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Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover

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Published by alumni, 2020-02-03 04:51:57

Unimagazin 3/4_2019 Migration

Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover

Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover
Ausgabe 03|04 • 2019

Migration Perspektiven der Forschung

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UNIMAGAZIN • AUSGABE 3|4–2019 LEIBNIZ UNIVERSITÄT HANNOVER

Editorial

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

»Migration« ist vieldiskutier- Ressource und Stärke zu er- Die Forschungsfragen zum Viel Freude beim Lesen
ter Begriff. Spätestens seit im kennen und zu nutzen sowie Thema »Migration« sind au- wünscht Ihnen
Jahr 2015 eine große Zahl an neue Perspektiven des Zu- ßerordentlich vielfältig: Histo-
Geflüchteten nach Deutsch- sammenlebens zu entwickeln. risch gesehen gehörten Wan- Prof. Dr. Volker Epping
land gekommen ist, wird – oft Eine Universität ist angewie- derungsbewegungen schon Präsident der
sehr emotional – debattiert, sen auf Internationalität und immer zur Entwicklung von Leibniz Universität Hannover
wie sich die Gesellschaft zu Interdisziplinarität, sie ist prä- Gesellschaften und werden in
Migration und Integration destiniert dafür, durch Viel- diesem Heft aus historiogra-
verhalten soll. Das vorliegen- falt das wissenschaftliche Er- phischer Perspektive betrach-
de Unimagazin möchte wis- kenntnisstreben zu fördern. tet. Auch der Zusammenhang
senschaftliche Perspektiven in Die Leibniz Universität hat von Religion und Integration
den Mittelpunkt rücken und sich bereits vor drei Jahren wird in den Blick genommen.
zeigen, wie sich ganz unter- selbst dazu verpflichtet, ein In Großbritannien haben
schiedliche Institute der Leib- Arbeitsumfeld zu schaffen, Schriftstellerinnen mit Migra-
niz Universität mit diesem das diskriminierenden Struk- tionsbiographie auf sich auf-
Thema auseinandersetzen. turen, Handlungen und Vor- merksam gemacht, die sich
urteilen aktiv entgegenwirkt. zwischen Integration und Wi-
Die Zuwanderung von Men- Ziel ist es auch, die interkul- derstand in einer Gesellschaft
schen aus allen Ländern der turelle Kompetenz aller Mit- bewegen, die ihnen Anerken-
Welt nach Deutschland ist glieder der Universität zu för- nung und Akzeptanz verwei-
eine Tatsache. Von insgesamt dern. gert. Auch die Stadt- und Rau-
81,6 Millionen Einwohnern in mentwicklung und mit ihr die
Deutschland hatten im Jahr Als »Mikropolitik im akade- Zukunft der Städte ist ein As-
2018 rund 20,8 Millionen einer mischen Feld« wird die Insti- pekt, der für das Zusammen-
Migrationsbiographie. Das tutionalisierung von Diversi- leben unterschiedlichster
entspricht einem Anteil von tät an der Leibniz Universität Menschen von Bedeutung ist.
25,5 Prozent der Gesamtbevöl- in diesem Unimagazin erläu-
kerung. Die meisten Men- tert und beschrieben. Wandel An der Leibniz Universität
schen mit einer Migrations- als Bereicherung zu sehen, ist Hannover wird auch ganz
biographie kommen aus den die Herausforderung, der sich konkrete Hilfe geleistet: Mit
27 EU-Staaten oder aus einem Bildungsinstitutionen stellen der Refugee Law Clinic ist
anderen europäischen Staat. müssen, die sich unter dem 2015 ein Verein gegründet
Etwa die Hälfte dieser Men- Einfluss von migrationsbe- worden, in dem Studierende
schen sind Deutsche. Die an- dingter Diversität verändern. der Juristischen Fakultät Hilfe
dere Hälfte sind Ausländerin- Ein wichtiges Thema ist die für Geflüchtete und Migran-
nen und Ausländer ohne deut- Arbeitsplatzintegration von ten anbieten. Sie stehen den
sche Staatsangehörigkeit Migrantinnen und Migranten. Menschen mit Rat und Tat zur
sowie Flüchtlinge aus Kriegs- Darüber hinaus sollten der Seite – bis heute wurden rund
und Krisengebieten. Zugang und die Integration 800 Mandate betreut sowie
ins Studium von jungen Er- 150 Studierende zu Beraterin-
Mit der Veränderung der Be- wachsenen mit Migrationsbio- nen und Beratern ausgebildet.
völkerungsstruktur nimmt graphie gesondert im Blick be-
auch die Vielfalt in der deut- halten werden. Eine Schlüssel-
schen Gesellschaft zu. Es gilt, qualifikation ist hier der
diese Diversität als positiv Spracherwerb, der am Institut
und bereichernd zu begreifen, für Sonderpädagogik unter-
Unterschiede als Normalität, sucht wird.

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15.11.2019 09:11:41

UNIMAGAZIN • AUSGABE 3|4–2019 IMPRESSUM • INHALTSVERZEICHNIS

Migration

PERSPEKTIVEN DER FORSCHUNG

Unimagazin Christine Hatzky | Hinnerk Onken Hannah Pardey
Forschungsmagazin der Leibniz Historisches Seminar Englisches Seminar
­Universität Hann­ over • ISSN 1616-4075 4 ���� Wanderungsbewegungen 36 ���� Migration als Geschäft
Migration in historischer Perspektive Neue nigerianische Autorinnen auf dem
Herausgeber internationalen Literaturmarkt
Das Präsidium der Leibniz Universität Peter Antes
Hannover Institut für Religionswissenschaft Tim Rieniets
8 ���� Religion und Integration Institut für Entwerfen und Städtebau
Redaktion Die ambivalente Rolle der Religion 40 ���� Die Zukunft der Städte
Monika Wegener (Leitung), Von der Architektur des Zusammenlebens
Dr. Anette Schröder Isabel Sievers
DiversitAS Monika Jungbauer-Gans
Anschrift der Redaktion 12 ���� Wandel als Bereicherung Deutsches Zentrum für Hochschul- und
Leibniz Universität Hannover Migrationsbedingte Diversität und Wissenschafts­forschung (DZHW)
Alumnibüro ihr Einfluss auf Bildungsinstitutionen 44 ���� Der Zugang und die Integration ins Studium
Welfengarten 1 Aktuelle Ergebnisse aus DZHW-Studien
D–30167 Hannover Radhika Natarajan
Leibniz School of Education Carmen Becker | Ricarda Darm
Anzeigenverwaltung / Herstellung 16 ���� »LeibnizWerkstatt« und »mittwochs um vier« Institut für Religionswissenschaft
ALPHA Informationsgesellschaft mbH Vom Umgang mit Mehrsprachigkeit und 48 ���� Mikropolitik im akademischen Feld
Finkenstr. 10 Migration im Bildungswesen Institutionalisierung von Diversität an der
D–68623 Lampertheim Leibniz Universität
Telefon: 06206 939-0 Steffi Robak | Carola Rose
Telefax: 06206 939-232 Institut für Berufspädagogik und Ulrike Lüdtke | Ulrich Stitzinger |
Internet: www.alphapublic.de Erwachsenenbildung Ulla Licandro
18 ���� Ein Schlüsselelement Institut für Sonderpädagogik, Institut für
Titelabbildung Die Arbeitsplatzintegration Sonder- und Rehabilitationspädagogik der
Sam Falconer von Migrantinnen und Migranten Universität Oldenburg
52 ���� Spracherwerb als Schlüsselqualifikation
Das Forschungsmagazin Unimagazin Lukas Preuschoft | Nils Hoppe Forschungsperspektiven auf Cultural and
erscheint zweimal im Jahr. Nachdruck Refugee Law Clinic, Juristische Fakultät Linguistic Diversity
einzelner Artikel, auch auszugsweise, 22 ���� Hilfe und Beratung für Geflüchtete
nur mit Genehmigung der Redaktion. und Migranten Dirk Lange | Malte Kleinschmidt
Für den Inhalt der Beiträge sind die Die Refugee Law Clinic Hannover e.V. Institut für Didaktik der Demokratie,
jeweil­igen Autoren verantwortlich. Institut für Politische Bildung
Mathias Bös 56 ���� Inclusive Citizenship
Institut für Soziologie in der Migrationsg­ esellschaft
26 ���� Wer erbt was? Ein empirisch-analytischer Forschungs­
Kulturerbe und Wir-Gefühle bei ansatz
Niederländern, Portugiesen und Friesen
in Norddeutschland 60 ���� Personalia und Preise

Jana Gohrisch
Englisches Seminar
30 ���� Integration und Widerstand

Sichtbare Minderheiten (nicht nur) in

Grossbritannien

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M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

Wanderungsbewegungen

MIGRATION IN HISTORISCHER PERSPEKTIVE

Migration ist schon lange te zum Beispiel aus Syrien
ein wichtiger Gegenstand oder aus Afrika. Die öffent­
historischer Forschung. liche und mediale Wahrneh­
Dabei besteht unter Historikern mung prägen Bilder von den
nicht immer Einigkeit darüber, Tausenden von Afrikanern,
die in der verzweifelten Hoff­
nung auf eine bessere Zukunft
mit Schlauchbooten oder an­
deren nicht mehr voll seetüch­
tigen Wasserfahrzeugen das
Mittelmeer überqueren.

was überhaupt unter Migration Die Auseinandersetzung mit oder Pendeln ist sie auf Dauer Historische Untersuchungen
zu verstehen und dem Begriff »Migration« zieht angelegt – allerdings nicht gibt es einerseits zu den groß­
zunächst eine Reihe an Fragen zwangsläufig »für immer«; dimensionalen transregiona­
wie damit umzugehen ist. nach sich: In welchem Ver­ Weiterziehen oder auch Rück­ len Migrationsbewegungen
Prof. Christine Hatzky hältnis steht zum Beispiel die kehr (Remigration) sind mög­ zum Beispiel von Lateiname­
und Dr. Hinnerk Onken Zwangsverschleppung (im lich. Wie lange die Dauer sein rika in die USA oder von Afri­
Englischen auch »forced muss, bis von Migration ge­ ka nach Europa sowie ande­
vom Historischen Seminar migration«) von Millionen af­ sprochen wird, ist nicht defi­ rerseits zu Phänomenen der
geben einen Überblick über rikanischer Sklaven oder von niert, die eindeutige Begriffs­ Binnenmigration (regional
die vielfältigen historischen asiatischen Kontraktarbeitern klärung von daher schwierig. und national). Letztere fand
Perspektiven von Migration. (coolies) zu anderen Formen Fällt das Auslandssemester in und findet vor allem auch als
von Migration? Sprachlich lei­ den USA unter Migration oder Migration vom Land in die
tet sich »Migration« zunächst nicht? Eher nicht, denn die Stadt statt. Die daraus resul­
einmal aus dem lateinischen Rückkehr ist fest geplant und tierenden sozialen, kultu­
Wort Migratio ab und bedeu­ das Visum befristet. Wenn das rellen, ökonomischen und
tet (Aus­)Wanderung. Gemein Auslandssemester aber an der ökologischen Chancen und
ist den verschiedenen Formen Partnerhochschule in Frank­ Probleme, nicht nur in Latein­
von Migration seit der Aus­ reich stattfindet? Und sich da­ amerika, Afrika und Asien,
breitung des Menschen von ran ein Praktikum anschließt sondern im 19. Jahrhundert
Afrika aus über die Welt also und die Übernahme in einen auch schon in Europa oder in
die räumliche Verlegung des Job? Für die gesellschafts­ Nordamerika sind Gegen­
Lebensmittelpunktes. Neben politische Konnotation des stand zahlreicher historischer
dieser lokalen ist außerdem Begriffs Migration sind jeden­ Untersuchungen zur Urbani­
die zeitliche Komponente ein falls derzeit bestimmend die sierung (zu Europa zum Bei­
Merkmal von Migration: gesellschaftlichen und politi­ spiel Bade, 2000).
Im Unterschied zum Reisen schen Debatten um Geflüchte­
»Fluchtursachen« und ihre
»Bekämpfung«, Begriffe, die
aufgrund medialer und politi­
scher Diskurse für die Wahr­
nehmung von Migration und
die öffentliche Debatte in
Deutschland und Europa heu­
te prägend sind – und über­
haupt Flucht und Migration

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gleichzusetzen, ist für die his­ Rahmen – bis hin zum Extrem schlossener Prozess sowie mit
torische Forschung dagegen der Schwalben (»Golondri­ den Mitteln der Netzwerk­
nicht unbedingt der Regelfall. nas«, englisch auch »Birds of analyse, einer aus der empi­
Noch vor gar nicht allzu lan­ passage«) genannten Saison­ rischen Sozialforschung
ger Zeit dachten die meisten arbeiter, die im späten 19. und stammenden Methode zur
Menschen beim Stichwort frühen 20. Jahrhundert nach Erfassung von Netzen oder
Migration vermutlich weniger dem Ende der Ernten auf der Netzwerken genannten Bezie­
an Schlauchboote auf dem Nordhalbkugel in Italien im hungsgeflechten, erforscht.
Mittelmeer als vielmehr an Oktober/November auf Aus der Soziologie kommen
sogenannte »Gastarbeiter«. Ozeandampfern zum Beispiel zudem Ansätze, Migration un­
Historiker tragen mit ihren nach Buenos Aires reisten, um ter dem Aspekt der Mobilität
Forschungen dazu bei, das während der Erntesaison auf zu begreifen (Urry, 2007).
multiforme Phänomen der der Südhalbkugel in Südame­
Migration sehr viel differen­ rika zu arbeiten und anschlie­ Dennoch bleibt das Phänomen
zierter zu erfassen. Selbstver­ ßend wieder zurückzukehren der Migration eng mit den
ständlich gibt es historische (Oltmer, 2012: 51–52; Piore, Kategorien Staat und Nation
Untersuchungen zu Auswir­ 1979; Cohen, 1987). Dabei geht verbunden. Das wird auch
kungen von Krieg und Ge­ es in der historischen For­ deutlich beim Blick auf For­
walt, Hass und Ausgrenzung, schung nicht (mehr nur) da­ schungen, die im Zusammen­
wirtschaftlicher Perspektiv­ rum, zu bestimmen, woher hang mit Migration den As­
losigkeit und Hungersnöten, Menschen, Bevölkerungs­ pekt von Kriminalität und
unter anderem aus dem Be­ gruppen, kulturelle und eth­ Sicherheit beleuchten. Im US­
reich der deutschen und euro­ nische Gruppen kommen. Das amerikanischen Fall gilt das
päischen Zeitgeschichte (Exil­ gilt sogar schon für die Zeit etwa für die wachsende Zahl
forschung zu Menschen, die der Völkerwanderung. Wäh­ an Studien zu den maras. Die­
im Nationalsozialismus ver­ rend zum Beispiel manche se kriminellen und äußerst
folgt wurden, Studien zu Karten – etwa in Schul­ brutal agierenden Jugendban­
»Flucht und Vertreibung« von büchern – darstellen, von wo den, die in Waffen­, Drogen­
Deutschen nach dem Zweiten nach wo sich welche Gruppen und Menschenhandel invol­
Weltkrieg oder zu Zwangs­ in der Spätantike und im viert sind, wurden von Ein­
umsiedelungen und erzwun­ frühen Mittelalter in Europa wanderern aus Mittelamerika
gen Totalmigrationen zum bewegten, zeigen historische in den Ghettos US­amerikani­
Beispiel in der UdSSR). Forschungen, wie stark diese scher Städte, vor allem in Los
Sicht vom europäischen Na­ Angeles zum Schutz vor den
In konzeptioneller Hinsicht tionalismus des 19. Jahrhun­ dortigen Gangs gegründet
wird Migration von Histori­ derts geprägt ist und wie und expandierten dann von
kern ebenso wie von anderen komplex und dynamisch auch den USA zurück nach Latein­
Wissenschaftlern schon län­ diese Wanderungsbewegun­ amerika und mittlerweile
ger nicht mehr als ausschließ­ gen und die daraus resultie­ auch nach Europa. Obwohl
lich linearer Prozess begriffen. renden Vermischungen waren hier die transregionale Di­
Als ein solcher erscheint Mig­ (Geary, 2002). mension eigentlich offensicht­
ration auf den ersten Blick oft: lich ist, sind Studien trotzdem
Es gebe einen Ausgangspunkt Dennoch spielen Orte und die fast immer national angelegt
oder Herkunftsort und ein räumliche Komponente ins­ (zu Honduras zum Beispiel
vorab selbst gewähltes oder gesamt weiterhin eine Rolle, Peetz, 2012).
sich später zufällig ergeben­ etwa in der Bestimmung von
des Ziel, etwa von Afrika nach Herkunfts­, Transit­ und Ziel­ Im Unterschied zu sozial­
Europa, von der Türkei in die orten. Besonders in der US­ wissenschaftlich orientierten
Bundesrepublik Deutschland, amerikanischen Forschung – historischen Studien, die zum
von Mexiko in die USA usw. und darüber hinaus auch in Beispiel auch ökonomische
der Politik, wie nicht zuletzt Aspekte, wie etwa Rücküber­
Ebenso wie in der Gegenwart die Pläne des amerikanischen weisungen und andere
waren aber sowohl die Hinter­ Präsidenten zum Bau einer Formen des (in)formellen
gründe als auch die Verläufe Mauer an der mexikanisch­ Geldtransfers untersuchen,
von Migration vielschichtig: US­amerikanischen Grenze beschäftigen sich viele
Das klassische reduktionisti­ zeigen – kommt auch dem Ort geschichtswissenschaftliche
sche Modell der push­ und der »Grenze« mit ihren Kon­ Studien in kulturwissenschaft­
pull­Faktoren hat zumeist aus­ takten, ihren Transfers und licher Perspektive mit den
gedient. So erforschen Histori­ ihrer Infrastruktur große Be­ Auswirkungen von Migration
ker zirkuläre und/oder tempo­ deutung zu (border studies). auf die involvierten Gesell­
räre Migration im regionalen, Komplementär dazu wird schaften und auf die Migran­
transregionalen und globalen Migration als nicht abge­ ten (in den/für die USA zum

