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Published by NOAH, 2015-07-31 08:16:49

NOAH_01_15

NOAH_01_15

FOTO: JASPER ABELS

KULTUR

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KULTUR

alles oder

nichts

Thomas Glavinic sagt von sind. In Das Leben der Wünsche werden einem Mann, der ebenfalls
sich selbst, er schreibe wie ein Jonas heißt, die Wünsche erfüllt, die in seinem Unbewussten rumo-
Beamter. Das ist eine Lüge. Er ren – was unter anderem dazu führt, dass seine Frau stirbt. In Das
schreibt wie ein Verrückter, der größere Wunder, seinem bislang letzten Roman, steigt ein dritter
es nicht aushält, nicht seinen Jonas auf den Mount Everest und stirbt fast dabei. Es sind Geschich-
Kopf zu riskieren ten, die man im Englischen mind fucks nennen würde, weil sie im
Leser die Frage auslösen, was er an der Stelle der Romanhelden
TEXT PETER PRASCHL täte – in den Todeszonen, in denen man auf sich allein gestellt ist.
FOTOGRAFIE LUKAS GANSTERER
Wir sind bei einem Italiener im vierten Wiener Bezirk ver-
Thomas Glavinic ist in der deutschsprachigen abredet. Glavinic sieht ein wenig fertig aus, weil er am Abend zuvor
Gegenwartsliteratur eine Ausnahmeerschei- etwas zu exzessiv ausgegangen ist und ihn am Vormittag sein Per-
nung. Der 42-Jährige war zweimal für den sonal Trainer ein paar Stunden lang geschunden hat.
Deutschen Buchpreis nominiert, veröffentlicht
bei einem renommierten Verlag, kann über ROMANE
seine ästhetischen Überlegungen eloquent IN DER
Auskunft geben. Doch jeder seiner Romane TODESZONE
wird von Plots und Dialogen vorangetrieben,
ist auch für Menschen zugänglich, die sich NOAH: Was ist so toll daran, ein Schriftsteller zu sein?
nicht mit Literaturtheorie befasst haben, und THOMAS GLAVINIC: Ich arbeite sicher weniger und verdiene sicher
auf fast altmodische Weise spannend. Man mehr als die meisten Menschen. Das klingt sarkastisch, aber es ist
möchte auf jeder Seite wissen, wie es weiter- so. Natürlich hatte das bei mir viel mit Glück zu tun. Wenn man nicht
geht, bei jeder Geschichte, wie sie ausgeht. wahrgenommen wird, muss man irgendwann ja wieder Taxi fahren.
Das Wichtigste aber: Glavinic-Romane han- Schriftsteller zu sein ist ein schöner Beruf. Ich setze mich hin und
deln immer von einem Alles oder Nichts. In kann bei dem sein, was mich ausmacht. Ich bin nie so nahe an mir
Die Arbeit der Nacht wacht ein gewisser Jonas und an den Dingen wie am Schreibtisch. Das ist auch anstrengend,
auf, um festzustellen, dass alle anderen Men- aber ein bisschen Anstrengung schadet ja nicht.
schen auf der Welt spurlos verschwunden NOAH: Strengen Sie sich gerade an?
GLAVINIC: Wieder. Allerdings ist es ein so großes Projekt, dass
52 ich immer wieder innehalten muss, um sicherzugehen, dass ich es

