geschlechtsverhältnisse und der Stellung desWeibes in der bürgerlichen Gesellschaft. Er spricht es zuerst aus, daß in einer gegebnenGesellschaft der Grad der weiblichen Emanzipation das natürliche Maß der allgemeinenEmanzipation ist. Am großartigsten aber erscheint Fourier in seiner Auffassung derGeschichte der Gesellschaft. Er teilt ihren ganzen bisherigen Verlauf in vierEntwicklungsstufen: Wildheit, Patriarchat, Barbarei, Zivilisation, welch letztere mit der jetztsogenannten bürgerlichen Gesellschaft, also mit der seit dem 16. Jahrhundert eingeführtenGesellschaftsordnung zusammenfällt, und weist nach,\"daß die zivilisierte Ordnung jedes Laster, welches die Barbarei auf eine einfache Weiseausübt, zu einer zusammengesetzten, doppelsinnigen, zweideutigen, heuchlerischenDaseinsweise erhebt\"daß die Zivilisation sich in einem \"fehlerhaften Kreislauf\" bewegt, in Widersprüchen, die siestets neu erzeugt, ohne sie überwinden zu können, so daß sie stets das Gegenteil erreichtvon dem, was sie erreichen will oder erlangen zu wollen vorgibt. So daß z.B.\"in der Zivilisation die Armut aus dem Überfluß selbst entspringt\".Fourier, wie man sieht, handhabt die Dialektik mit derselben Meisterschaft wie seinZeitgenosse Hegel. Mit gleicher Dialektik hebt er hervor, gegenüber dem Gerede von derunbegrenzten menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit, daß jede geschichtliche Phaseihren aufsteigenden, aber auch ihren absteigenden Ast hat, und wendet dieseAnschauungsweise auch auf die Zukunft der gesamten Menschheit an. Wie Kant denkünftigen Untergang der Erde in die Naturwissenschaft, führt Fourier den künftigenUntergang der Menschheit in die Geschichtsbetrachtung ein.Während in Frankreich der Orkan der Revolution das Land ausfegte, ging in England einestillere, aber darum nicht minder gewaltige Umwälzung vor sich. Der Dampf und die neueWerkzeugmaschinerie verwandelten die Manufaktur in die moderne große Industrie und7


revolutionierten damit die ganze Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Der schläfrigeEntwicklungsgang der Manufakturzeit verwandelte sich in eine wahre Sturm- undDrangperiode der Produktion. Mit stets wachsender Schnelligkeit vollzog sich die Scheidungder Gesellschaft in große Kapitalisten und besitzlose Proletarier, zwischen denen, statt desfrühern stabilen Mittelstandes, jetzt eine unstete Masse von Handwerkern und Kleinhändlerneine schwankende Existenz führte, der fluktuierendste Teil der Bevölkerung. Noch war dieneue Produktionsweise erst im Anfang ihres aufsteigenden Asts; noch war sie die normale,regelrechte, die unter den Umständen einzig mögliche Produktionsweise. Aber schondamals erzeugte sie schreiende soziale Mißstände: Zusammendrängung einer heimatlosenBevölkerung in den schlechtesten Wohnstätten großer Städte - Lösung aller hergebrachtenBande des Herkommens, der patriarchalischen Unterordnung, der Familie - Überarbeitbesonders der Weiber und Kinder in schreckenerregendem Maß - massenhafteEntsittlichung der plötzlich in ganz neue Verhältnisse, vom Land in die Stadt, vom Ackerbauin die Industrie, aus stabilen in täglich wechselnde unsichere Lebensbedingungengeworfnen arbeitenden Klasse. Da trat ein neunundzwanzigjähriger Fabrikant alsReformator auf, ein Mann von bis zur Erhabenheit kindlicher Einfachheit des Charakters undzugleich ein geborner Lenker von Menschen wie wenige. Robert Owen hatte sich die Lehreder materialistischen Aufklärer angeeignet, daß der Charakter des Menschen das Produktsei einerseits der angebornen Organisation und andrerseits der den Menschen währendseiner Lebenszeit, besonders aber während der Entwicklungsperiode umgebendenUmstände. In der industriellen Revolution sahen die meisten seiner Standesgenossen nurVerwirrung und Chaos, gut im trüben zu fischen und sich rasch zu bereichern. Er sah in ihrdie Gelegenheit, seinen Lieblingssatz in Anwendung und damit Ordnung in das Chaos zubringen. Er hatte es schon in Manchester als Dirigent über fünfhundert Arbeiter einer Fabrikerfolgreich versucht, von 1800 bis 1829 leitete er die große Baumwollspinnerei von NewLanark in Schottland als dirigierender Associé in demselben Sinn, nur mit größrer Freiheitdes Handelns und mit einem Erfolg, der ihm europäischen Ruf eintrug. Eine allmählich auf2.500 Köpfe anwachsende, ursprünglich aus den gemischtesten und größtenteils starkdemoralisierten Elementen sich zusammensetzende Bevölkerung wandelte er um in einevollständige Musterkolonie, in der Trunkenheit, Polizei, Strafrichter, Prozesse, Armenpflege,Wohltätigkeitsbedürfnis unbekannte Dinge waren. Und zwar einfach dadurch, daß er dieLeute in menschenwürdigere Umstände versetzte und namentlich die heranwachsendeGeneration sorgfältig erziehen ließ. Er war der Erfinder der Kleinkinderschulen und führte siehier zuerst ein. Vom zweiten Lebensjahr an kamen die Kinder in die Schule, wo sie sich sogut unterhielten, daß sie kaum wieder heimzubringen waren. Während seine Konkurrenten13-14 Stunden täglich arbeiten ließen, wurde in New Lanark nur 101/2 Stunden gearbeitet.Als eine Baumwollkrisis zu viermonatlichem Stillstand zwang, wurde den feiernden Arbeiternder volle Lohn fortbezahlt. Und dabei hatte das Etablissement seinen Wert mehr alsverdoppelt und bis zuletzt den Eigentümern reichlichen Gewinn abgeworfen.Mit alledem war Owen nicht zufrieden. Die Existenz, die er seinen Arbeitern geschaffen, warin seinen Augen noch lange keine menschenwürdige;\"die Leute waren meine Sklaven\";die verhältnismäßig günstigen Umstände, in die er sie versetzt, waren noch weit entferntdavon, eine allseitige rationelle Entwicklung des Charakters und des Verstandes,geschweige eine freie Lebenstätigkeit zu gestatten.8


\"Und doch produzierte der arbeitende Teil dieser 2.500 Menschen ebensoviel wirklichenReichtum für die Gesellschaft, wie kaum ein halbes Jahrhundert vorher eine Bevölkerungvon 600.000 erzeugen konnte. Ich frug mich: Was wird aus der Differenz zwischen dem von2.500 Personen verzehrten Reichtum und demjenigen, den die 600.000 hätten verzehrenmüssen?\"Die Antwort war klar. Er war verwandt worden, um den Besitzern des Etablissements 5%Zinsen vom Anlagekapital und außerdem noch mehr als 300.000 Pfd.St. (6.000.000 M.)Gewinn abzuwerfen. Und was von New Lanark, galt in noch höherem Maß von allenFabriken Englands.\"Ohne diesen neuen, durch die Maschinen geschaffnen Reichtum hätten die Kriege zumSturz Napoleons und zur Aufrechterhaltung der aristokratischen Gesellschaftsprinzipiennicht durchgeführt werden können. Und doch war diese neue Macht die Schöpfung derarbeitenden Klasse.\"2Ihr gehörten daher auch die Früchte. Die neuen gewaltigen Produktivkräfte, bisher nur derBereicherung einzelner und der Knechtung der Massen dienend, boten für Owen dieGrundlage zu einer gesellschaftlichen Neubildung und waren dazu bestimmt, alsgemeinsames Eigentum aller nur für die gemeinsame Wohlfahrt aller zu arbeiten.Auf solche rein geschäftsmäßige Weise, als Frucht sozusagen der kaufmännischenBerechnung, entstand der Owensche Kommunismus. Denselben auf das Praktischegerichteten Charakter behält er durchweg. So schlug Owen 1823 Hebung des irischenElends durch kommunistische Kolonien vor und legte vollständige Berechnungen, überAnlagekosten, jährliche Auslagen und voraussichtliche Erträge bei. So ist in seinemdefinitiven Zukunftsplan die technische Ausarbeitung der Einzelheiten, einschließlichGrundriß, Aufriß und Ansicht aus der Vogelperspektive, mit solcher Sachkenntnisdurchgeführt, daß, die Owensche Methode der Gesellschaftsreform einmal zugegeben, sichgegen die Detaileinrichtung selbst vom fachmännischen Standpunkt nur wenig sagen läßt.Der Fortschritt zum Kommunismus war der Wendepunkt in Owens Leben. Solange er alsbloßer Philanthrop aufgetreten, hatte er nichts geerntet als Reichtum, Beifall, Ehre undRuhm. Er war der populärste Mann in Europa. Nicht nur seine Standesgenossen, auchStaatsmänner und Fürsten hörten ihm beifällig zu. Als er aber mit seinen kommunistischenTheorien hervortrat, wendete sich das Blatt. Drei große Hindernisse waren es, die ihm vorallem den Weg zur gesellschaftlichen Reform zu versperren schienen: das Privateigentum,die Religion und die gegenwärtige Form der Ehe. Er wußte, was ihm bevorstand, wenn ersie angriff: die allgemeine Ächtung durch die offizielle Gesellschaft, der Verlust seinerganzen sozialen Stellung. Aber er ließ sich nicht abhalten, sie rücksichtslos anzugreifen, undes geschah, wie er vorhergesehn. Verbannt aus der offiziellen Gesellschaft, totgeschwiegenvon der Presse, verarmt durch fehlgeschlagne kommunistische Versuche in Amerika, indenen er sein ganzes Vermögen geopfert, wandte er sich direkt an die Arbeiterklasse undblieb in ihrer Mitte noch dreißig Jahre tätig. Alle gesellschaftlichen Bewegungen, allewirklichen Fortschritte, die in England im Interesse der Arbeiter zustande gekommen,2 Aus: \"The Revolution in Mind and Practice\", einer an alle \"roten Republikaner, Kommunisten undSozialisten Europas\" gerichteten und der französischen provisorischen Regierung 1848, aber auch\"der Königin Viktoria und ihren verantwortlichen Ratgebern\" zugesandten Denkschrift.9


knüpfen sich an den Namen Owen. So setzte er 1819, nach fünfjähriger Anstrengung, daserste Gesetz zur Beschränkung der Weiber- und Kinderarbeit in den Fabriken durch. Sopräsidierte er dem ersten Kongreß, auf dem die Trades Unions von ganz England sich ineine einzige große Gewerksgenossenschaft vereinigten. So führte er alsÜbergangsmaßregeln zur vollständig kommunistischen Einrichtung der Gesellschafteinerseits die Kooperativgesellschaften ein (Konsum- und Produktivgenossenschaften), dieseitdem wenigstens den praktischen Beweis geliefert haben, daß sowohl der Kaufmann wieder Fabrikant sehr entbehrliche Personen sind; andrerseits die Arbeitsbasars, Anstalten zumAustausch von Arbeitsprodukten vermittelst eines Arbeitspapiergelds, dessen Einheit dieArbeitsstunde bildete; Anstalten, die notwendig scheitern mußten, die aber die weit spätereProudhonsche Tauschbank vollständig antizipierten, sich indes grade dadurch von dieserunterschieden, daß sie nicht das Universalheilmittel aller gesellschaftlichen Übel, sondernnur einen ersten Schritt zu einer weit radikalern Umgestaltung der Gesellschaft darstellten.Die Anschauungsweise der Utopisten hat die sozialistischen Vorstellungen des 19.Jahrhunderts lange beherrscht und beherrscht sie zum Teil noch. Ihr huldigten noch bis vorganz kurzer Zeit alle französischen und englischen Sozialisten, ihr gehört auch der früheredeutsche Kommunismus mit Einschluß Weitlings an. Der Sozialismus ist ihnen allen derAusdruck der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit und braucht nur entdeckt zuwerden, um durch eigne Kraft die Welt zu erobern; da die absolute Wahrheit unabhängig istvon Zeit, Raum und menschlicher geschichtlicher Entwicklung, so ist es bloßer Zufall, wannund wo sie entdeckt wird. Dabei ist dann die absolute Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeitwieder bei jedem Schulstifter verschieden; und da bei jedem die besondre Art der absolutenWahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit wieder bedingt ist durch seinen subjektiven Verstand,seine Lebensbedingungen, sein Maß von Kenntnissen und Denkschulung, so ist in diesemKonflikt absoluter Wahrheiten keine andre Lösung möglich, als daß sie sich aneinanderabschleißen. Dabei konnte dann nichts andres herauskommen als eine Art von eklektischemDurchschnitts-Sozialismus, wie er in der Tat bis heute in den Köpfen der meistensozialistischen Arbeiter in Frankreich und England herrscht, eine äußerst mannigfaltigeSchattierungen zulassende Mischung aus den weniger Anstoß erregenden kritischenAuslassungen, ökonomischen Lehrsätzen und gesellschaftlichen Zukunftsvorstellungen derverschiednen Sektenstifter, eine Mischung, die sich um so leichter bewerkstelligt, je mehrden einzelnen Bestandteilen im Strom der Debatte die scharfen Ecken der Bestimmtheitabgeschliffen sind wie runden Kieseln im Bach. Um aus dem Sozialismus eine Wissenschaftzu machen, mußte er erst auf einen realen Boden gestellt werden.II.Inzwischen war neben und nach der französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts dieneuere deutsche Philosophie entstanden und hatte in Hegel ihren Abschluß gefunden. Ihrgrößtes Verdienst war die Wiederaufnahme der Dialektik als der höchsten Form desDenkens. Die alten griechischen Philosophen waren alle geborne, naturwüchsigeDialektiker, und der universellste Kopf unter ihnen, Aristoteles, hat auch bereits diewesentlichsten Formen des dialektischen Denkens untersucht. Die neuere Philosophie10


dagegen, obwohl auch in ihr die Dialektik glänzende Vertreter hatte (z. B. Descartes undSpinoza), war besonders durch englischen Einfluß mehr und mehr in der sog.metaphysischen Denkweise festgefahren, von der auch die Franzosen des 18.Jahrhunderts, wenigstens in ihren speziell philosophischen Arbeiten, fast ausschließlichbeherrscht wurden. Außerhalb der eigentlichen Philosophie waren sie ebenfalls imstande,Meisterwerke der Dialektik zu liefern; wir erinnern nur an \"Rameaus Neffen\" von Diderot unddie \"Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen\" von Rousseau.Wir geben hier kurz das Wesentliche beider Denkmethoden an.Wenn wir die Natur oder die Menschengeschichte oder unsre geistige Tätigkeit derdenkenden Betrachtung unterwerfen, so bietet sich uns zunächst dar das Bild einerunendlichen Verschlingung von Zusammenhängen und Wechselwirkungen, in der nichtsbleibt, was, wo und wie es war, sondern alles sich bewegt, sich verändert, wird und vergeht.Wir sehen zunächst also das Gesamtbild, in dem die Einzelheiten noch mehr oder wenigerzurücktreten, wir achten mehr auf die Bewegung, die Übergänge, die Zusammenhänge, alsauf das, was sich bewegt, übergeht und zusammenhängt. Diese ursprüngliche, naive, aberder Sache nach richtige Anschauung von der Welt ist die der alten griechischen Philosophieund ist zuerst klar ausgesprochen von Heraklit: Alles ist und ist auch nicht, denn alles fließt,ist in steter Veränderung, in stetem Werden und Vergehen begriffen. Aber dieseAnschauung, so richtig sie auch den allgemeinen Charakter des Gesamtbildes derErscheinungen erfaßt, genügt doch nicht, die Einzelheiten zu erklären, aus denen sich diesGesamtbild zusammensetzt; und solange wir diese nicht kennen, sind wir auch über dasGesamtbild nicht klar. Um diese Einzelheiten zu erkennen, müssen wir sie aus ihremnatürlichen oder geschichtlichen Zusammenhang herausnehmen und sie, jede für sich, nachihrer Beschaffenheit, ihren besondren Ursachen und Wirkungen etc. untersuchen. Dies istzunächst die Aufgabe der Naturwissenschaft und Geschichtsforschung;Untersuchungszweige, die aus sehr guten Gründen bei den Griechen der klassischen Zeiteinen nur untergeordneten Rang einnahmen, weil diese vor allem erst das Material dafürzusammenschleppen mußten. Erst nachdem der natürliche und geschichtliche Stoff bis aufeinen gewissen Grad angesammelt ist, kann die kritische Sichtung, die Vergleichungbeziehungsweise die Einteilung in Klassen, Ordnungen und Arten in Angriff genommenwerden. Die Anfänge der exakten Naturforschung werden daher erst bei den Griechen deralexandrinischen Periode und später, im Mittelalter, von den Arabern weiterentwickelt; einewirkliche Naturwissenschaft datiert indes erst von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts,und von da an hat sie mit stets wachsender Geschwindigkeit Fortschritte gemacht. DieZerlegung der Natur in ihre einzelnen Teile, die Sonderung der verschiednen Naturvorgängeund Naturgegenstände in bestimmte Klassen, die Untersuchung des Innern der organischenKörper nach ihren mannigfachen anatomischen Gestaltungen war die Grundbedingung derRiesenfortschritte, die die letzten vierhundert Jahre uns in der Erkenntnis der Naturgebracht. Aber sie hat uns ebenfalls die Gewohnheit hinterlassen, die Naturdinge undNaturvorgänge in ihrer Vereinzelung, außerhalb des großen Gesamtzusammenhangsaufzufassen; daher nicht in ihrer Bewegung, sondern in ihrem Stillstand; nicht als wesentlichveränderliche, sondern als feste Bestände; nicht in ihrem Leben, sondern in ihrem Tod. Undindem, wie dies durch Bacon und Locke geschah, diese Anschauungsweise aus derNaturwissenschaft sich in die Philosophie übertrug, schuf sie die spezifische Borniertheit derletzten Jahrhunderte, die metaphysische Denkweise.11