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Beispiel Studien zu lateiname­ Auch über die sozialen Rän­ Weiterführende Literatur
rikanischen Einwanderern, der gibt es zahlreiche Studien
Hensel, 2004 oder auch Gabbert, (Fischer-Tiné, 2009 oder Bade, Klaus J. (2000). Europa in Bewe-
2005). Die neuere Forschung Fischer, 2003 zu europäischen, gung: Migration vom späten 18. Jahr-
hat sich dabei von früheren vor allem jüdischen Prostitu­ hundert bis zur Gegenwart. München:
Ansätzen, die nationalistisch­ ierten in Buenos Aires). Post­ C.H.Beck
apologetische Heldengeschich­ koloniale Studien nehmen Geary, Patrick J. (2002). Europäi-
ten schrieben (für Deutsche in dagegen umgekehrt zum Bei­ sche Völker im frühen Mittelalter: Die
Lateinamerika zum Beispiel spiel die Auswirkungen von Legende vom Werden der Nationen.
von Ilg, 1976 und 1982) größ­ Migration in die europäischen Europäische Geschichte. Frankfurt
tenteils gelöst. Untersucht Metropolen in den Blick a.M.: Fischer
wurden etwa die Bedeutung (ElTayeb, 2001 zu Schwarzen Hensel Silke (2004). Leben auf der
und die Grenzen des Diskur­ und Schwarzsein in Deutsch­ Grenze: Diskursive Aus- und Abgren-
ses der sogenannten »Aus­ land). zungen von Mexican Americans und

Abbildung 1

Bildpostkarte »Santos«,
Verlag unbekannt, Brasilien (?),
gelaufen 06.12.1902
Quelle: Sammlung der SHMH/
Altonaer Museum, Hamburg, Inv. Nr.
1995–139,1

1

landsdeutschen«, deutscher So divers und vielschichtig das Puertoricanern in den USA. Frankfurt
Auswanderer und Siedler in Phänomen der Migration ist, a.M.: Vervuert
Osteuropa, den Amerikas oder so vielfältig ist auch die histo­ Oltmer, Jochen (2012). Globale Migra-
den (ehemaligen) deutschen rische Erforschung von Migra­ tion: Geschichte und Gegenwart. Mün-
Kolonien in Afrika und Asien. tion. Migration beschäftigt die chen: C.H.Beck
Das Spektrum reicht von Stu­ Alte Geschichte ebenso wie Schulze, Frederik (2016). Auswande-
dien zum »Deutschtum« in die Zeitgeschichte und For­ rung als nationalistisches Projekt:
einzelnen Ländern oder Regio­ scher, die sich mit deutscher »Deutschtum« und Kolonialdiskur-
nen (etwa Schulze, 2016 zu und europäischer Geschichte se im südlichen Brasilien (1824–1941).
Deutschen in Brasilien oder zu ebenso wie solche, die zu Afri­ Lateinamerikanische Forschungen, Bd.
Namibia Walther, 2002) über ka, Asien, den Amerikas, Aust­ 46. Köln: Böhlau
visuelle (Re­)Präsentation (On- ralien und Ozeanien oder Urry, John (2007): Mobilities. Cam-
ken, 2019) bis hin zu bestimm­ transregional und global for­ bridge / Malden: Polity
ten wirtschaftlichen Aspekten schen. Einig sind sich die Walther, Daniel Joseph (2002). Crea-
(zum Beispiel der Rolle von meisten Historiker, gleich ob ting Germans Abroad: Cultural Poli-
Deutschen in der Kaffeewirt­ kulturwissenschaftlich oder cies and National Identity in Namibia.
schaft in Mittelamerika, Berth, sozialwissenschaftlich orien­ Athens, OH: Ohio University Press
2014) oder der Bedeutung tiert, jedenfalls darin, über die
deutscher Schulen im Ausland »big structures« die Akteure
(Penny, 2017). nicht zu vergessen.

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Prof. Dr. Christine Hatzky PD Dr. Hinnerk Onken Teamplayer?
Jahrgang 1965, ist Professorin Jahrgang 1979, ist wissen-
am Historischen Seminar mit schaftlicher Mitarbeiter am Entdecke jetzt unser
dem Schwerpunkt der Geschich- Historischen Seminar. Er ist Angebot für Werkstudenten,
te Lateinamerikas und der Geschäftsführer des Centre for Praktikanten und Minijobber auf:
Karibik. Sie ist Sprecherin des Atlantic and Global Studies www.hahne-holding.de/jobs
Centres for Atlantic and Global sowie Koordinator des Master- Wir freuen uns auf Deine Bewerbung!
Studies, Mitglied des Leitungs- studiengangs Atlantic Studies in
gremiums des Maria Sibylla History, Culture and Society. 13.11.2019 12:14:50
Merian Centre for Advanced Seine Arbeitsschwerpunkte sind
Studies in Latin America in Historische Bildkunde und die
Guadalajra/Mexiko sowie Co- visuelle (Re-)Präsentation Süd-
Direktorin des CALAS Regional- amerikas, Wissensgeschichte
zentrums Centroamérica y und transferts culturels,
Caribe an der Universidad de Geschichte Perus, Arbeiter-
Costar Rica. Ihre Arbeitsschwer- geschichte und Gewalt- und
punkte sind unter anderem Konfliktforschung. Kontakt:
die transatlantische und trans- [email protected]
regionale Geschichte (Amerika – hannover.de
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Religion und Integration

DIE AMBIVALENTE ROLLE DER RELIGION

Die politische Diskussion Die Sozialwissenschaften un­ sichtbare Zeichen des Anders­ weiteren strukturellen Da­
rund um Migration und terscheiden vier Ebenen von seins, um das Gelingen von ten, etwa zur Gesundheit,
Integration gestaltet sich Integration: eine strukturelle, Integration in Frage zu stellen. besteht.
häufig schwierig, oft wird die eine kulturelle, eine soziale Besonders oft wird hierbei die 2. Auf der kulturellen Ebene,
Religion von Menschen aus und eine identifikative. Prob­ Religion, heute vor allem der die sogenannte Signifikan­
anderen Kulturen als Hindernis leme gibt es dabei vor allem Islam, als Hinderungsgrund ten umfasst wie Fragen
auf der kulturellen Ebene. für eine mögliche erfolgreiche zum Kopftuch, zur Teil­
für eine erfolgreiche Hierbei spielt die Religion oft Integration genannt. nahme am Sport­ und
Integration genannt. eine zentrale Rolle. Beispiele Schwimmunterricht oder
Prof. Peter Antes vom Institut aus dem Verhältnis von Pro­ Im Folgenden wird daher da­ zur Sprachkompetenz.
für Religionswissenschaft geht testanten und Katholiken, nach gefragt, was unter »Inte­ 3. Auf der sozialen Ebene, wo
in seinem Beitrag der Frage aber auch zwischen verschie­ gration« genauer zu verstehen sich Integration zum Bei­
nach, was unter Integration denen Richtungen innerhalb ist, um anhand der Unter­ spiel durch die Anzahl von
genau zu verstehen ist. des Protestantismus wie auch scheidung von vier Ebenen Freundschaften, Vereins­
in der deutschen Geschichte Kriterien für die Entscheidung mitgliedschaften und wei­
die Frage nach der Integration über misslungene oder gelun­ tere Außenkontakte wie
von Juden zeigen, wie leicht es gene Integration zu haben. das Verhältnis zu Nach­
zu Konflikten kommen kann. Dann werden negative wie barn bemessen lässt.
Andererseits gibt es gerade in positive Beispiele von Inte­ 4. Und schließlich auf der
der jüngsten Zeit gute Beispie­ gration vorgestellt. Schließlich identifikativen Ebene, mit
le dafür, wie Religionsgemein­ wird aus alledem ein Fazit ge­ der die emotionale Verbun­
schaften bei der Integration zogen. denheit mit beziehungs­
von Migranten positiv wirken. weise die Zugehörigkeits­
Deshalb gilt es, aus den Feh­ Vier Ebenen von Integration gefühle zu einem Land
lern der Vergangenheit zu ler­ bewertet werden.
nen und alle zu motivieren, Das Problem der Integration (Zitiert aus aus Hamed Abdel-
sich positiv einzubringen und von Andersdenkenden hat Samad: Integration. Ein Pro-
konstruktiv zum friedlichen in Deutschland eine lange tokoll des Scheiterns, Mün-
Zusammenleben in unserer Geschichte. Auch wenn der chen: Droemer 2018, S. 33)
Gesellschaft beizutragen. Begriff erst neuerdings die po­
litische Debatte bestimmt, ist Am positivsten schneidet da­
Migration und Integration die Tatsache als solche viel bei meist die strukturelle Ebe­
sind Reizwörter in der gegen­ älter und nicht immer mit ne ab, denn hierbei geht es um
wärtigen politischen Diskus­ Migration verbunden. Um die Eingliederung in den Ar­
sion. Sie werden meist zusam­ Pauschalurteile zu vermeiden, beitsmarkt, die in vielen Fäl­
men genannt und suggerieren ist es hilfreich, verschiedene len der Grund der Migration
dadurch einen inneren Zu­ Ebenen von Integration zu un­ gewesen ist, ohne dass andere
sammenhang, als ergäben sich terscheiden und ihre Umset­ Aspekte von Integration ir­
alle Probleme der Integration zung einzeln zu prüfen. Auf gendeine Rolle gespielt hätten.
aus der Migration und dem vier Ebenen wird üblicherwei­ Am deutlichsten hat dies Max
Versuch, Menschen aus ande­ se in den Sozialwissenschaf­ Frisch auf den Punkt gebracht,
ren Religionen und Kulturen ten diesbezüglich gemessen: als er in den 1960er Jahren die
in unsere Gesellschaft aufzu­ einseitige ökonomische Sicht­
nehmen und dauerhaft als 1. Auf der strukturellen weise von Industrie und Ge­
Mitbürgerinnen und Mitbür­ Ebene, die aus Bildungs­, werbe mit Blick auf die italie­
ger unter uns zu haben. Zu­ Arbeitsmarktdaten und nischen Gastarbeiter in der
dem genügen einige wenige Schweiz kritisierte, weil sie zu

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einer gesellschaftlichen Aus­ Negative Beispiele Erliche leüte seindt, und
grenzung und Stigmatisie­ wen Türken und Heiden
rung der Angeworbenen ge­ Spätestens seit dem westfäli­ kähmen und wolten das
führt habe, die niemanden zu schen Frieden von Münster Land Pöpliren, so wollen
interessieren schien. Max und Osnabrück aus dem Jahre wier sie Mosqueen und
Frisch fasste seine Kritik in 1648 gilt für das gesellschaft­ Kirchen bauen.« (Alle Reli-
die Worte: »Wir haben Ar­ liche Zusammenleben in gionen sind gleich und gut,
beitskräfte gerufen, und es Deutschland eine religiös ho­ wenn nur die Leute, die sie
sind Menschen gekommen.« mogene Gesellschaft als Ideal ausüben, ehrliche Leute sind,
und dies so sehr, dass nicht und wenn Türken und Heiden
Da die soziale und die identi­ nur die Integration der Juden kämen und wollten das Land
fikative Ebene gewöhnlich ein Problem darstellt, sondern bevölkern, so wollen wir
den sehr persönlich­indivi­ auch die von anderskonfes­ ihnen Moscheen und Kirchen
duellen Bereich der einzelnen sionellen Christen. bauen.)

1 Dabei ging es dem König we­ Abbildung 1
der um die Muslime noch um Ankunft der ersten Hugenotten

die Heiden. Anlass zu seiner in Erlangen. Glasfenster im ehe-

Antwort am Rand des Im- maligen Rathaussaal in Erlangen

mediat-Berichts des General- nach einem Entwurf von

Directoriums vom 15. 6. 1740 Friedrich Wander (1840–1910)

war die Frage, ob es erlaubt Quelle: Stadtmuseum Erlangen

sei, einem Katholiken das

Bürgerrecht im evangelischen

Frankfurt [an der Oder] zu

verleihen.

Menschen und Gruppen be­ Gerne wird dem die tolerante Konflikte gab es aber nicht
trifft, bezieht sich die von Haltung des preußischen nur zwischen Katholiken und
Frisch gemachte Äußerung Königs Friedrich d. Gr. entge­ Protestanten, sondern auch
vornehmlich auf die kulturel­ gengehalten, der bekanntlich zwischen den verschiedenen
le Ebene und hierbei vor allem schrieb: Richtungen des Protestantis­
auf die Religion. Sie steht im­ mus. Als Beispiel dafür sei die
mer wieder im Vordergrund, »... alle Religionen Seindt Ansiedlung der Hugenotten
wenn es um Fragen der In­ gleich und guht wan nuhr im 17. Jahrhundert in Erlangen
tegration geht. die leüte so sie profesiren erwähnt. Während Markgraf
Christian Ernst von Branden­
burg­Bayreuth den Hugenot­
ten wegen ihrer großen hand­
werklichen Fähigkeiten Zu­
flucht in der Stadt Erlangen
bot und ihnen dafür sogar
einige wichtige Privilegien
einräumte, lehnten die erlan­
ger Protestanten die Neulinge
prinzipiell mit dem Argument
ab, es handele sich bei ihnen
um eine ganz andere Religion
und Kultur, die mit der eige­
nen nichts gemeinsam habe
und deshalb nicht akzeptabel
sei. Drei Generationen hat es
gedauert, bis in Folge von
»Mischehen« eine akzeptable
Form des Modus vivendi ge­
funden wurde.