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KULTUR

bin dabei auch zweimal gescheitert und dem meiner Bücher immer noch zwei, drei
logische Fehler. Das ist dann ganz toll. Weil
nach hundert Seiten darauf gekommen, ich mich dann jedes Mal fragen muss, warum
das vor ihm nie jemandem aufgefallen ist …
dass es so nicht funktioniert. Natürlich habe NOAH: Stören Sie solche Fehler?
GLAVINIC: Ach nein, nicht wirklich. Es gibt
ich in dieser Zeit auch anderes geschrieben. immer Fehler. Leute, die sich darüber auf-
regen, haben Literatur nicht verstanden. Es
auch bewältigen kann. Falls ich zu schnell Das fällt mir nicht schwer. Ich mache das geht um die Größe des Versuchs. Pseudo-
perfektion ist glatt, Leipziger Literaturschu-
schreibe, laufe ich dem Roman davon. Und wie ein Beamter, jeden Tag zwei Seiten. le. Wer braucht so etwas? Ich jedenfalls
nicht. Ich wollte nie jemand werden, den es
wenn ich zu langsam schreibe, läuft mir der Auch wenn ich am Vortag gefeiert habe, es schon gegeben hat.
NOAH: Können Sie sich denn erklären, wa-
Roman davon. Ich muss mich immer darum wird gearbeitet. Ich glaube, dass viele Men- rum Sie unbedingt Schriftsteller werden
wollten?
bemühen, dass wir zusammenbleiben. Au- schen aus ihrem Talent nur deswegen nichts GLAVINIC: Das war immer da, ich habe mit
neun Jahren ein Filmdrehbuch geschrieben,
ßerdem geht es gerade ein wenig drunter machen, weil ihnen die Disziplin fehlt. Ich eine Piratengeschichte. Damals habe ich
noch nicht einmal gewusst, dass es etwas
und drüber in meinem Leben. Aber ab habe in vielen Dingen keine Disziplin, beim war, was ein Schriftsteller tut. Das Schrei-
ben ist meine Form, mit der Wirklichkeit
Dienstag bin ich in den USA. Drei Monate Schreiben schon. umzugehen und bei mir zu sein. Ich bin beim
Schreiben so sehr bei mir, dass ich manch-
writer in residence an einer Universität in NOAH: Können Sie sich das erklären? mal, sobald ich wieder hinausgehe, Angst
bekomme, dass das nicht real ist. Schwere
Pennsylvania. Da muss ich nur hin und wie- GLAVINIC: Es ist einfach der unbedingte Angstwellen, nicht lustig. Ich habe die The-
orie, dass jeder Mensch ein Gitter hat,
der mit den Studenten reden. Sonst kann Wille. Ich wollte immer schon ein Schrift- durch das die Eindrücke in ihn dringen. Bei
manchen Menschen sind die Zwischenräu-
ich schreiben und herumfahren. steller sein. Es gibt nichts, was ich je mit me größer. Ich befürchte, bei mir sind sie
sehr groß. Wenn ich mit mehr als zwei Leu-
NOAH: So wie Sie Ihren Schreibprozess so einem fanatischen Willen wollte. ten am Tisch sitze, halte ich das nicht aus.
NOAH: Sie haben viele Ängste?
beschreiben, habe ich es mir schrecklich NOAH: Wenn einem so viel daran liegt, ist GLAVINIC: Nicht vor Dingen, vor denen die
meisten Angst haben. Ich habe keine Pro-
vorgestellt, immer auf die eine Idee warten das nicht ein Einfallstor für Selbstzweifel? bleme damit, in die düsteren Viertel zu ge-
hen, dort wird es ja erst interessant. Aber
zu müssen, die einen ganzen Roman tragen GLAVINIC: Ich schaue nie mehr in meine ich kann ohne Licht nicht schlafen. Dunkel-
heit macht mir wahnsinnige Angst. Das war
kann. Bücher. Jedes Mal, wenn ich es nach Jahren immer schon so.
NOAH: Das Alleinsein Ihres Jonas hat mich
GLAVINIC: Ach nein, ich habe immer meh- doch tue, denke ich: Das ist so schlecht, beschäftigt …
GLAVINIC: Welcher?
rere auf Halde. Ich hätte keine Schwierig- das gibt’s doch gar nicht. NOAH: Es sind drei verschiedene Jonasse,
aber es ist immer derselbe – ein Mann, der
keiten, ein Buch zu schreiben, das ganz NOAH: Sie müssen doch noch Lesungen allein ist.

anders ist. aus Ihren Büchern veranstalten. WENN ICH MIT
MEHRALS ZWEI
NOAH: Deponieren Sie diese Ideen irgend- GLAVINIC: Das geht gerade noch. Aber LEUTEN AM TISCH
SITZE, HALTE ICH
wo? sobald ich danach von einem Buch weg bin, DAS NICHTAUS

GLAVINIC: Nein. Eine Romanidee kann nur halte ich es kaum noch aus. GLAVINIC: Das bin ich ja. Ich bin ja allein.
Nicht einsam, aber sehr allein.
eine große Idee sein. Falls ich sie vergesse, NOAH: Bis ein Übersetzer Sie daran erin- NOAH: Wenn man sich beim Lesen den

kann sie nicht groß gewesen sein. nert …

NOAH: Wie lange gehen Sie dann schwan- GLAVINIC: Das ist manchmal völlig irre.

ger mit einem Buch? Mein türkischer Übersetzer hatte Fragen zum

GLAVINIC: Bei Das größere Wunder hat Kameramörder, bei denen ich keine Ahnung

es insgesamt acht Jahre gedauert. Aber ich hatte, was er von mir wollte. Ich habe ihn

ICH SCHAUE NIE dann auch noch einmal in
Istanbul getroffen – und
wieder nicht verstanden,

MEHR IN MEINE was er wollte. Ich weiß
BÜCHER. WENN nicht, welche Sprache er
gesprochen hat. Seitdem
frage ich mich, was in der
türkischen Ausgabe ei-