Für den Metaphysiker sind die Dinge und ihre Gedankenabbilder, die Begriffe, vereinzelte,eins nach dem andern und ohne das andre zu betrachtende, feste, starre, ein für allemalgegebne Gegenstände der Untersuchung. Er denkt in lauter unvermittelten Gegensätzen;seine Rede ist ja, ja, nein, nein, was darüber ist, das ist vom Übel. Für ihn existiert ein Dingentweder, oder es existiert nicht: Ein Ding kann ebensowenig zugleich es selbst und einandres sein. Positiv und negativ schließen einander absolut aus; Ursache und Wirkungstehn ebenso in starrem Gegensatz zueinander. Diese Denkweise erscheint uns auf denersten Blick deswegen äußerst einleuchtend, weil sie diejenige des sogenannten gesundenMenschenverstands ist. Allein der gesunde Menschenverstand, ein so respektabler Geselleer auch in dem hausbacknen Gebiet seiner vier Wände ist, erlebt ganz wunderbareAbenteuer, sobald er sich in die weite Welt der Forschung wagt; und die metaphysischeAnschauungsweise, auf so weiten, je nach der Natur des Gegenstands ausgedehntenGebieten sie auch berechtigt und sogar notwendig ist, stößt doch jedesmal früher oderspäter auf eine Schranke, jenseits welcher sie einseitig, borniert, abstrakt wird und sich inunlösliche Widersprüche verirrt, weil sie über den einzelnen Dingen deren Zusammenhang,über ihrem Sein ihr Werden und Vergehn, über ihrer Ruhe ihre Bewegung vergißt, weil sievor lauter Bäumen den Wald nicht sieht. Für alltägliche Fälle wissen wir z.B. und können mitBestimmtheit sagen, ob ein Tier existiert oder nicht; bei genauerer Untersuchung finden wiraber, daß dies manchmal eine höchst verwickelte Sache ist, wie das die Juristen sehr gutwissen, die sich umsonst abgeplagt haben, eine rationelle Grenze zu entdecken, von der andie Tötung des Kindes im Mutterleibe Mord ist; und ebenso unmöglich ist es, den Momentdes Todes festzustellen, indem die Physiologie nachweist, daß der Tod nicht ein einmaliges,augenblickliches Ereignis, sondern ein sehr langwieriger Vorgang ist. Ebenso ist jedesorganische Wesen in jedem Augenblick dasselbe und nicht dasselbe; in jedem Augenblickverarbeitet es von außen zugeführte Stoffe und scheidet andre aus, in jedem Augenblicksterben Zellen seines Körpers ab und bilden sich neue; je nach einer längern oder kürzernZeit ist der Stoff dieses Körpers vollständig erneuert, durch andre Stoffatome ersetzt worden,so daß jedes organisierte3 Wesen stets dasselbe und doch ein andres ist. Auch finden wirbei genaurer Betrachtung, daß die beiden Pole eines Gegensatzes, wie positiv und negativ,ebenso untrennbar voneinander wie entgegengesetzt sind und daß sie trotz allerGegensätzlichkeit sich gegenseitig durchdringen; ebenso, daß Ursache und WirkungVorstellungen sind, die nur in der Anwendung auf den einzelnen Fall als solche Gültigkeithaben, daß sie aber, sowie wir den einzelnen Fall in seinem allgemeinen Zusammenhangmit dem Weltganzen betrachten, zusammengehn, sich auflösen in der Anschauung deruniversellen Wechselwirkung, wo Ursachen und Wirkungen fortwährend ihre Stellewechseln, das, was jetzt oder hier Wirkung, dort oder dann Ursache wird und umgekehrt.Alle diese Vorgänge und Denkmethoden passen nicht in den Rahmen des metaphysischenDenkens hinein. Für die Dialektik dagegen, die die Dinge und ihre begrifflichen Abbilderwesentlich in ihrem Zusammenhang, ihrer Verkettung, ihrer Bewegung, ihrem Entstehn undVergehn auffaßt, sind Vorgänge wie die obigen ebensoviel Bestätigungen ihrer eignenVerfahrungsweise. Die Natur ist die Probe auf die Dialektik, und wir müssen es dermodernen Naturwissenschaft nachsagen, daß sie für diese Probe ein äußerst reichliches,sich täglich häufendes Material, geliefert und damit bewiesen hat, daß es in der Natur, inletzter Instanz, dialektisch und nicht metaphysisch hergeht, daß sie sich nicht im ewigenEinerlei eines stets wiederholten Kreises bewegt, sondern eine wirkliche Geschichte3In der französischen Ausgabe: organische12


durchmacht. Hier ist vor allen Darwin zu nennen, der der metaphysischen Naturauffassungden gewaltigsten Stoß versetzt hat durch seinen Nachweis, daß die ganze heutigeorganische Natur, Pflanzen und Tiere und damit auch der Mensch, das Produkt eines durchMillionen Jahre fortgesetzten Entwicklungsprozesses ist. Da aber die Naturforscher bis jetztzu zählen sind, die dialektisch zu denken gelernt haben, so erklärt sich aus diesem Konfliktder entdeckten Resultate mit der hergebrachten Denkweise die grenzenlose Verwirrung, diejetzt in der theoretischen Naturwissenschaft herrscht und die Lehrer wie Schüler,Schriftsteller wie Leser zur Verzweiflung bringt.Eine exakte Darstellung des Weltganzen, seiner Entwicklung und der der Menschheit sowiedes Spiegelbildes dieser Entwicklung in den Köpfen der Menschen, kann also nur aufdialektischem Wege, mit steter Beachtung der allgemeinen Wechselwirkungen des Werdensund Vergehens, der fort- oder rückschreitenden Änderungen zustande kommen. Und indiesem Sinne trat die neuere deutsche Philosophie auch sofort auf. Kant eröffnete seineLaufbahn damit, daß er das stabile Newtonsche Sonnensystem und seine - nachdem derfamose erste Anstoß einmal gegeben - ewige Dauer auflöste in einen geschichtlichenVorgang: in die Entstehung der Sonne und aller Planeten aus einer rotierendenNebelmasse. Dabei zog er bereits die Folgerung, daß mit dieser Entstehung ebenfalls derkünftige Untergang des Sonnensystems notwendig gegeben sei. Seine Ansicht wurde einhalbes Jahrhundert später durch Laplace mathematisch begründet, und noch ein halbesJahr hundert später wies das Spektroskop die Existenz solcher glühenden Gasmassen, inverschiednen Stufen der Verdichtung, im Weltraum nach.Ihren Abschluß fand diese neuere deutsche Philosophie im Hegelschen System, worin zumerstenmal - und das ist sein großes Verdienst - die ganze natürliche, geschichtliche undgeistige Welt als ein Prozeß, d.h. als in steter Bewegung, Veränderung, Umbildung undEntwicklung begriffen, dargestellt und der Versuch gemacht wurde, den innernZusammenhang in dieser Bewegung und Entwicklung nachzuweisen. Von diesemGesichtspunkt aus erschien die Geschichte der Menschheit nicht mehr als ein wüstes Gewirrsinnloser Gewalttätigkeiten, die vor dem Richterstuhl der jetzt gereiften Philosophenvernunftalle gleich verwerflich sind und die man am besten so rasch wie möglich vergißt, sondern alsder Entwicklungsprozeß der Menschheit selbst, dessen allmählichen Stufengang durch alleIrrwege zu verfolgen und dessen innere Gesetzmäßigkeit durch alle scheinbarenZufälligkeiten hindurch nachzuweisen jetzt die Aufgabe des Denkens wurde.Daß das Hegelsche System die Aufgabe nicht löste, die es sich gestellt, ist hier gleichgültig.Sein epochemachendes Verdienst war, sie gestellt zu haben. Es ist eben eine Aufgabe, diekein einzelner je wird lösen können. Obwohl Hegel - neben Saint-Simon - der universellsteKopf seiner Zeit war, so war er doch beschränkt erstens durch den notwendig begrenztenUmfang seiner eignen Kenntnisse und zweitens durch die ebenfalls nach Umfang und Tiefebegrenzten Kenntnisse und Anschauungen seiner Epoche. Dazu aber kam noch ein Drittes.Hegel war Idealist, d.h., ihm galten die Gedanken seines Kopfs nicht als die mehr oderweniger abstrakten Abbilder der wirklichen Dinge und Vorgänge, sondern umgekehrt galtenihm die Dinge und ihre Entwicklung nur als die verwirklichten Abbilder der irgendwie schonvor der Welt existierenden \"Idee\". Damit war alles auf den Kopf gestellt und der wirklicheZusammenhang der Welt vollständig umgekehrt. Und so richtig und genial daher auchmanche Einzelzusammenhänge von Hegel aufgefaßt wurden, so mußte doch aus denangegebnen Gründen auch im Detail vieles geflickt, gekünstelt, konstruiert, kurz, verkehrt13


ausfallen. Das Hegelsche System als solches war eine kolossale Fehlgeburt - aber auch dieletzte ihrer Art. Es litt nämlich noch an einem innern unheilbaren Widerspruch: einerseitshatte es zur wesentlichen Voraussetzung die historische Anschauung, wonach diemenschliche Geschichte ein Entwicklungsprozeß ist, der seiner Natur nach nicht durch dieEntdeckung einer sogenannten absoluten Wahrheit seinen intellektuellen Abschluß findenkann; andrerseits aber behauptet es, der Inbegriff eben dieser absoluten Wahrheit zu sein.Ein allumfassendes, ein für allemal abschließendes System der Erkenntnis von Natur undGeschichte steht im Widerspruch mit den Grundgesetzen des dialektischen Denkens; wasindes keineswegs ausschließt, sondern im Gegenteil einschließt, daß die systematischeErkenntnis der gesamten äußern Welt von Geschlecht zu Geschlecht Riesenfortschrittemachen kann.Die Einsicht in die totale Verkehrtheit des bisherigen deutschen Idealismus führte notwendigzum Materialismus, aber wohlgemerkt, nicht zum bloß metaphysischen, ausschließlichmechanischen Materialismus des 18. Jahrhunderts. Gegenüber der naiv-revolutionären,einfachen Verwerfung aller frühern Geschichte sieht der moderne Materialismus in derGeschichte den Entwicklungsprozeß der Menschheit, dessen Bewegungsgesetze zuentdecken seine Aufgabe ist. Gegenüber der sowohl bei den Franzosen des 18.Jahrhunderts wie noch bei Hegel herrschenden Vorstellung von der Natur als eines sich inengen Kreisläufen bewegenden, sich stets gleichbleibenden Ganzen mit ewigenWeltkörpern, wie sie Newton, und unveränderlichen Arten von organischen Wesen, wie sieLinné gelehrt hatte, faßt er die neueren Fortschritte der Naturwissenschaft zusammen,wonach die Natur ebenfalls ihre Geschichte in der Zeit hat, die Weltkörper wie die Artungender Organismen, von denen sie unter günstigen Umständen bewohnt werden, entstehn undvergehn, und die Kreisläufe, soweit sie überhaupt zulässig bleiben, unendlich großartigereDimensionen annehmen. In beiden Fällen ist er wesentlich dialektisch und braucht keineüber den andern Wissenschaften stehende Philosophie mehr. Sobald an jede einzelneWissenschaft die Forderung herantritt, über ihre Stellung im Gesamtzusammenhang derDinge und der Kenntnis von den Dingen sich klarzuwerden, ist jede besondre Wissenschaftvom Gesamtzusammenhang überflüssig. Was von der ganzen bisherigen Philosophie dannnoch selbständig bestehenbleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen - dieformelle Logik und die Dialektik. Alles andre geht auf in die positive Wissenschaft von Naturund Geschichte.Während jedoch der Umschwung in der Naturanschauung nur in dem Maß sich vollziehnkonnte, als die Forschung den entsprechenden positiven Erkenntnisstoff lieferte, hatten sichschon viel früher historische Tatsachen geltend gemacht, die für die Geschichtsauffassungeine entscheidende Wendung herbeiführten. 1831 hatte in Lyon der erste Arbeiteraufstandstattgefunden; 1838 bis 1842 erreichte die erste nationale Arbeiterbewegung, die derenglischen Chartisten, ihren Höhepunkt. Der Klassenkampf zwischen Proletariat undBourgeoisie trat in den Vordergrund der Geschichte der fortgeschrittensten Länder Europas,in demselben Maß, wie sich dort einerseits die große Industrie, andrerseits die neuerobertepolitische Herrschaft der Bourgeoisie entwickelte. Die Lehren der bürgerlichen Ökonomievon der Identität der Interessen von Kapital und Arbeit, von der allgemeinen Harmonie unddem allgemeinen Volkswohlstand als Folge der freien Konkurrenz wurden immerschlagender von den Tatsachen Lügen gestraft. Alle diese Dinge waren nicht mehrabzuweisen, ebensowenig wie der französische und englische Sozialismus, der ihrtheoretischer, wenn auch höchst unvollkommner Ausdruck war. Aber die alte idealistische14


Geschichtsauffassung, die noch nicht verdrängt war, kannte keine auf materiellen Interessenberuhenden Massenkämpfe, überhaupt keine materiellen Interessen; die Produktion wie alleökonomischen Verhältnisse kamen in ihr nur so nebenbei, als untergeordnete Elemente der\"Kulturgeschichte\" vor.Die neuen Tatsachen zwangen dazu, die ganze bisherige Geschichte einer neuenUntersuchung zu unterwerfen, und da zeigte sich, daß alle bisherige Geschichte, mitAusnahme der Urzustände, die Geschichte von Klassenkämpfen war, daß diese einanderbekämpfenden Klassen der Gesellschaft jedesmal Erzeugnisse sind der Produktions- undVerkehrsverhältnisse, mit einem Wort, der ökonomischen Verhältnisse ihrer Epoche; daßalso die jedesmalige ökonomische Struktur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, ausder der gesamte Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie der religiösen,philosophischen und sonstigen Vorstellungsweise eines jeden geschichtlichen Zeitabschnittsin letzter Instanz zu erklären sind. Hegel hatte die Geschichtsauffassung von der Metaphysikbefreit, er hatte sie dialektisch gemacht - aber seine Auffassung der Geschichte warwesentlich idealistisch. Jetzt war der Idealismus aus seinem letzten Zufluchtsort, aus derGeschichtsauffassung, vertrieben, eine materialistische Geschichtsauffassung gegeben undder Weg gefunden, um das Bewußtsein der Menschen aus ihrem Sein, statt wie bisher ihrSein aus ihrem Bewußtsein zu erklären.Hiernach erschien jetzt der Sozialismus nicht mehr als zufällige Entdeckung dieses oderjenes genialen Kopfs, sondern als das notwendige Erzeugnis des Kampfes zweiergeschichtlich entstandner Klassen, des Proletariats und der Bourgeoisie. Seine Aufgabe warnicht mehr, ein möglichst vollkommnes System der Gesellschaft zu verfertigen, sondern dengeschichtlichen ökonomischen Verlauf zu untersuchen, dem diese Klassen und ihrWiderstreit mit Notwendigkeit entsprungen, und in der dadurch geschaffnen ökonomischenLage die Mittel zur Lösung des Konflikts zu entdecken. Mit dieser materialistischenAuffassung war aber der bisherige Sozialismus ebenso unverträglich wie dieNaturauffassung des französischen Materialismus mit der Dialektik und der neuerenNaturwissenschaft. Der bisherige Sozialismus kritisierte zwar die bestehende kapitalistischeProduktionsweise und ihre Folgen, konnte sie aber nicht erklären, also auch nicht mit ihrfertig werden; er konnte sie nur einfach als schlecht verwerfen. Je heftiger er gegen die vonihr unzertrennliche Ausbeutung der Arbeiterklasse eiferte, desto weniger war er imstand,deutlich anzugeben, worin diese Ausbeutung bestehe und wie sie entstehe. Es handelte sichaber darum, die kapitalistische Produktionsweise einerseits in ihrem geschichtlichenZusammenhang und ihrer Notwendigkeit für einen bestimmten geschichtlichen Zeitabschnitt,also auch die Notwendigkeit ihres Untergangs, darzustellen, andrerseits aber auch ihreninnern Charakter bloßzulegen, der noch immer verborgen war. Dies geschah durch dieEnthüllung des Mehrwerts. Es wurde bewiesen, daß die Aneignung unbezahlter Arbeit dieGrundform der kapitalistischen Produktionsweise und der durch sie vollzognen Ausbeutungdes Arbeiters ist; daß der Kapitalist, selbst wenn er die Arbeitskraft seines Arbeiters zumvollen Wert kauft, den sie als Ware auf dem Warenmarkt hat, dennoch mehr Wert aus ihrherausschlägt, als er für sie bezahlt hat; und daß dieser Mehrwert in letzter Instanz dieWertsumme bildet, aus der sich die stets wachsende Kapitalmasse in den Händen derbesitzenden Klassen anhäuft. Der Hergang sowohl der kapitalistischen Produktion wie derProduktion von Kapital war erklärt.15


Diese beiden großen Entdeckungen: die materialistische Geschichtsauffassung und dieEnthüllung des Geheimnisses der kapitalistischen Produktion vermittelst des Mehrwertsverdanken wir Marx. Mit ihnen wurde der Sozialismus eine Wissenschaft, die es sich nunzunächst darum handelt, in allen ihren Einzelnheiten und Zusammenhängen weiterauszuarbeiten.III.Die materialistische Anschauung der Geschichte geht von dem Satz aus, daß dieProduktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage allerGesellschaftsordnung ist; daß in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilungder Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet,was und wie produziert und wie das Produzierte ausgetauscht wird. Hiernach sind dieletzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zusuchen nicht in den Köpfen der Menschen, in ihrer zunehmenden Einsicht in die ewigeWahrheit und Gerechtigkeit, sondern in, Veränderungen der Produktions- undAustauschweise; sie sind zu suchen nicht in der Philosophie, sondern in der Ökonomie derbetreffenden Epoche. Die erwachende Einsicht, daß die bestehenden gesellschaftlichenEinrichtungen unvernünftig und ungerecht sind, daß Vernunft Unsinn, Wohltat Plagegeworden, ist nur ein Anzeichen davon, daß in den Produktionsmethoden undAustauschformen in aller Stille Veränderungen vor sich gegangen sind, zu denen die auffrühere ökonomische Bedingungen, zugeschnittne gesellschaftliche Ordnung nicht mehrstimmt. Damit ist zugleich gesagt, daß die Mittel zur Beseitigung der entdeckten Mißständeebenfalls in den veränderten Produktionsverhältnissen selbst - mehr oder minder entwickelt -vorhanden sein müssen. Diese Mittel sind nicht etwa aus dem Kopfe zu erfinden, sondernvermittelst des Kopfes in den vorliegenden materiellen Tatsachen der Produktion zuentdecken.Wie steht es nun hiernach mit dem modernen Sozialismus?Die bestehende Gesellschaftsordnung - das ist nun so ziemlich allgemein zugegeben - istgeschaffen worden von der jetzt herrschenden Klasse, der Bourgeoisie. Die der Bourgeoisieeigentümliche Produktionsweise, seit Marx mit dem Namen kapitalistische Produktionsweisebezeichnet, war unverträglich mit den lokalen und ständischen Privilegien wie mit dengegenseitigen persönlichen Banden der feudalen Ordnung; die Bourgeoisie zerschlug diefeudale Ordnung und stellte auf ihren Trümmern die bürgerliche Gesellschaftsverfassungher, das Reich der freien Konkurrenz, der Freizügigkeit, der Gleichberechtigung derWarenbesitzer und wie die bürgerlichen Herrlichkeiten alle heißen. Die kapitalistischeProduktionsweise konnte sich jetzt frei entfalten. Die unter der Leitung der Bourgeoisie16


herausgearbeiteten Produktionsverhältnisse4 entwickelten sich, seit der Dampf und die neueWerkzeugmaschinerie die alte Manufaktur in die große Industrie umgewandelt, mit bisherunerhörter Schnelligkeit und in bisher unerhörtem Maße. Aber wie ihrerzeit die Manufakturund das unter ihrer Einwirkung weiterentwickelte Handwerk mit den feudalen Fesseln derZünfte in Konflikt kam, so kommt die große Industrie in ihrer volleren Ausbildung in Konfliktmit den Schranken, in denen die kapitalistische Produktionsweise sie eingeengt hält. Dieneuen Produktionskräfte sind der bürgerlichen Form ihrer Ausnutzung bereits über den Kopfgewachsen; und dieser Konflikt zwischen Produktivkräften und Produktionsweise ist nichtein in den Köpfen der Menschen entstandner Konflikt, wie etwa der der menschlichenErbsünde mit der göttlichen Gerechtigkeit, sondern er besteht in den Tatsachen, objektiv,außer uns, unabhängig vom Wollen oder Laufen selbst derjenigen Menschen, die ihnherbeigeführt. Der moderne Sozialismus ist weiter nichts als der Gedankenreflex diesestatsächlichen Konflikts, seine ideelle Rückspiegelung in den Köpfen zunächst der Klasse, diedirekt unter ihm leidet, der Arbeiterklasse.Worin besteht nun dieser Konflikt?Vor der kapitalistischen Produktion, also im Mittelalter, bestand allgemeiner Kleinbetrieb aufGrundlage des Privateigentums der Arbeiter an ihren Produktionsmitteln: der Ackerbau derkleinen, freien oder hörigen Bauern, das Handwerk der Städte. Die Arbeitsmittel - Land,Ackergerät, Werkstatt, Handwerkszeug - waren Arbeitsmittel des einzelnen, nur für denEinzelgebrauch berechnet, also notwendig kleinlich, zwerghaft, beschränkt. Aber siegehörten eben deshalb auch in der Regel dem Produzenten selbst. Diese zersplitterten,engen Produktionsmittel zu konzentrieren, auszuweiten, sie in die mächtig wirkendenProduktionshebel der Gegenwart umzuwandeln, war gerade die historische Rolle derkapitalistischen Produktionsweise und ihrer Trägerin, der Bourgeoisie. Wie sie dies seit dem15. Jahrhundert auf den drei Stufen: der einfachen Kooperation, der Manufaktur und dergroßen Industrie, geschichtlich durchgeführt, hat Marx im vierten Abschnitt des \"Kapital\"ausführlich geschildert. Aber die Bourgeoisie, wie dort ebenfalls nachgewiesen, konnte jenebeschränkten Produktionsmittel nicht in gewaltige Produktionskräfte verwandeln, ohne sieaus Produktionsmitteln des einzelnen in gesellschaftliche, nur von einer Gesamtheit vonMenschen anwendbare Produktionsmittel zu verwandeln. An die Stelle des Spinnrads, desHandwebestuhls, des Schmiedehammers trat die Spinnmaschine, der mechanischeWebstuhl, der Dampfhammer; an die Stelle der Einzelwerkstatt die das Zusammenwirkenvon Hunderten und Tausenden gebietende Fabrik. Und wie die Produktionsmittel, soverwandelte sich die Produktion selbst aus einer Reihe von Einzelhandlungen in eine Reihegesellschaftlicher Akte und die Produkte aus Produkten einzelner in gesellschaftlicheProdukte. Das Garn, das Gewebe, die Metallwaren, die jetzt aus der Fabrik kamen, warendas gemeinsame Produkt vieler Arbeiter, durch deren Hände sie der Reihe nach gehnmußten, ehe sie fertig wurden. Kein einzelner konnte von ihnen sagen: Das habe ichgemacht, das ist mein Produkt.Wo aber die naturwüchsige, planlos allmählich entstandne Teilung der Arbeit innerhalb derGesellschaft Grundform der Produktion ist, da drückt sie den Produkten die Form von Warenauf, deren gegenseitiger Austausch, Kauf und Verkauf, die einzelnen Produzenten in denStand setzt, ihre mannigfachen Bedürfnisse zu befriedigen. Und dies war im Mittelalter derFall. Der Bauer z.B. verkaufte Ackerbauprodukte an den Handwerker und kaufte dafür von4Im Anti-Dühring: Produktivkräfte17