Angesichts dieser interkon­
fessionellen Schwierigkeiten
verwundert es nicht, dass die
Integration der Juden auf der
kulturellen Ebene noch viel

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länger nicht gelungen ist. Das Flüchtlinge bemühten und zur Abschottung beigetragen
Verhältnis von Deutschtum alles taten, um ihnen eine In­ und dadurch die Integrations­
und Judentum beschreibt tegration zu ermöglichen. arbeit wenn nicht verhindert,
Dieter Borchmeyer in seinem Nicht wenige dieser Ehren­ so doch zumindest erschwert
Buch »Was ist deutsch?« als amtlichen waren beziehungs­ haben.
»eine tragische Illusion«. Die weise sind Mitglieder christli­
Tragik besteht darin, dass die cher Kirchen. Sie haben damit Nicht unerwähnt sollen in
Juden die kulturelle Auswei­ auf ein Engagement hingewie­ diesem Zusammenhang auch
tung der Literatur zur Welt­ sen, das sich schon länger in die Bemühungen der zahlen­
literatur im Sinne Goethes christlichen Kreisen abzeich­ mäßig kleinen Religions­
und Schillers ernst nahmen nete. Als herausragendes Bei­ gemeinschaften wie die der
und sich voll einbrachten, spiel hierfür sei das schon vor­ Yeziden, Mandäer oder Zoro­
während diese Offenheit von her praktizierte Bemühen der astrier bleiben, die ebenfalls
der nicht­jüdischen, in ihrer Baptisten in Hannover um aus dem Orient geflohenen
Menschen ihres Glaubens
Abbildung 2 2 Zuflucht und Hilfe angeboten
haben.
Das 2019 erschienene Buch
von Michael Blume, Religions- Die Diskussionen um das
wissenschaftler und baden- Tragen der Kippa und des
württembergischer Antisemitis- Kopftuches zeigen jedoch
musbeauftragter auch, dass sichtbare Zeichen
der Abweichung vom Stan­
dard der deutschen Mehr­
heitsgesellschaft schnell zu
Debatten führen können, ob
die Integration gelungen ist
oder ob Integration nicht letzt­
lich Assimilation meint. Dies
gilt auch für andere Themen
wie die Teilnahme am koedu­
kativen Sport­ oder Schwimm­
unterricht oder die Bereit­
schaft von Jungen, der Lehre­
rin die Hand zu geben.

überwiegenden Mehrheit Asylsuchende erwähnt. Ande­ Integration ist keine Einbahn­
christlichen deutschen Öffent­ re christliche Gemeinden zeig­ straße. Sie verlangt von beiden
lichkeit nicht geteilt und die ten sich offen für eingewan­ Seiten gegenseitiges Auf­ein­
Abgrenzung zu den Juden derte Christen aus Afrika und ander­Zugehen und die An­
nach wie vor mit allen anti­ Asien sowie Südamerika. liegen der jeweils anderen
semitischen Vorurteilen auf­ Seite ernst zu nehmen sowie
recht erhalten wurde. So wa­ Besonders eindrucksvoll ist die Bereitschaft, jeweils neu
ren Juden beispielsweise seit zudem die Leistung der jüdi­ die Regeln des Zusammen­
dem Jahr 1899 im Deutschen schen Gemeinden in Nieder­ lebens festzulegen. Anders als
Alpenverein unerwünscht, sachsen, die sich um die Inte­ in klassischen religiös homo­
also lange bevor die National­ gration von Tausenden Juden genen Gesellschaften, wo die
sozialisten den sogenannten erfolgreich bemühten und staatliche Autorität die gesell­
»Arier­Paragraph« gesetzlich noch immer bemühen, als die­ schaftliche Ordnung als meta­
verankert haben. se aus Osteuropa und den physisch begründete Vorgabe
Nachfolgestaaten der Sowjet­ verordnet, muss in der Demo­
Positive Beispiele union zu uns gekommen sind. kratie der Verhaltenskodex
zwischen allen beteiligten
Als Folge der großen Zahl von Ähnlich positiv haben viele Gruppen ausgehandelt und je
Migranten im Jahre 2015 ent­ muslimische Gemeinden in neu bestimmt werden. Dies
standen zahlreiche Gruppen, Deutschland bei der Integra­ bedeutet einen Vorrang des
die sich intensiv um die tion muslimischer Flüchtlinge Rechts gegenüber den Forde­
mitgeholfen, während andere rungen der Religion (siehe
Marcel Gauchet).

10

M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

Fazit kulturell – reduziert wird, leicht durch Pauschalurteile Prof. em. Dr. theol., Dr. phil.
denn jeder Mensch hat de fac­ und gängige Verschwörungs­ Peter Antes
Die Beispiele zeigen, dass das to mehrere Identitäten – in der mythen Juden individuell
größte Desiderat für die In­ Ehe eine andere als im Beruf, diskriminiert und in ihrer Jahrgang 1942, war bis Februar
tegration auf der kulturellen in der Freizeit eine andere als menschlichen Würde verletzt 2012 Professor am Institut für
Ebene liegt. Hierbei spielt die im politischen Engagement werden. Deshalb ist es not­ Religionswissenschaft an der
Religion eine zentrale Rolle, etc. Erst wenn diese Vielfalt wendig, aus den Fehlern der Leibniz Universität Hannover.
die mit Blick auf die Geschich­ von Identitäten gewahrt Vergangenheit zu lernen, eine Seine Forschungsschwerpunkte
te durchaus ambivalent ist. Sie bleibt, kann der Mensch frei Diskussion darüber zu füh­ sind islamische Ethik, Religionen
kann zum Hindernis für eine leben und sich aus den Zwän­ ren, in welcher Gesellschaft und religiöse Gemeinschaften in
gelungene Integration wer­ gen des Kollektivs befreien. wir wie leben wollen, und sich Europa. Seit er emeritiert ist,
den, sie kann aber auch dafür konstruktiv für ein friedliches beschäftigt sich Peter Antes mit
sehr förderlich sein, wenn Am Beispiel des Antisemitis­ Zusammenleben in unserer der Vielfalt der Wege zur Trans-
demokratische Vereinsstruk­ mus zeigt Michael Blume, wie Gesellschaft einzusetzen. zendenz. Kontakt: antes@mbox.
turen und frauenfördernde rewi.uni-hannover.de
Maßnahmen eingeübt wer­ Literatur zum Thema cité, Paris: Gallimard [folioessais]
den, wie es in vielen Arbeits­ 1998, S. 13–18
kreisen religiöser Gemein­ Dieter Borchmeyer: Was ist Amin Maalouf: Mörderische Iden-
schaften wie kultureller Ver­ deutsch? Die Suche einer Nation titäten, Frankfurt/M: Suhrkamp
eine geschieht. nach sich selbst, Berlin: Rowohlt, 2000
1. Aufl. März 2017, S. 537–673. Michael Blume: Warum der Anti-
Bei alledem sollte der/die Ein­ Herder-Korrespondenz Spezial/ semitismus uns alle bedroht. Wie
zelne stets als Individuum ge­ September 2018: Gelobtes Land. neue Medien alte Verschwörungs-
sehen und nicht pauschal mit Wie Migration unsere Gesellschaft mythen befeuern, Ostfildern:
dem entsprechenden Kollektiv verändert Patmos 2019
gleichgesetzt werden. Zu Marcel Gauchet: La religion dans
Recht weist Amin Maalouf la démocratie. Parcours de la laï-
darauf hin, dass es fatal wird,
wenn ein Mensch auf eine
einzige Identität – sei sie reli­
giös, sprachlich, ethnisch oder

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06.11.2019 09:02:04

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M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

Wandel als Bereicherung

MIGRATIONSBEDINGTE DIVERSITÄT UND IHR EINFLUSS
AUF BILDUNGSINSTITUTIONEN

Migrationsbewegungen prägen 1

die gegenwärtigen Gesellschaf- Bildungschancen
Nach wie vor sind die Bildungschancen in Deutschland ungleich
ten. Immer mehr Menschen verteilt: Laut statistischem Bundesamt besuchen Kinder und
Jugendliche mit Migrationshintergrund seltener eine Kita und
migrieren, müssen fliehen oder sind an Hauptschulen über- und an Gymnasien unterrepräsen-
tiert. Schulleistungsuntersuchungen der letzten Jahre belegen
arbeiten und leben an unter- ferner, dass die Leistungen von jungen Menschen mit Migrations-
hintergrund weiterhin hinter denen von Gleichaltrigen ohne
schiedlichen Orten. Migrations- Migrationshintergrund liegen. Auch in der beruflichen Bildung
und im Studium setzt sich diese Benachteiligung fort. Das heißt
bedingte Diversität ist in jedoch nicht, dass Menschen mit Migrationshintergrund grund-
sätzlich bildungsbenachteiligt sind. Bei gleichem Bildungshinter-
Deutschland längst Realität und grund der Eltern und gleicher sozioökonomischer Lage erzielen
Kinder aus bestimmten Herkunftsgruppen (zum Beispiel der
der Umgang mit dieser Vielfalt spanischen oder vietnamesischen Herkunftsgruppe) sogar über-
durchschnittlich gute Ergebnisse.
eine der Schlüsselaufgaben

unserer Gesellschaft. Insbeson-

dere Bildungsinstitutionen

nehmen hier eine zentrale Rolle Zur aktuellen Situation im
ein. Gleichzeitig verändert die Bildungssystem

Diversität die Bildungsinstitutio- Ein Blick auf den Anteil an
nen selbst. Dr. Isabel Sievers vom Personen mit Migrationshin-
Hochschulbüro für ChancenViel- tergrund im Bildungssystem
zeigt, dass sprachliche und
falt richtet daher sowohl den kulturelle Diversität vielerorts
Blick auf die migrationsbedingte der Normalfall ist. Jede vierte
Person in Deutschland besitzt
Diversität im Bildungssystem einen Migrationshintergrund.
als auch auf den Wandel der Im Grundschulalter haben im
Durchschnitt sogar 33,6 Pro-
Bildungseinrichtungen. zent der Kinder eine Zuwan-
derungsgeschichte, wobei der
Anteil zwischen den Bundes-
ländern stark variiert, von
8,4 Prozent in Thüringen
bis zu mehr als 50 Prozent in
Bremen.

12

M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

Auch die Aufnahme von Ge- Die Angebote waren insge- fragt, ob es überhaupt spe-
flüchteten in das deutsche Bil- samt von einer Separation der zielle Angebote für einzelne
dungssystem ist keine neue Gruppe und einer starken Gruppen geben sollte. Ab 2000
Aufgabe, nichtsdestotrotz Defizitorientierung geprägt. setzen sich Bildungsinstitutio-
stellt die hohe Fluchtzuwan- Mangelnde Kompetenzen nen, insbesondere Schulen,
derung in den Jahren 2015 sollten ausgeglichen werden. Einrichtungen der Erwachse-
und 2016 die Bildungseinrich- Diese Ansätze wurden in der nenbildung sowie Hochschu-
tungen vor neue Herausforde- Folge stark kritisiert, bestehen len, stärker damit auseinan-
rungen: Etwa 30 Prozent der teilweise aber bis heute. Dies der, wie sie sich selbst weiter
mehr als 1,1 Millionen Men- zeigt sich beispielsweise in der entwickeln können, um den
schen, die 2015 und 2016 einen kontroversen Diskussion um Anforderungen einer zuneh-
Asylantrag gestellt haben, den erneuten Ausbau von Vor- menden Migrationsgesell-
sind unter 18 Jahre alt und ha- bereitungsklassen für Neuzu- schaft gerecht zu werden. Im
ben somit das Recht bzw. die gewanderte seit 2014. Fokus der Reformen standen
Pflicht, eine Schule zu besu-
chen. Weitere 25 Prozent sind Abbildung 1
zwischen 18 und 25 Jahren
und damit im Ausbildungs- Das deutsche Bildungssystem
beziehungsweise Studieralter steht vor der Aufgabe, Personen
(vgl. SVR 2019). mit einer eigenen oder familiären
Migrationsgeschichte für das
Das deutsche Bildungssystem Leben und die Arbeitswelt in
steht demnach auch in Zu- Deutschland zu qualifizieren.
kunft vor der Aufgabe, Perso- Foto: picture alliance/Klaus Rose
nen mit einer eigenen oder fa-
miliären Migrationsgeschichte
für das Leben und die Ar-
beitswelt in Deutschland zu
qualifizieren. Da Migrations-
umstände und Bildungsstand
je nach Herkunftskontext
stark variieren, sind die Lern-
ausgangslagen der Personen
äußerst heterogen.

Rückblick –
Bildungsinstitutionen im
kontinuierlichen Wandel
Vom Zielgruppenansatz über
die interkulturelle Öffnung zu
Diversity-Ansätzen

Bis Mitte der 1970er Jahre war 2 Abbildung 2
die Auseinandersetzung mit
dem Thema Migration davon dabei das Erkennen und Bereits in den 70er Jahren des
geprägt, dass die Gesellschaft der Abbau institutioneller, vergangenen Jahrhunderts ein
und ihre Bildungsinstitutionen gruppenbezogener und indi- Thema: Die Bildungschancen der
nicht darauf vorbereitet waren vidueller Diskriminierung, Kinder von Menschen, die in die
Personen aus dem Ausland welche zur Bildungsbenach- Bundesrepublik gekommen sind,
aufzunehmen. Erst in den teiligung von Migrantinnen um hier zu arbeiten.
Folgejahren entwickelten sich und Migranten beitragen. Foto: picture alliance/dpa
insbesondere im Schulsystem
überwiegend zielgruppenspe- Bereits ab Mitte der 1990er
zifische Lösungen und separa- Jahre wurde insgesamt stärker
te Angebote für so genannte darüber diskutiert, inwieweit
Gastarbeiterkinder, wie sie da- die Bildungsinstitutionen
mals genannt wurden. Es bil- selbst (tatsächlich) »offen« für
deten sich unter anderem Vor- alle Mitglieder einer Gesell-
bereitungsklassen zum Erler- schaft sind. Es wurde hinter-
nen der deutschen Sprache.

13

M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

Interkulturelle Öffnung

Zunächst wurde diese Öff-
nung mit dem Konzept der in-
terkulturellen Öffnung vor-
angebracht. Interkulturelle
Öffnung hat dabei den An-
spruch, die migrationsbeding-
te Vielfalt der Gesellschaft als
»Normalfall« anzuerkennen
und nicht ausschließlich in
Sonderkontexten zu behan-
deln. »Öffnung« verweist da-
bei auf einen transparenten
Veränderungsprozess, indem
ein Weg entwickelt wird, Rah-
menbedingungen zu hinter-
fragen und zu verändern. Dies
betrifft zum Beispiel die Zu-
sammensetzung der Mitarbei-
tenden. Ein Beispiel dafür ist
das Projekt des Niedersächsi-

Interkulturelle Öffnung Die Leibniz Universität Hannover hat 2013 ein Diversity Manage-
ment implementiert und ein eigenes Diversity Konzept entwickelt.
Interkulturelle Öffnung wird als ein Lern- und Veränderungspro- Nähere Infos unter: www.chancenvielfalt.uni-hannover.de
zess verstanden, der Vorurteile abbauen und die Teilhabechancen
benachteiligter Bevölkerungsgruppen erhöhen soll. In diesem Sin-
ne ist interkulturelle Öffnung eine Querschnittsaufgabe, die ne-
ben Bildungsinstitutionen auch viele gesellschaftliche Bereiche
wie Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft, Medien
oder Kultur betrifft.

schen Kultusministeriums zess, sondern eher von einer Diversity Management
»Vielfalt im Klassenzimmer = punktuellen Öffnung gespro-
Vielfalt im Lehrerzimmer« chen werden. Nur langsam In den vergangenen 6 bis 8
zur Erhöhung des Anteils an verbreitet sich die Erkenntnis, Jahren wurde das Konzept der
Lehrkräften mit Migrations- dass das Bildungssystem Interkulturellen Öffnung im-
hintergrund. Die Notwendig- durch die Anerkennung mer stärker durch den Diver-
keit einer Öffnung von Ein- migrationsgesellschaftlicher sity Ansatz weiterentwickelt.
richtungen ergibt sich dabei Realitäten enorme Ressourcen Diversitäts- oder »Diversity«-
insbesondere auch aus der po- sowie Impulse bekommt. In Ansätze gehen auf die US-
litischen Forderung nach einer der wissenschaftlichen Dis- amerikanische Civil Rights
gleichberechtigten Teilhabe kussion wird ferner kritisch Bewegung der 1960er Jahre
aller gesellschaftlichen Grup- bemerkt, dass sich Interkultu- zurück und waren ursprüng-
pen. Hier finden sich An- ralität oft ausschließlich auf lich ein rein politisches Kon-
knüpfungspunkte an das All- Aspekte von Unterschiedlich- zept, welches zunächst auf die
gemeine Gleichbehandlungs- keit hinsichtlich Sprache oder Beseitigung von Rassendiskri-
gesetz (AGG), das 2006 in Kultur beziehe. Diese Über- minierung und Segregation
Kraft getreten ist. betonung und Generalisie- beschränkt war. Während in
rung kultureller Unterschiede den USA zunächst über die
Idealerweise müssten Verän- spiele nach wie vor eine große gleichberechtigte Teilhabe
derungen im System auf der Rolle. Andere Vielfaltsaspekte, von Menschen mit offensicht-
Ebene der Inhalte, Strukturen wie zum Beispiel Geschlecht, lichen Unterschieden zur
und Strategien vollzogen Bildungshintergrund, Behin- Mehrheitsgesellschaft (zum
werden. Insgesamt kann hier derung oder Alter würden Beispiel durch Hautfarbe, Ge-
allerdings keineswegs von hierbei zu wenig in Öffnungs- schlecht, Behinderung oder
einem flächendeckenden Pro- prozesse integriert. Alter) diskutiert wurde, be-

14

M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

derungsprozesse werden aber
erst dann wirksam werden,
wenn Organisationsentwick-
lungsbemühungen nicht auf
eine eher starre Institution
treffen, sondern die Bildungs-
institutionen als »lernende
Organisation« Vielfalt und
Veränderung als essenziellen
Bestandteil der Organisations-
kultur wahrnimmt.