ICH ES DOCH TUE, gentlich steht. Mein eng-
DENKE ICH lischer Übersetzer hin-
IMMER: DAS IST gegen erlaubt sich die
Kühnheit, manchmal Din-
ge zu streichen oder zu
verändern. In einer Szene
in Die Arbeit der Nacht

SO SCHLECHT steht der Held vor einem
Haus, und jeder Name auf
den Klingelschildern hatte

für mich eine ganz be-

stimmte Bedeutung. Und dann schreibt der

mir, er hätte sich erlaubt, diese Namen durch

andere zu ersetzen, die im Englischen gän-

giger sind. Ich habe ihn gefragt, ob er geis-

tesgestört ist. Wie kommt man auf so etwas?

Mein holländischer Übersetzer wiederum ist

ein unglaublich guter Leser. Er findet in je-

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KULTUR

Autor vorzustellen versucht, kann einem sagt, dass ein Schriftsteller immer an einem jemandem zusammenzuleben, der ständig
bange werden. Sie haben sich ja jahrelang Roman arbeiten sollte, weil die Zeiten kommen, abtaucht, um sich mit sehr existenziellen
in diese Männer reinschreiben müssen. Wie in denen er ihn braucht. Sachen zu beschäftigen, und das dann
hält man das aus? vermutlich nicht immer leicht abschütteln
GLAVINIC: Ich habe Szenen geschrieben, kann.
bei denen ich nicht hinsehen konnte, weil GLAVINIC: Manche haben es nur sehr
ich selbst Angst vor dem hatte, was ich kurz ausgehalten. Es ist auch schwer, mit

SCHWERE ANGSTWELLEN

da schrieb. Das klingt neurotisch, aber NOAH: Ich kann mir keinen unglücklicheren jemandem zu leben, der etwas mit großer
Besessenheit verfolgt und damit auch
es war so. Danach musste ich manchmal Menschen als Truman Capote vorstellen. gewissen Erfolg hat. Für manche Frauen
war das durchaus ein Problem. Ich habe
eine Flasche Wein trinken, um wieder GLAVINIC: Es gab Zeiten, in denen er glück- ja auch eine gewisse charakterliche Fes-
tigkeit, die manche verunsichert. Obwohl
herunterzukommen. Ich war für fünf Stun- lich war. Gegen Schluss hat er sich wahr- es dazu eigentlich keinen Anlass gibt.
NOAH: Entschiedenheit ist schwer zu
den in diesen Einsamkeiten, einer leeren scheinlich wirklich ein paar Tabletten zu viel ertragen, wenn man selbst keine hat.
GLAVINIC: Früher habe immer ich die
Welt. reingehauen und zu viel gekokst. Und Erhörte Frauen verlassen. Seit ein paar Jahren
verlassen sie mich. Vielleicht liegt das ja
NOAH: In der Todeszone. Gebete hätte er nicht schreiben dürfen. Man an mir.

GLAVINIC: Ja. Das ist es, was mich am schreibt nichts gegen die Menschen, von de- Irgendwie kommt die Rede auf die Videos
des „Islamischen Staates“, auf denen
Bergsteigen interessiert hat: diese Zone, in ren Zuneigung man abhängig ist. man sieht, wie Geiseln fast ergeben da-
rauf warten, enthauptet zu werden, wäh-
der man auf sich allein gestellt ist. Wenn NOAH: Vielleicht wollte er testen, wie sehr er rend ihre Schlächter noch Reden in die
Kameras halten.
man ein Problem bekommt, ist man tot. geliebt wird.
GLAVINIC: Ich kann das nicht verstehen.
NOAH: Ist dieser Jonas eine Figur, die im- GLAVINIC: Es war Selbstmord mit Anlauf. Ich habe mich das immer bei den Berich-
ten aus Ghettos gefragt. Warum erschießt
mer bei Ihnen ist – so wie Kinder einen ima- NOAH: Was ich bei der Schilderung Ihres ihr nicht wenigstens einen, bevor ihr um-
gebracht werdet, Leute? Ihr habt doch
ginären Freund haben? Schreibprozesses nicht verstanden habe: wie nichts mehr zu verlieren.
NOAH: Vielleicht liegt es daran, dass
GLAVINIC: Er hat schon vieles von mir. Sie es schaffen, zu schreiben, während Sie man bis zum Ende darauf hofft, dass das
Schlimmste doch nicht eintritt.
NOAH: Mögen Sie ihn? laute Musik im Kopfhörer haben. GLAVINIC: Aber man weiß es doch, man
hat doch schon sein eigenes Grab schau-
GLAVINIC: Da er am meisten mit mir zu tun GLAVINIC: Die höre ich nach einer Minute gar feln müssen. Außerdem kann man jedem
Menschen zutrauen, dass in ihm das ab-
hat, mag ich ihn ungefähr so, wie ich mich nicht mehr. Es lässt mich aus der Welt geraten. solut Böse ist. Man sollte nie jemanden
für einen guten Menschen halten, selbst
mag. Manchmal sehr, manchmal nicht so Anders geht es zwar auch, aber es ist schwie- wenn er einer ist. Der Zweifel muss immer
da sein. Ich traue mir selbst durchaus
besonders. Man kann ja nur über Motive riger. einen Mord zu. Es gibt Situationen, in
denen ich beschlösse: Diesen Menschen
und Gefühle schreiben, die man selbst NOAH: Und Sie machen tatsächlich immer werde ich töten. Bei einem Jeffrey Dah-
mer oder einem Osama bin Laden könn-
kennt. Über Hass zum Beispiel könnte ich nach zwei Seiten Schluss, auch wenn es gut te ich es mir vorstellen. Auch wenn es
vernünftiger wäre, sie vor Gericht zu stel-
nicht schreiben, weil ich nicht hassen kann. läuft? len. Ich wäre nicht tapfer in solchen Situ-
ationen, aber ich würde versuchen, vorher
Ich kann über Liebe, Einsamkeit, Angst GLAVINIC: Es ist sogar besser, wenn es gut einen umzubringen. Ich habe mich immer
gefragt, warum das so selten vorkommt.
schreiben, das kenne ich. Aber es ist nicht läuft. Wenn man mitten im Satz aufhört, hat