diesem Handwerkserzeugnisse. In diese Gesellschaft von Einzelproduzenten,Warenproduzenten, schob sich nun die neue Produktionsweise ein. Mitten in dienaturwüchsige, planlose Teilung der Arbeit, wie sie in der ganzen Gesellschaft herrschte,stellte sie die planmäßige Teilung der Arbeit, wie sie in der einzelnen Fabrik organisiert war;neben die Einzelproduktion trat die gesellschaftliche Produktion. Die Produkte beider wurdenauf demselben Markt verkauft, also zu wenigstens annähernd gleichen Preisen. Aber dieplanmäßige Organisation war mächtiger als die naturwüchsige Arbeitsteilung; diegesellschaftlich arbeitenden Fabriken stellten ihre Erzeugnisse wohlfeiler her als dievereinzelten Kleinproduzenten. Die Einzelproduktion erlag auf einem Gebiet nach demandern, die gesellschaftliche Produktion revolutionierte die ganze alte Produktionsweise.Aber dieser ihr revolutionärer Charakter wurde so wenig erkannt, daß sie im Gegenteileingeführt wurde als Mittel zur Hebung und Förderung der Warenproduktion. Sie entstand indirekter Anknüpfung an bestimmte, bereits vorgefundne Hebel der Warenproduktion und desWarenaustausches: Kaufmannskapital, Handwerk, Lohnarbeit. Indem sie selbst auftrat alseine neue Form der Warenproduktion, blieben die Aneignungsformen der Warenproduktionauch für sie in voller Geltung.In der Warenproduktion, wie sie sich im Mittelalter entwickelt hatte, konnte die Frage garnicht entstehn, wem das Erzeugnis der Arbeit gehören solle. Der einzelne Produzent hattees, in der Regel, aus ihm gehörendem, oft selbsterzeugtem Rohstoff, mit eignenArbeitsmitteln und mit eigner Handarbeit oder der seiner Familie hergestellt. Es brauchte garnicht erst von ihm angeeignet zu werden, es gehörte ihm ganz von selbst. Das Eigentum amProdukte beruhte also auf eigner Arbeit. Selbst wo fremde Hülfe gebraucht ward, blieb diesein der Regel Nebensache und erhielt häufig außer dem Lohn noch andre Vergütung: Derzünftige Lehrling und Geselle arbeiteten weniger wegen der Kost und des Lohns als wegenihrer eignen Ausbildung zur Meisterschaft. Da kam die Konzentration der Produktionsmittelin großen Werkstätten und Manufakturen, ihre Verwandlung in tatsächlich gesellschaftlicheProduktionsmittel. Aber die gesellschaftlichen Produktionsmittel und Produkte wurdenbehandelt, als wären sie nach wie vor die Produktionsmittel und Produkte einzelner. Hattebisher der Besitzer der Arbeitsmittel sich das Produkt angeeignet, weil es in der Regel seineignes Produkt und fremde Hülfsarbeit die Ausnahme war, so fuhr jetzt der Besitzer derArbeitsmittel fort, sich das Produkt anzueignen, obwohl es nicht mehr sein Produkt war,sondern ausschließlich Produkt fremder Arbeit. So wurden also die nunmehr gesellschaftlicherzeugten Produkte angeeignet nicht von denen, die die Produktionsmittel wirklich inBewegung gesetzt und die Produkte wirklich erzeugt hatten, sondern vom Kapitalisten.Produktionsmittel und Produktion sind wesentlich gesellschaftlich geworden. Aber siewerden unterworfen einer Aneignungsform, die die Privatproduktion einzelner zurVoraussetzung hat, wobei also jeder sein eignes Produkt besitzt und zu Markte bringt. DieProduktionsweise wird dieser Aneignungsform unterworfen, obwohl sie derenVoraussetzung aufhebt.5In diesem Widerspruch, der der neuen Produktionsweise ihrenkapitalistischen Charakter verleiht, liegt die ganze Kollision der Gegenwart bereits im Keim.5 Es braucht hier nicht auseinandergesetzt zu werden, daß, wenn auch die Aneignungsform dieselbebleibt, der Charakter der Aneignung durch den oben geschilderten Vorgang nicht minder revolutioniertwird als die Produktion. Ob ich mir mein eignes Produkt aneigne oder das Produkt andrer, das sindnatürlich zwei sehr verschiedne Arten von Aneignung. Nebenbei: die Lohnarbeit, in der die ganzekapitalistische Produktionsweise bereits im Keime steckt, ist sehr alt; vereinzelt und zerstreut ging siejahrhundertelang her neben der Sklaverei. Aber zur kapitalistischen Produktionsweise entfaltenkonnte sich der Keim erst, als die geschichtlichen Vorbedingungen hergestellt waren.18


Je mehr die neue Produktionsweise auf allen entscheidenden Produktionsfeldern und inallen ökonomisch entscheidenden Ländern zur Herrschaft kam und damit dieEinzelproduktion bis auf unbedeutende Reste verdrängte, desto greller mußte auch an denTag treten die Unverträglichkeit von gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischerAneignung.Die ersten Kapitalisten fanden, wie gesagt, die Form der Lohnarbeit bereits vor. AberLohnarbeit als Ausnahme, als Nebenbeschäftigung, als Aushülfe, als Durchgangspunkt. DerLandarbeiter, der zeitweise taglöhnern ging, hatte seine paar Morgen eignes Land, vondenen allein er zur Not leben konnte. Die Zunftordnungen sorgten dafür, daß der Gesellevon heute in den Meister von morgen überging. Sobald aber die Produktionsmittel ingesellschaftliche verwandelt und in den Händen von Kapitalisten konzentriert wurden,änderte sich dies. Das Produktionsmittel wie das Produkt des kleinen Einzelproduzentenwurde mehr und mehr wertlos; es blieb ihm nichts übrig, als zum Kapitalisten auf Lohn zugehn. Die Lohnarbeit, früher Ausnahme und Aushülfe, wurde Regel und Grundform derganzen Produktion; früher Nebenbeschäftigung, wurde sie jetzt ausschließliche Tätigkeit desArbeiters. Der zeitweilige Lohnarbeiter verwandelte sich in den lebenslänglichen. Die Mengeder lebenslänglichen Lohnarbeiter wurde zudem kolossal vermehrt durch den gleichzeitigenZusammenbruch der feudalen Ordnung, Auflösung der Gefolgschaften der Feudalherren,Vertreibung von Bauern aus ihren Hofstellen etc. Die Scheidung war vollzogen zwischen denin den Händen der Kapitalisten konzentrierten Produktionsmitteln hier und den auf denBesitz von nichts als ihrer Arbeitskraft reduzierten Produzenten dort. Der Widerspruchzwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung tritt an den Tag alsGegensatz von Proletariat und Bourgeoisie.Wir sahen, daß die kapitalistische Produktionsweise sich einschob in eine Gesellschaft vonWarenproduzenten, Einzelproduzenten, deren gesellschaftlicher Zusammenhang vermitteltwurde durch den Austausch ihrer Produkte. Aber jede auf Warenproduktion beruhendeGesellschaft hat das Eigentümliche, daß in ihr die Produzenten die Herrschaft über ihreeignen gesellschaftlichen Beziehungen verloren haben. Jeder produziert für sich mit seinenzufälligen Produktionsmitteln und für sein besondres Austauschbedürfnis. Keiner weiß,wieviel von seinem Artikel auf den Markt kommt, wieviel davon überhaupt gebraucht wird,keiner weiß, ob sein Einzelprodukt einen wirklichen Bedarf vorfindet, ob er seine Kostenherausschlagen oder überhaupt wird verkaufen können. Es herrscht Anarchie dergesellschaftlichen Produktion. Aber die Warenproduktion, wie jede andere Produktionsform,hat ihre eigentümlichen, inhärenten, von ihr untrennbaren Gesetze; und diese Gesetzesetzen sich durch, trotz der Anarchie, in ihr, durch sie. Sie kommen zum Vorschein in dereinzigen, fortbestehenden Form des gesellschaftlichen Zusammenhangs, im Austausch, undmachen sich geltend gegenüber den einzelnen Produzenten als Zwangsgesetze derKonkurrenz. Sie sind diesen Produzenten also anfangs selbst unbekannt und müssen erstdurch lange Erfahrung nach und nach von ihnen entdeckt werden. Sie setzen sich alsodurch, ohne die Produzenten und gegen die Produzenten, als blindwirkende Naturgesetzeihrer Produktionsform. Das Produkt beherrscht die Produzenten.In der mittelalterlichen Gesellschaft, namentlich in den ersten Jahrhunderten, war dieProduktion wesentlich auf den Selbstgebrauch gerichtet. Sie befriedigte vorwiegend nur dieBedürfnisse des Produzenten und seiner Familie. Wo, wie auf dem Lande, persönlicheAbhängigkeitsverhältnisse bestanden, trug sie auch bei zur Befriedigung der Bedürfnisse19


des Feudalherrn. Hierbei fand also kein Austausch statt, die Produkte nahmen daher auchnicht den Charakter von Waren an. Die Familie des Bauern produzierte fast alles, was siebrauchte, Geräte und Kleider nicht minder als Lebensmittel. Erst als sie dahin kam, einenÜberschuß über ihren eignen Bedarf und über die dem Feudalherrn geschuldetenNaturalabgaben zu produzieren, erst da produzierte sie auch Waren; dieser Überschuß, inden gesellschaftlichen Austausch geworfen, zum Verkauf ausgeboten, wurde Ware. Diestädtischen Handwerker mußten allerdings schon gleich anfangs für den Austauschproduzieren. Aber auch sie erarbeiteten den größten Teil ihres Eigenbedarfs selbst; siehatten Gärten und kleine Felder; sie schickten ihr Vieh in den Gemeindewald, der ihnenzudem Nutzholz und Feuerung lieferte, die Frauen spannen Flachs, Wolle usw. DieProduktion zum Zweck des Austausches, die Warenproduktion, war erst im Entstehn. Daherbeschränkter Austausch, beschränkter Markt, stabile Produktionsweise, lokaler Abschlußnach außen, lokale Vereinigung nach innen; die Mark6 auf dem Lande, die Zunft in derStadt.Mit der Erweiterung der Warenproduktion aber, und namentlich mit dem Auftreten derkapitalistischen Produktionsweise, traten auch die bisher schlummernden Gesetze derWarenproduktion offner und mächtiger in Wirksamkeit. Die alten Verbände wurden gelockert,die alten Abschließungsschranken durchbrochen, die Produzenten mehr und mehr inunabhängige, vereinzelte Warenproduzenten verwandelt. Die Anarchie dergesellschaftlichen Produktion trat an den Tag und wurde mehr und mehr auf die Spitzegetrieben. Das Hauptwerkzeug aber, womit die kapitalistische Produktionsweise dieseAnarchie in der gesellschaftlichen Produktion steigerte, war das gerade Gegenteil derAnarchie: die steigende Organisation der Produktion, als gesellschaftlicher, in jedemeinzelnen Produktionsetablissement. Mit diesem Hebel machte sie der alten friedlichenStabilität ein Ende. Wo sie in einem Industriezweig eingeführt wurde, litt sie keine ältreMethode des Betriebs neben sich. Wo sie sich des Handwerks bemächtigte, vernichtete siedas alte Handwerk. Das Arbeitsfeld wurde ein Kampfplatz. Die großen geographischenEntdeckungen und die ihnen folgenden Kolonisierungen vervielfältigten das Absatzgebietund beschleunigten die Verwandlung des Handwerks in die Manufaktur. Nicht nur brach derKampf aus zwischen den einzelnen Lokalproduzenten; die lokalen Kämpfe wuchsenihrerseits an zu nationalen, den Handelskriegen des 17. und 18. Jahrhunderts. Die großeIndustrie endlich und die Herstellung des Weltmarkts haben den Kampf universell gemachtund gleichzeitig ihm eine unerhörte Heftigkeit gegeben. Zwischen einzelnen Kapitalisten wiezwischen ganzen Industrien und ganzen Ländern entscheidet die Gunst der natürlichen odergeschaffnen Produktionsbedingungen über die Existenz. Der Unterliegende wirdschonungslos beseitigt. Es ist der Darwinsche Kampf ums Einzeldasein, aus der Natur mitpotenzierter Wut übertragen in die Gesellschaft. Der Naturstandpunkt des Tiers erscheint alsGipfelpunkt der menschlichen Entwicklung. Der Widerspruch zwischen gesellschaftlicherProduktion und kapitalistischer Aneignung stellt sich nun dar als Gegensatz zwischen derOrganisation der Produktion in der einzelnen Fabrik und der Anarchie der Produktion in derganzen Gesellschaft.In diesen beiden Erscheinungsformen des ihr durch ihren Ursprung immanentenWiderspruchs bewegt sich die kapitalistische Produktionsweise, beschreibt sie auswegslosjenen \"fehlerhaften Kreislauf\", den schon Fourier an ihr entdeckte. Was Fourier allerdings zu6 Siehe Anhang: Die Mark20


seiner Zeit noch nicht sehn konnte, ist, daß sich dieser Kreislauf allmählich verengert, daßdie Bewegung vielmehr eine Spirale darstellt und ihr Ende erreichen muß, wie die derPlaneten, durch Zusammenstoß mit dem Zentrum. Es ist die treibende Kraft dergesellschaftlichen Anarchie der Produktion, die die große Mehrzahl der Menschen mehr undmehr in Proletarier verwandelt, und es sind wieder die Proletariermassen, die schließlich derProduktionsanarchie ein Ende machen werden. Es ist die treibende Kraft der sozialenProduktionsanarchie, die die unendliche Vervollkommnungsfähigkeit der Maschinen dergroßen Industrie in ein Zwangsgebot verwandelt für jeden einzelnen industriellenKapitalisten, seine Maschinerie mehr und mehr zu vervollkommnen, bei Strafe desUntergangs.Aber Vervollkommnung der Maschinerie, das heißt Überflüssigmachung vonMenschenarbeit. Wenn die Einführung und Vermehrung der Maschinerie Verdrängung vonMillionen von Handarbeitern durch wenige Maschinenarbeiter bedeutet, so bedeutetVerbesserung der Maschinerie Verdrängung von mehr und mehr Maschinenarbeitern selbstund in letzter Instanz Erzeugung einer das durchschnittliche Beschäftigungsbedürfnis desKapitals überschreitenden Anzahl disponibler Lohnarbeiter, einer vollständigen industriellenReservearmee, wie ich sie schon 18457 nannte, disponibel für die Zeiten, wo die Industriemit Hochdruck arbeitet, aufs Pflaster geworfen durch den notwendig folgenden Krach, zuallen Zeiten ein Bleigewicht an den Füßen der Arbeiterklasse in ihrem Existenzkampf mitdem Kapital, ein Regulator zur Niederhaltung des Arbeitslohns auf dem dem kapitalistischenBedürfnis angemeßnen niedrigen Niveau. So geht es zu, daß die Maschinerie, um mit Marxzu reden, das machtvollste Kriegsmittel des Kapitals gegen die Arbeiterklasse wird, daß dasArbeitsmittel dem Arbeiter fortwährend das Lebensmittel aus der Hand schlägt, daß daseigne Produkt des Arbeiters sich verwandelt in ein Werkzeug zur Knechtung des Arbeiters.8So kommt es, daß die Ökonomisierung der Arbeitsmittel von vornherein zugleichrücksichtsloseste Verschwendung der Arbeitskraft und Raub an den normalenVoraussetzungen der Arbeitsfunktion wird; daß die Maschinerie, das gewaltigste Mittel zurVerkürzung der Arbeitszeit, umschlägt in das unfehlbarste Mittel, alle Lebenszeit desArbeiters und seiner Familie in disponible Arbeitszeit für die Verwertung des Kapitals zuverwandeln; so kommt es, daß die Überarbeitung der einen die Voraussetzung wird für dieBeschäftigungslosigkeit der andern und daß die große Industrie, die den ganzen Erdkreisnach neuen Konsumenten abjagt, zu Hause die Konsumtion der Massen auf einHungerminimum beschränkt und sich damit den eignen innern Markt untergräbt. \"DasGesetz, welches die relative Surpluspopulation oder industrielle Reservearmee stets mitUmfang und Energie der Kapitalakkumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiterfester an das Kapital als den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen. Esbedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. DieAkkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend,Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Bestialisierung und moralischer Degradation auf demGegenpol, d.h. auf Seite der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert.\"9 Undvon der kapitalistischen Produktionsweise eine andre Verteilung der Produkte erwartenhieße verlangen, die Elektroden einer Batterie sollten das Wasser unzersetzt lassen,9 Marx, \"Kapital\", S. 671.8 Siehe: Karl Marx, \"Das Kapital. Erster Band\", in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, S. 459und 5117In “Lage der arbeitenden Klasse in England”21


solange sie mit der Batterie in Verbindung stehn, und nicht am positiven Pol Sauerstoffentwickeln und am negativen Wasserstoff.Wir sahen, wie die aufs höchste gesteigerte Verbesserungsfähigkeit der modernenMaschinerie, vermittelst der Anarchie der Produktion in der Gesellschaft, sich verwandelt inein Zwangsgebot für den einzelnen industriellen Kapitalisten, seine Maschinerie stets zuverbessern, ihre Produktionskraft stets zu erhöhn. In ein ebensolches Zwangsgebotverwandelt sich für ihn die bloße faktische Möglichkeit, seinen Produktionsbereich zuerweitern. Die enorme Ausdehnungskraft der großen Industrie, gegen die diejenige derGase ein wahres Kinderspiel ist, tritt uns jetzt vor die Augen als ein qualitatives undquantitatives Ausdehnungsbedürfnis, das jedes Gegendrucks spottet. Der Gegendruck wirdgebildet durch die Konsumtion, den Absatz, die Märkte für die Produkte der großenIndustrie. Aber die Ausdehnungsfähigkeit der Märkte, extensive wie intensive, wirdbeherrscht zunächst durch ganz andre, weit weniger energisch wirkende Gesetze. DieAusdehnung der Märkte kann nicht Schritt halten mit der Ausdehnung der Produktion. DieKollision wird unvermeidlich, und da sie keine Lösung erzeugen kann, solange sie nicht diekapitalistische Produktionsweise selbst sprengt, wird sie periodisch. Die kapitalistischeProduktion erzeugt einen neuen \"fehlerhaften Kreislauf\".In der Tat, seit 1825, wo die erste allgemeine Krisis ausbrach, geht die ganze industrielleund kommerzielle Welt, die Produktion und der Austausch sämtlicher zivilisierten Völker undihrer mehr oder weniger barbarischen Anhängsel, so ziemlich alle zehn Jahre einmal ausden Fugen. Der Verkehr stockt, die Märkte sind überfüllt, die Produkte liegen da, ebensomassenhaft wie unabsetzbar, das bare Geld wird unsichtbar, der Kredit verschwindet, dieFabriken stehn still, die arbeitenden Massen ermangeln der Lebensmittel, weil sie zuvielLebensmittel produziert haben. Bankerott folgt auf Bankerott, Zwangsverkauf aufZwangsverkauf. Jahrelang dauert die Stockung, Produktivkräfte wie Produkte werdenmassenhaft vergeudet und zerstört, bis die aufgehäuften Warenmassen unter größrer odergeringrer Entwertung endlich abfließen, bis Produktion und Austausch allmählich wieder inGang kommen. Nach und nach beschleunigt sich die Gangart, fällt in Trab, der industrielleTrab geht über in Galopp, und dieser steigert sich wieder bis zur zügellosen Karriere einervollständigen industriellen, kommerziellen, kreditlichen und spekulativen Steeple-chase, umendlich nach den halsbrechendsten Sprüngen wieder anzulangen im Graben des Krachs.Und so immer von neuem. Das haben wir nun seit 1825 volle fünfmal erlebt und erleben esin diesem Augenblick (1877) zum sechsten Mal. Und der Charakter dieser Krisen ist soscharf ausgeprägt, daß Fourier sie alle traf, als er die erste bezeichnete als: crisepléthorique, Krisis aus Überfluß.In den Krisen kommt der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion undkapitalistischer Aneignung zum gewaltsamen Ausbruch. Der Warenumlauf ist momentanvernichtet: das Zirkulationsmittel, das Geld, wird Zirkulationshindernis; alle Gesetze derWarenproduktion und Warenzirkulation werden auf den Kopf gestellt. Die ökonomischeKollision hat ihren Höhepunkt erreicht: Die Produktionsweise rebelliert gegen dieAustauschweise.Die Tatsache, daß die gesellschaftliche Organisation der Produktion innerhalb der Fabriksich zu dem Punkt entwickelt hat, wo sie unverträglich geworden ist mit der neben und überihr bestehenden Anarchie der Produktion in der Gesellschaft- diese Tatsache wird den22