Quellen

Sachverständigenrat deutscher Stif-
tungen für Integration und Migra-
tion (SVR) (Hrsg.) (2019): Ungleiche
Bildungschancen. Fakten zur Benach-
teiligung von jungen Menschen mit
Migrationshintergrund im deutschen
Bildungssystem. Berlin

schreibt die heutige Diskus- nung individueller Bildungs- Schulen, Hochschulen oder Dr. Isabel Sievers
sion viele Verschiedenheiten, biografien, bisherigen Erfah- Einrichtungen der Erwachse- Jahrgang 1976, ist seit 2016
die aus individuellen »Unter- rungen und Kompetenzen bei nenbildung, verändert An- Referentin für Diversity Ma-
schieden« entstehen. (neu-)zugewanderten Perso- forderungen an ihre pädago- nagement im Hochschulbüro für
nen. Im Bereich der beruf- gischen und didaktischen ChancenVielfalt sowie wissen-
Diversity als Haltung be- lichen Bildung, der Erwachse- Kompetenzen. Auch hier sind schaftliche Mitarbeiterin in der
schreibt das Bewusstsein für nenbildung sowie der Hoch- in den letzten Jahren zahlrei- Leibniz School of Education im
Verschiedenheit, deren An- schulbildung findet hier che Veränderungen zu beob- Profilschwerpunkt Diversität
erkennung und Berücksichti- bereits ein Perspektivwechsel achten, beispielsweise die zu- und Inklusion. Sie war von 2008
gung in einer Organisation statt. Beispielhaft können Pro- nehmende Integration diversi- bis 2015 wissenschaftliche
sowie deren Zugehörigkeit jekte wie ValiKom oder Early tätsspezifischer Inhalte in die Koordinatorin der Arbeits- und
und Beteiligung. Es geht dabei Intervention genannt werden, lehramtsbezogenen Studien- Forschungsstelle diversitAS
um Gleichstellung, soziale die in Zusammenarbeit mit gänge. (Diversität – Migration –
Gerechtigkeit, Förderung per- Industrie- und Handelskam- Bildung) an der Leibniz Uni-
sonaler Vielfalt und ein diskri- mern entsprechende Verfah- Ausblick versität. Ihre Arbeits- und
minierungsfreies Umfeld. Als ren zur Anerkennung (infor- Forschungsschwerpunkte sind
Diversity Management wird meller) Qualifikationen ent- Die Zusammenhänge und unter anderem Migrations- und
daraus eine Strategie, die in wickeln. Ein Beispiel an Wechselwirkungen zwischen Transmigrationsprozesse sowie
erster Linie auf Nutzen zielt. Hochschulen ist das Projekt Migration auf der einen und der Umgang mit Diversität
Unterschiedlichkeit und Viel- an der Universität Bielefeld Bildung auf der anderen Seite in verschiedenen Bildungskon-
falt werden in einem poten- Lehrkräfte Plus – Perspektiven sind komplex. Sie wirken sich texten. Kontakt: sievers@
zialorientierten Ansatz als für Lehrkräfte mit Fluchtge- auf alle Beteiligten aus. Ange- chancenvielfalt.uni-hannover.de
Chance für organisatorische schichte, ein Qualifizierungs- sichts der gegebenen Vielzahl
Vorteile oder wirtschaftlichen programm, das Lehrkräften bestehender (bildungs-)bio-
Gewinn betrachtet. Diversity mit Fluchthintergrund einen grafischer Hintergründe, der
betrachtet dabei migrations- Einblick in das deutsche Fülle an gesprochenen Spra-
bedingte Vielfalt explizit als Schulsystem gibt und sie für chen, sich verändernden Kul-
Chance und richtet den Blick den Einsatz an Schulen, zum turen sowie anhaltender un-
auf die Potenziale in einer Mi- Beispiel als Vertretungslehr- gleicher Bildungschancen
grationsgesellschaft. kräfte, vorbereiten soll. müssen sich Bildungsinstitu-
tionen heute mehr denn je
Hieraus ergibt sich unter an- In Zeiten zunehmender Diver- kontinuierliche weiterent-
derem die Frage nach den sität ergeben sich somit auch wickeln. Institutionelle Verän-
Möglichkeiten der Anerken- für alle Lehrenden, sei es in

15

MIGRATION LEIBNIZ UNIVERSITÄT HANNOVER

»LeibnizWerkstatt«
und »mittwochs um vier«

VOM UMGANG MIT MEHRSPRACHIGKEIT UND MIGRATION IM BILDUNGSWESEN

Mit dem Motto Spracherwerb fördern – Geflüchtete unterstützen und Differenzziehung ab. Das Buch ist universitätsintern
nahm die LeibnizWerkstatt im Herbst 2015 ihren Anfang. kostenlos herunterzuladen.
Als Erstes gestaltete sie Werkstätten mit Fokus auf Deutsch-
vermittlung, Asylrecht und Traumapädagogik, um Studie- Das für 2020 vorgesehene Sammelwerk Sprache – Bildung –
rende zum freiwilligen Einsatz für Geflüchtete zu befähigen. Geschlecht. Interdisziplinäre Ansätze in Flucht- und Migrations-
Hierfür gewann sie Praxiserprobte und Kunstschaffende mit kontexten versteht sich als Fortführung und wird derart auf-
und ohne Fluchterfahrung aus der Stadt und aus der Region bereitet, dass es weiterhin fachferne Sprach- und Migrations-
Hannover. Darauf nahm sich die LeibnizWerkstatt vor, Stu- interessierte anspricht. Neben bewährten Themenfeldern
dierende auf die lange Geschichte der Migration, darunter Ar- wie Bildungszugang, Integrationskurs, Rassismuskritik,
beits-, Bildungs-, Familien-, Zwangsmigration, aus und nach Zweitsprachaneignung werden aktuelle bildungs- und mig-
Deutschland aufmerksam zu machen sowie sie für den ver- rationsbezogene Schnittstellen zur Neuzuwanderung –
schiedenartigen Umgang mit Sprachen nach der Migration, Alphabetisierung, Geschlechterverhältnisse, Menschen-
sei es Erwerb, Erhalt, Pflege oder Verlust, zu sensibilisieren. rechtsbildung, Zufluchtsstädte – aufgegriffen und reflektiert.

Im Frühling 2016 wurde die offene Veranstaltungsreihe Eine geschlechtersensible, rassismuskritische sowie antidis-
»mittwochs um vier« zur Vernetzung und Vertiefung orga-
nisiert. Seitdem finden wöchentlich interaktive Vorträge mit kriminierende Haltung bestimmt die Gestaltung der Leib-
anschließender Diskussion zu Sprache, Migration und Viel-
falt an der Leibniz Universität Hannover statt. Mittlerweile nizWerkstatt, die einen Weg in die universitäre Zielvereinba-
wurden im Zeitraum von acht Semestern mehr als 90 Vorträ-
ge aus Sprach-, Literatur-, Erziehungs- und Sozialwissen- rung mit der Absicht der Verstetigung bestehender Inhalte
schaften sowie Sprach- und Politikdidaktik mit bundeswei-
ten und überregionalen Gästen durchgeführt. Ziel des se- gefunden hat. Die genaue Ausgestaltung wird sich dem-
mesterübergreifenden Begleitprogramms ist, Studierenden
mithilfe der Multiperspektivität zu einer empathischen und nächst abzeichnen und auf der projekteigenen Webseite zu
inklusiven Zukunftsvision für die mehrsprachige Migrati-
onsgesellschaft zu verhelfen. lesen sein. Die Gesamtleitung für das vom MWK unterstütz-

te Projekt liegt bei Prof. Dr. Julia Gillen (Leibniz School of

Education) und Prof. Dr. Hans Bickes (Deutsches Seminar).

Die Ansprechperson für die Konzeption, Durchführung und

Umsetzung ist die Herausgeberin der vorgestellten Sammel-
Radhika Natarajan
bände.

Die LeibnizWerkstatt bietet zudem in ihrer Präsenzbiblio- Weitere Informationen sowie einen
thek Lehr- und Nachschlagewerke zur Ansicht an. Die auf- Link zum Buch finden Sie unter:
gefächerte Palette zu Deutsch als Zweit- und Fremdsprache
mit Theoriemodulen, Praxiseinheiten, Gesprächskreis und Vortragsreihe »mittwochs um vier«:
Beratung wird durch Werkstatt Plus, ein über Studienquali- https://www.lehrerbildung.uni-
tätsmittel ermöglichtes, fakultätsübergreifendes Angebot, hannover.de/de/lse/projekte/
gewährleistet. leibnizwerkstatt/mittwochs-um-vier/

Die praxisnahen Werkstätten und die interdisziplinäre Vor- Link zum Sammelband als E-Book:
tragsreihe brachten mannigfache Ideen hervor, die Studie- https://link.springer.com/
rende und pädagogisch Handelnde in ihrem Engagement be- book/10.1007/978-3-658-21232-2
stärkten. Die Bandbreite dieser Denkanstöße erschien 2019
im ersten Sammelband des Projekts Sprache, Flucht, Migrati- Für eine ausführliche Projektbeschreibung siehe:
on. Kritische, historische und pädagogische Annäherungen. Mit Natarajan, Radhika. 2017. LeibnizWerkstatt: Den Engagierten zum Engagement ver-
insgesamt 25 Beiträgen, einer Einleitung und einem Epilog
geht er Gesellschaftlichen Zuständen und Zusammenhängen his- helfen. In Fluchtmigration, gesellschaftliche Teilhabe und Bildung. Handlungs-
torischer und gegenwärtiger Art im Buchteil A nach, stellt felder und Erfahrungen, Hrsg. Isabel Sievers und Florian Grawan. Frankfurt a.M.:
Pädagogische Überlegungen und Vorschläge in inner- und außer- Brandes & Apsel, 180–198.
schulischen Kontexten im Buchteil B an und schließt im
Buchteil C mit Kritischen Überlegungen zu Sprache, Migration

16

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Ein Schlüsselelement

DIE ARBEITSPLATZINTEGRATION VON MIGRANTINNEN UND MIGRANTEN

Damit sich Menschen, die Arbeitsplatzintegration ist 1 erfordert Wissensstrukturen,
aus anderen Ländern nach insbesondere im Kontext der die sowohl auf vorhandenen
Integration der seit 2015 Ge- die Integration voranzubrin- Theorien und empirischen
Deutschland kommen, flüchteten zu einem zentralen gen. Dies erfordert sowohl Ergebnissen basieren als auch
wohl- und angenommen fühlen, Thema der Erwachsenen- schnelle, bedarfsgerechte als auf aktuellen und situativen
und Weiterbildung, nicht nur auch kontinuierliche Angebo- Bedarfsforschungen, die spe-
ist ein Arbeitsplatz ein in Deutschland, sondern in te, um den verschiedenen Per- zifisch durchzuführen sind
wichtiges Element. Ebenso Europa insgesamt geworden. spektiven der Zugewanderten, (vgl. Robak 2019; Fleige et al.
bedeutsam sind die Konstella- Hinzu kommt die Suche nach aber insbesondere auch der 2018; Käpplinger et al. 2017).
tionen rund um eine neue Lösungen, um dem diagnosti- Unternehmen unter Berück-
zierten Fachkräftemangel zu sichtigung der gesellschaft- Die Integration von Migran-
Arbeitsstelle, damit ein begegnen. Letzterer ist seit lichen Bedingungen, etwa tinnen und Migranten in die
»Ankommen« gelingt. längerem bekannt, trotzdem arbeitsmarkt- und beschäfti- Gesellschaft eines Landes ist
Gemeinsam mit einem inter- sind zu wenig Anstrengungen gungsstrukturelle Bedingun- ein vielschichtiger Prozess,
nationalen Expertenteam unternommen worden, Integ- gen, gerecht zu werden. Diese bei dem die Arbeitsplatzinteg-
haben Prof. Steffi Robak und ration über die Ausweitung jüngsten Herausforderungen ration ein Schlüsselelement
Carola Rose vom Institut für und Ausdifferenzierung von machen eine Zusammenarbeit für die Nachhaltigkeit des
Berufspädagogik und Erwach- Bildung und Qualifizierung zwischen Wissenschaft und Integrationsprozesses bildet.
senenbildung in dem EU- zu unterstützen (vgl. Robak Praxis besonders fruchtbar, Gleichzeitig stellt sie eine
Projekt »MaWIC« eine Weiter- und Petter 2014). Einen Auf- wenn Wissenschaft in Form Herausforderung für alle be-
bildung zum Migrations- und schwung erhielt das Thema von prozessbezogener Begleit- teiligten Personen dar. In dem
Integrationscoach entwickelt, durch Herausforderungen im forschung theoretische und von der DEKRA Akademie in
um innerbetriebliche Integra- Integrationsprozess, die seit empirische Erkenntnisse ein- Kooperation mit dem Institut
tionsprozesse zu unterstützen. 2015 auftreten. Waren zu- bringen und gemeinsam mit für Berufspädagogik und
nächst besonders schnelle der Praxis Konzepte und Mo- Erwachsenenbildung (IfBE)
Maßnahmen im Fokus, die auf delle entwickeln kann. Die entwickelten Projekt MaWIC
die sprachliche Handlungs- Erstellung von Konzepten,
fähigkeit abzielten, richtete Angeboten und Programmen
sich das Augenmerk von Poli-
tik, Wirtschaft und Bildungs-
praxis bald auf umfassendere
Maßnahmen, die sich mit In-
tegration über Bildung, Qua-
lifizierung und Kompetenz-
entwicklung befassen. Für
eine gelingende Integration
müssen alle Bildungsbereiche
(allgemeine, berufliche und
politische) Bildung einbezo-
gen werden. Die Erwachse-
nen- und Weiterbildung in
öffentlichen und betrieblichen
Sektoren ist herausgefordert,
Programme, Angebote und
arbeitsplatzbezogene Maß-
nahmen zu entwickeln, um

18

M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

(Facilitating Migration and der Arbeitsplatzintegration. munikationsaufgaben genügt
Workplace Integration with Eigene Ergebnisse des hier hingegen ein weniger um-
Qualified Personnel and vorgestellten Projekts zeigen fangreicher Wortschatz.
Concepts) arbeitet die Leibniz jedoch, dass die notwendigen
Universität Hannover in Sprachvoraussetzungen in Mit der Unterzeichnung des
einem internationalen Kon- verschiedenen Berufen sehr Arbeitsvertrags wird der
sortium mit Partnern aus unterschiedlich sein können. Integrationsprozess häufig als
Deutschland, Finnland, In der Altenpflege ist Sprache abgeschlossen betrachtet.
Schweden, Spanien und Un- zum Beispiel aufgrund der Wie die Ergebnisse der durch-
garn daran, die Integration kommunikativen und bezie- geführten Bedarfsanalyse zu
von Migrantinnen und Mig- hungsorientierten Tätigkeits- Beginn des Projekts zeigen,
ranten am Arbeitsplatz mit struktur nicht nur in Bezug bedarf es für die Integration
Hilfe eines Coachingansatzes auf Fachwissen und die Kom- am Arbeitsplatz jedoch mehr
zu erleichtern. Dabei werden munikation im Team relevant, als einen unterschriebenen
insbesondere die Sektoren 2
Gesundheit, Transport und Abbildung 1
Logistik sowie Automotive 3 Quelle: Institut für Berufspädagogik
konkret in den Fokus genom- und Erwachsenenbildung
men. Das Projekt wird im
Rahmen des EU-Programms Abbildung 2
Erasmus+ als strategische Quelle: Institut für Berufspädagogik
Partnerschaft in der Erwach- und Erwachsenenbildung
senenbildung gefördert und Abbildung 3
hat eine Laufzeit von drei Jah- Quelle: Institut für Berufspädagogik
ren (September 2017 – August und Erwachsenenbildung
2020). Zielgruppe des Projekts
sind Migrantinnen und
Migranten, die aufgrund von
Arbeitsmigration in die betei-
ligten Länder gekommen sind.
Ihre Motive sind daher andere
als zum Beispiel die von ge-
flüchteten Personen. Aus die-
sem Grund wird im Projekt
die Arbeitsplatzintegration
untersucht und weniger die
Integration in den Arbeits-
markt.