so, dass ich meine Romane selbst ganz man am nächsten Tag keine Probleme mehr,

verstünde. weiterzumachen. Ich verstehe nicht, warum

NOAH: Vielleicht würde das das Schreiben das sonst niemand macht.

sogar behindern. NOAH: Was passiert danach? Kommen Sie

GLAVINIC: Wenn du weißt, warum du etwas leicht wieder in die Welt?

tust, bist du ein Handwerker. Ist ja auch gut. GLAVINIC: Nein, es ist ein langsames Auftau-

NOAH: Wie schwer fällt es Ihnen, so lange chen, manchmal auch unangenehm. Hin und

bei einer Geschichte zu bleiben? Als Jour- wieder lege ich mich hin, weil ich erschöpft

nalist ist man im Unterschied zu Ihnen Kurz- bin. Das klingt albern, aber es ist so. Ich habe

ICH TRAUE MIR auch lange nicht ver-
standen, dass der wahn-
sinnige Hunger, den ich

dann oft habe, durchaus
etwas mit dem Schrei-

SELBST DURCHAUS ben zu tun hat. Der Kör-
per braucht Energiezu-

EINEN MORD ZU fuhr, wenn man denkt.
NOAH: Ist es schwer,

streckenläufer. Man geht in eine Geschich- mit Ihnen zu leben?

te rein und gleich wieder raus und ist GLAVINIC: Meine Ex-Frauen würden das be-

dankbar dafür. jahen. Ich selbst finde es nicht schwer. Aber

GLAVINIC: Ich kann mich am Roman immer das hat Klaus Kinski sicher auch gedacht.

festhalten. Truman Capote hat einmal ge- NOAH: Ich stelle es mir anstrengend vor, mit