Kapitalisten selbst handgreiflich gemacht durch die gewaltsame Konzentration der Kapitale,die sich während der Krisen vollzieht vermittelst des Ruins vieler großen und noch mehrkleiner Kapitalisten. Der gesamte Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweiseversagt unter dem Druck der von ihr selbst erzeugten Produktivkräfte. Sie kann diese Massevon Produktionsmitteln nicht mehr alle in Kapital verwandeln; sie liegen brach, undebendeshalb muß auch die industrielle Reservearmee brachliegen. Produktionsmittel,Lebensmittel, disponible Arbeiter, alle Elemente der Produktion und des allgemeinenReichtums sind im Überfluß vorhanden. Aber \"der Oberfluß wird Quelle der Not und desMangels\" (Fourier), weil er es gerade ist, der die Verwandlung der Produktions- undLebensmittel in Kapital verhindert. Denn in der kapitalistischen Gesellschaft können dieProduktionsmittel nicht in Tätigkeit treten, es sei denn, sie hätten sich zuvor in Kapital, inMittel zur Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft verwandelt. Wie ein Gespenst steht dieNotwendigkeit der Kapitaleigenschaft der Produktions- und Lebensmittel zwischen ihnen undden Arbeitern. Sie allein verhindert das Zusammentreten der sachlichen und derpersönlichen Hebel der Produktion; sie allein verbietet den Produktionsmitteln, zu fungieren,den Arbeitern, zu arbeiten und zu leben. Einesteils also wird die kapitalistischeProduktionsweise ihrer eignen Unfähigkeit zur ferneren Verwaltung dieser Produktivkräfteüberführt. Andrerseits drängen diese Produktivkräfte selbst mit steigender Macht nachAufhebung des Widerspruchs, nach ihrer Erlösung von ihrer Eigenschaft als Kapital, nachtatsächlicher Anerkennung ihres Charakters als gesellschaftlicher Produktivkräfte.Es ist dieser Gegendruck der gewaltig anwachsenden Produktivkräfte gegen ihreKapitaleigenschaft, dieser steigende Zwang zur Anerkennung ihrer gesellschaftlichen Natur,der die Kapitalistenklasse selbst nötigt, mehr und mehr, soweit dies innerhalb desKapitalverhältnisses überhaupt möglich, sie als gesellschaftliche Produktivkräfte zubehandeln. Sowohl die industrielle Hochdruckperiode mit ihrer schrankenlosenKreditaufblähung, wie der Krach selbst durch den Zusammenbruch großer kapitalistischerEtablissements, treiben zu derjenigen Form der Vergesellschaftung größter Massen vonProduktionsmitteln, die uns in den verschiednen Arten von Aktiengesellschaftengegenübertritt. Manche dieser Produktions- und Verkehrsmittel sind von vornherein sokolossal, daß sie, wie die Eisenbahnen, jede andere Form kapitalistischer Ausbeutungausschließen. Auf einer gewissen Entwicklungsstufe genügt auch diese Form nicht mehr;die inländischen Großproduzenten eines und desselben Industriezweigs vereinigen sich zueinem \"Trust\", einer Vereinigung zum Zweck der Regulierung der Produktion; sie bestimmendas zu produzierende Gesamtquantum, verteilen es unter sich und erzwingen so den imvoraus festgesetzten Verkaufspreis. Da solche Trusts aber bei der ersten schlechtenGeschäftszeit meist aus dem Leim gehn, treiben sie eben dadurch zu einer nochkonzentrierteren Vergesellschaftung: Der ganze Industriezweig verwandelt sich in eineeinzige große Aktiengesellschaft, die inländische Konkurrenz macht dem inländischenMonopol dieser einen Gesellschaft Platz; wie dies noch 1890 mit der englischenAlkaliproduktion geschehen, die jetzt, nach Verschmelzung sämtlicher 48 großen Fabriken,in der Hand einer einzigen, einheitlich geleiteten Gesellschaft mit einem Kapital von 120Millionen Mark betrieben wird.In den Trusts schlägt die freie Konkurrenz um ins Monopol, kapituliert die planloseProduktion der kapitalistischen Gesellschaft vor der planmäßigen Produktion derhereinbrechenden sozialistischen Gesellschaft. Allerdings zunächst noch zu Nutz undFrommen der Kapitalisten. Hier aber wird die Ausbeutung so handgreiflich, daß sie23


zusammenbrechen muß. Kein Volk würde eine durch Trusts geleitete Produktion, eine sounverhüllte Ausbeutung der Gesamtheit durch eine kleine Bande von Kuponabschneidernsich gefallen lassen.So oder so, mit oder ohne Trusts, muß schließlich der offizielle Repräsentant derkapitalistischen Gesellschaft, der Staat, die Leitung der Produktion übernehmen.10 DieseNotwendigkeit der Verwandlung in Staatseigentum tritt zuerst hervor bei den großenVerkehrsanstalten: Post, Telegraphen, Eisenbahnen.Wenn die Krisen die Unfähigkeit der Bourgeoisie zur fernern Verwaltung der modernenProduktivkräfte aufdeckten, so zeigt die Verwandlung der großen Produktions- undVerkehrsanstalten in Aktiengesellschaften, Trusts und Staatseigentum die Entbehrlichkeitder Bourgeoisie für jenen Zweck. Alle gesellschaftlichen Funktionen des Kapitalisten werdenjetzt von besoldeten Angestellten versehn. Der Kapitalist hat keine gesellschaftliche Tätigkeitmehr, außer Revenueneinstreichen, Kuponsabschneiden und Spielen an der Börse, wo dieverschiednen Kapitalisten untereinander sich ihr Kapital abnehmen. Hat die kapitalistischeProduktionsweise zuerst Arbeiter verdrängt, so verdrängt sie jetzt die Kapitalisten undverweist sie, ganz wie die Arbeiter, in die überflüssige Bevölkerung, wenn auch zunächstnoch nicht in die industrielle Reservearmee.Aber weder die Verwandlung in Aktiengesellschaften und Trusts noch die in Staatseigentumhebt die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte auf. Bei den Aktiengesellschaften und Trustsliegt dies auf der Hand. Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sichdie bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen derkapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe sowohl der Arbeiterwie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlichkapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehrProduktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicherGesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter,Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitzegetrieben. Aber auf der Spitze schlägt es um. Das Staatseigentum an den Produktivkräftenist nicht Lösung des Konflikts, aber es birgt in sich das formelle Mittel, die Handhabe derLösung.10 Ich sage, muß. Denn nur in dem Falle, daß die Produktions- oder Verkehrsmittel der Leitung durchAktiengesellschaften wirklich entwachsen sind, daß also die Verstaatlichung ökonomisch unabweisbargeworden, nur in diesem Falle bedeutet sie, auch wenn der heutige Staat sie vollzieht, einenökonomischen Fortschritt, die Erreichung einer neuen Vorstufe zur Besitzergreifung allerProduktivkräfte durch die Gesellschaft selbst. Es ist aber neuerdings, seit Bismarck sich aufsVerstaatlichen geworfen, ein gewisser falscher Sozialismus aufgetreten und hie und da sogar ineinige Wohldienerei ausgeartet, der jede Verstaatlichung, selbst die Bismarcksche, ohne weiteres fürsozialistisch erklärt. Allerdings, wäre die Verstaatlichung des Tabaks sozialistisch, so zähltenNapoleon und Metternich mit unter den Gründern des Sozialismus. Wenn der belgische Staat ausganz alltäglichen politischen und finanziellen Gründen seine Haupteisenbahnen selbst baute, wennBismarck ohne jede ökonomische Notwendigkeit die Hauptbahnlinien Preußens verstaatlichte,einfach, um sie für den Kriegsfall besser einrichten und ausnützen zu können, um dieEisenbahnbeamten zu Regierungsstimmvieh zu erziehn und hauptsächlich, um sich eine neue, vonParlamentsbeschlüssen unabhängige Einkommensquelle zu verschaffen - so waren das keineswegssozialistische Schritte, direkt oder indirekt, bewußt oder unbewußt. Sonst wären auch die königlicheSeehandlung, die königliche Porzellanmanufaktur und sogar der Kompanieschneider beim Militärsozialistische Einrichtungen oder gar die unter Friedrich Wilhelm III. in den dreißiger Jahren allesErnstes von einem Schlaumeier vorgeschlagene Verstaatlichung der - Bordelle.24


Diese Lösung kann nur darin liegen, daß die gesellschaftliche Natur der modernenProduktivkräfte tatsächlich anerkannt, daß also die Produktions-, Aneignungs- undAustauschweise in Einklang gesetzt wird mit dem gesellschaftlichen Charakter derProduktionsmittel. Und dies kann nur dadurch geschehn, daß die Gesellschaft offen undohne Umwege Besitz ergreift von den jeder andren Leitung außer der ihrigen entwachsenenProduktivkräften. Damit wird der gesellschaftliche Charakter der Produktionsmittel undProdukte, der sich heute gegen die Produzenten selbst kehrt, der die Produktions- undAustauschweise periodisch durchbricht und sich nur als blind wirkendes Naturgesetzgewalttätig und zerstörend durchsetzt, von den Produzenten mit vollem Bewußtsein zurGeltung gebracht und verwandelt sich aus einer Ursache der Störung und des periodischenZusammenbruchs in den mächtigsten Hebel der Produktion selbst.Die gesellschaftlich wirksamen Kräfte wirken ganz wie die Naturkräfte: blindlings,gewaltsam, zerstörend, solange wir sie nicht erkennen und nicht mit ihnen rechnen. Habenwir sie aber einmal erkannt, ihre Tätigkeit, ihre Richtungen, ihre Wirkungen begriffen, sohängt es nur von uns ab, sie mehr und mehr unserm Willen zu unterwerfen und vermittelstihrer unsre Zwecke zu erreichen. Und ganz besonders gilt dies von den heutigen gewaltigenProduktivkräften. Solange wir uns hartnäckig weigern, ihre Natur und ihren Charakter zuverstehn - und gegen dies Verständnis sträubt sich die kapitalistische Produktionsweise undihre Verteidiger -, solange wirken diese Kräfte sich aus, trotz uns, gegen uns, solangebeherrschen sie uns, wie wir das ausführlich dargestellt haben. Aber einmal in ihrer Naturbegriffen, können sie in den Händen der assoziierten Produzenten aus dämonischenHerrschern in willige Diener verwandelt werden. Es ist der Unterschied zwischen derzerstörenden Gewalt der Elektrizität im Blitze des Gewitters und der gebändigten Elektrizitätdes Telegraphen und des Lichtbogens; der Unterschied der Feuersbrunst und des im Dienstdes Menschen wirkenden Feuers. Mit dieser Behandlung der heutigen Produktivkräfte nachihrer endlich erkannten Natur tritt an die Stelle der gesellschaftlichen Produktionsanarchieeine gesellschaftlich-planmäßige Regelung der Produktion nach den Bedürfnissen derGesamtheit wie jedes einzelnen. Damit wird die kapitalistische Aneignungsweise, in der dasProdukt zuerst den Produzenten, dann aber auch den Aneigner knechtet, ersetzt durch diein der Natur der modernen Produktionsmittel selbst begründete Aneignungsweise derProdukte: einerseits direkt gesellschaftliche Aneignung als Mittel zur Erhaltung undErweiterung der Produktion, andrerseits direkt individuelle Aneignung als Lebens- undGenußmittel.Indem die kapitalistische Produktionsweise mehr und mehr die große Mehrzahl derBevölkerung in Proletarier verwandelt, schafft sie die Macht, die diese Umwälzung, beiStrafe des Untergangs, zu vollziehn genötigt ist. Indem sie mehr und mehr auf Verwandlungder großen vergesellschafteten Produktionsmittel in Staatseigentum drängt, zeigt sie selbstden Weg an zur Vollziehung der Umwälzung. Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt undverwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbstals Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf unddamit auch den Staat als Staat. Die bisherige, sich in Klassengegensätzen bewegendeGesellschaft hatte den Staat nötig, d.h. eine Organisation der jedesmaligen ausbeutendenKlasse zur Aufrechterhaltung ihrer äußern Produktionsbedingungen, also namentlich zurgewaltsamen Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse in den durch die bestehendeProduktionsweise gegebnen Bedingungen der Unterdrückung (Sklaverei, Leibeigenschaftoder Hörigkeit, Lohnarbeit). Der Staat war der offizielle Repräsentant der ganzen25


Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einer sichtbaren Körperschaft, aber er war dies nur,insofern er der Staat derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die ganzeGesellschaft vertrat: im Altertum Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im Mittelalter| desFeudaladels, in unsrer Zeit der Bourgeoisie. Indem er endlich tatsächlich Repräsentant derganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst überflüssig. Sobald es keineGesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit derKlassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampfums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind,gibt es nichts mehr zu reprimieren, das eine besondre Repressionsgewalt, einen Staat, nötigmachte. Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaftauftritt - die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft, ist zugleichsein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt ingesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig undschläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltungvon Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht \"abgeschafft\",er stirbt ab. Hieran ist die Phrase vom \"freien Volksstaat\" zu messen, also sowohl nach ihrerzeitweiligen agitatorischen Berechtigung wie nach ihrer endgültigen wissenschaftlichenUnzulänglichkeit; hieran ebenfalls die Forderung der sogenannten Anarchisten, der Staatsolle von heute auf morgen abgeschafft werden.Die Besitzergreifung der sämtlichen Produktionsmittel durch die Gesellschaft hat, seit demgeschichtlichen Auftreten der kapitalistischen Produktionsweise, einzelnen wie ganzenSekten öfters mehr oder weniger unklar als Zukunftsideal vorgeschwebt. Aber sie konnteerst möglich, erst geschichtliche Notwendigkeit werden, als die tatsächlichen Bedingungenihrer Durchführung vorhanden waren. Sie, wie jeder andre gesellschaftliche Fortschritt, wirdausführbar nicht durch die gewonnene Einsicht, daß das Dasein der Klassen derGerechtigkeit, der Gleichheit etc. widerspricht, nicht durch den bloßen Willen, diese Klassenabzuschaffen, sondern durch gewisse neue ökonomische Bedingungen. Die Spaltung derGesellschaft in eine ausbeutende und eine ausgebeutete, eine herrschende und eineunterdrückte Klasse war die notwendige Folge der früheren geringen Entwicklung derProduktion. Solange die gesellschaftliche Gesamtarbeit nur einen Ertrag liefert, der das zurnotdürftigen Existenz aller Erforderliche nur um wenig übersteigt, solange also die Arbeit alleoder fast alle Zeit der großen Mehrzahl der Gesellschaftsglieder in Anspruch nimmt, solangeteilt sich diese Gesellschaft notwendig in Klassen. Neben der ausschließlich der Arbeitfrönenden großen Mehrheit bildet sich eine von direkt-produktiver Arbeit befreite Klasse, diedie gemeinsamen Angelegenheiten der Gesellschaft besorgt: Arbeitsleitung,Staatsgeschäfte, Justiz, Wissenschaften, Künste usw. Es ist also das Gesetz derArbeitsteilung, das der Klassenteilung zugrunde liegt. Aber das hindert nicht, daß dieseEinteilung in Klassen nicht durch Gewalt und Raub, List und Betrug durchgesetzt wordenund daß die herrschende Klasse, einmal im Sattel, nie verfehlt hat, ihre Herrschaft aufKosten der arbeitenden Klasse zu befestigen und die gesellschaftliche Leitungumzuwandeln in gesteigerte Ausbeutung der Massen.Aber wenn hiernach die Einteilung in Klassen eine gewisse geschichtliche Berechtigung hat,so hat sie eine solche doch nur für einen gegebnen Zeitraum, für gegebne gesellschaftlicheBedingungen. Sie gründete sich auf die Unzulänglichkeit der Produktion; sie wird weggefegtwerden durch die volle Entfaltung der modernen Produktivkräfte. Und in der Tat hat dieAbschaffung der gesellschaftlichen Klassen zur Voraussetzung einen geschichtlichen26


Entwicklungsgrad, auf dem das Bestehn nicht bloß dieser oder jener bestimmtenherrschenden Klasse, sondern einer herrschenden Klasse überhaupt, also desKlassenunterschieds selbst, ein Anachronismus geworden, veraltet ist. Sie hat also zurVoraussetzung einen Höhegrad der Entwicklung der Produktion, auf dem Aneignung derProduktionsmittel und Produkte und damit der politischen Herrschaft, des Monopols derBildung und der geistigen Leitung durch eine besondre Gesellschaftsklasse nicht nurüberflüssig, sondern auch ökonomisch, politisch und intellektuell ein Hindernis derEntwicklung geworden ist. Dieser Punkt ist jetzt erreicht. Ist der politische und intellektuelleBankerott der Bourgeoisie ihr selbst kaum noch ein Geheimnis, so wiederholt sich ihrökonomischer Bankerott regelmäßig alle zehn Jahre. In jeder Krise erstickt die Gesellschaftunter der Wucht ihrer eignen, für sie unverwendbaren Produktivkräfte und Produkte undsteht hülflos vor dem absurden Widerspruch, daß die Produzenten nichts zu konsumierenhaben, weil es an Konsumenten fehlt. Die Expansionskraft der Produktionsmittel sprengt dieBande, die die kapitalistische Produktionsweise ihr angelegt. Ihre Befreiung aus diesenBanden ist die einzige Vorbedingung einer ununterbrochnen, stets rascher fortschreitendenEntwicklung der Produktivkräfte und damit einer praktisch schrankenlosen Steigerung derProduktion selbst. Damit nicht genug. Die gesellschaftliche Aneignung der Produktionsmittelbeseitigt nicht nur die jetzt bestehende künstliche Hemmung der Produktion, sondern auchdie positive Vergeudung und Verheerung von Produktivkräften und Produkten, diegegenwärtig die unvermeidliche Begleiterin der Produktion ist und ihren Höhepunkt in denKrisen erreicht. Sie setzt ferner eine Masse von Produktionsmitteln und Produkten für dieGesamtheit frei durch Beseitigung der blödsinnigen Luxusverschwendung der jetztherrschenden Klassen und ihrer politischen Repräsentanten. Die Möglichkeit, vermittelst dergesellschaftlichen Produktion allen Gesellschaftsgliedern eine Existenz zu sichern, die nichtnur materiell vollkommen ausreichend ist und von Tag zu Tag reicher wird, sondern die ihnenauch die vollständige freie Ausbildung und Betätigung ihrer körperlichen und geistigenAnlagen garantiert, diese Möglichkeit ist jetzt zum ersten Male da, aber sie ist da.11Mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist dieWarenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über die Produzenten. DieAnarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird ersetzt durch planmäßigebewußte Organisation. Der Kampf ums Einzeldasein hört auf. Damit erst scheidet derMensch, in gewissem Sinn, endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischenDaseinsbedingungen in wirklich menschliche. Der Umkreis der die Menschen umgebendenLebensbedingungen, der die Menschen bis jetzt beherrschte, tritt jetzt unter die Herrschaftund Kontrolle der Menschen, die zum ersten Male bewußte, wirkliche Herren der Natur, weilund indem sie Herren ihrer eignen Vergesellschaftung werden. Die Gesetze ihres eignen11 Ein paar Zahlen mögen eine annähernde Vorstellung geben von der enormen Expansionskraft dermodernen Produktionsmittel, selbst unter dem kapitalistischen Druck. Nach der Berechnung vonGiffen betrug der Gesamtreichtum von Großbritannien und Irland in runder Zahl:1814 2200 Millionen Pfd. St. = 44 Milliarden Mark1865 6100 Millionen Pfd. St. = 122 Milliarden Mark1875 8500 Millionen Pfd. St. = 170 Milliarden MarkWas die Verheerung von Produktionsmitteln und Produkten in den Krisen betrifft, so wurde auf dem 2.Kongreß deutscher Industrieller, Berlin, 21. Februar 1878, der Gesamtverlust allein der deutschenEisenindustrie im letzten Krach auf 455 Millionen Mark berechnet.27


gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende Naturgesetzegegenüberstanden, werden dann von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandtund damit beherrscht. Die eigne Vergesellschaftung der Menschen, die ihnen bisher als vonNatur und Geschichte aufgenötigt gegenüberstand, wird jetzt ihre freie Tat. Die objektiven,fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrolle derMenschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollemBewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetztengesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maß auch die von ihnengewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich derNotwendigkeit in das Reich der Freiheit.Fassen wir zum Schluß unsern Entwicklungsgang kurz zusammen:I. Mittelalterliche Gesellschaft: Kleine Einzelproduktion. Produktionsmittel für denEinzelgebrauch zugeschnitten, daher urwüchsig-unbehülflich, kleinlich, von zwerghafterWirkung. Produktion für den unmittelbaren Verbrauch, sei es des Produzenten selbst, sei esseines Feudalherrn. Nur da, wo ein Überschuß der Produktion über diesen Verbrauchstattfindet, wird dieser Überschuß zum Verkauf ausgeboten und verfällt dem Austausch:Warenproduktion also erst im Entstehn; aber schon jetzt enthält sie in sich, im Keim, dieAnarchie in der gesellschaftlichen Produktion.II. Kapitalistische Revolution: Umwandlung der Industrie zuerst vermittelst der einfachenKooperation und der Manufaktur, Konzentration der bisher zerstreuten Produktionsmittel ingroßen Werkstätten, damit ihre Verwandlung aus Produktionsmittel des einzelnen ingesellschaftliche - eine Verwandlung, die die Form des Austausches im ganzen und großennicht berührt. Die alten Aneignungsformen bleiben in Kraft. Der Kapitalist tritt auf: In seinerEigenschaft als Eigentümer der Produktionsmittel eignet er sich auch die Produkte an undmacht sie zu Waren. Die Produktion ist ein gesellschaftlicher Akt geworden; der Austauschund mit ihm die Aneignung bleiben individuelle Akte, Akte des einzelnen: Dasgesellschaftliche Produkt wird angeeignet vom Einzelkapitalisten. Grundwiderspruch, ausdem alle Widersprüche entspringen, in denen die heutige Gesellschaft sich bewegt und diedie große Industrie offen an den Tag bringt.● A. Scheidung des Produzenten von den Produktionsmitteln. Verurteilung desArbeiters zu lebenslänglicher Lohnarbeit. Gegensatz von Proletariat und Bourgeoisie.● B. Wachsendes Hervortreten und steigende Wirksamkeit der Gesetze, die dieWarenproduktion beherrschen. Zügelloser Konkurrenzkampf. Widerspruch dergesellschaftlichen Organisation in der einzelnen Fabrik und der gesellschaftlichenAnarchie in der Gesamtproduktion.● C. Einerseits Vervollkommnung der Maschinerie, durch die Konkurrenz zumZwangsgebot für jeden einzelnen Fabrikanten gemacht und gleichbedeutend mitstets steigender Außerdienstsetzung von Arbeitern: industrielle Reservearmee.Andrerseits schrankenlose Ausdehnung der Produktion, ebenfalls Zwangsgesetz derKonkurrenz für jeden Fabrikanten. Von beiden Seiten unerhörte Entwicklung derProduktivkräfte, Überschuß des Angebots über die Nachfrage, Überproduktion,Überfüllung der Märkte, zehnjährige Krisen, fehlerhafter Kreislauf: Überfluß hier, vonProduktionsmitteln und Produkten - Überfluß dort, von Arbeitern ohne Beschäftigungund ohne Existenzmittel; aber diese beiden Hebel der Produktion und28


gesellschaftlichen Wohlstands können nicht zusammentreten, weil die kapitalistischeForm der Produktion den Produktivkräften verbietet, zu wirken, den Produkten, zuzirkulieren, es sei denn, sie hätten sich zuvor in Kapital verwandelt: was gerade ihreigner Überfluß verhindert. Der Widerspruch hat sich gesteigert zum Widersinn: DieProduktionsweise rebelliert gegen die Austauschform. Die Bourgeoisie ist überführtder Unfähigkeit, ihre eignen gesellschaftlichen Produktivkräfte fernerhin zu leiten.● D. Teilweise Anerkennung des gesellschaftlichen Charakters der Produktivkräfte, denKapitalisten selbst aufgenötigt. Aneignung der großen Produktions- undVerkehrsorganismen, erst durch Aktiengesellschaften, später durch Trusts, sodanndurch den Staat. Die Bourgeoisie erweist sich als überflüssige Klasse; alle ihregesellschaftlichen Funktionen werden jetzt erfüllt durch besoldete Angestellte.III. Proletarische Revolution, Auflösung der Widersprüche: Das Proletariat ergreift dieöffentliche Gewalt und verwandelt kraft dieser Gewalt, die den Händen der Bourgeoisieentgleitenden gesellschaftlichen Produktionsmittel in öffentliches Eigentum. Durch diesenAkt befreit es die Produktionsmittel von ihrer bisherigen Kapitaleigenschaft und gibt ihremgesellschaftlichen Charakter volle Freiheit, sich durchzusetzen. Eine gesellschaftlicheProduktion nach vorherbestimmtem Plan wird nunmehr möglich. Die Entwicklung derProduktion macht die fernere Existenz verschiedner Gesellschaftsklassen zu einemAnachronismus. In dem Maß, wie die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion schwindet,schläft auch die politische Autorität des Staats ein. Die Menschen, endlich Herren ihrereignen Art der Vergesellschaftung, werden damit zugleich Herren der Natur, Herren ihrerselbst - frei.Diese weltbefreiende Tat durchzuführen ist der geschichtliche Beruf des modernenProletariats. Ihre geschichtlichen Bedingungen, und damit ihre Natur selbst, zu ergründenund so der zur Aktion berufnen, heute unterdrückten Klasse die Bedingungen und die Naturihrer eignen Aktion zum Bewußtsein zu bringen ist die Aufgabe des theoretischen Ausdrucksder proletarischen Bewegung, des wissenschaftlichen Sozialismus.Friedrich EngelsDie MarkAnhang zu: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur WissenschaftIn einem Lande wie Deutschland, wo noch gut die Hälfte der Bevölkerung vom Landbau lebt,ist es notwendig, daß die sozialistischen Arbeiter und durch sie die Bauern erfahren, wie dasheutige Grundeigentum, großes wie kleines, entstanden ist; notwendig, daß dem heutigenElend der Taglöhner und der heutigen Verschuldungsknechtschaft der Kleinbauernentgegengehalten werde das alte Gemeineigentum aller freien Männer an dem, was damalsfür sie in Wahrheit ein \"Vaterland\", ein ererbter freier Gemeinbesitz war. Ich gebe daher eine29


kurze geschichtliche Darstellung jener uralten deutschen Bodenverfassung, die sich inkümmerlichen Resten bis auf unsre Tage erhalten, die aber im ganzen Mittelalter alsGrundlage und Vorbild aller öffentlichen Verfassung gedient und das ganze öffentlicheLeben, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Nordfrankreich, England und Skandinaviendurchdrungen hat. Und dennoch konnte sie so in Vergessenheit geraten, daß erst in derletzten Zeit G. L. Maurer ihre wirkliche Bedeutung von neuem entdecken mußte.Zwei naturwüchsig entstandne Tatsachen beherrschen die Urgeschichte aller oder doch fastaller Völker: Gliederung des Volks nach Verwandtschaft und Gemeineigentum am Boden. Sowar es auch bei den Deutschen. Wie sie die Gliederung nach Stämmen, Sippschaften,Geschlechtern aus Asien mitgebracht hatten, wie sie noch zur Römerzeit ihreSchlachthaufen so bildeten, daß immer Nächstverwandte Schulter an Schulter standen, sobeherrschte diese Gliederung auch die Besitznahme des neuen Gebiets östlich vom Rheinund nördlich von der Donau. Auf dem neuen Sitz ließ sich jeder Stamm nieder, nicht nachLaune oder Zufall, sondern, wie Cäsar ausdrücklich angibt, nach derGeschlechtsverwandtschaft der Stammesglieder. Den näher verwandten größern Gruppenfiel ein bestimmter Bezirk zu, worin wieder die einzelnen, eine Anzahl Familien umfassendenGeschlechter sich dorfweise niederließen. Mehrere verwandte Dörfer bildeten eineHundertschaft (althochdeutsch huntari, altnordisch heradh), mehrere Hundertschaften einenGau; die Gesamtheit der Gaue war das Volk selbst. Der Boden, den die Ortschaft nicht inBeschlag nahm, blieb zur Verfügung der Hundertschaft; was dieser nicht zugeteilt war,verblieb dem Gau; was dann noch verfügbar war - meist ein sehr großer Landstrich - bliebim unmittelbaren Besitz des ganzen Volks. So finden wir in Schweden alle dieseverschiednen Stufen von Gemeinbesitz nebeneinander. Jedes Dorf hatte Dorfgemeinland(bys almänningar), und daneben gab es Hundertschafts- (härads), Gau- oder Landschafts-(lands) und endlich das vom König als Vertreter des ganzen Volks in Anspruch genommneVolks-Gemeinland, hier also konungs almänningar genannt. Aber sie alle, auch daskönigliche, hießen ohne Unterschied almänningar, Allmenden, Gemeinländereien.Wenn die altschwedische, in ihrer genauen Unterabteilung jedenfalls einer späternEntwicklungsstufe angehörige Ordnung des Gemeinlands in dieser Form je in Deutschlandbestanden hat, so ist sie bald verschwunden. Die rasche Vermehrung der Bevölkerungerzeugte auf dem jedem einzelnen Dorf zugewiesenen sehr ausgedehnten Landstrich, derMark, eine Anzahl von Tochterdörfern, die nun mit dem Mutterdorf als Gleichberechtigte oderMinderberechtigte eine einzige Markgenossenschaft bildeten, so daß wir in Deutschland,soweit die Quellen zurückreichen, überall eine größere oder geringere Anzahl von Dörfernzu einer Markgenossenschaft vereinigt finden. Über diesen Verbänden aber standen,wenigstens in der ersten Zeit, noch die größern Markverbände der Hundertschaft oder desGaus, und endlich bildete das ganze Volk ursprünglich eine einzige großeMarkgenossenschaft zur Verwaltung des in unmittelbarem Volksbesitz gebliebnen Bodensund zur Oberaufsicht über die zu seinem Gebiet gehörigen Untermarken.Noch bis in die Zeit, da das fränkische Reich sich das ostrheinische Deutschland unterwarf,scheint der Schwerpunkt der Markgenossenschaft im Gau gelegen, der Gau die eigentlicheMarkgenossenschaft umfaßt zu haben. Denn nur daraus erklärt sich, daß so viele alte großeMarken bei der amtlichen Einteilung des Reichs als Gerichtsgaue wieder erscheinen. Aberschon bald darauf begann die Zerschlagung der alten großen Marken. Doch gilt noch im30


\"Kaiserrecht\" des 13. oder 14. Jahrhunderts als Regel, daß eine Mark 6 bis 12 Dörferumfaßt.Zu Cäsars Zeit bebaute wenigstens ein großer Teil der Deutschen, nämlich das Suevenvolk,das noch nicht zu festen Sitzen gekommen war, den Acker gemeinsam; dies geschah, wiewir nach Analogie andrer Völker annehmen dürfen, in der Art, daß die einzelnen, eineAnzahl nahverwandter Familien umfassenden Geschlechter das ihnen zugewiesene Land,das von Jahr zu Jahr gewechselt wurde, gemeinschaftlich bebauten und die Produkte unterdie Familien verteilten. Als aber auch die Sueven gegen Anfang unsrer Zeitrechnung in denneuen Sitzen zur Ruhe gekommen waren, hörte dies bald auf. Wenigstens kennt Tacitus(150 Jahre nach Cäsar) nur noch Bebauung des Bodens durch die einzelnen Familien. Aberauch diesen war das anzubauende Land nur auf ein Jahr zugewiesen; nach jedem Jahrwurde es neu umgeteilt und gewechselt.Wie es dabei herging, das können wir noch heute an der Mosel und im Hochwald an densogenannten Gehöferschaften sehn. Dort wird zwar nicht mehr jährlich, aber doch noch alle3, 6, 9 oder 12 Jahre das gesamte angebaute Land, Acker und Wiesen, zusammengeworfenund nach Lage und Bodenqualität in eine Anzahl \"Gewanne\" geteilt. Jedes Gewann teilt manwieder in so viel gleiche Teile, lange, schmale Streifen, als Berechtigungen in derGenossenschaft bestehn, und diese werden durchs Los unter die Berechtigten verteilt, sodaß jeder Genosse in jedem Gewann, also von jeder Lage und Bodenqualität, ursprünglichein gleich großes Stück erhielt. Gegenwärtig sind die Anteile durch Erbteilung, Verkauf usw.ungleich geworden, aber der alte Vollanteil bildet noch immer die Einheit, wonach diehalben, Viertels-, Achtels- etc. Anteile sich bestimmen. Das unbebaute Land, Wald undWeide, bleibt Gemeinbesitz zur gemeinsamen Nutzung.Dieselbe uralte Einrichtung hatte sich bis in den Anfang unsres Jahrhunderts in densogenannten Losgütern der bayrischen Rheinpfalz erhalten, deren Ackerland seitdem inPrivateigentum der einzelnen Genossen übergegangen ist. Auch die Gehöferschaften findenes mehr und mehr in ihrem Interesse, die Umteilungen zu unterlassen und den wechselndenBesitz in Privateigentum zu verwandeln. So sind die meisten, wo nicht gar alle, in den letztenvierzig Jahren abgestorben und in gewöhnliche Dörfer von Parzellenbauern mitgemeinsamer Wald- und Weidenutzung übergegangen.Das erste Grundstück, das in Privateigentum des einzelnen überging, war der Hausplatz.Die Unverletzlichkeit der Wohnung, diese Grundlage aller persönlichen Freiheit, ging vomZeltwagen des Wanderzugs über auf das Blockhaus des angesiedelten Bauern undverwandelte sich allmählich in ein volles Eigentumsrecht an Haus und Hof. Dies war schonzu Tacitus' Zeiten geschehn. Die Heimstätte des freien Deutschen muß schon damals ausder Mark ausgeschlossen und damit den Markbeamten unzugänglich, ein sichrerZufluchtsort für Flüchtlinge gewesen sein, wie wir sie in den spätern Markordnungen undzum Teil schon in den Volksrechten des 5. bis 8. Jahrhunderts beschrieben finden. Denn dieHeiligkeit der Wohnung war nicht Wirkung, sondern Ursache ihrer Verwandlung inPrivateigentum.Vier- bis fünfhundert Jahre nach Tacitus finden wir in den Volksrechten auch das angebauteLand als erblichen, wenn auch nicht unbedingt freien Besitz der einzelnen Bauern, die das31


Recht hatten, darüber durch Verkauf oder sonstige Abtretung zu verfügen. Für die Ursachendieser Umwandlung haben wir zwei Anhaltspunkte.Erstens gab es von Anfang an in Deutschland selbst, neben den bereits geschildertengeschloßnen Dörfern mit vollständiger Feldgemeinschaft, auch Dörfer, wo außer denHeimstätten auch die Felder aus der Gemeinschaft, der Mark, ausgeschlossen und deneinzelnen Bauern erblich zugeteilt waren. Aber nur, wo die Bodengestaltung dies sozusagenaufnötigte: in engen Tälern, wie im Bergischen, auf schmalen, flachen Höhenrückenzwischen Sümpfen, wie in Westfalen. Später auch im Odenwald und in fast allenAlpentälern. Hier bestand das Dorf, wie noch jetzt, aus zerstreuten Einzelhöfen, deren jedervon den zugehörigen Feldern umgeben wird; ein Wechsel war hier nicht gut möglich, und soverblieb der Mark nur das umliegende unbebaute Land. Als nun später das Recht, überHaus und Hof durch Abtretung an Dritte zu verfügen, von Wichtigkeit wurde, befanden sichsolche Hofbesitzer im Vorteil. Der Wunsch, diesen Vorteil ebenfalls zu erlangen, mag inmanchen Dörfern mit Feldgemeinschaft dahin geführt haben, die gewohnten Umteilungeneinschlafen und damit die einzelnen Anteile der Genossen ebenfalls erblich und übertragbarwerden zu lassen.Zweitens aber führte die Eroberung die Deutschen auf römisches Gebiet, wo seitJahrhunderten der Boden Privateigentum (und zwar römisches, unbeschränktes) gewesenwar und wo die geringe Zahl der Eroberer unmöglich eine so eingewurzelte Besitzformgänzlich beseitigen konnte. Für den Zusammenhang des erblichen Privatbesitzes an Ackernund Wiesen mit römischem Recht, wenigstens auf ehemals römischem Gebiet, spricht auchder Umstand, daß die bis auf unsre Zeit erhaltnen Reste des Gemeineigentums am urbarenBoden sich gerade auf dem linken Rheinufer, also auf ebenfalls erobertem, aber gänzlichgermanisiertem Gebiet finden. Als die Franken sich hier im fünften Jahrhundert niederließen,muß noch Ackergemeinschaft bei ihnen bestanden haben, sonst könnten wir jetzt dort keineGehöferschaften und Losgüter finden. Aber auch hier drang der Privatbesitz baldübermächtig ein, denn nur diesen finden wir, soweit urbares Land in Betracht kommt, imripuarischen Volksrecht des sechsten Jahrhunderts erwähnt. Und im Innern Deutschlandwurde das angebaute Land, wie gesagt, ebenfalls bald Privatbesitz.Wenn aber die deutschen Eroberer den Privatbesitz an Ackern und Wiesen annahmen, d.h.bei der ersten Landteilung, oder bald nachher, auf erneuerte Umteilungen verzichteten (dennweiter war es nichts), so führten sie dagegen überall ihre deutsche Markverfassung mitGemeinbesitz an Wald und Weide ein und mit Oberherrschaft der Mark auch über dasverteilte Land. Dies geschah nicht nur von den Franken in Nordfrankreich und denAngelsachsen in England, sondern auch von den Burgundern in Ostfrankreich, denWestgoten in Südfrankreich und Spanien und den Ostgoten und Langobarden in Italien. Indiesen letztgenannten Ländern haben sich jedoch, soviel bekannt, fast nur im HochgebirgSpuren der Markeinrichtungen bis heute erhalten.Die Gestalt, die die Markverfassung angenommen hat durch Verzicht auf erneuerteVerteilung des angebauten Landes, ist nun diejenige, die uns entgegentritt nicht nur in denalten Volksrechten des 5. bis 8. Jahrhunderts, sondern auch in den englischen undskandinavischen Rechtsbüchern des Mittelalters, in den zahlreichen deutschenMarkordnungen (sogenannten Weistümern) aus dem 13. bis 17. Jahrhundert und in denGewohnheitsrechten (coutumes) von Nordfrankreich.32