Mit der Einnahme eines Ar- sondern es gehören auch Arbeitsvertrag, Sprachtrai-
beitsplatzes wird die hierar- Unterhaltungen mit Pflege- ning und die notwendige
chische Position und die Stel- bedürftigen zu alltäglichen Qualifizierung des bezie-
lung von Migrantinnen und Themen in Umgangssprache hungsweise der Mitarbeiten-
Migranten markiert, was zum Tätigkeitsprofil. In ande- den mit Migrationshinter-
ihren gesellschaftlichen Status ren Berufen mit wenig Kom- grund. Integration am
beeinflusst. Diesen Prozess
bezeichnet Hartmut Esser als
strukturelle Integration. Als
Voraussetzung für diese Plat-
zierung beschreibt Friedrich
Heckmann wiederum einen
Lern- und Sozialisationspro-
zess, der eine Person dazu be-
fähigt, die Rolle beziehungs-
weise die Position, die ihr mit
der Platzierung zugewiesen
wird, auszufüllen. Je nach Tä-
tigkeit können diese Voraus-
setzungen sehr unterschied-
lich sein. Sprache ist beispiels-
weise einer der Hauptaspekte

19

M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

Abbildung 4 Arbeitsplatz ist ein interakti- den Integrationsprozess statt- im Laufe des Integrationspro-
Quelle: Institut für Berufspädagogik ver und kontinuierlicher Pro- findet. Hybridisierung meint zesses erweitert.
und Erwachsenenbildung zess, der für eine nachhaltige in Anlehnung an Homi K.
Gestaltung den Einsatz aller Bhabha und Andreas Reck- Im MaWIC-Projekt wurden
beteiligten Personen erfordert. witz, dass die eingebrachten diese theoretischen und em-
Dabei stehen Prozesse der so- kulturellen Ressourcen der pirischen Grundlagen über
zialen Integration und der Migrantinnen und Migranten, Bildungs- und Qualifizie-
Ausformung von Zugehörig- etwa besondere Fähigkeiten rungsprozesse im Kontext von
keiten im Mittelpunkt. In der im Bereich Management, so- Migration als Grundlage für
Interaktion mit anderen Perso- wie die kulturellen Ressour- eine gemeinsame Konzeptent-
nen am Arbeitsplatz machen cen der Menschen in der An- wicklung genutzt und dabei
sie Erfahrungen der Zugehö- kommenskultur, zum Beispiel gleichzeitig weiterentwickelt.
rigkeit, die positiv oder nega- Anforderungen beziehungs- Es entstanden so ein spezi-
tiv sein können. Durch diese orientierter Gruppengestal- fisch ausdifferenziertes Mo-
dell sowie eine Definition für
4 tungen, miteinander interagie- Arbeitsplatzintegration, die
ren und neue Formen entste- von allen europäischen Part-
Erfahrungen wird zum einen hen, die Spuren und Elemente nern adaptiert werden konnte.
deutlich, ob sich eine zu- der verschiedenen kulturellen Die Arbeitsplatzintegration
gewanderte Person in dem Ressourcen aufweisen. Die vollzieht sich demnach im
Sozialgefüge am Arbeitsplatz erste Ebene Psychodynamische Kern auf einer Mikroebene,
zugehörig fühlt und zum an- Akkulturation beschreibt die auf der die Migrantinnen und
deren, ob Kolleginnen und individuellen situativen und Migranten selbst sowie Kol-
Kollegen die Person als zu- biografischen Konstitutions- leginnen und Kollegen und
gehörig anerkennen. Die beid- bedingungen einer Person, Vorgesetzte miteinander inter-
seitige Anerkennung der Zu- wozu beispielsweise die Moti- agieren. In der Interaktion
gehörigkeit – und das bedeu- vation für die Migration oder müssen Faktoren wie bei-
tet gegenseitige Offenheit und die Lebensbedingungen gehö- spielsweise die Sprache, Ar-
Anerkennung – der migrier- ren. Auf der zweiten Ebene beitspraktiken, unterschied-
ten Person ist nach Untersu- Professionalisierung wird der liche Voraussetzungen sowie
chungen von Paul Mecheril Arbeitskontext mit seinen An- alltägliche Fragen situations-
ein wichtiger Faktor der Inte- forderungen und Lernmög- spezifisch und kontextbezo-
gration. lichkeiten beschrieben und gen wahrgenommen und be-
die dritte Ebene Bildung und arbeitet werden. Grundlegend
Forschungen zur Ausformung Kulturalität fokussiert die Be- dafür ist eine gegenseitige of-
von Lern- und Bildungspro- schäftigung mit der Aufnah- fene Haltung aller Beteiligten.
zessen in Hybridisierungspro- mekultur. Das Lernen auf den Die Mikroebene wird durch
zessen von Expatriates (deut- Ebenen findet über Arbeits- Einflüsse von Politik, Wirt-
schen Führungskräften) in praktiken, Kulturstandards schaft, Medien und Netzwer-
China (vgl. Robak 2012) erga- und Deutungsmuster statt, die ken auf der Makroebene mit-
ben drei Ebenen, auf denen eine Person bereits nutzt und bestimmt. Erst im zeitlichen
durch verschiedene Dimen- Verlauf ist erkennbar, wie ein-
sionen Lernen in Bezug auf zelne Integrationsfaktoren
bearbeitet werden und wie
nachhaltig sie sind (siehe Abbil­
dungen).

Dieses Modell zur Integration
am Arbeitsplatz wurde aus
den Ergebnissen einer zu Be-
ginn des Projekts durchge-
führten mehrperspektivischen
Befragung zu Bedürfnissen
und Bedarfen auf organisatio-
naler Ebene (Arbeitgeber) so-
wie auf individueller Ebene
(Migrantinnen und Migran-
ten) entwickelt. Dabei zeigten
sich besondere Herausforde-
rungen einer derartigen be-
gleitenden Prozessforschung.

20

M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

Sie muss die Spezifika der je- den fünf Partnerländern des senen- und Weiterbildung. Bielefeld:
weiligen Länder berücksichti- EU-Projekts stattfindet. MaWI- wbv Publikation (UTB Erwachsenen-
gen; die Verständnisse von In- Coaches werden dazu aus- bildung, Weiterbildung, 4966).
tegration und die politische gebildet, die am Integrations- Käpplinger, Bernd; Robak, Steffi;
Situation bezüglich der Integ- prozess beteiligten Personen, Fleige, Marion; Hippel, Aiga von;
ration von Zugewanderten das heißt Migrantinnen und Gieseke, Wiltrud (Hg.) (2017): Cultures
sind jeweils unterschiedlich. Migranten, Kolleginnen und of Program Planning in Adult Edu-
Zudem haben die Praxispart- Kollegen sowie Vorgesetzte, cation. Concepts, Research Results and
ner je einen anderen Blick auf aktiv in den Prozess einzube- Archives. 1st, New ed. Frankfurt a.M:
Forschung und formulieren ziehen und den gesamten Pro- Peter Lang GmbH
Bedarfe unterschiedlich. Auf zess aufmerksam zu begleiten. Robak, Steffi (2012): Kulturelle Forma-
forschungspraktischer Ebene Die Leibniz Universität Han- tionen des Lernens. Zum Lernen deut-
sind insbesondere zeitliche nover (Institut für Berufs- scher Expatriates in kulturdifferenten
Ressourcen und Unterschiede pädagogik und Erwachsenen- Arbeitskontexten in China; die ver-
in der Methodenanwendung bildung) entwickelt zudem säumte Weiterbildung. Zugl.: Berlin,
herausfordernd, die bei der Handlungsempfehlungen Humboldt-Univ., Habil.-Schr., 2011.
Durchführung und Ergebnis- unter anderem für Unterneh- Münster: Waxmann.
auswertung Berücksichtigung men, Sozialpartner, Bildungs- Robak, Steffi (2019): Integrations-
finden müssen. einrichtungen, Kammern und orientierte Angebotsstrukturen für
Politik, die Leitlinien für eine Menschen mit Migrationsbiographien/
Um die Prozesse der Arbeits- nachhaltige Integration am Geflüchtete. Eine erwachsenen-
platzintegration zu verein- Arbeitsplatz darstellen. pädagogische Konzeptualisierung im
fachen und die beteiligten Per- Spannungsfeld Inter- und Transkultu-
sonen am Integrationsprozess Literaturverzeichnis reller Bildung. In: DIE: Zeitschrift für
zu begleiten, wurde im Ma- Weiterbildungsforschung 41 (2–3),
WIC-Projekt eine dreimonati- Fleige, Marion; Gieseke, Wiltrud; S. 205–225.
ge Weiterbildung zum Migra­ Hippel, Aiga von; Käpplinger, Bernd; Robak, Steffi; Petter, Isabell (Hg.)
tion and Workplace Integration Robak, Steffi (2018): Programm- und (2014): Programmanalyse zur inter-
Coach, kurz: MaWI-Coach, ent- Angebotsentwicklung in der Erwach- kulturellen Bildung in Niedersachsen.
wickelt, welche seit November Deutsches Institut für Erwachsenen-
2019 über eine Onlineplatt- bildung. Bielefeld: Bertelsmann (Open
form für Teilnehmende aus Access).

Carola Rose Prof. Dr. Steffi Robak und Transkulturelle Bildung,
Jahrgang 1988, ist Projekt- Jahrgang 1970, ist Professorin Bildungsmanagement und
mitarbeiterin in den Projekten für Bildung im Erwachsenenal- Professionalisierung in der Er-
MaWIC – Facilitating Migration ter und Diversity Education an wachsenenbildung/Weiterbil-
and Workplace Integration der Leibniz Universität Hanno- dung (EB/WB), Digitalisierung
with Qualified Personnel and ver, geschäftsführende Leiterin in der EB/WB, Lernkulturfor-
Concepts und CHER – Cultural der Arbeitsstelle DiversitAS schung in der Erwachsenen-
Heritage als Ressource? Ihre (Diversität, Migration und Bil- bildung und betrieblichen
Arbeitsschwerpunkte sind (Ar- dung) sowie deutsche Direkto- Weiterbildung/Unternehmen
beitsplatz-)Integration, Lern- rin und Vorstandsvorsitzende sowie Internationale Personal-
und Bildungsprozesse geflüch- des Leibniz-Konfuzius-Instituts. entwicklung und Globalisie-
teter Personen. Kontakt: carola. Ihre Forschungsschwerpunkte rung. Kontakt: steffi.robak@
[email protected] sind unter anderem Kulturelle ifbe.uni-hannover.de

21

M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

Hilfe und Beratung für
Geflüchtete und Migranten

DIE REFUGEE LAW CLINIC HANNOVER E.V.

Die Refugee Law Clinic Hanno- Die Rechtsberatung wird von wehren. Daher fahren erfah- ständnis vom Asyl- und Aus-
ver (RLCH) ist eine Studenten- Studierenden aller Fachrich- rene Beraterteams der RLCH länderrecht vermittelt, wel-
initiative, welche sich 2015 als tungen im Rahmen des direkt in die JVA Langen- ches im Studium eher eine
selbstständiger gemeinnütziger progressiv didaktischen Kon- hagen, um den Menschen vor randständige Funktion inne-
zepts der »Clinical Legal Edu- Ort den Zugang zu Rechtshil- hat. Die behandelten Themen
Verein gegründet hat und cation« durchgeführt. Dies fe anzubieten. erstrecken sich dabei von auf-
in enger Kooperation mit der bedeutet, dass die Studieren- enthaltsrechtlichen Grund-
Leibniz Universität Hannover den Menschen eine kostenlose Vorbereitet werden die an- lagen, dem Ablauf des Asyl-
steht. Hauptzweck der RLCH juristische Beratung anbieten, gehenden Beraterinnen und verfahrens und des Dublin-
ist es, Geflüchteten und Mig- denen eine Rechtsberatung Berater im Rahmen eines vom Verfahrens, über völker- und
ranten in der Region Hannover ansonsten verwehrt bliebe. RLCH organisierten Aus- und europarechtlichen Grund-
eine kostenlose Rechtsberatung Die Studierendenden erlangen Fortbildungsprogramms. Die- lagen bis hin zu speziellen
zu ermöglichen, um ihnen bei durch die Beratungstätigkeit ses besteht aus einer umfas- Themenbereichen des Sozial-
asyl- und ausländerrechtlichen besondere Soft-Skills und die senden praxisorientierten rechts oder der Frage des
Fragen sowie der Kommuni- Möglichkeit, ihren juristi- Ausbildung im Vorfeld der Familiennachzugs. Um die
kation mit Behörden zu helfen. schen Kenntnisstand entschei- Beratung und einer fachlichen Ausbildung möglichst praxis-
Schatzmeister Lukas Preuschoft dend und fachspezifisch zu Supervision während der orientiert zu gestalten, werden
erweitern. Die Beratung wird Beratungstätigkeit, um die die Seminare größtenteils von
stellt den Verein vor. dabei immer von Zweierteams Qualität der Beratung dauer- Fachanwältinnen und Fach-
durchgeführt. Die Beraterin- haft sicherzustellen und dem anwälten sowie Richterinnen
nen und Berater unterstützen Status als Rechtsdienstleister und Richtern geleitet, welche
die Mandanten bei einer Viel- gem. § 6 Abs. 2 des Rechts- ihre Erfahrungen mit den Stu-
zahl aufenthaltsrechtlicher dienstleistungsgesetzes ge- dierenden teilen. Die Ausbil-
Probleme, indem sie ihnen recht zu werden. dungsfahrt am Ende der Aus-
zum Beispiel behördliche bildung bietet die Gelegen-
Bescheide erklären, bei deren Die Ausbildung setzt sich aus heit, das bereits gesammelte
Beantwortung helfen, behörd- sechs Blockseminaren, einer Wissen zu intensivieren und
liche Anfragen für sie stellen zweitägigen Ausbildungs- sich in Kleingruppen mithilfe
oder sie bei der Erledigung fahrt, der Möglichkeit zu einer von Fallsimulationen auf die
von Behördengängen unter- anwaltlichen Hospitation und eigene Beratungssituation ein-
stützen. Sie übernehmen so- einem begleitenden Mentoren- zustellen. Ergänzt wird die
mit eine Vielzahl an Aufgaben programm zusammen. In den Ausbildung durch die Mög-
und eröffnen ihnen einen un- Blockseminaren wird den an- lichkeit einer Hospitation bei
komplizierten Weg, ihre viel- gehenden Beraterinnen und einem Anwalt oder einer An-
fältigen rechtlichen Probleme Beratern ein vertieftes Ver- wältin, welche den Studieren-
effektiv zu lösen.