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KULTUR

NOAH: Was sollte man Ihrer Meinung nach NOAH: Und die Sozialdemokratie?
im Irak tun? GLAVINIC: Hier leben 600 000 Menschen unter dem Existenzmi-
GLAVINIC: Reingehen, mit Bodentruppen. nimum. Die wissen nicht, was sie essen sollen. Keiner kümmert
Dort findet doch das absolut Böse statt, ein sich um diese Menschen, auch die Sozialdemokratie nicht. Weil
Völkermord. Es war ein riesiger Fehler, die die nicht wählen gehen, die sind ja schon fertig. Ich träume von
irakische Armee aufzulösen, man braucht ja einem Marsch der 600 000 über die Ringstraße.
Leute, die für Ordnung sorgen. Aber der Ab-
zug jetzt ist populistischer Unsinn. Zuerst rüh- Bei einer Bewegung stöhnt Glavinic auf.
ren wir in der Scheiße rum, dass es ordentlich
spritzt, dann ziehen wir einfach die Klobürste NOAH: Was hat Ihr Trainer denn mit Ihnen gemacht?
raus und gehen wieder nach Hause. Wie kann GLAVINIC: Wing Chun, eine Variante von Kung Fu. Ich habe da-
die Welt das zulassen? Die Menschen verste- mit begonnen, weil ich körperlich nicht verfallen wollte. Wing Chun
hen nicht, dass Demokratie nichts Endgültiges ist die intelligenteste Selbstverteidigung. Man bleibt fit und hat
ist. Man kann sie auch wieder loswerden. Spaß. Man schwitzt, und es ist nicht so langweilig wie Schwimmen.
NOAH: Wo stehen Sie denn politisch? Und ich muss ja etwas für meinen Körper tun. Ich hadere oft wegen
GLAVINIC: In manchen Fragen habe ich eher meines Lebenswandels mit mir, aber man muss sich selbst verzei-
linke, in anderen eher rechte Positionen. Die hen können.
FPÖ hält mich allerdings für einen linken NOAH: Wie ist dieser Lebenswandel? Herumrennen, trinken, ab-
Staatskünstler. Wie jeden Künstler. stürzen?
NOAH: Was sollte an Ihnen denn rechts sein? GLAVINIC: Unter anderem. Wenn ich schreibe, trinke ich fast
GLAVINIC: Ich habe die Angst nicht, als Aus- nichts und gehe kaum weg. Aber wenn ich nicht schreibe … Früher
länderfeind oder Rassist zu gelten, und des- war es schlimmer. Da war ich manchmal an sechs Tagen in der
wegen sage ich, wenn mir etwas an Immigran- Woche in Zuständen, die andere nicht überleben könnten. Man
ten nicht gefällt, die Regeln nicht akzeptieren, kann sich wahrscheinlich nicht ändern, aber man kann sich zügeln.
die hier gelten. Wenn sie zum Beispiel ihre Manchmal muss man sich selbst sagen, dass man zu schnell ga-
Töchter nicht zum Schwimmunterricht lassen loppiert. Aber ich kann mir auch nicht alles versagen, was mir Spaß
oder nicht mit Lehrerinnen reden wollen. So macht. Dann wäre ich nicht glücklich. Und glücklich möchte ich
etwas wird einem in Österreich schon mal als schon sein, soweit es eben möglich ist.
ausländerfeindlich ausgelegt. Mir ist das ja NOAH: Das klingt, als wären Sie ein sehr körperlicher Mensch,
egal, aber es gibt viele ganz normale Leute, jemand, der Spaß hat an Abstürzen, Anstrengung, Verausgabung.
die als rechts ausgegrenzt werden, bloß weil Auch in Ihren Büchern ist ungeheuer viel Bewegungsdrang – was
sie sich Sorgen machen – was nur dazu führt, in der deutschen Gegenwartsliteratur sehr ungewöhnlich ist. Ihre
dass die Rechten immer stärker werden. Weil Helden gehen Berge hoch oder rasen durch Europa, obwohl kein
sie die Einzigen sind, die diesen Leuten zuhö- einziger Mensch mehr am Leben ist. Normalerweise würde sich in
einem deutschen Roman jemand dann irgendwohin verkriechen
ICH MAG DAS und über den Sinn des Seins nachdenken.
KÖRPERLICHE. ES GLAVINIC: Ich mag das Körperliche. Ich möchte nicht auf einem
MACHT MIR SPASS, Bauernhof leben, aber es macht mir Spaß, etwas hochzuheben,
HOLZ ZU HACKEN. Holz zu hacken, in einen Sandsack zu hauen. Ich fahre gern schnel-
ICH MÖCHTE NICHT le Autos. Und ich bin Ski gefahren wie ein Trottel. Weit über mei-
IN MEINEM GEIST ne Verhältnisse. Ich möchte nicht in meinem Geist verkümmern.
VERKÜMMERN Ich bin auch ein Körper, und ich tue ihm sowieso schon zu viel
Gewalt an. Es ist Wahnsinn, wie schnell die Leute verfallen. Ich
ren. Ich mag dies Abschnöselei nicht. Das ist kenne genug Leute, die mit 35 Jahren Bandscheibenvorfälle haben,
pure Dummheit, von Salonlinken mit Schals. das muss ja nicht sein.
Unser Problem in Österreich ist, dass die NOAH: Aber wenn es sich so verhält, ist es doch völlig daneben,
(christdemokratische) ÖVP seit 28 Jahren in ein Schriftsteller zu sein.
der Regierung sind. 28 Jahre Konservatismus GLAVINIC: Für alles andere bin ich völlig untalentiert.
in der Regierung. Österreich ist immer noch NOAH: Haben Sie das Gefühl, dass Sie sich mit jedem neuen
ein Bauernland. Uncharismatisch, fantasielos, Buch übertrumpfen müssen?
ohne jede Vision.