Indem die Markgenossenschaft auf das Recht verzichtete, von Zeit zu Zeit Acker undWiesen unter die einzelnen Genossen neu zu verteilen, gab sie von ihren übrigen Rechtenan diese Ländereien kein einziges auf. Und diese Rechte waren sehr bedeutend. DieGenossenschaft hatte den einzelnen ihre Felder übergeben nur zum Zweck der Nutzung alsAcker und Wiese und zu keinem andern Zweck. Was darüber hinausging, daran hatte derEinzelbesitzer kein Recht. In der Erde gefundne Schätze, wenn sie tiefer lagen, als diePflugschar geht, gehörten also nicht ihm, sondern ursprünglich der Gemeinschaft; ebensodas Recht, Erz zu graben usw. Alle diese Rechte wurden später von den Grund- undLandesherren zu eignem Nutzen unterschlagen.Aber auch die Nutzung von Acker und Wiese war gebunden an die Oberaufsicht undReglung durch die Genossenschaft, und zwar in folgender Gestalt. Da, woDreifelderwirtschaft herrschte - und das war fast überall -, wurde die ganze Feldflur desDorfs in drei gleich große Felder geteilt, von denen jedes abwechselnd ein Jahr zurWintersaat, das zweite Jahr zur Sommersaat, das dritte zur Brache bestimmt wurde. DasDorf hatte also jedes Jahr sein Winterfeld, Sommerfeld und Brachfeld. Bei derLandverteilung war dafür gesorgt, daß der Anteil jedes Genossen sich gleichmäßig auf alledrei Felder verteilte, so daß jeder sich ohne Nachteil dem Flurzwang der Genossenschaftfügen konnte, wonach er Wintersaat nur in sein Stück Winterfeld säen durfte usw.Das jedesmalige Brachfeld fiel nun für die Dauer der Brache wieder in Gemeinbesitz unddiente der gesamten Genossenschaft zur Weide. Und sobald die beiden andern Felderabgeerntet waren, fielen sie bis zur Saatzeit ebenfalls wieder in den Gemeinbesitz zurückund wurden als Gemeinweide benutzt. Desgleichen die Wiesen nach der Grummetmahd.Auf allen Feldern, wo geweidet wurde, mußte der Besitzer die Zäune entfernen. Diesersogenannte Hutzwang bedingte natürlich, daß die Zeit der Aussaat wie der Ernte nicht demeinzelnen überlassen, sondern für alle gemeinsam und von der Genossenschaft oder durchHerkommen festgesetzt war.Alles übrige Land, d.h. alles, was nicht Haus und Hof oder verteilte Dorfflur war, blieb, wiezur Urzeit, Gemeineigentum zur gemeinsamen Nutzung: Wald, Weideland, Heiden, Moore,Flüsse, Teiche, Seen, Weg und Steg, Jagd und Fischerei. Wie der Anteil jedes Genossen ander verteilten Feldmark ursprünglich gleich groß gewesen, so auch sein Anteil an derNutzung der \"gemeinen Mark\". Die Art dieser Nutzung wurde durch die Gesamtheit derGenossen bestimmt; ebenso die Art der Aufteilung, wenn der bisher bebaute Boden nichtmehr reichte und ein Stück der gemeinen Mark in Anbau genommen wurde. Hauptnutzungin der gemeinen Mark war Viehweide und Eichelmast, daneben lieferte der Wald Bau- undBrennholz, Laubstreu, Beeren und Pilze, das Moor, wenn vorhanden, Torf. DieBestimmungen über Weide, Holznutzung usw. bilden den Hauptinhalt der vielen, aus denverschiedensten Jahrhunderten erhaltnen Markweistümer, aufgeschrieben zur Zeit, als dasalte ungeschriebne, herkömmliche Recht anfing, streitig zu werden. Die noch vorhandnenGemeindewaldungen sind der kümmerliche Rest dieser alten ungeteilten Marken. Ein andrerRest, wenigstens in West- und Süddeutschland, ist die im Volksbewußtsein tief wurzelndeVorstellung, daß der Wald Gemeingut sei, in dem jeder Blumen, Beeren, Pilze, Bucheckernusw. sammeln und überhaupt, solange er nicht Schaden anrichtet, tun und treiben kann, waser will. Aber auch hier schafft Bismarck Rat und richtet mit seiner berühmtenBeerengesetzgebung die westlichen Provinzen auf den altpreußischen Junkerfuß ein.33


Wie die Genossen gleiche Bodenanteile und gleiche Nutzungsrechte, so hatten sieursprünglich auch gleichen Anteil an Gesetzgebung, Verwaltung und Gericht innerhalb derMark. Zu bestimmten Zeiten und öfter, wenn nötig, versammelten sie sich unter freiemHimmel, um über die Markangelegenheiten zu beschließen und über Markfrevel undStreitigkeiten zu richten. Es war, nur im Kleinen, die uralte deutsche Volksversammlung, dieursprünglich auch nur eine große Markversammlung gewesen war. Gesetze wurdengemacht, wenn auch nur in seltnen Notfällen; Beamte gewählt, deren Amtsführungkontrolliert, vor allem aber Recht gesprochen. Der Vorsitzende hatte nur die Fragen zuformulieren, das Urteil wurde gefunden von der Gesamtheit der anwesenden Genossen.Die Markverfassung war in der Urzeit so ziemlich die einzige Verfassung derjenigendeutschen Stämme, die keine Könige hatten; der alte Stammesadel, der in derVölkerwanderung oder bald nachher unterging, fügte sich, wie alles mit dieser Verfassungzusammen naturwüchsig Entstandne, leicht in sie ein, wie der keltische Clanadel noch im17. Jahrhundert in die irische Bodengemeinschaft. Und sie hat im ganzen Leben derDeutschen so tiefe Wurzeln geschlagen, daß wir ihre Spur in der Entwicklungsgeschichteunsres Volks auf Schritt und Tritt wiederfinden. In der Urzeit war die ganze öffentliche Gewaltin Friedenszeiten ausschließlich eine richterliche, und diese ruhte bei der Versammlung desVolks in der Hundertschaft, im Gau, im ganzen Volksstamm. Das Volksgericht aber war nurdas Volks-Markgericht, angewandt auf Fälle, die nicht bloße Markangelegenheiten waren,sondern in den Bereich der öffentlichen Gewalt fielen. Auch als mit Ausbildung derGauverfassung die staatlichen Gaugerichte von den gemeinen Markgerichten getrenntwurden, blieb in beiden die richterliche Gewalt beim Volke. Erst als die alte Volksfreiheitschon in starkem Verfall war, und der Gerichtsdienst neben dem Heeresdienst einedrückende Last für die verarmten Freien wurde, erst da konnte Karl der Große bei denGaugerichten in den meisten Gegenden das Volksgericht durch Schöffengerichte12 ersetzen.Aber dies berührte die Markgerichte durchaus nicht. Diese blieben im Gegenteil selbst nochMuster für die Lehnsgerichtshöfe des Mittelalters; auch in diesen war der Lehnsherr nurFragesteller, Urteilsfinder aber die Lehnsträger selbst. Die Dorfverfassung ist nur dieMarkverfassung einer selbständigen Dorfmark und geht in eine Stadtverfassung über,sobald das Dorf sich in eine Stadt verwandelt, d.h. sich mit Graben und Mauern befestigt.Aus dieser ursprünglichen Stadtmarkverfassung sind alle spätem Städteverfassungenherausgewachsen. Und endlich sind der Markverfassung nachgebildet die Ordnungen derzahllosen, nicht auf gemeinsamem Grundbesitz beruhenden freien Genossenschaften desMittelalters, besonders aber der freien Zünfte. Das der Zunft erteilte Recht zumausschließlichen Betrieb eines bestimmten Geschäfts wird behandelt ganz wie eine gemeineMark. Mit derselben Eifersucht wie dort, oft mit ganz denselben Mitteln, wird auch bei denZünften dafür gesorgt, daß der Anteil eines jeden Genossen an der gemeinsamenNutzungsquelle ein ganz oder doch möglichst gleicher sei.Dieselbe fast wunderbare Anpassungsfähigkeit, die die Markverfassung hier auf denverschiedensten Gebieten des öffentlichen Lebens und gegenüber den mannigfachstenAnforderungen entwickelt hat, beweist sie auch im Fortgang der Entwicklung des Ackerbausund im Kampf mit dem aufkommenden großen Grundeigentum. Sie war entstanden mit derNiederlassung der Deutschen in Germanien, also in einer Zeit, wo Viehzucht12 Nicht zu verwechseln mit den Bismarck-Leonhardtschen Schöffengerichten, wo Schöffen undJuristen zusammen Urteil finden. Beim alten Schöffengericht waren gar keine Juristen, der Präsidentoder Richter hatte gar keine Stimme und die Schöffen fanden das Urteil selbständig.34


Hauptnahrungsquelle war, und der aus Asien mitgebrachte, halbvergeßne Ackerbau ersteben wieder aufkam. Sie hat sich erhalten durch das ganze Mittelalter in schweren,unaufhörlichen Kämpfen mit dem grundbesitzenden Adel. Aber sie war noch immer sonotwendig, daß überall da, wo der Adel sich das Bauernland angeeignet hatte, dieVerfassung der hörigen Dörfer eine, wenn auch durch grundherrliche Eingriffe starkbeschnittne Markverfassung blieb; ein Beispiel davon werden wir weiter unten erwähnen.Sie paßte sich den wechselndsten Besitzverhältnissen des urbaren Landes an, solange nurnoch eine gemeine Mark blieb, und ebenso den verschiedensten Eigentumsrechten an dergemeinen Mark, sobald diese aufgehört hatte, frei zu sein. Sie ist untergegangen an demRaub fast des gesamten Bauernlandes, des verteilten wie des ungeteilten, durch Adel undGeistlichkeit unter williger Beihülfe der Landesherrschaft. Aber ökonomisch veraltet, nichtmehr lebensfähig als Betriebsform des Ackerbaus wurde sie in Wirklichkeit erst, seit diegewaltigen Fortschritte der Landwirtschaft in den letzten hundert Jahren den Landbau zueiner Wissenschaft gemacht und ganz neue Betriebsweisen eingeführt haben.Die Untergrabung der Markverfassung begann schon bald nach der Völkerwandrung. AlsVertreter des Volks nahmen die fränkischen Könige die ungeheuren, dem Gesamtvolkgehörenden Ländereien, namentlich Wälder, in Besitz, um sie durch Schenkungen an ihrHofgesinde, an ihre Feldherren, an Bischöfe und Äbte zu verschleudern. Sie bilden dadurchden Stamm des späteren Großgrundbesitzes von Adel und Kirche. Die letztere besaß schonlange vor Karl dem Großen ein volles Drittel alles Bodens in Frankreich; es ist sicher, daßdieses Verhältnis während des Mittelalters so ziemlich für das ganze katholischeWesteuropa gegolten hat.Die fortwährenden innern und äußern Kriege, deren regelmäßige Folge Konfiskationen vonGrund und Boden waren, ruinierten große Mengen von Bauern, so daß schon zurMerowingerzeit es sehr viele freie Leute ohne Grundbesitz gab. Die unaufhörlichen KriegeKarls des Großen brachen die Hauptkraft des freien Bauernstandes. Ursprünglich war jederfreie Grundbesitzer dienstpflichtig und mußte nicht nur sich selbst ausrüsten, sondern auchsich selbst sechs Monate lang im Kriegsdienst verpflegen. Kein Wunder, daß schon zu KarlsZeiten kaum der fünfte Mann wirklich eingestellt werden konnte. Unter der wüsten Wirtschaftseiner Nachfolger ging es mit der Bauernfreiheit noch rascher bergab. Einerseits zwang dieNot der Normannenzüge, die ewigen Kriege der Könige und Fehden der Großen einenfreien Bauern nach dem andern, sich einen Schutzherrn zu suchen. Andrerseitsbeschleunigte die Habgier derselben Großen und der Kirche diesen Prozeß; mit List,Versprechungen, Drohungen, Gewalt brachten sie noch mehr Bauern und Bauernland unterihre Gewalt. Im einen wie im andern Fall war das Bauernland in Herrenland verwandelt undwurde höchstens den Bauern zur Nutzung gegen Zins und Fron zurückgegeben. Der Baueraber war aus einem freien Grundbesitzer in einen zinszahlenden und fronenden Hörigenoder gar Leibeignen verwandelt. Im westfränkischen Reich, überhaupt westlich vom Rhein,war dies die Regel, östlich vom Rhein erhielt sich dagegen noch eine größre Anzahl freierBauern, meist zerstreut, seltner in ganzen freien Dörfern vereinigt. Doch auch hier drückteim 10. bis 12. Jahrhundert die Übermacht des Adels und der Kirche immer mehr Bauern indie Knechtschaft hinab.Wenn ein Gutsherr - geistlich oder weltlich - ein Bauerngut erwarb, so erwarb er damit auchdie zum Gut gehörige Gerechtigkeit in der Mark. Die neuen Grundherren wurden soMarkgenossen, den übrigen freien und hörigen Genossen, selbst ihren eignen Leibeignen,35


innerhalb der Mark ursprünglich nur gleichberechtigt. Aber bald erwarben sie, trotz deszähen Widerstands der Bauern, an vielen Orten Vorrechte in der Mark und konnten dieseletztere oft sogar ihrer Grundherrschaft unterwerfen. Und dennoch dauerte die alteMarkgenossenschaft fort, wenn auch unter herrschaftlicher Obervormundschaft.Wie unumgänglich nötig damals noch die Markverfassung für den Ackerbau, selbst für denGroßgrundbesitz war, beweist am schlagendsten die Kolonisierung von Brandenburg undSchlesien durch friesische, niederländische, sächsische und rheinfränkische Ansiedler. DieLeute wurden, vom 12. Jahrhundert an, auf Herrenland dorfweise angesiedelt, und zwarnach deutschem Recht, d.h. nach dem alten Markrecht, soweit es sich auf herrschaftlichenHöfen erhalten hatte. Jeder bekam Haus und Hof, einen für alle gleich großen, nach alter Artdurchs Los bestimmten Anteil in der Dorfflur und die Nutzungsgerechtigkeit an Wald undWeide, meist im grundherrlichen Wald, seltner in besondrer Mark. Alles dies erblich; dasGrundeigentum verblieb dem Herrn, dem die Kolonisten bestimmte Zinse und Diensteerblich schuldeten. Aber diese Leistungen waren so mäßig, daß die Bauern hier sich besserstanden als irgendwo in Deutschland. Sie blieben daher auch ruhig, als der Bauernkriegausbrach. Für diesen Abfall von ihrer eignen Sache wurden sie denn auch hart gezüchtigt.Überhaupt trat um die Mitte des 13. Jahrhunderts eine entschiedne Wendung zugunsten derBauern ein; vorgearbeitet hatten die Kreuzzüge. Viele der ausziehenden Grundherren ließenihre Bauern ausdrücklich frei. Andere sind gestorben, verdorben, Hunderte vonAdelsgeschlechtern verschwunden, deren Bauern ebenfalls häufig die Freiheit erlangten.Nun kam dazu, daß mit den steigenden Bedürfnissen der Grundherren das Kommando überdie Leistungen der Bauern weit wichtiger wurde als das über ihre Personen. DieLeibeigenschaft des frühern Mittelalters, die noch viel von der alten Sklaverei an sich hatte,gab den Herren Rechte, die mehr und mehr ihren Wert verloren; sie schlief allmählich ein,die Stellung der Leibeignen näherte sich der der bloßen Hörigen. Da der Betrieb desLandbaus ganz der alte blieb, so war Vermehrung der gutsherrlichen Einkünfte nur zuerlangen durch Umbruch von Neuland, Anlage neuer Dörfer. Das war aber nur erreichbardurch gütliche Übereinkunft mit den Kolonisten, gleichviel ob sie Gutshörige oder Fremdewaren. Daher finden wir um diese Zeit überall scharfe Festsetzung der bäuerlichen, meistmäßigen Leistungen und gute Behandlung der Bauern, namentlich auf den Herrschaften derGeistlichkeit. Und endlich wirkte die günstige Stellung der neu herbeigezognen Kolonistenwieder zurück auf die Lage der benachbarten Hörigen, so daß auch diese in ganzNorddeutschland bei Fortdauer ihrer Leistungen an den Gutsherrn ihre persönliche Freiheiterhielten. Nur die slawischen und litauisch-preußischen Bauern blieben unfrei. Allein, dasalles sollte nicht lange dauern.Im 14. und 15. Jahrhundert waren die Städte rasch emporgekommen und reich geworden.Ihr Kunstgewerbe und Luxus blühte namentlich in Süddeutschland und am Rhein. DieÜppigkeit der städtischen Patrizier ließ den grobgenährten, grobgekleideten,plumpmöblierten Landjunker nicht ruhig schlafen. Aber woher die schönen Sachen erhalten?Das Wegelagern wurde immer gefährlicher und erfolgloser. Zum Kaufen aber gehörte Geld.Und das konnte nur der Bauer schaffen. Daher erneuerter Druck auf die Bauern, gesteigerteZinsen und Fronden, erneuerter, stets beschleunigter Eifer, die freien Bauern zu Hörigen, dieHörigen zu Leibeignen herabzudrücken und das gemeine Markland in Herrenlandumzuwandeln. Dazu halfen den Landesherren und Adligen die römischen Juristen, die mitihrer Anwendung römischer Rechtssätze auf deutsche, meist unverstandne Verhältnisse36


eine grenzenlose Verwirrung anzurichten, aber doch so anzurichten verstanden, daß derHerr stets dadurch gewann und der Bauer stets verlor. Die geistlichen Herren halfen sicheinfacher: Sie fälschten Urkunden, worin die Rechte der Bauern verkürzt und ihre Pflichtengesteigert wurden. Gegen diese Räubereien von Landesherren, Adel und Pfaffen erhobensich seit Ende des 15. Jahrhunderts die Bauern in häufigen Einzelaufständen, bis 1525 dergroße Bauernkrieg Schwaben, Bayern, Franken bis ins Elsaß, die Pfalz, den Rheingau undThüringen hinein überflutete. Die Bauern erlagen nach harten Kämpfen. Von da an datiertdas erneuerte allgemeine Vorherrschen der Leibeigenschaft unter den deutschen Bauern. Inden Gegenden, wo der Kampf gewütet hatte, wurden nun alle noch gebliebnen Rechte derBauern schamlos zertreten, ihre Gemeinland in Herrenland verwandelt, sie selbst inLeibeigne. Und zum Dank dafür, daß die bessergestellten norddeutschen Bauern ruhiggeblieben, verfielen sie, nur langsamer, derselben Unterdrückung. Die Leibeigenschaftdeutscher Bauern wird in Ostpreußen, Pommern, Brandenburg, Schlesien seit Mitte, inSchleswig-Holstein seit Ende des 16. Jahrhunderts eingeführt und immer allgemeiner denBauern aufgenötigt.Diese neue Vergewaltigung hatte dazu noch einen ökonomischen Grund. Aus den Kämpfender Reformationszeit hatten allein die deutschen Landesfürsten vermehrte Macht gewonnen.Mit dem edlen Räuberhandwerk des Adels war es nun aus. Wollte er nicht untergehn, somußte er aus seinem Grundbesitz mehr Einkünfte herausschlagen. Der einzige Weg aberwar der, nach dem Vorbild der größern Landesherren und namentlich der Klöster,wenigstens einen Teil dieses Besitzes für eigne Rechnung zu bewirtschaften. Was bisher nurAusnahme, wurde jetzt Bedürfnis. Aber dieser neuen Betriebsweise stand im Wege, daß derBoden fast überall an die Zinsbauern ausgegeben war. Indem die freien oder hörigenZinsbauern in volle Leibeigne verwandelt wurden, bekam der gnädige Herr freie Hand. EinTeil der Bauern wurde, wie der Kunstausdruck lautet, \"gelegt\", d.h. entweder weggejagt oderzu Kotsassen mit bloßer Hütte und etwas Gartenland degradiert, ihre Hofgüter zu einemgroßen Herrenhofgut zusammengeschlagen und von den neuen Kotsassen und nochübriggebliebnen Bauern im Frondienst bebaut. Nicht nur wurden so eine Menge Bauerneinfach verdrängt, sondern die Frondienste der noch übrigen bedeutend, und zwar immermehr, gesteigert. Die kapitalistische Periode kündete sich an auf dem Lande als Periode deslandwirtschaftlichen Großbetriebs auf Grundlage der leibeignen Fronarbeit.Diese Umwandlung vollzog sich indes anfangs noch ziemlich langsam. Da kam derDreißigjährige Krieg. Während eines ganzen Menschenalters wurde Deutschland die Kreuzund Quer durchzogen von der zuchtlosesten Soldateska, die die Geschichte kennt. Überallwurde gebrandschatzt, geplündert, gesengt, genotzüchtigt, gemordet. Am meisten litt derBauer da, wo abseits der großen Heere die kleinern Freischaren oder vielmehr Freibeuterauf eigne Faust und für eigne Rechnung hantierten. Die Verwüstung und Entvölkerung wargrenzenlos. Als der Friede kam, lag Deutschland hülflos, zertreten, zerfetzt, blutend amBoden; am elendesten aber war wieder der Bauer.Der grundbesitzende Adel wurde nun alleiniger Herr auf dem Lande. Die Fürsten, die seinepolitischen Rechte in den Ständeversammlungen gerade damals vernichteten, ließen ihmdafür freie Hand gegen die Bauern. Die letzte Widerstandskraft der Bauern aber war durchden Krieg gebrochen. So konnte der Adel alle ländlichen Verhältnisse so einrichten, wie eszur Wiederherstellung seiner ruinierten Finanzen am passendsten war. Nicht nur wurden dieverlaßnen Bauernhöfe kurzerhand mit dem Herrenhofgut vereinigt; das Bauernlegen wurde37