Seit 2019 berät die RLCH in
Kooperation mit dem Flücht-
lingsrat Niedersachsen e.V.
auch in der Abschiebungshaft
Langenhagen. Die Inhaftier-
ten dort haben kaum die Mög-
lichkeit, Rechtshilfe in An-
spruch zu nehmen und sich
rechtlich gegen die Haft oder
die geplante Abschiebung zu

222

M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

den zusätzlich die Möglich- Hospitationsmöglichkeiten Fakultät eingerichtet wurde.
keit bieten soll, weitere Einbli- anbieten. Den Vorsitz des Diese Stelle wird von Dipl.-
cke in die Praxis zu erlangen. Beirats hat Prof. Dr. iur. Nils Jur. Katrin Sass besetzt,
Um den Beraterinnen und Hoppe inne, welcher als Leiter welche im Rahmen ihrer
Beratern einen möglichst ein- des »Centre for Ethics and Promotion zum Thema »Pass-
fachen Start zu ermöglichen, Law in the Life Sciences« losigkeit im Asylverfahren«
werden sie bei ihren ersten (CELLS) die Schnittstelle der forscht. Ihr Beitrag zur For-
Terminen von Mentorinnen RLCH zur Leibniz Universität schung und Lehre soll dabei
und Mentoren betreut. Bisher bildet. Aspekte des Migrations-
wurden bereits fünf Ausbil- verwaltungsrechts näher be-
dungsdurchgänge erfolgreich Von der Kooperation des Ver- leuchten und das Thema in
durchgeführt und über 120 eins mit der juristischen Fa- der Fachöffentlichkeit sicht-
Studierende auf eine anschlie- kultät und dem CELLS profi- barer machen. Sie trägt einen
ßende Beratung vorbereitet. tieren alle Seiten. So stellt die wesentlichen Anteil zur Aus-

Abbildung

Koordinationskreis der Refugee
Law Clinc Hannover
Foto: Tim Brederecke

Dieses Jahr werden im sechs- Universität der RLCH einen und Fortbildung der neuen
ten Ausbildungsdurchgang Büroraum und bei Bedarf Se- Beraterinnen und Berater bei.
weitere 30 neue Beraterinnen minarräume für die Beratung Als wissenschaftliche Mit-
und Berater ausgebildet. und die Ausbildung zur Ver- arbeiterin der RLCH führt sie
fügung, wohingegen die Lehrveranstaltungen durch,
Doch auch die ausgebildeten RLCH das migrationsrecht- übernimmt Ausbildungs- und
Beraterinnen und Berater sind liche Lehrangebot für Studie- Fortbildungsseminare, stellt
bei schwierigen Problemen rende erweitert. Zwei studen- den Beraterinnen und Bera-
nicht völlig auf sich allein ge- tische Hilfskräfte organisieren tern Arbeitsmaterialien zur
stellt. Sollten sich Praxisfragen die Mandatsverwaltung der Verfügung und unterstützt sie
stellen oder ein Problem nur RLCH, koordinieren die Bera- bei individuellen migrations-
mit anwaltlicher Hilfe zu lö- tung maßgeblich und stehen rechtlichen Fragen. Bei den
sen sein, kann an ein Mitglied den Studierenden zur Seite. regelmäßig stattfindenden
aus dem Beirat vermittelt Eine weitere studentische Supervisionstreffen hält sie
werden, welches die RLCH Hilfskraft kümmert sich um zudem Vorträge zu tagesaktu-
tatkräftig unterstützt. Der die Arbeit mit Kooperations- ellen Themen im Bereich des
Beirat setzt sich größtenteils partnern und organisiert die Asyl- und Aufenthaltsrechts
aus Fachanwältinnen und Zusammenarbeit mit Dolmet- und gibt den Beraterinnen
Fachanwälten im Bereich des schern. und Beratern in Zusammen-
Flüchtlings- und Ausländer- arbeit mit Anwälten die Mög-
rechts zusammen, welche Seit Herbst 2018 unterstützt lichkeit, sich über aktuelle
zum Beispiel auch Lehrveran- eine wissenschaftliche Mit- Fälle und Problemstellungen
staltungen innerhalb der Aus- arbeiterin die RLCH, für die auszutauschen. Somit wird
bildung übernehmen oder eine Stelle an der juristischen gewährleistet, dass sich die

233

M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

Studierenden auch nach der vielen weiteren Beteiligten. der namensgebenden Stiftung
Grundausbildung weiter fort- Dadurch ist die RLCH in Han- ausgezeichnet wurden.
bilden und in der Beratung nover auch auf einigen Veran-
auf neue Sachverhalte mit ak- staltungen, wie zum Beispiel Die Arbeit der RLCH wird
tuellen Problemfeldern immer dem 1. Mai-Fest, dem Festival ermöglicht durch zahlreiche
optimal vorbereitet sind. contre le racisme, dem Fähr- aktive Unterstützerinnen und
mannsfest und weiteren Ver- Unterstützer, wie die Leibniz
Ergänzend zu diesem Aus- anstaltungen vertreten und Universität Hannover, das
und Fortbildungsangebot bie- freut sich über die stetige Zu- CELLS, den Beirat, den Flücht-
tet die RLCH jedes Semester sammenarbeit mit einer Viel- lingsrat Niedersachsen e.V. so-
mehrere Ringvorlesungen an. zahl von Akteuren. wie die CMS-Stiftung, welche
Dabei handelt es sich um öf- uns die diesjährige Ausbil-
fentliche Abendveranstaltun- Mittlerweile gehört die RLCH dung sowie die Supervisions-
gen mit wechselnden Themen zur Riege der etablierten treffen 2019/20 finanziert.
im Bereich des Asyl- und Auf- migrationsrechtlichen Praxis- Ihnen und jedem Dolmetscher,
enthaltsrechts. Neben den projekte an deutschen Uni- jedem Mitglied, jedem Förder-
eigenen Mitgliedern sind hier- versitäten und hat sich in mitglied und jedem Spender
zu auch sämtliche anderen Niedersachsen bei anderen gilt unser besonderer Dank.
Studierenden sowie alle inter- Flüchtlingsinitiativen einen
essierten Menschen herzlich guten Ruf erarbeitet. Unter Lukas Preuschoft
eingeladen. anderem wurde der Verein Jahrgang 1994, ist Student der
durch das das Stipendium des Rechtswissenschaft und seit
Neben den etwa 200 Mitglie- startsocial e.V. und mit dem 2018 Mitglied und aktiver
dern bildet der Koordinations- Preis »Aktiv für Demokratie Berater. Seit Anfang 2019 ist
kreis das zentrale und tragen- und Toleranz 2016« ausge- er Schatzmeister der Refugee
de Element des Vereins, zeichnet. Law Clinic Hannover e.V.
welcher sich aus Studierenden Kontakt: lukas.preuschoft@
aller Fachrichtungen und wis- Im Rahmen einer deutschland- rlc­hannover.de
senschaftlichen Mitarbeitern weiten Bewegung haben sich
zusammensetzt und zusam- seit 2015 über 30 Refugee Law
men mit dem Vorstand die Clinics gebildet, welche sich
Arbeit des Vereins organisiert 2016 unter einem gemeinsa-
und weiterentwickelt. Der Ko- men Bundesverband (Refugee
ordinationskreis übernimmt Law Clinics Deutschland e.V.)
neben der Organisation der zusammengeschlossen haben
Ausbildung und Beratungstä- und Anfang des Jahres 2019
tigkeit die Aufgaben der Qua- mit der Theodor-Heuss-Me-
litätssicherung, Mittelakquise, daille »für das pragmatische,
Öffentlichkeitsarbeit und Ko- bürgerschaftliche Engagement
operationen mit der Hannove- von Studentinnen und Studen-
raner Anwaltschaft, Dolmet- ten, Geflüchtete ehrenamtlich
schern, Lehrbeauftragten und juristisch zu unterstützen« von

Das Centre for Ethics and Law in the Life Sciences an der Philoso­ Nils Hoppe ist Professor für
phischen Fakultät unterstützt die Refugee Law Clinic Hannover Ethik und Recht in den Lebens­
seit der ersten Stunde und freut sich über die großen Erfolge der wissenschaften, Direktor des
letzten Jahre. Professor Hoppe bekräftigt das Engagement seines Centre for Ethics and Law in the
Instituts: Life Sciences und Forschungs­
dekan der Philosophischen
»Wir können uns mit den Zielen der Refugee Law Clinic unein­ Fakultät der Leibniz Universität
geschränkt identifizieren. Es ist ein ganz besonderer Verdienst der Hannover. Er lehrt und forscht
Beteiligten, diese Initiative so professionell und nachhaltig gestal­ auf den Gebieten des Medizin­
tet zu haben. Wir freuen uns darauf, die Zusammenarbeit in den rechts, Biotechnologierechts und
nächsten Jahren weiterzuführen und zu helfen, wo wir können.« der Medizinethik.

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SStteeuueerrvveerrwwaallttuunngg
NNiieeddeerrssaacchhsseenn

DDaass LLaannddeessaammtt ffüürr SStteeuueerrnn NNiieeddeerrssaacchhsseenn

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mmiitt ffuunnddiieerrtteenn jjuurriissttiisscchheenn KKeennnnttnniisssseenn ffüürr FFüühhrruunnggss-- uunndd LLeeiittuunnggssaauuffggaabbeenn iinn ddeerr
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SSoowweeiitt ddiiee bbeeaammtteennrreecchhttlliicchheenn VVoorraauusssseettzzuunnggeenn vvoorrlliieeggeenn,, wweerrddeenn SSiiee iimm zzwweeiitteenn EEiinnssttiieeggssaammtt
ddeerr LLaauuffbbaahhnnggrruuppppee 22 ((eehheemmaallss hhööhheerreerr DDiieennsstt)) aallss RReeggiieerruunnggssrräättiinn//--rraatt aauuff PPrroobbee
((BBeessoolldduunnggssggrruuppppee AA1133 NNBBeessOO)) eeiinnggeesstteelllltt..
DDeenn vvoollllssttäännddiiggeenn AAuusssscchhrreeiibbuunnggsstteexxtt uunndd wweeiitteerree IInnffoorrmmaattiioonneenn ffiinnddeenn SSiiee iimm IInntteerrnneett aauuff
uunnsseerreerr HHoommeeppaaggee wwwwww..llssttnn..nniieeddeerrssaacchhsseenn..ddee uunntteerr ddeerr RRuubbrriikk JJoobb && KKaarrrriieerree//
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M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

Wer erbt was?

KULTURERBE UND WIR-GEFÜHLE BEI NIEDERLÄNDERN, PORTUGIESEN UND
FRIESEN IN NORDDEUTSCHLAND

1

Die Aneignung von Kulturerbe

ist für unterschiedliche Akteure

ein sehr eigensinniger Prozess.

Wie Kulturerbe dazu verwendet

wird, Wir-Gefühle aus-

zudrücken und Gruppenhandeln

zu befördern, ist die Ausgangs-

frage des Projekts »Cultural

heritage in ethnoheterogenen

Gesellschaften. Zur Produktion

von Historizität bei nieder-

ländischen, portugiesischen

und friesischen Gruppen« am

Institut für Soziologie

unter der Leitung von »Es ist nicht immer leicht für für sie auch der Raum für den de). Dabei geht es um den Be-
Prof. Mathias Bös. mich, als Museumsexpertin Sonntagstee.« (professionelle griff »Cultural heritage«, das
bei kleinen, ehrenamtlich ge- Kulturerbe-Expertin) im Deutschen auch als ›Kul-
führten Museen mit Ratschlä- turerbe‹ bezeichnet wird und
gen zum Beispiel für das Ein- Das Projekt »Cultural heritage der in der unübersichtlichen,
werben von Fördergeldern in ethnoheterogenen Gesell- diversifizierten Welt der Ge-
oder die professionelle Prä- schaften. Zur Produktion von genwart auf unterschiedlichen
sentation von Sammlungsgut Historizität bei niederländi- gesellschaftlichen Ebenen als
durchzudringen. Zum Teil schen, portugiesischen und Identifikations- und Bezugs-
können die Personen nicht friesischen Gruppen« (zusam- punkt für die Definition von
nachvollziehen, was aus fach- men mit PD Dr. Nina Clara Zugehörigkeiten dient, aber
licher Sicht wünschenswert Tiesler und Deborah Sielert, gleichzeitig auch die Abgren-
wäre. Ihre Zielsetzungen sind MA) ist Teil eines größeren, zung gegenüber dem Anderen
manchmal andere, durchaus vom Land Niedersachsen ge- und Fremden bedeuten kann
legitime, aber nicht rein muse- förderten, Projektverbundes sowie nicht zuletzt als Res-
ale, und ein Museum ist dann (https://www.cher.uni-hannover. source zur Durchsetzung

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ökonomischer, sozialer oder Organisation der Vereinten den« als Selbstorganisation Abbildung 1
politischer Interessen genutzt Nationen für Bildung, Wissen- der Dänen in Südschleswig,
wird. schaft und Kultur (UNESCO, der Friesen, der deutschen Kulturerbe ist vielfältig. Wissen-
https://www.unesco.de/kultur- Sinti und Roma, und der Lau- schaftlerinnen und Wissenschaft-
Portugiesen, Niederländer und-natur). Auf ihrer Internet- sitzer Sorben in Schleswig- ler versuchen zu ergründen, wie
und Friesen in Norddeutsch- seite ist dann auch zu lesen, Holstein und in Nordschles- wird dieses von den Menschen
land betrachten wir aus was etwa offiziell zum deut- wig. Der Begriff der ethni- eingesetzt wird, um Wir-Gefühle
unserer Perspektive als unter- schen Kulturerbe gehört: Der schen Gemeinschaft ist aus auszudrücken und Gruppenhan-
schiedliche ethnische Ge- Briefwechsel von Gottfried wissenschaftlicher Sicht nicht deln zu befördern.
meinschaften in Deutschland, Wilhelm Leibniz, der Dom ganz leicht zu konzeptualisie- Quelle: Collage Deborah Sielert
die eine eigene Tradition für und die Michaeliskirche in ren. Merkmale dieses Ver-
sich in Anspruch nehmen. Im Hildesheim, die »Volkstanz- gemeinschaftungsprozesses
Gegensatz zu Friesen wird bei bewegung in ihren regionalen sind im Anschluss an Max
Portugiesen und Niederlän- Ausprägungen in Deutsch- Weber der geteilte Glaube an
dern die spezifische Form des land« oder das Fagus-Werk in eine gemeinsame Kultur und
Kulturerbes meist mit Migra- Alfeld – dies sind nur wenige eine gemeinsame Herkunft.
tion in Verbindung gebracht. Beispiele für offiziell aner- Ethnische Gemeinschaften
kanntes deutsches Kulturerbe. geben Menschen die Chance,
Aus wissenschaftlicher Sicht Anerkannt werden diese ver- ein Wir-Gefühl zu entwickeln,
ist es ein fast unlösbares Prob- schiedenen Formen materiel- das einerseits die Teilhabe an
lem festlegen zu wollen, wel- len und immateriellen Kultur- einer »ethnischen Massen-
che Sitten, Gegenstände oder erbes durch die UNESCO- ehre« ermöglicht und ander-
Bauten aus einer unendlich Kommission in Deutschland; seits zur Propagierung von
komplexen Geschichte von unterstützt durch einen klei- Gruppenhandeln oft im Be-
ethnischen Gemeinschaften nen Verwaltungsapparat ent- reich der Politik dient.
als Kulturerbe bestimmt wer-
den. Was als Kulturerbe gilt,
wird erst in der Praxis von
Menschen entwickelt. Als
Faust im dunklen Keller, ver-
zweifelt an der Wissenschaft,
sich wieder der Magie zuwen-
det, um sich neu zu erfinden,
lässt ihn Johan Wolfgang von
Goethe die bekannten Sätze
sprechen:

Was du ererbt von deinen 2 Abbildung 2
Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen. Urkunde der UNESCO
Was man nicht nützt, ist eine Quelle: https://genossenschafts­
schwere Last; museum.de/immaterielles­kulturerbe/
Nur was der Augenblick er- (Abruf 20.08.2019)
schafft, das kann er nützen.
(Faust 1. Teil, 1. Scene 682–685)

Erben ist immer eine in der scheidet ein Kreis von Exper- Die ethnische Gemeinschaft
aktuellen sozialen Situation tinnen und Experten meist auf der Friesen ist politisch gut
verankerte Praxis. In den Ge- Antrag von Kommunen und organisiert. Besondere Sport-
sprächen, die wir im Rahmen zivilgesellschaftlichen Akteu- arten wie etwa das Boßeln,
des Projekts führten, beschrei- ren, was als Kulturerbe anzu- eine gut gepflegte Sprache wie
ben Menschen, was sie in erkennen ist oder auch nicht. das Plattdeutsche, das auch in
Bezug auf ihre ethnische Ge- Kindergärten und Grund-
meinschaft als Kulturerbe Dabei ist allen Beteiligten be- schulen gesprochen wird,
betrachten und was sie damit wusst, dass es sich hier auch zeigen die Ausdrucksmöglich-
auch erhalten und weitertra- um politische Entscheidungen keiten der Gruppe in unter-
gen möchten. handelt. Deshalb ist es nicht schiedlichen Formen des Kul-
verwunderlich, dass auch po- turerbes. Ebenfalls gibt es
Kulturerbe hat auch eine litische Organisationen im auch umstrittene Aspekte der
durch den Nationalstaat getra- Rahmen des Kulturerbes der Anerkennung des Friesischen
gene bürokratische Seite. Eine UNESCO gefördert werden, im öffentlichen Raum, etwa
führende Rolle hat hier die wie das »DialogForumNor- die Diskussion um zweispra-