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KULTUR

',!6).)#

meisterklasse fotografie MARCUS GAAB
milano styling NIK PIRAS
s/s15

58 grooming SIMONE PRUSSO
(atomo management)
styling-assistenz DAVIDE DE MARCO
models CARLO FILIPPOW PEZZOLI
(elite model)
ANDRE BONA (elite model)
HERCILIO RONCHI (elite model)
PHILIPPE RECH (elite model)

FASHION

59overall, hemd und sandalen
TRUSSARDI

FASHION
sakko und hemd KENZO

mantel, t-shirt und hose GUGLIELMO CAPONE

ANTON MAGNANI, DER MANAGER.
Er guckt dem Volk auf die Füße
und weiß genau, wie es läuft.
Sprichwörtlich. Dieser Mann kennt
sich mit Schuhen und Leder aus.
Bei Hugo Boss kümmerte sich der
Italiener fast eine Dekade lang als
Brand Director um das Ressort
Schuhe und Lederaccessoires.
Zuvor war er bei Umbro, C&J Clark
International und Bally tätig.
Letzten Herbst wurde Signore
Magnani zum CEO der traditio-
nellen italienischen Schuhmarken
Lario 1898 und Sutor Mantellassi
ernannt. Marcello Mastroianni
trug übrigens ein Paar Sutor-
Mantellassi-Schnürer, als er
seinen Abdruck auf dem
Hollywood Walk of Fame hinter-
ließ. Aber das nur nebenbei.



pullover SANSOVINO 6

FASHION

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mantel, pullover und hose CANALI

65

FASHION

pullover BOTTEGA VENETA 66

LORENZO ALBRIGHI, DER HANDARBEITER.
Erst vor zwei Jahren gegründet, gehört das
Maison Lorenzo Albrighi bereits jetzt zu den
hoffnungsvollsten Talenten der italienischen

Schneiderkunst, wenn man Vanity Fair glauben
darf. Mit erst 27 Jahren gehört Lorenzo zum
neuen Stamm nachhaltiger Handwerker. Kein un-
nützes Raushauen möglichst vieler Looks, sondern
zeitlose, persönliche Teile. Und davon wollen die
Leute immer mehr. In seinem Atelier mit Blick
auf die Piazza XXIV Maggio nutzt der gebürtige
Londoner dazu mittlerweile die Hilfe vier anderer
junger Schneider, wie er alle unter 30.

anzug und schuhe MARNI, t-shirt HANRO



sakko, blouson und hose LANVIN, sandalen TRUSSARDI

ELIO FIORUCCI, DER VISIONÄR.

Es begann 1967 mit der Eröffnung seiner ersten Boutique in der Mailänder Galleria Passarella. Heute würde man den Laden als Event Shopping
Center oder Concept-Store begreifen. Es dröhnt Disco aus den Boxen, es gibt Jeans für jedermann, Bikinis aus aller Welt und viel anderen günstigen
Pop im Shop. Alles neu und frisch. Der Sohn eines Maßschneiders will „Farben, Fantasie und Frieden“ verkaufen, alles, was man heute als Sports-
wear versteht. Und es funktioniert. Drei Jahre später ist die Marke Fiorucci geboren und tritt ihren weltweiten Siegeszug an. Die viktorianischen

pullover, hemd und hose DAS NEUE SCHWARZ BERLIN

Engel im Logo der Marke verkaufen sich als T-Shirts Millionen Mal. Und nachdem Fiorucci 1977 die Eröffnung des legendären Studio 54 in New
York organisiert, ist der Look des Labels nun auch im Olmyp des internationalen Jetsets angekommen, bei Bianca Jagger, Grace Jones, Andy War-
hol & Co., und verkauft sich bombig. Zwölf Jahre später verkauft Elio die Marke Fiorucci an den japanischen Denim-Riesen Edwin. Seither entwirft
Elio Fiorucci, der im Juni 80 Jahre alt wird, nur noch unter seinem vollen Namen.

pullover LORENZO ALBRIGHI

mantel und anzug ERMENEGILDO ZEGNA COUTURE schuhe MAISON MARGIELA

mantel, anzug und hemd VALENTINO

75

mantel ZZEGNA, anzug und hemd BERLUTI, sandalen MARNI

EDWARD BUCHANAN, DER UNTERSCHÄTZTE.
Es ist das Luxuslabel Bottega Veneta, das Edward
aus New York nach Mailand holt. Er soll sich als
Design Director um den Aufbau der allerersten
Konfektion des Hauses kümmern. Nicht schlecht
für jemanden, der gerade erst die Parsons School
absolviert hat. Das ist nun genau 20 Jahre her.
Zwischenzeitlich ist der in Ohio Geborene u. a.
für die Kollektionen von Jennifer Lopez und Sean
Combs zuständig gewesen. Heute gehört dem
44-Jährigen die Design-Consulting-Firma The Situ-
ation. Diese berät nicht nur Brands wie Max Mara
oder Stefanel, sondern managt auch seine eigene
Kollektion „Sansovino 6“.