erst jetzt im großen und systematisch betrieben. Je größer das herrschaftliche Hofgut, destogrößer natürlich die Frondienste der Bauern. Die Zeit der \"ungemeßnen Dienste\" brachwieder an; der gnädige Herr konnte den Bauern, seine Familie, sein Vieh zur Arbeitkommandieren, so oft und so lange es ihm gefiel. Die Leibeigenschaft wurde jetzt allgemein;ein freier Bauer war nun so selten wie ein weißer Rabe. Und damit der gnädige Herrimstande sei, jeden, auch den geringsten Widerstand der Bauern im Keim zu ersticken,erhielt er vom Landesfürsten die Patrimonialgerichtsbarkeit, d.h. er wurde zum alleinigenRichter ernannt für alle kleinern Vergehen und Streitigkeiten der Bauern, selbst wenn einBauer mit ihm, dem Herrn, im Streit, der Herr also Richter in eigner Sache war! Von da anherrschten auf dem Lande Stock und Peitsche. Wie das ganze Deutschland, so war derdeutsche Bauer bei seiner tiefsten Erniedrigung angekommen. Wie ganz Deutschland, sowar auch der Bauer so kraftlos geworden, daß alle Selbsthülfe versagte, daß Rettung nurvon außen kommen konnte.Und sie kam. Mit der französischen Revolution brach auch für Deutschland und dendeutschen Bauer die Morgenröte einer bessern Zeit an. Kaum hatten die Revolutionsarmeendas linke Rheinufer erobert, so verschwand dort der ganze alte Plunder von Frondiensten,Zins, Abgaben aller Art an den gnädigen Herrn, mitsamt diesem selbst, wie durch einenZauberschlag. Der linksrheinische Bauer war nun Herr auf seinem Besitz und erhieltobendrein in dem zur Revolutionszeit entworfnen, von Napoleon nur verhunzten Code civilein Gesetzbuch, das seiner neuen Lage angepaßt war und das er nicht nur verstehn,sondern auch bequem in der Tasche tragen konnte.Aber der rechtsrheinische Bauer mußte noch lange warten. Zwar wurden in Preußen, nachder wohlverdienten Niederlage von Jena, einige der allerschmählichsten Adelsrechteabgeschafft und die sogenannte Ablösung der übrigen bäuerlichen Lasten gesetzlichermöglicht. Aber das stand größtenteils und lange Zeit bloß auf dem Papier. In den übrigenStaaten geschah noch weniger. Es bedurfte einer zweiten französischen Revolution 1830,um wenigstens in Baden und einigen andern Frankreich benachbarten Kleinstaaten dieAblösung in Gang zu bringen. Und als die dritte französische Revolution 1848 endlich auchDeutschland mit sich fortriß, da war die Ablösung in Preußen noch lange nicht fertig und inBayern noch gar nicht angefangen! Jetzt ging es freilich rascher; die Fronarbeit der diesmalselbst rebellisch gewordnen Bauern hatte eben allen Wert verloren.Und worin bestand diese Ablösung? Dafür, daß der gnädige Herr eine bestimmte Summe inGeld oder ein Stück Land sich vom Bauern abtreten ließ, dafür sollte er nunmehr den nochübrigen Boden des Bauern als dessen freies, unbelastetes Eigentum anerkennen - wo dochdie sämtlichen, dem gnädigen Herrn schon früher gehörigen Ländereien nichts waren alsgestohlnes Bauernland! Damit nicht genug. Bei der Auseinandersetzung hielten natürlich diedamit beauftragten Beamten fast regelmäßig mit dem gnädigen Herrn, bei dem sie wohntenund kneipten, so daß die Bauern selbst gegen den Wortlaut des Gesetzes noch ganzkolossal übervorteilt wurden.Und so sind wir denn endlich, dank drei französischen Revolutionen und einer deutschen,dahin gekommen, daß wir wieder freie Bauern haben. Aber wie sehr steht unser heutigerfreier Bauer zurück gegen den freien Markgenossen der alten Zeit! Sein Hofgut ist meist weitkleiner, und die ungeteilte Mark ist bis auf wenige, sehr verkleinerte und verkommneGemeindewaldungen dahin. Ohne Marknutzung aber kein Vieh für den Kleinbauern, ohne38


Vieh kein Dünger, ohne Dünger kein rationeller Ackerbau. Der Steuereinnehmer und derhinter ihm drohende Gerichtsvollzieher, die der heutige Bauer nur zu gut kennt, waren demalten Markgenossen unbekannte Leute, ebenso wie der Hypothekarwucherer, dessenKrallen ein Bauerngut nach dem andern verfällt. Und was das beste ist: Diese neuen freienBauern, deren Güter und deren Flügel so sehr beschnitten sind, wurden in Deutschland, woalles zu spät geschieht, geschaffen zu einer Zeit, wo nicht nur die wissenschaftlicheLandwirtschaft, sondern auch schon die neuerfundnen landwirtschaftlichen Maschinen denKleinbetrieb mehr und mehr zu einer veralteten, nicht mehr lebensfähigen Betriebsweisemachen. Wie die mechanische Spinnerei und Weberei das Spinnrad und den Handwebstuhl,so müssen diese neuen landwirtschaftlichen Produktionsmethoden die ländlicheParzellenwirtschaft rettungslos vernichten und durch das große Grundeigentum ersetzen,falls - ihnen dazu die nötige Zeit vergönnt wird.Denn schon droht dem ganzen europäischen Ackerbau, wie er heute betrieben wird, einübermächtiger Nebenbuhler in der amerikanischen Massenproduktion von Getreide. Gegendiesen von der Natur selbst urbar gemachten und auf eine lange Reihe von Jahrengedüngten Boden, der um ein Spottgeld zu haben ist, können weder unsere verschuldetenKleinbauern noch unsre ebenso tief in Schulden steckenden Großgrundbesitzer ankämpfen.Die ganze europäische landwirtschaftliche Betriebsweise erliegt vor der amerikanischenKonkurrenz. Ackerbau in Europa bleibt möglich nur, wenn er gesellschaftlich betrieben wirdund für Rechnung der Gesellschaft.Das sind die Aussichten für unsre Bauern. Und das Gute hat die Herstellung einer, wennauch verkümmerten, freien Bauernklasse gehabt, daß sie den Bauer in eine Lage versetzthat, in der er - mit dem Beistand seiner natürlichen Bundesgenossen, der Arbeiter - sichselbst helfen kann, sobald er nur begreifen will, wie.Aber wie? - Durch eine Wiedergeburt der Mark, aber nicht in ihrer alten, überlebten, sondernin einer verjüngten Gestalt; durch eine solche Erneuerung der Bodengemeinschaft, daßdiese den kleinbäuerlichen Genossen nicht nur alle Vorteile des Großbetriebs und derAnwendung der landwirtschaftlichen Maschinerie zuwendet, sondern ihnen auch die Mittelbietet, neben dem Ackerbau Großindustrie mit Dampf- oder Wasserkraft zu betreiben, undzwar für Rechnung nicht von Kapitalisten, sondern für Rechnung der Genossenschaft.Ackerbau im großen und Benutzung der landwirtschaftlichen Maschinerie - das heißt mitanderen Worten: Überflüssigmachung der landwirtschaftlichen Arbeit des größten Teils derKleinbauern, die jetzt ihre Felder selbst bestellen. Damit diese vom Feldbau verdrängtenLeute nicht arbeitslos bleiben oder in die Städte gedrängt werden, dazu gehört industrielleBeschäftigung auf dem Lande selbst, und diese kann nur vorteilhaft für sie betrieben werdenim großen, mit Dampf- oder Wasserkraft.Wie das einrichten? Darüber denkt einmal nach, deutsche Bauern.39


Karl Marx - Friedrich EngelsDie deutsche Ideologie - Ausgewählte KapitelKritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauerund Stirner und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Prophetenin: Karl Marx/Friedrich Engels - WerkeMehrere Stellen des Manuskripts sind beschädigt. In der vorliegenden Ausgabe wurden diebeschädigten Stellen auf Grund der erhalten gebliebenen Satzteile in eckigen Klammern ergänzt. Diewenigen notwendigen Einfügungen der Redaktion erscheinen ebenfalls in eckigen Klammern. AufLücken im Manuskript wird hingewiesen. Die im Manuskript vorhandenen Randbemerkungen vonMarx und Engels erscheinen in Form von Fußnoten, bleiben aber als Randbemerkungengekennzeichnet. Ebenfalls als Fußnoten erscheinen solche Textstellen, die im Manuskript von Marxund Engels durch vertikale Streichungen ungültig gemacht wurden, jedoch aus zu Ende geführtenSätzen bestehen und so die Entwicklung bestimmter Gedanken erkennen lassen.I. Band: Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihrenRepräsentanten Feuerbach, B. Bauer und StirnerVorredeDie Menschen haben sich bisher stets falsche Vorstellungen über sich selbst gemacht, vondem, was sie sind oder sein sollen. Nach ihren Vorstellungen von Gott, von demNormalmenschen usw. haben sie ihre Verhältnisse eingerichtet. Die Ausgeburten ihresKopfes sind ihnen über den Kopf gewachsen. Vor ihren Geschöpfen haben sie, dieSchöpfer, sich gebeugt. Befreien wir sie von den Hirngespinsten, den Ideen, den Dogmen,den eingebildeten Wesen, unter deren Joch sie verkümmern. Rebellieren wir gegen dieseHerrschaft der Gedanken. Lehren wir sie, diese Einbildungen mit Gedanken vertauschen,die dem Wesen des Menschen entsprechen, sagt der Eine, sich kritisch zu ihnen verhalten,sagt der Andere, sie sich aus dem Kopf schlagen, sagt der Dritte, und - die bestehendeWirklichkeit wird zusammenbrechen.Diese unschuldigen und kindlichen Phantasien bilden den Kern der neuern junghegelschenPhilosophie, die in Deutschland nicht nur von dem Publikum mit Entsetzen und Ehrfurchtempfangen, sondern auch von den philosophischen Heroen selbst mit dem feierlichenBewußtsein der weltumstürzenden Gefährlichkeit und der verbrecherischenRücksichtslosigkeit ausgegeben wird. Der erste Band dieser Publikation hat den Zweck,diese Schafe, die sich für Wölfe halten und dafür gehalten werden, zu entlarven, zu zeigen,wie sie die Vorstellungen der deutschen Bürger nur philosophisch nachblöken, wie diePrahlereien dieser philosophischen Ausleger nur die Erbärmlichkeit der wirklichen deutschenZustände widerspiegeln. Sie hat den Zweck, den philosophischen Kampf mit den Schattender Wirklichkeit, der dem träumerischen und duseligen deutschen Volk zusagt, zu blamierenund um den Kredit zu bringen.40


Ein wackrer Mann bildete sich einmal ein, die Menschen ertränken nur im Wasser, weil sievom Gedanken der Schwere besessen wären. Schlügen sie sich diese Vorstellung aus demKopfe, etwa indem sie dieselbe für eine abergläubige, für eine religiöse Vorstellungerklärten, so seien sie über alle Wassersgefahr erhaben. Sein Leben lang bekämpfte er dieIllusion der Schwere, von deren schädlichen Folgen jede Statistik ihm neue und zahlreicheBeweise lieferte. Der wackre Mann war der Typus der neuen deutschen revolutionärenPhilosophen.1313 [Im Manuskript gestrichen:] Der deutsche Idealismus sondert sich durch keinen spezifischenUnterschied von der Ideologie aller andern Völker ab. Auch diese betrachtet die Welt als durch Ideenbeherrscht, die Ideen u[nd] Begriffe als bestimmende Prinzipien, bestimmte Gedanken als das denPhilosophen zugängliche Mysterium der materiellen Welt.Hegel hatte den positiven Idealismus vollendet. Nicht nur hatte sich ihm d[ie] ganze materielle Welt ineine Gedankenwelt u[nd] d[ie] ganze Geschichte in eine Geschichte von Gedanken verwandelt. Erbegnügt sich nicht, die Gedankendinge einzuregistrieren, er sucht auch den Produktionsaktdarzustellen.Die deutschen Philosophen, aus ihrer Traumwelt aufgerüttelt, protestieren gegen d[ie] Gedankenwelt,der sie die Vorstellung der wirklichen, leib[haftigen ...]Die deutschen philosophischen Kritiker behaupten sämtlich, daß Ideen, Vorstellungen, Begriffe bisherd[ie] wirklichen Menschen beherrscht u[nd] bestimmt haben, daß d[ie] wirkliche Welt ein Produkt d[er]ideellen Welt ist. Das findet bis auf diesen Augenblick statt, das soll aber anders werden. Sieunterscheiden sich in der Art, wie sie die nach ihrer Ansicht so unter d[er] Macht ihrer eignen fixenGedanken seufzende Menschenwelt erlösen wollen; sie unterscheiden sich in dem, was sie für fixeGedanken erklären; sie stimmen überein in d[em] Glauben dieser Gedankenherrschaft, sie stimmenüberein in dem Glauben, daß ihr kritischer Denkakt d[en] Untergang d[es] Bestehenden herbeiführenmüsse, sei es nun, daß sie ihre isolierte Denktätigkeit für zureichender halten od[er] das allgemeineBewußtsein erobern wollen.Der Glaube, daß die reelle Welt d[as} Produkt der ideellen Welt sei, daß die Welt der Ideen [...]An ihrer Hegelschen Gedankenwelt irre geworden, protestieren d[ie] deutschen Philosophen gegend[ie] Herrschaft d[er] Gedanken, Ideen, Vorstellungen, die bisher nach ihrer Ansicht, d.h. nach derIllusion Hegels, die wirkliche Welt produzierten, bestimmten, beherrschten. Sie legen Protest ein u[nd]verenden [...]Nach dem Hegelschen System hatten Ideen, Gedanken, Begriffe das wirkliche Leben d[er]Menschen, ihre materielle Welt, ihre reellen Verhältnisse produziert, bestimmt, beherrscht. Seinerebellischen Schüler nehmen dies von ihm [...]41


FeuerbachGegensatz von materialistischerund idealistischer AnschauungEinleitungWie deutsche Ideologen melden, hat Deutschland in den letzten Jahren eine Umwälzungohnegleichen durchgemacht. Der Verwesungsprozeß des Hegelschen Systems, der mitStrauß begann, hat sich zu einer Weltgärung entwickelt, in welche alle \"Mächte derVergangenheit\" hineingerissen sind. In dem allgemeinen Chaos haben sich gewaltigeReiche gebildet, um alsbald wieder unterzugehen, sind Heroen momentan aufgetaucht, umvon kühneren und mächtigeren Nebenbuhlern wieder in die Finsternis zurückgeschleudertzu werden. Es war eine Revolution, wogegen die französische ein Kinderspiel ist, einWeltkampf, vor dem die Kämpfe der Diadochen kleinlich erscheinen. Die Prinzipienverdrängten, die Gedankenhelden überstürzten einander mit unerhörter Hast, und in dendrei Jahren 1842-[18]45 wurde in Deutschland mehr aufgeräumt als sonst in dreiJahrhunderten.Alles dies soll sich im reinen Gedanken zugetragen haben. Es handelt sich allerdings um eininteressantes Ereignis: um den Verfaulungsprozeß des absoluten Geistes. Nach Erlöschendes letzten Lebensfunkens traten die verschiedenen Bestandteile dieses caput mortuum14inDekomposition, gingen neue Verbindungen ein und bildeten neue Substanzen. Diephilosophischen Industriellen, die bisher von der Exploitation des absoluten Geistes gelebthatten, warfen sich jetzt auf die neuen Verbindungen. Jeder betrieb den Verschleiß des ihmzugefallenen Anteils mit möglichster Emsigkeit. Es konnte dies nicht abgehen ohneKonkurrenz. Sie wurde anfangs ziemlich bürgerlich und solide geführt. Später, als derdeutsche Markt überführt war und die Ware trotz aller Mühe auf dem Weltmarkt keinenAnklang fand, wurde das Geschäft nach gewöhnlicher deutscher Manier verdorben durchfabrikmäßige und Scheinproduktion, Verschlechterung der Qualität, Sophistikation desRohstoffs, Verfälschung der Etiketten, Scheinkäufe, Wechselreiterei und ein aller reellenGrundlage entbehrendes Kreditsystem. Die Konkurrenz lief in einen erbitterten Kampf aus,der uns jetzt als welthistorischer Umschwung, als Erzeuger der gewaltigsten Resultate undErrungenschaften angepriesen und konstruiert wird.Um diese philosophische Marktschreierei, die selbst in der Brust des ehrsamen deutschenBürgers ein wohltätiges Nationalgefühl erweckt, richtig zu würdigen, um die Kleinlichkeit, dielokale Borniertheit dieser ganzen junghegelschen Bewegung, um namentlich dentragikomischen Kontrast zwischen den wirklichen Leistungen dieser Helden und denIllusionen über diese Leistungen anschaulich zu machen, ist es nötig, sich den ganzenSpektakel einmal von einem Standpunkte anzusehen, der außerhalb Deutschland liegt.14 wörtlich: toter Kopf, in der Chemie gebräuchliche Ausdruck für einen Destillationsrückstand, hier:Rückstände, Überreste42


A. Die Ideologie überhaupt,namentlich die deutscheDie deutsche Kritik hat bis auf ihre neuesten Efforts den Boden der Philosophie nichtverlassen. Weit davon entfernt, ihre allgemein-philosophischen Voraussetzungen zuuntersuchen, sind ihre sämtlichen Fragen sogar auf dem Boden eines bestimmtenphilosophischen Systems, des Hegelschen, gewachsen. Nicht nur in ihren Antworten, schonin den Fragen selbst lag eine Mystifikation. Diese Abhängigkeit von Hegel ist der Grund,warum keiner dieser neueren Kritiker eine umfassende Kritik des Hegelschen Systems auchnur versuchte, sosehr Jeder von ihnen behauptet, über Hegel hinaus zu sein. Ihre Polemikgegen Hegel und gegeneinander beschränkt sich darauf, daß Jeder eine Seite desHegelschen Systems herausnimmt und diese sowohl gegen das ganze System wie gegendie von den Andern herausgenommenen Seiten wendet. Im Anfange nahm man reine,unverfälschte Hegelsche Kategorien heraus, wie Substanz und Selbstbewußtsein, späterprofanierte man diese Kategorien durch weltlichere Namen, wie Gattung, der Einzige, derMensch etc.Die gesamte deutsche philosophische Kritik von Strauß bis Stirner beschränkt sich auf Kritikder religiösen Vorstellungen15. Man ging aus von der wirklichen Religion und eigentlichenTheologie. Was religiöses Bewußtsein, religiöse Vorstellung sei, wurde im weiteren Verlaufverschieden bestimmt. Der Fortschritt bestand darin, die angeblich herrschendenmetaphysischen, politischen, rechtlichen, moralischen und andern Vorstellungen auch unterdie Sphäre der religiösen oder theologischen Vorstellungen zu subsumieren; ebenso daspolitische, rechtliche, moralische Bewußtsein für religiöses oder theologisches Bewußtsein,und den politischen, rechtlichen, moralischen Menschen, in letzter Instanz \"den Menschen\",für religiös zu erklären. Die Herrschaft der Religion wurde vorausgesetzt. Nach und nachwurde jedes herrschende Verhältnis für ein Verhältnis der Religion erklärt und in Kultusverwandelt, Kultus des Rechts, Kultus des Staats pp. Überall hatte man es nur mit Dogmenund dem Glauben an Dogmen zu tun. Die Welt wurde in immer größerer Ausdehnungkanonisiert, bis endlich der ehrwürdige Sankt Max sie en bloc heiligsprechen und damit einfür allemal abfertigen konnte.Die Althegelianer hatten Alles begriffen, sobald es auf eine Hegelsche logische Kategoriezurückgeführt war. Die Junghegelianer kritisierten Alles, indem sie ihm religiöseVorstellungen unterschoben oder es für theologisch erklärten. Die Junghegelianer stimmenmit den Althegelianern überein in dem Glauben an die Herrschaft der Religion, der Begriffe,des Allgemeinen in der bestehenden Welt. Nur bekämpfen die Einen die Herrschaft alsUsurpation, welche die Andern als legitim feiern,Da bei diesen Junghegelianern die Vorstellungen, Gedanken, Begriffe, überhaupt dieProdukte des von ihnen verselbständigten Bewußtseins für die eigentlichen Fesseln derMenschen gelten, gerade wie sie bei den Althegelianern für die wahren Bande dermenschlichen Gesellschaft erklärt werden, so versteht es sich, daß die Junghegelianer auchnur gegen diese Illusionen des Bewußtseins zu kämpfen haben. Da nach ihrer Phantasie dieVerhältnisse der Menschen, ihr ganzes Tun und Treiben, ihre Fesseln und Schranken15 [Im Manuskript gestrichen:] ... die mit dem Anspruche auftrat, die absolute Erlöserin der Welt vonallem Übel zu sein. Die Religion wurde fortwährend als letzte Ursache aller diesen Philosophenwiderwärtigen Verhältnisse, als Erzfeind angesehen und behandelt.43