27

M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

Prof. Dr. Mathias Bös chige Verkehrsschilder, wie der Niederländer zeigt auch, stimmen auch, welches Kul-
Jahrgang 1962, ist seit 2013 sie auf der anderen Seite des dass oft prominente Teile des turerbe welcher Gemeinschaft
Professor am Institut für Sozio- Dollart, in den Niederlanden, Kulturerbes von Akteuren offiziell anerkannt wird oder
logie. Seine Arbeitsschwerpunk- üblich sind. Das ausgeprägte weitergetragen werden, die nicht. Die Merkmale ethni-
te sind Theorie und Empirie in- Wir-Gefühl der Friesen führt sich kaum zu einer ethnischen scher Vergemeinschaftung –
ternational vergleichenden so- jedoch nicht dazu, daran zu Gemeinschaft zugehörig wie die Situationalität der
zialstrukturellen und kulturellen zweifeln auch Deutsch zu fühlen. So wird der nieder- Wir-Gefühle, die Nostalgie,
Wandels, speziell von Migra- sein. Ethnische Wir-Gefühle ländische »Zwarte Piet«, der ebenso wie die ständige Neu-
tions- und Ethnisierungsprozes- gibt es offensichtlich im Plu- schwarze Helfer am Nikolaus- bildung und Weiterentwick-
sen, globale Konfliktdynamiken ral. Dies liegt daran, dass Wir- tag, inzwischen vom ansässi- lung – zeigen sich für Mehr-
sowie Ideen- und Wissen- Gefühle immer eine Bezie- gen deutschen Gewerbeverein heiten und Minderheiten
schaftsgeschichte, insbesondere hung zwischen Menschen in als wirksamer Konsumanreiz ebenso wie für Gemeinschaf-
in Europa und Nordamerika. einer sozialen Situation aus- im Ort bezahlt. ten mit und ohne Migrations-
Kontakt: Institut für Soziologie, drücken. Eine junge Frau die erfahrung.
Im Moore 21, 30167 Hannover, in Aurich geboren ist, könnte Die Portugiesen als ethnische
[email protected] sich in Hannover als Ostfrie- Gemeinschaft haben gegen- Ethnische Wir-Gefühle sind
sin fühlen, wenn sie durch über den Niederländern eine wichtig, aber es darf nicht
Italien reist als Deutsche und deutlich stärker ausgeprägte vergessen werden, dass sie
in Indien als Europäerin. institutionalisierte ethnische nur ein Wir-Gefühl unter vie-
Ausdrucksform. Gemeinsam len sind. Eine der wichtigsten
Die Niederländer, die als organisierte religiöse Ereig- soziologischen Einsichten,
Gruppen insbesondere im Zu- nisse, wie eine Fatima Prozes- die Georg Simmel schon zu
sammenhang mit niederländi- sion, sind ein fester Bestand- Beginn des letzten Jahrhun-
schen Militärstützpunkten im teil des Portugiesisch-Seins. derts formulierte ist, dass wir
Nordwesten Deutschlands Es gibt auch ein dem Kultur- alle Mitglieder in vielen un-
siedelten, haben in den letzten verein angeschlossenes Res- terschiedlichen Gruppen
Jahrzehnten mit dem Abzug taurant, das sowohl portugie- sind. Dies ermöglicht uns
der niederländischen Truppen sische wie auch deutsche Kun- zum einen in der jeweiligen
eine starke Veränderung ihrer den und Kundinnen hat. Die spezifischen Kombination
Lebenssituation erlebt. Die angebotenen Speisen sind eine von Mitgliedschaften unsere
deutliche lokale Sichtbarkeit, Synthese aus den regional Individualität zu finden, zum
die Institutionalisierung des sehr unterschiedlichen Kü- anderen bildet sich mit diesen
Niederländischen in den chen Portugals, die immer überlappenden sozialen Krei-
Schulen, all das wurde zu- stärker dem deutschen Ge- sen auch das Netz der Be-
rückgebaut. Ein Verein küm- schmack angeglichen wird. ziehungen, das unsere Gesell-
mert sich heute um die Gesel- Die spezifische Form »portu- schaft zusammenhält. Als
ligkeit in Form von Festen und giesischer Spezialitäten« ent- Menschen vereinen wir in un-
Treffen. Bei Gesprächen mit steht damit erst in Deutsch- serem Leben viele »Wirs«: Wir
Vereinsmitgliedern wird be- land. Die Ausformung einer sind Mitglieder in Familien,
tont, dass der Verein das nie- ethnischen Gemeinschaft ist in Vereinen und Parteien,
derländische Erbe nur noch ein aktiver Prozess, der erst Mitglieder eines Unterneh-
weitertragen wird, bis die im- im Einwanderungsland statt- mens oder einer Religion und
mer älter werdenden Mitglie- findet. Die einfache Gleichset- manchmal haben wir auch
der verstorben sind. Für junge zung einer nationalen Her- das Gefühl, Mitglied der
Menschen, die zu Vereins- kunft mit einer ethnischen Menschheit zu sein. Proble-
treffen kommen, seien stroop- Gemeinschaft ist deshalb pro- matisch ist, wenn nur ein
koeken oder bitterballen kein blematisch, da alle National- Wir-Gefühl in allen sozialen
unhinterfragter Teil des All- staaten ethnisch höchst hete- Beziehungen handlungsent-
tags mehr, sondern etwas rogen sind. scheidend wird und so zum
Exotisches. Sie seien also unausweichlichen Schicksal
eigentlich nicht mehr wirklich Nationalstaaten sind zentrale von Menschen, denen eine
niederländisch. Ethnische Protagonisten in der jeweili- Mitgliedschaft zugeschrieben
Wir-Gefühle sind immer auch gen Definition des Kulturer- wird. Wenn jedoch Menschen
nostalgisch. Sie stehen zudem bes. In Bezug auf die eigenen die Freiheit haben, ihr eigenes
unter dem Verdacht, nicht au- nationalen Wir-Gefühle for- Kulturerbe als ein Teil ihrer
thentisch und nur »folkloris- men Nationalstaaten ihr Kul- alltäglichen Praxis der ethni-
tisch« zu sein. Immer gibt es turerbe. Sie beeinflussen auch schen Gemeinschaft anzu-
ein Element ethnischer Verge- die in Reaktion stattfindende eignen, dann kann dieses
meinschaftung das betrauert, Ethnogenese von Minderhei- Wir-Gefühl so wichtige so-
was früher einmal einfach so ten, seien es eingewanderte ziale Formen wie Geselligkeit
war und heute bedroht oder oder autochthone Gemein- oder gesellschaftliche An-
nicht mehr da ist. Das Beispiel schaften. Nationalstaaten be- erkennung befördern.

28

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M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

Integration und Widerstand

SICHTBARE MINDERHEITEN (NICHT NUR) IN GROSSBRITANNIEN

Diversität und Inklusion »Warum sprechen die Deut- gebung vorzubereiten. Vor al- 1
gehören mittlerweile in das schen eigentlich nie über lem zur Diversität können An-
Lehrprogramm für künftige Hautfarbe?«, fragte eine arabi- glist/innen die aktuellen Dis- die autobiografisch-soziologi-
Lehrerinnen und Lehrer, um sie sche Studentin in einem Semi- kussionen in britischen schen Texte Natives. Race and
angemessen auf ihren Berufs- nar zu britischer Literatur, als Medien sowie britische Litera- Class in the Ruins of Empire
alltag in einer kulturell vielfäl- wir den Begriff »race« defi- tur und Filme nutzen, um Mi- (2018) des Rappers und Hip-
tigen Umgebung vorzubereiten. nierten. Warum erscheint der gration und Integration aus Hop-Sängers Akala sowie Ni-
Jana Gohrisch, Professorin für mehrfach preisgekrönte Best- einem anderen Kontext heraus kesh Shuklas Sammlung The
Anglistik, zeigt, wie anhand von seller der britischen Journalis- zu betrachten und die eigene Good Immigrant (2016), deren
englischsprachiger Literatur tin Reni Eddo-Lodge, Why I’m Sicht kritisch zu hinterfragen. Titel durchaus beide ironisch
Migration und Integration no longer talking to white people gemeint sind. Die Lektüre ge-
aus einem anderen Kontext about race (2017), im Deut- Seit eine knappe Mehrheit der winnt zusätzliche Brisanz an-
schen als Warum ich nicht län- Briten im Juni 2016 für den gesichts der letzten Europa-
heraus betrachtet ger mit Weißen über Hautfarbe Austritt aus der Europäischen wahl: Ende Mai 2019 votierten
und die eigene Sicht kritisch rede (2018)? Und warum veröf- Union stimmte, um damit – so 30,5 % der britischen Wähler/
fentlicht der dtv-Verlag den die Brexit-Befürworter in Poli- innen für die neu gegründete
hinterfragt werden kann. englischen Roman The Lonely tik und Medien – die Immig- Brexit-Partei, die nun mit 29
Londoners nicht als »Die einsa- ration einzudämmen und die Abgeordneten im Europäi-
men Londoner«, sondern als verlorene Kontrolle über das schen Parlament vertreten ist
Die Taugenichtse? Was hat all Land zurückzugewinnen, er- und – paradoxerweise – dort
das mit dem Thema Migration schienen mehrere Texte von auf den britischen EU-Austritt
und Integration zu tun, dem schwarzen Brit/innen, die den hinzuwirken gedenkt. Mit
sich diese Ausgabe des Uni- zunehmenden Nationalismus ähnlicher Deutlichkeit wie Ed-
Magazins widmet? und Rassismus verurteilen, do-Lodge benennt Tupoka
die sich in diesem Votum nie- Ogette in exit Racism. rassis-
Für mich als Literatur- und derschlugen. Neben Eddo- muskritisch denken lernen (2017)
Kulturwissenschaftlerin, die Lodges Buch gehören hierzu die rassistischen Elemente der
sich seit 30 Jahren mit eng- deutschen Kultur und zeigt,
lischsprachigen Literaturen wie man diese – auch an sich
und Kulturen der Welt be-
schäftigt und seit über 13 Jah-
ren vor allem Englischlehrer/
innen an der Leibniz Universi-
tät ausbildet, verweisen diese
einleitenden Fragen sowohl
auf das Heftthema als auch
auf die jüngsten Reformen der
Lehrerbildung. Innerhalb die-
ser Reformprozesse werden
die Fächer angehalten, Diver-
sität und Inklusion sowie Di-
gitalisierung und Medien
sichtbar in das Lehrprogramm
aufzunehmen, um die Studie-
renden angemessen auf ihren
Berufsalltag in einer kulturell
und medial vielfältigen Um-

320

M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

selbst – erkennen und abbau- gegenüber betonen Reni Ed- for the most dramatic econo-
en kann. Ogettes Buchttitel do-Lodge sowie die Anwältin mic and human shifts in histo-
konfrontiert die weißen Leser/ und Journalistin Afua Hirsch ry.” (318) Wo Afro-Amerika-
innen direkt mit den Erfah- unermüdlich, wie gefährlich ner/innen und schwarze Brit/
rungen von sichtbar Anderen gerade diese wohlmeinende innen grundsätzlich den Be-
in einer weißen Mehrheitskul- Haltung ist, denn sie verhin- griff »race« verwenden, um
tur: Auf der einen Seite wer- dert die Analyse von Rassis- ihr antirassistisches Anliegen
den rassistische Ressenti- mus und damit letztendlich zu artikulieren, erklärt die
ments in aller Öffentlichkeit eine Zukunft, in der Men- deutsche Geschichte des 20.
und jüngst auch wieder mit schen nicht mehr für ihr Aus- Jahrhunderts mit Faschismus
Gewalt zur Schau gestellt, auf sehen angegriffen werden. und Holocaust, warum auch
der anderen wird der Begriff Am Ende ihres sehr persönli- antirassistische weiße Deut-
»Rasse« nicht verwendet, um chen, beunruhigenden Buches sche diesen Begriff grundsätz-
lich meiden. Reni Eddo-Lodge
2 teilt die Argumente von Abbildung 1
Hirsch und Ogette, schlägt Das Buch von Reni Eddo-Lodge
aber einen provokativen bis in der englischen sowie in der
unversöhnlich-alarmierenden deutschen Ausgabe.
Ton an, den die deutsche (Bloomsbury/Klett-Cotta Verlag)
Übersetzung jedoch spürbar
dämpft. »Farbenblindheit Abbildung 2
leugnet strukturellen Rassis- Autorin Reni Eddo-Lodge.
mus und die Geschichte wei- Foto: Amaal Said
ßer Dominanz.« (94) »Um un-
gerechte, rassistische Struktu-
ren aufzulösen, müssen wir
Hautfarbe [race] sehen. Wir
müssen sehen, wer von seiner
Hautfarbe [race] profitiert, wer
von hautfarbenspezifischen
[race] negativen Stereotypen
unverhältnismäßig stark be-

3 4 Abbildung 3
Autorin Tupoka Ogette benennt

die rassistischen Elemente der

deutschen Kultur.

Foto: Unrast Verlag.

Abbildung 4
exit Racism. rassismuskritisch
denken lernen (2017).

nicht in die Nähe eben dieser Brit(ish): On Race, Identity and troffen ist, und wem aufgrund
Ressentiments zu geraten. So Belonging (2018) spitzt Afua der Hautfarbe [race], der Klas-
verschwindet er dann aus Hirsch den Widerspruch zu: se oder des Geschlechts Macht
dem deutschen Buchtitel von »Colour […] blindness […] is und Privilegien […] zugestan-
Eddo-Lodge, wo stattdessen not a good strategy for seeing den werden. Hautfarbe [race]
ein harmloserer Stellvertreter what is there. Race is there, as zu sehen ist eine Vorausset-
erscheint, die Hautfarbe. Dem- lived experience, as the basis zung, um das System zu ver-