jacke PRADA
pullover SANSOVINO6



MARCELO BURLON, DER ALLESKÖNNER.
Der gebürtige Argentinier ist alles andere
als ein Unbekannter in Mailand. Und
nicht nur dort. Marcelo ist der am besten
vernetzte Mensch, den wir kennen!
Er startete seine Karriere als Partymacher
und DJ. Dann kam PR hinzu, und
schließlich gesellten sich noch Fashion-
Shows und Events zum Resumé. Nach
kurzen Stints als Stylist und Singer/
Songwriter gründete der 38-Jährige vor
drei Jahren sein eigenes, überaus
erfolgreiches Label County of Milan.

links: decke und strümpfe MARCELO BURLON COUNTY OF MILAN, shorts BOTTEGA VENETA, schuhe MAISON MARGIELA

FASHION

POSTPRODUKTION RGBERLIN

dark KNIGHT

fotografie AMOS FRICKE

'EDUCKTER





84

85









MOTOR

90

MOTOR

$IESES



VON DER KUNST,EIN
MOTORRAD ZU ZERLEGEN

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MOTOR

BEI BLITZ MOTORCYCLES IN PARIS IST ES KUNDEN

STRENGSTENS VERBOTEN, IN DER WERKSTATT

mal einen Namen, der sich in seiner Imagina- VORBEIZUSCHAUEN, EHE DAS BIKE FERTIG IST

tion verhakt, ehe er loslegt. Und das kann

dauern.

Zum Customizing gehört auch, dass

es nicht über Nacht geht. Nicht nur weil sich edelung. Faszinierender sind die Umbaumaß- mehr als nur ein technisches Gerät, das sie

die Schrauber ihr Glück, in einer Werkstatt nahmen, die den alten Mähren zugutekommen, von A nach B transportiert. Sie erkennen in

herumzutüfteln, durch Hektik verkürzen wollen, die jemand irgendwo gefunden hat und dann ihm ein Wesen, das sie bis in die kleinste

sondern auch weil sie akzeptieren, dass man liebevoll wieder fahr- und gegenwartstüchtig Kleinigkeit hinein kennenlernen wollen. Und

für das Gelingen eines Meisterwerks hin und macht. Oft handelt es sich dabei um nicht dem sie helfen wollen, den Geist, der in ihm

wieder lange auf Eingebungen warten muss. weniger als die Rettung eines Lebewesens, schlummert (und den vielleicht nur sie selbst

Aber man kann ja auch selbst ran. Seit an das niemand mehr einen Gedanken ver- ahnen) durch ihre Umbaumaßnahmen freizu-

die großen Motorradhersteller erkannt haben, schwendet hätte – bis auf den Schrauber, der setzen. Man könnte es Liebe nennen. Weil es

wie wichtig ihren Kunden Individualisierung ist, keine hoffnungslosen Fälle kennt. Er nimmt so viel mit Hingabe, Schwärmerei, Verzückung

bieten sie zunehmend Customizing-Möglich- eine schon totgeglaubte Maschine auseinan- zu tun hat und mit der Sehnsucht, miteinander

keiten an. Bei BMW etwa lassen sich mittler- der, legt jedes Einzelteil, jedes Schräubchen durchzubrennen. Vielleicht ist es auch Kunst.

weile ziemlich viele spezielle Komponenten und vor sich hin, mobilisiert sein Schamanentum, Weil dem Customizen etwas so Feinfühliges

Race Parts ordern, und das Modell R nineT tritt und dann setzt er es wieder zusammen, mit eignet – die Erschaffung eines Unikats aus

ganz offensiv als in alle erdenklichen Richtungen neuen Teilen aus anderen Maschinen, originel- Blech, Farbe, Visionen – und weil jeder, der

individualisierbar auf. Längst auch engagiert lere Lösungen findend, als den ursprünglichen sich das zutraut, seinen eigenen Stil und seine

das Unternehmen die Helden der Customizing- Ingenieuren eingefallen sind, bis er irgendwann eigene Philosophie hat. Die einen sind Old-

Szene, damit sie zeigen, was sich aus seinen auf den Kickstarter tritt und neues Leben auf- School-Schrauber, andere finden nichts Ver-

Produkten machen lässt. So hat der schon röhrt. Die Jungs von El Solitario zum Beispiel werfliches daran, mit CNC-Maschinen zu ar-

erwähnte David Borras von El Solitario eine haben eine Ducati 900SS aus den Neunzigern beiten. Die einen wollen Motorräder möglichst