Produkte ihres Bewußtseins sind, so stellen die Junghegelianer konsequenterweise dasmoralische Postulat an sie, ihr gegenwärtiges Bewußtsein mit dem menschlichen, kritischenoder egoistischen Bewußtsein zu vertauschen und dadurch ihre Schranken zu beseitigen.Diese Forderung, das Bewußtsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, dasBestehende anders zu interpretieren, d.h. es vermittelst einer andren Interpretationanzuerkennen. Die junghegelschen Ideologen sind trotz ihrer angeblich \"welterschütternden\"Phrasen die größten Konservativen. Die jüngsten von ihnen haben den richtigen Ausdruckfür ihre Tätigkeit gefunden, wenn sie behaupten, nur gegen \"Phrasen\" zu kämpfen. Sievergessen nur, daß sie diesen Phrasen selbst nichts als Phrasen entgegensetzen, und daßsie die wirkliche bestehende Welt keineswegs bekämpfen, wenn sie nur die Phrasen dieserWelt bekämpfen. Die einzigen Resultate, wozu diese philosophische Kritik es bringenkonnte, waren einige und noch dazu einseitige religionsgeschichtliche Aufklärungen überdas Christentum; ihre sämtlichen sonstigen Behauptungen sind nur weitereAusschmückungen ihres Anspruchs, mit diesen unbedeutenden Aufklärungenwelthistorische Entdeckungen geliefert zu haben.Keinem von diesen Philosophen ist es eingefallen, nach dem Zusammenhange derdeutschen Philosophie mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhange ihrerKritik mit ihrer eignen materiellen Umgebung zu fragen.__________Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, essind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Essind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohldie vorgefundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sindalso auf rein empirischem Wege konstatierbar.Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendigermenschlicher Individuen16. Der erste zu konstatierende Tatbestand ist also die körperlicheOrganisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur. Wirkönnen hier natürlich weder auf die physische Beschaffenheit der Menschen selbst noch aufdie von den Menschen vorgefundenen Naturbedingungen, die geologischen,orohydrographischen, klimatischen und andern Verhältnisse, eingehen17. AlleGeschichtschreibung muß von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Laufder Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen.Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonstwill, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zuunterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durchihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittelproduzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.17 [Im Manuskript gestrichen:] Diese Verhältnisse bedingen aber nicht nur die ursprüngliche,naturwüchsige Organisation der Menschen, namentlich die Rassenunterschiede, sondern auch ihreganze weitere Entwicklung oder Nicht-Entwicklung bis auf den heutigen Tag.16 [Im Manuskript gestrichen:] Der erste geschichtliche Akt dieser Individuen, wodurch sie sich vonden Tieren unterscheiden, ist nicht, daß sie denken, sondern, daß sie anfangen, ihre Lebensmittel zuproduzieren.44


Die Weise, in der die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, hängt zunächst von derBeschaffenheit der vorgefundenen und zu reproduzierenden Lebensmittel selbst ab. DieseWeise der Produktion ist nicht bloß nach der Seite hin zu betrachten, daß sie dieReproduktion der physischen Existenz der Individuen ist. Sie ist vielmehr schon einebestimmte Art der Tätigkeit dieser Individuen, eine bestimmte Art, ihr Leben zu äußern, einebestimmte Lebensweise derselben. Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Wassie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, alsauch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen also sind, das hängt ab von denmateriellen Bedingungen ihrer Produktion.Diese Produktion tritt erst ein mit der Vermehrung der Bevölkerung. Sie setzt selbst wiedereinen Verkehr der Individuen untereinander voraus. Die Form dieses Verkehrs ist wiederdurch die Produktion bedingt.Die Beziehungen verschiedener Nationen untereinander hängen davon ab, wie weit jedevon ihnen ihre Produktivkräfte, die Teilung der Arbeit und den innern Verkehr entwickelt hat.Dieser Satz ist allgemein anerkannt. Aber nicht nur die Beziehung einer Nation zu anderen,sondern auch die ganze innere Gliederung dieser Nation selbst hängt von derEntwicklungsstufe ihrer Produktion und ihres innern und äußern Verkehrs ab. Wie weit dieProduktionskräfte einer Nation entwickelt sind, zeigt am augenscheinlichsten der Grad, biszu dem die Teilung der Arbeit entwickelt ist. Jede neue Produktivkraft, sofern sie nicht einebloß quantitative Ausdehnung der bisher schon bekannten Produktivkräfte ist (z.B.Urbarmachung von Ländereien), hat eine neue Ausbildung der Teilung der Arbeit zur Folge.Die Teilung der Arbeit innerhalb einer Nation führt zunächst die Trennung der industriellenund kommerziellen von der ackerbauenden Arbeit und damit die Trennung von Stadt undLand und den Gegensatz der Interessen Beider herbei. Ihre weitere Entwicklung führt zurTrennung der kommerziellen Arbeit von der industriellen. Zu gleicher Zeit entwickeln sichdurch die Teilung der Arbeit innerhalb dieser verschiednen Branchen wieder verschiedeneAbteilungen unter den zu bestimmten Arbeiten zusammenwirkenden Individuen. DieStellung dieser einzelnen Abteilungen gegeneinander ist bedingt durch die Betriebsweiseder ackerbauenden, industriellen und kommerziellen Arbeit (Patriarchalismus, Sklaverei,Stände, Klassen). Dieselben Verhältnisse zeigen sich bei entwickelterem Verkehr in denBeziehungen verschiedner Nationen zueinander. Die verschiedenen Entwicklungsstufen derTeilung der Arbeit sind ebensoviel verschiedene Formen des Eigentums; d.h., diejedesmalige Stufe der Teilung der Arbeit bestimmt auch die Verhältnisse der Individuenzueinander in Beziehung auf das Material, Instrument und Produkt der Arbeit.Die erste Form des Eigentums ist das Stammeigentum. Es entspricht der unentwickeltenStufe der Produktion, auf der ein Volk von Jagd und Fischfang, von Viehzucht oderhöchstens vom Ackerbau sich nährt. Es setzt in diesem letzteren Falle eine große Masseunbebauter Ländereien voraus. Die Teilung der Arbeit ist auf dieser Stufe noch sehr wenigentwickelt und beschränkt sich auf eine weitere Ausdehnung der in der Familie gegebenennaturwüchsigen Teilung der Arbeit. Die gesellschaftliche Gliederung beschränkt sich daherauf eine Ausdehnung der Familie: patriarchalische Stammhäupter, unter ihnen dieStammitglieder, endlich Sklaven. Die in der Familie latente Sklaverei entwickelt sich erstallmählich mit der Vermehrung der Bevölkerung und der Bedürfnisse und mit derAusdehnung des äußern Verkehrs, sowohl des Kriegs wie des Tauschhandels.45


Die zweite Form ist das antike Gemeinde- und Staatseigentum, das namentlich aus derVereinigung mehrerer Stämme zu einer Stadt durch Vertrag oder Eroberung hervorgeht undbei dem die Sklaverei fortbestehen bleibt. Neben dem Gemeindeeigentum entwickelt sichschon das mobile und später auch das immobile Privateigentum, aber als eine abnorme,dem Gemeindeeigentum untergeordnete Form. Die Staatsbürger besitzen nur in ihrerGemeinschaft die Macht über ihre arbeitenden Sklaven und sind schon deshalb an die Formdes Gemeindeeigentums gebunden. Es ist das gemeinschaftliche Privateigentum deraktiven Staatsbürger, die den Sklaven gegenüber gezwungen sind, in dieser naturwüchsigenWeise der Assoziation zu bleiben. Daher verfällt die ganze hierauf basierende Gliederungder Gesellschaft und mit ihr die Macht des Volks in demselben Grade, in dem namentlichdas immobile Privateigentum sich entwickelt. Die Teilung der Arbeit ist schon entwickelter.Wir finden schon den Gegensatz von Stadt und Land, später den Gegensatz zwischenStaaten, die das städtische und die das Landinteresse repräsentieren, und innerhalb derStädte selbst den Gegensatz zwischen Industrie und Seehandel. Das Klassenverhältniszwischen Bürgern und Sklaven ist vollständig ausgebildet.Dieser ganzen Geschichtsauffassung scheint das Faktum der Eroberung zu widersprechen.Man hat bisher die Gewalt, den Krieg, Plünderung, Raubmord pp. zur treibenden Kraft derGeschichte gemacht. Wir können uns hier nur auf die Hauptpunkte beschränken undnehmen daher nur das frappanteste Beispiel, die Zerstörung einer alten Zivilisation durch einbarbarisches Volk und die sich daran anknüpfende, von vorn anfangende Bildung einerneuen Gliederung der Gesellschaft. (Rom und Barbaren, Feudalität und Gallien,oströmisches Reich und Türken.) Bei dem erobernden Barbarenvolke ist der Krieg selbstnoch, wie schon oben angedeutet, eine regelmäßige Verkehrsform, die um so eifrigerexploitiert wird, je mehr der Zuwachs der Bevölkerung bei der hergebrachten und für sieeinzig möglichen rohen Produktionsweise das Bedürfnis neuer Produktionsmittel schafft. InItalien dagegen war durch die Konzentration des Grundeigentums (verursacht außer durchAufkauf und Verschuldung auch noch durch Erbschaft, indem bei der großen Liederlichkeitund den seltnen Heiraten die alten Geschlechter allmählich ausstarben und ihr BesitzWenigen zufiel) und Verwandlung desselben in Viehweiden (die außer durch diegewöhnlichen, noch heute gültigen ökonomischen Ursachen durch die Einfuhr geraubtenund Tributgetreides und den hieraus folgenden Mangel an Konsumenten für italisches Kornverursacht wurde) die freie Bevölkerung fast verschwunden, die Sklaven selbst starbenimmer wieder aus und mußten stets durch neue ersetzt werden. Die Sklaverei blieb dieBasis der gesamten Produktion. Die Plebejer, zwischen Freien und Sklaven stehend,brachten es nie über ein Lumpenproletariat hinaus. Überhaupt kam Rom nie über die Stadthinaus und stand mit den Provinzen in einem fast nur politischen Zusammenhange, dernatürlich auch wieder durch politische Ereignisse unterbrochen werden konnte.Mit der Entwicklung des Privateigentums treten hier zuerst dieselben Verhältnisse ein, diewir beim modernen Privateigentum, nur in ausgedehnterem Maßstabe, wiederfindenwerden. Einerseits die Konzentration des Privateigentums, die in Rom sehr früh anfing(Beweis das licinische Ackergesetz), seit den Bürgerkriegen und namentlich unter denKaisern sehr rasch vor sich ging; andrerseits im Zusammenhange hiermit die Verwandlungder plebejischen kleinen Bauern in ein Proletariat, das aber bei seiner halben Stellungzwischen besitzenden Bürgern und Sklaven zu keiner selbständigen Entwicklung kam.46


Die dritte Form ist das feudale oder ständische Eigentum. Wenn das Altertum von der Stadtund ihrem kleinen Gebiet ausging, so ging das Mittelalter vom Lande aus. Die vorgefundenedünne, über eine große Bodenfläche zersplitterte Bevölkerung, die durch die Erobererkeinen großen Zuwachs erhielt, bedingte diesen veränderten Ausgangspunkt. Im Gegensatzzu Griechenland und Rom beginnt die feudale Entwicklung daher auf einem vielausgedehnteren, durch die römischen Eroberungen und die anfangs damit verknüpfteAusbreitung der Agrikultur vorbereiteten Terrain. Die letzten Jahrhunderte des verfallendenrömischen Reichs und die Eroberung durch die Barbaren selbst zerstörten eine Masse vonProduktivkräften; der Ackerbau war gesunken, die Industrie aus Mangel an Absatz verfallen,der Handel eingeschlafen oder gewaltsam unterbrochen, die ländliche und städtischeBevölkerung hatte abgenommen. Diese vorgefundenen Verhältnisse und die dadurchbedingte Weise der Organisation der Eroberung entwickelten unter dem Einflusse dergermanischen Heerverfassung das feudale Eigentum. Es beruht, wie das Stamm- undGemeindeeigentum, wieder auf einem Gemeinwesen, dem aber nicht wie dem antiken dieSklaven, sondern die leibeignen kleinen Bauern als unmittelbar produzierende Klassegegenüberstehen. Zugleich mit der vollständigen Ausbildung des Feudalismus tritt noch derGegensatz gegen die Städte hinzu. Die hierarchische Gliederung des Grundbesitzes und diedamit zusammenhängenden bewaffneten Gefolgschaften gaben dem Adel die Macht überdie Leibeignen. Diese feudale Gliederung war ebensogut wie das antike Gemeindeeigentumeine Assoziation gegenüber der beherrschten produzierenden Klasse; nur war die Form derAssoziation und das Verhältnis zu den unmittelbaren Produzenten verschieden, weilverschiedene Produktionsbedingungen vorlagen.Dieser feudalen Gliederung des Grundbesitzes entsprach in den Städten das korporativeEigentum, die feudale Organisation des Handwerks. Das Eigentum bestand hierhauptsächlich in der Arbeit jedes Einzelnen. Die Notwendigkeit der Assoziation gegen denassoziierten Raubadel, das Bedürfnis gemeinsamer Markthallen in einer Zeit, wo derIndustrielle zugleich Kaufmann war, die wachsende Konkurrenz der den aufblühendenStädten zuströmenden entlaufnen Leibeignen, die feudale Gliederung des ganzen Landesführten die Zünfte herbei; die allmählich ersparten kleinen Kapitalien einzelner Handwerkerund ihre stabile Zahl bei der wachsenden Bevölkerung entwickelten das Gesellen- undLehrlingsverhältnis, das in den Städten eine ähnliche Hierarchie zustande brachte wie dieauf dem Lande.Das Haupteigentum bestand während der Feudalepoche also in Grundeigentum mit darangeketteter Leibeignenarbeit einerseits und eigner Arbeit mit kleinem, die Arbeit von Gesellenbeherrschendem Kapital andrerseits. Die Gliederung von Beiden war durch die borniertenProduktionsverhältnisse - die geringe und rohe Bodenkultur und die handwerksmäßigeIndustrie - bedingt. Teilung der Arbeit fand in der Blüte des Feudalismus wenig statt. JedesLand hatte den Gegensatz von Stadt und Land in sich; die Ständegliederung war allerdingssehr scharf ausgeprägt, aber außer der Scheidung von Fürsten, Adel, Geistlichkeit undBauern auf dem Lande und Meistern, Gesellen, Lehrlingen und bald auch Taglöhnerpöbel inden Städten fand keine bedeutende Teilung statt. Im Ackerbau war sie durch die parzellierteBebauung erschwert, neben der die Hausindustrie der Bauern selbst aufkam, in derIndustrie war die Arbeit in den einzelnen Handwerken selbst gar nicht, unter ihnen sehrwenig geteilt. Die Teilung von Industrie und Handel wurde in älteren Städten vorgefunden,entwickelte sich in den neueren erst später, als die Städte unter sich in Beziehung traten.47


Die Zusammenfassung größerer Länder zu feudalen Königreichen war für den Grundadelwie für die Städte ein Bedürfnis. Die Organisation der herrschenden Klasse, des Adels, hattedaher überall einen Monarchen an der Spitze.Die Tatsache ist also die: bestimmte Individuen, die auf bestimmte Weise produktiv tätigsind, gehen diese bestimmten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ein. Dieempirische Beobachtung muß in jedem einzelnen Fall den Zusammenhang dergesellschaftlichen und politischen Gliederung mit der Produktion empirisch und ohne alleMystifikation und Spekulation aufweisen. Die gesellschaftliche Gliederung und der Staatgehen beständig aus dem Lebensprozeß bestimmter Individuen hervor; aber dieserIndividuen, nicht wie sie in der eignen oder fremden Vorstellung erscheinen mögen, sondernwie sie wirklich sind, d.h. wie sie wirken, materiell produzieren, also wie sie unterbestimmten materiellen und von ihrer Willkür unabhängigen Schranken, Voraussetzungenund Bedingungen tätig sind18.Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbarverflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprachedes wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschenerscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigenProduktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion,Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind dieProduzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wiesie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselbenentsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtseinkann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihrwirklicher Lebensprozeß. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnissewie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomenebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung derGegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen.Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erdeherabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen. D.h., es wird nicht ausgegangenvon dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht von dengesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen, um davon aus bei denleibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von den wirklich tätigen Menschenausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung derideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. Auch dieNebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen,empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses.18 [Im Manuskript gestrichen:] Die Vorstellungen, die sich diese Individuen machen, sind Vorstellungenentweder über ihr Verhältnis zur Natur oder über ihr Verhältnis untereinander, oder über ihre eigneBeschaffenheit. Es ist einleuchtend, daß in allen diesen Fällen diese Vorstellungen der - wirklicheoder illusorische - bewußte Ausdruck ihrer wirklichen Verhältnisse und Betätigung, ihrer Produktion,ihres Verkehrs, ihrer gesellschaftlichen und politischen Organisation sind. Die entgegengesetzteAnnahme ist nur dann möglich, wenn man außer dem Geist der wirklichen, materiell bedingtenIndividuen noch einen aparten Geist voraussetzt. Ist der bewußte Ausdruck der wirklichenVerhältnisse dieser Individuen illusorisch, stellen sie in ihren Vorstellungen ihre Wirklichkeit auf denKopf, so ist dies wiederum eine Folge ihrer bornierten materiellen Betätigungsweise und ihrer darausentspringenden bornierten gesellschaftlichen Verhältnisse.48


Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechendenBewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie habenkeine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion undihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auchihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben,sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein. In der ersten Betrachtungsweise geht manvon dem Bewußtsein als dem lebendigen Individuum aus, in der zweiten, dem wirklichenLeben entsprechenden, von den wirklichen lebendigen Individuen selbst und betrachtet dasBewußtsein nur als ihr Bewußtsein.Diese Betrachtungsweise ist nicht voraussetzungslos. Sie geht von den wirklichenVoraussetzungen aus, sie verläßt sie keinen Augenblick. Ihre Voraussetzungen sind dieMenschen nicht in irgendeiner phantastischen Abgeschlossenheit und Fixierung, sondern inihrem wirklichen, empirisch anschaulichen Entwicklungsprozeß unter bestimmtenBedingungen. Sobald dieser tätige Lebensprozeß dargestellt wird, hört die Geschichte auf,eine Sammlung toter Fakta zu sein, wie bei den selbst noch abstrakten Empirikern, odereine eingebildete Aktion eingebildeter Subjekte, wie bei den Idealisten.Da, wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche, positiveWissenschaft, die Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischenEntwicklungsprozesses der Menschen. Die Phrasen vom Bewußtsein hören auf, wirklichesWissen muß an ihre Stelle treten. Die selbständige Philosophie verliert mit der Darstellungder Wirklichkeit ihr Existenzmedium. An ihre Stelle kann höchstens eine Zusammenfassungder allgemeinsten Resultate treten, die sich aus der Betrachtung der historischenEntwicklung der Menschen abstrahieren lassen. Diese Abstraktionen haben für sich,getrennt von der wirklichen Geschichte, durchaus keinen Wert. Sie können nur dazu dienen,die Ordnung des geschichtlichen Materials zu erleichtern, die Reihenfolge seiner einzelnenSchichten anzudeuten. Sie geben aber keineswegs, wie die Philosophie, ein Rezept oderSchema, wonach die geschichtlichen Epochen zurechtgestutzt werden können. DieSchwierigkeit beginnt im Gegenteil erst da, wo man sich an die Betrachtung und Ordnungdes Materials, sei es einer vergangnen Epoche oder der Gegenwart, an die wirklicheDarstellung gibt. Die Beseitigung dieser Schwierigkeiten ist durch Voraussetzungen bedingt,die keineswegs hier gegeben werden können, sondern die erst aus dem Studium deswirklichen Lebensprozesses und der Aktion der Individuen jeder Epoche sich ergeben. Wirnehmen hier einige dieser Abstraktionen heraus, die wir gegenüber der Ideologiegebrauchen, und werden sie an historischen Beispielen erläutern.[1.] GeschichteWir müssen bei den voraussetzungslosen Deutschen damit anfangen, daß wir die ersteVoraussetzung aller menschlichen Existenz, also auch aller Geschichte konstatieren,nämlich die Voraussetzung, daß die Menschen imstande sein müssen zu leben, um\"Geschichte machen\" zu können19. Zum Leben aber gehört vor Allem Essen und Trinken,Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere. Die erste geschichtliche Tat ist also dieErzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellenLebens selbst, und zwar ist dies eine geschichtliche Tat, eine Grundbedingung aller19 [Randbemerkung von Marx:] Hegel. Geologische, hydrographische etc. Verhältnisse. Diemenschlichen Leiber. Bedürfnis, Arbeit.49


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