R nineT in ein recht morbides Geschoss ver- so wieder aufgebaut, dass jetzt nur die besten nackig machen, reine Mechanik, die nach vorn

wandelt, „Impostor“ genannt, schwarz lackiert, Kenner in ihr noch eine Ducati wiedererkennen schießt; andere sind Maximalisten, barocke

Dirtbike vorn, Gitter vorn dran, Logo mit To- können. Ironiker. Und allen bricht gelegentlich das Herz,

tenkopf und gekreuzten Schraubenschlüsseln Oft ist Customizing auch eine Art Not- wenn sie ihre Babys, an denen sie so lange

auf dem Tank, ein Bike direkt aus der Hölle. wehrstrategie junger Männer, die sich die Prei- gearbeitet haben, irgendeinem Auftraggeber

Auch Honda lotet bei der Mo’cye Design Chal- se nicht leisten können, die für Renner aus der überlassen müssen, einem reichen Typen, der

lenge in Bangkok offensiv aus, wie extrem sich Fabrik verlangt werden. Mit technischem Witz sich selbst nie die Hände in der Werkstatt

Serienprodukte verändern lassen. Was die und Kühnheit wird aus einem mittelguten Bike schmutzig machen würde und gar nicht wirk-

Lust auf Radikallösungen betrifft, stehen die dann doch noch ein Geschoss. Das Ziel der lich zu schätzen weiß, was da zwischen seinen

Customizer in Südostasien übrigens den ersten Café Racer bestand darin, durch ihre Schenkeln tobt.

Schraubern in Europa und in den USA nicht Umbauten die Hundert-Meilen-Marke zu kna- Egal. Das Schönste ist ohnehin der

nach. Vielleicht ist das Potenzial dort sogar cken. Und den Weg vom Ace Cafe zum nächs- Moment, in dem eine neue Maschine herein-

größer – schließlich werden in Thailand unge- ten Kreisverkehr und wieder zurück zu schaf- kommt, und der Schrauber steht und guckt

fähr viermal so viele Motorräder verkauft wie fen, ehe die Single zu Ende gegangen war, die und schaut noch länger und beginnt sich etwas

in den USA mit ihrer beinahe fünfmal so großen jemand in der Jukebox gedrückt hatte. Record zu überlegen. Dann nimmt er sie auseinander

Bevölkerung. Race nannten sie das. und legt jedes Teil vor sich hin. In ein paar

Allerdings macht es dann doch einen Kann gut sein, dass das die romanti- Wochen oder Monaten wird ein neues Motor-

großen Unterschied, ob man ein fabrikneues sche Beschwörung einer längst untergegan- rad vor ihm stehen, eines, wie es die Welt noch

Bike umbaut oder ein Vintage-Exemplar. Beim genen Zeit ist. Aber vielleicht sind die Custo- nie gesehen hat. Jedenfalls die paar Leute, die

Motorrad aus der Fabrik ist das Customizing mizer die letzten Romantiker, auf ihre ganz noch erkennen können, wenn sich ein Wunder

mental wohl eher so etwas wie eine Ver- spezielle Art. Für sie ist ein Motorrad eben ereignet hat.

Das Ziel der ersten Café Racer war es, den Weg vom Ace Cafe bis zum nächsten
Kreisverkehr und wieder zurück zu schaffen, bevor DIE SINGLE ZU ENDE GEGANGEN
WAR, die jemand in der Jukebox gedrückt hatte

966

FOTO: HALF CASTE CREATIONS; DONG KIM/FEDERAL MOTO $IE

REPORTAGE

98

REPORTAGE

*EDER¬0ROFIFU”BALLER¬
TRËUMT¬DAVON¬IN¬DER¬
"UNDESLIGA¬AUFZULAU

FEN¬7ENN¬DIESER¬
4RAUM¬JEDOCH¬PLATZT¬
GIBT¬ES¬IMMER¬NOCH¬
&RANK¬VAN¬%IJS¬$ER¬
3PIELERVERMITTLER¬HOLT¬
&U”BALLER¬AUS¬DER¬GAN

ZEN¬7ELT¬NACH¬6IET

NAM¬UM¬SIE¬DORT¬BEI¬
EINEM¬6EREIN¬UNTERZU

BRINGEN¬&àR¬DIE¬3PIE

LER¬IST¬DAS¬DIE¬LETZTE¬
-ÚGLICHKEIT¬DOCH¬
NOCH¬ZUM¬3UPERSTAR¬
ZU¬WERDEN

IN DER NACHSPIELZEIT

99

REPORTAGE

UM HIER ZU SPIELEN, BRAUCHT MAN EINEN
FUSSBALLERKOPF. WIE BECKHAM DAMALS

100


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