331

M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

ändern.« (95) Anstatt Rassis- dieser imperialen Kultur, wo- eines der heute populärsten
mus als moralisch verwerfli- bei die Briten – selbst als Skla- Romane zum Thema Migrati-
ches Fehlverhalten von venhalter – stets behaupteten, on und Rassismus: The Lonely
Einzelnen zu verurteilen, for- die »dunklen Anderen« zu de- Londoners (1956). Erst 2017 er-
dert Eddo-Lodge ihre weißen ren Bestem zivilisieren zu schien eine sehr gelungene
Leser/innen dazu auf, das Sys- müssen. In seinem berühmten deutsche Übersetzung mit
temische, Strukturelle des Gedicht von 1899 versinnbild- dem allerdings irreführenden
Rassismus zu erkennen und licht Rudyard Kipling die ko- (vermutlich vom Verlag ge-
dessen Funktionen in Vergan- loniale und patriarchale Ideo- wählten) Titel Die Taugenichtse,
genheit und Gegenwart zu logie als »The White Man’s der den schwarzen Figuren in
verstehen. Dieser Aufgabe Burden«, die Bürde des wei- kolonialer Manier etwas un-
muss sich auch die Lehrerbil- ßen Mannes. terstellt, das der Roman gera-
dung im Fach Englisch stellen. de zu widerlegen sucht. Des-
Nach dem 2. Weltkrieg holte sen »einsame Londoner« sind
Großbritannien beherrschte der britische Staat, der schon mitnichten leichtlebige Versa-
um 1920 ungefähr ein Viertel in beiden Weltkriegen in gro- ger. Im Gegenteil: Sie suchen
der Erde. Mehr als ein Viertel ßer Anzahl Soldaten in seinen gut entlohnte Arbeit, eine
der Weltbevölkerung und ein Kolonien rekrutiert hatte, Wohnung, ein besseres Leben,
knappes Viertel der Fläche der Hundertausende aus der Kari- finden aber nur schlecht be-
Erde standen der britischen bik, aus Südasien, aus Afrika zahlte Anstellungen und ras-
Wirtschaft jahrhundertelang ins »Mutterland«. Die »umge- sistische Abweisung in allen
als Reservoir von billigen Ar- kehrte« Migration hielt bis in Lebensbereichen. Selvon hat
beitskräften und Rohstoffen das erste Jahrzehnt des 21. den Roman vor mehr als 60
sowie als Absatzmarkt ihrer Jahrhunderts an und machte Jahren so geschrieben, dass
Produkte zur Verfügung. Zu- Großbritannien zu einer mul- die Leser/innen miterleben
gleich diente das Kolonial- tikulturellen Gesellschaft, die können, wie die jungen Män-
reich den Briten als riesiger vom kulturellen Neben- und ner dem Alltagsrassismus wi-
Arbeitsmarkt. So schickte die Miteinander, besonders in ur- derstehen. Der Erzähler
Oberklasse Gouverneure und banen Zentren wie London, spricht eine karibische Varie-
Plantagenbesitzer, während geprägt ist. Diese Kulturen tät des Englischen, ein (schwer
aus der Mittelklasse Ge- werden gerade auch von vie- zu übersetzendes) Kreol, das
schäftsleute und Ingenieure, len sichtbar Anderen verkör- das überlebenswichtige Zu-
höhere Verwaltungsbeamte, pert, denen die weiße Mehr- sammengehörigkeitsgefühl
Geistliche und Missionare so- heitsgesellschaft seither über versinnbildlicht und zugleich
wie Mediziner kamen, die die vielfältige Ausgrenzungsme- die mündliche Erzähltradition
Kolonien vor Ort funktions- chanismen strukturell die der Karibik an die neuen Ver-
tüchtig hielten. Die größte Teilhabe erschwert oder sogar hältnisse anpasst. Die Figur
Gruppe der Emigrant/innen verwehrt – im Bildungswesen, Galahad, benannt nach einem
entstammte der Arbeiterklas- auf dem Arbeits- und Woh- der fahrenden Ritter an der
se und den armen Schichten, nungsmarkt, seitens rassisti- Tafelrunde des sagenhaften
die sich dann als Landarbeiter scher Polizeikräfte. 1950 traf König Artus, vollzieht iro-
und Siedler, Angestellte oder mit der ersten Einwandererge- nisch übertreibend nach, wie
Soldaten in den Kolonien nie- neration auch Samuel Selvon ihn Rassismus zum Objekt
derließen. Rassismus ist die aus Trinidad in London ein, von Diskriminierung macht
ideologische Rechtfertigung im Gepäck das Manuskript und erobert sich über den

Minderheiten in Großbritannien

Schon seit Jahrzehnten fasst der Begriff »black« Pakistan und Bangladesch. Die meisten unsicht­
in Großbritannien die von der weißen Bevöl­ bar Anderen stammen heute aus Polen, während
kerungsmehrheit sichtbar unterschiedenen Mig­ sie bis zum 2. Weltkrieg aus Irland kamen. In Ver­
rant/innen und deren Nachkommen zusammen. lautbarungen findet sich meist »BME« für »black
Diese machten bei der letzten Volkszählung and minority ethnic« oder »BAME« für »black and
(2011) 14 Prozent der Bevölkerung, das heißt fast Asian minority ethnic«. Tupoka Ogette benutzt
8 von damals 63 Millionen, aus. Die größte Grup­ das groß geschriebene »Schwarz« und »People of
pe dieser sichtbar Anderen hat Wurzeln in Indien, Color« (in amerikanischer Schreibung).

342

M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

5
Abbildung 5
Das Buch von Samuel Selvon
in der englischen Version »The
Lonely Londoners (1956)« und in
der deutschen Übersetzung »Die
Taugenichtse«
(dtv Verlag)

»Galahad guckt sich also die doch an, so schwarz und un­ rungen zu thematisieren. Nur
Farbe von seiner Hand an und schuldig, und doch bringst du wenn wir als mehrheitlich
redet mit ihr und sagt: ›Farbe, Leid in die ganze Welt!‹ So weiße Lehrende und Studie-
das liegt alles an dir, weißt du. redet Galahad mit der Farbe rende diese Mechanismen be-
[…] Dir ist schon klar, dass Schwarz, als wenn sie ein wusst sehen und analysieren,
du ganz viel Leid in die Welt Mensch wäre, und erzählt ihr, können wir jene Verantwor-
bringst? Ich nicht nämlich, dass nicht er hier die Ärgerung tung für unser eigenes Han-
sondern du! Ich mach ja bringt, sondern Schwarz, ein deln übernehmen, die Ogette
nichts, was die Leute und die wertloses Geschöpf, das über­ und Eddo-Lodge explizit ein-
ärgert, sondern du! Guck dich all Aufruhr macht.« fordern, um den (Alltags-)Ras-
sismus aus unserer Gesell-
schaft zu verbannen.

Trick der Personifizierung der zu gehören. Mit dem Unterti- Prof. Dr. Jana Gohrisch
Hautfarbe seine Würde zu- tel ihres Buches, On Race, Iden- Jahrgang 1962, ist seit 2006
rück. Im Ergebnis erscheint tity and Belonging, wendet Professorin für Englische Litera­
Rassismus als absurd und lä- sich Afua Hirsch selbstbe- turwissenschaft / New English
cherlich. wusst dem anderen Pol zu Literatures an der Leibniz Uni­
und konstatiert, dass sie Teil versität Hannover. In der Lehre
In der Nachfolge von Selvon der britischen Gesellschaft sei, vertritt sie das Fach Anglistik in
setzt sich jede Generation bri- so wie es auch Reni Eddo- ganzer Breite, d.h. von Shakes­
tischer schwarzer und südasi- Lodge am Ende formuliert: peare bis ins 21. Jahrhundert;
atischer Schriftsteller/innen »We need to let it be known in der Forschung arbeitet und
auf ihre Weise mit Migration that black is British, that veröffentlicht sie zu britischen
auseinander: es gibt unzählige brown is British, and that we Literaturen und Kulturen seit
Romane und Filme, Gedichte are not going away.« (223) dem 19. Jahrhundert sowie zu
und Theaterstücke, in denen aktueller Migrationsliteratur, zu
das Leben in der Diaspora aus Was lässt sich nun zu den ein- Literaturen aus West­ und Süd­
immer wieder anderer Pers- gangs gestellten Fragen sagen? afrika und der Karibik. Kontakt:
pektive und mit immer ande- Die Beobachtungen verweisen [email protected]­
ren Szenarien durchgespielt auf die alltäglichen Strategien hannover.de
wird. Literarisch gelebte Inte- des Vermeidens, wie sie die
gration steht neben Ausgren- weiße Mehrheitsgesellschaft
zung, Satirisch-Humorvolles in Großbritannien, Deutsch-
findet sich neben sozialem Re- land und anderswo entwickelt
alismus und postmodern frag- hat, um sich vor den Folgen
mentiertem Erzählen. Mit ihres eigenen Tuns zu schüt-
dem beispielhaften Titel The zen. Die spezifisch deutsche
Unbelonging (1985) hat Joan Form der von Eddo-Lodge
Riley aus Jamaika den einen und Hirsch konstatierten Far-
Pol des spannungsreichen Le- benblindheit nimmt auch hier-
bens in der neuen Heimat be- zulande den sichtbar Anderen
nannt: das Gefühl, nicht dazu die Möglichkeit, ihre Erfah-

353

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M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

Migration als Geschäft

NEUE NIGERIANISCHE AUTORINNEN AUF DEM INTERNATIONALEN LITERATURMARKT

Nigeria liegt im Trend. Die internationale englisch- ten der Migration – vom Weg- wenn jeder der Romane eine
Seit die Kultusministerien sprachige Literaturszene hat gehen und Zurückkehren, von eigene Migrationsgeschichte
zahlreicher Bundesländer – schon länger erkannt, dass in Ausgrenzung und Zugehörig- entwirft, so folgen alle auf die
darunter Niedersachsen und dem bevölkerungsreichsten keit – erzählen. Bemerkens- eine oder andere Weise den
Nordrhein-Westfalen – den und wirtschaftsstärksten afri- wert ist höchstens, dass sich Erzählstrategien des bürgerli-
»afrikanischen Giganten« zum kanischen Land seit einigen ihre Texte vornehmlich an ein chen Bildungsromans. Dem
Schwerpunkt-Thema des Jahren eine Literatur mit Welt- bürgerliches Großstadtpubli- Literaturwissenschaftler Fran-
Zentralabiturs 2021 erklärt bezug entsteht, die sich beson- kum im Westen richten, wel- co Moretti (The Way of the
haben, ist dieser Trend auch in ders gewinnbringend außer- ches die Erfahrung von Mig- World, 1987) zufolge bildete
Deutschland angekommen. halb Nigerias vermarkten ration oftmals nicht teilt. sich diese Romanform im 19.
Hannah Pardey vom Englischen lässt. Dass Nigeria eines der Jahrhundert mit dem industri-
Seminar erläutert die Erfolge produktivsten literarischen Wie also lässt sich der Erfolg ellen Kapitalismus und dem
nigerianischer Schriftstelle- Zentren des Kontinents bildet, von AutorInnen der nigeriani- Erstarken des Bürgertums her-
rinnen und Schriftsteller auf beweisen Wole Soyinka, der schen Diaspora im internatio- aus und probte folglich die
1986 als erster afrikanischer nalen literarischen Feld erklä- Einpassung des Protagonisten
dem internationalen Schriftsteller den Literaturno- ren? Wie und für wen genau – und der Leserschaft – in die
Literaturmarkt. belpreis erhielt, oder Chinua schreiben sie über Migration? bürgerlichen Verhältnisse. Ge-
Achebe, der 2002 mit dem Und was haben ihre Romane genwärtige nigerianische Tex-
Friedenspreis des Deutschen wirtschaftlich wie kulturell te, die in Feuilleton und For-
Buchhandels ausgezeichnet mit ihrem Herkunftsland zu schung vielfach als Weltlitera-
wurde. In jüngerer Zeit ge- tun? Neben ihrer westlichen, tur besprochen werden, lassen
winnt eine neue Generation meist universitären Bildung sich mit Moretti (Conjectures on
nigerianischer AutorInnen re- eint die SchriftstellerInnen World Literature, 2000) als Texte
nommierte Literaturpreise. und ihre LeserInnen vor allem globaler Marktstrukturen le-
Chimamanda Ngozi Adichie eines: ihre Einbindung in die sen. Diese werden von nigeri-
und Helen Oyeyemi sowie freie Marktwirtschaft über di- anischen AutorInnen, die den
ihre männlichen Kollegen gitale Netzwerke. Die im Fol- Geschmack ihrer LeserInnen
Teju Cole und Chigozie Obio- genden diskutierten ‚neuen‘ jederzeit ergoogeln können,
ma gehören zweifelsohne zum nigerianischen Romane erzeu- auf clevere Weise bedient.
Jetset der afrikanischen Lite- gen eine gefühlsgeleitete On-
raturproduktion, für den die line-Community mit Hundert- Das Konfliktmuster des Bil-
ghanaisch-nigerianische tausenden von Mitgliedern, dungsromans schließt die kri-
Schriftstellerin und Fotografin die über soziale Medien wie tische Perspektive der Roman-
Taiye Selasi den Begriff des Goodreads, Facebook oder figuren auf ihren neuen Le-
»Afropolitanism« prägte. Sie YouTube ihre Zugehörigkeit bensmittelpunkt in England
entspringen der privilegierten zum globalen Wirtschaftssys- oder den USA dabei keines-
Mittelschicht Nigerias, verfü- tem aushandeln und sich da- wegs aus. Adichies dritter Ro-
gen über britische bezie- bei stets zwischen Kritik und man Americanah (2013) thema-
hungsweise US-amerikani- Bestätigung marktwirtschaft- tisiert den Alltagsrassismus
sche Pässe sowie Abschlüsse licher Prozesse bewegen. Nach der US-amerikanischen Ge-
anglo-amerikanischer Eliteu- der Lektüre von mehr als sellschaft in diversen Blog-
niversitäten und reisen von ei- einem dieser Romane bemer- Einträgen der Protagonistin
ner Metropole der Welt zur ken aufmerksame LeserInnen Ifemelu, die zum Studium an
nächsten, um sich auf großen die Wiederholungen der im- die Ostküste geht und sich
Literaturfestivals feiern zu mer gleichen Muster, die auch dort immer wieder mit Vorur-
lassen. So wundert es wenig, die Pressebilder ihrer Verfas- teilen konfrontiert sieht. Dass
dass ihre Romane Geschich- serInnen kennzeichnen. Auch Adichie mit dieser Form der

36

M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

Gesellschaftskritik einen 1 Abbildung 1
wichtigen Beitrag zum Anti- Autorin
rassismus leistet, zeigt sich Taiye Selasi: „Bye-Bye Babar“ (2005) Chimamanda Ngozi Adichie.
nicht nur in der Beliebtheit »Sie (also: wir) sind Afropoliten – die neueste Generation afri­ Foto: Dawani Olatunde/
des Blogs, den die Autorin kanischer Auswanderer, demnächst – oder schon längst – in Wani Olatunde Photography
kurz nach der Veröffentli- einer Anwaltskanzlei, einem Chemielabor, einer Jazz­Lounge
chung des Romans auf ihrer in Ihrer Nähe. Sie erkennen uns an der lustigen Kombination Das Buch „Americanah“ ist im
Website weiterführte. 2017 von Londoner Mode, New Yorker Jargon, afrikanischen Wert­ deutschen S. Fischer Verlag sowie
wählte die New York Public vorstellungen und akademischen Erfolgen. Einige von uns bei 4th Estate erschienen.
Library Americanah für das sind ethnische Mischungen, z.B. ghanaisch und kanadisch, ni­
Programm One Book, One New gerianisch und schweizerisch; andere sind bloß kulturelle Pro­ Abbildung 2
York aus, das die Einwohner menadenmischungen: amerikanischer Akzent, europäisches Autorin Akwaeke Emezi
aller fünf großen Stadtbezirke Gemüt, afrikanischer Ethos. Die meisten von uns sind mehr­ Foto: Elisabeth Wirija
zur gemeinsamen Lektüre des sprachig: neben Englisch und ein, zwei romanischen Sprachen
gleichen Buches anregen und verstehen wir eine indigene Sprache und sprechen den Jargon Das Buch „Freshwater“ im
damit das Gemeinschaftsge- von einigen Großstädten. Wir sind Afropoliten: nicht Welt­ Original (Verlag Grove Atlantic)
fühl der digitalen Community bürger, sondern Weltafrikaner.« und in der deutschen Über­
an die analoge Welt zurück- setzung: „Süßwasser“ (Verlag
binden soll. In den über 25 000 2 Faber & Faber)
Online-Rezensionen zum Ro-
man zeigt sich allerdings
auch, dass die darin erzählte
Liebesgeschichte zwischen
Ifemelu und ihrer Jugendliebe
Obinze unter den LeserInnen
mindestens ebenso viel Beach-
tung erfährt wie die Debatten
um US-Rassismus.

Nimmt man die Handlungs-
und Figurenkonstruktionen
sowie die Erzählperspektiven
weiterer nigerianischer Migra-
tionsromane genauer in den
Blick, stellt man fest, dass sie
ihre tragfähigen politischen
Aussagen immer wieder ins
Private der Figuren wenden
und damit eine affektbetonte
Lesart anbieten. Auch Selasis
Erstlingsroman ordnet seine
Rassismuskritik den persönli-
chen Problemen einer einzel-
nen fiktiven Familie unter.
Ghana Must Go (2013, dt. Diese
Dinge geschehen nicht einfach so)
schildert die Entwicklung der
Sais, die an der Verwirkli-
chung ihres amerikanischen
Traums scheitern und in der
Folge über die Weltstädte drei-
er Kontinente zerstreut leben.
In insgesamt drei Teilen er-
forscht der multizentrisch auf-
gebaute Text, warum die Sais
zu einer »Familie ohne
Schwerkraft« (185) werden.
Die aus Ghana beziehungs-
weise Nigeria stammenden
Eheleute Kweku und Fola
arbeiten hart, um sich in die
Idylle eines Bostoner Vororts

37

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Hannah Pardey, M.A. einzugliedern. Ihre vier Kin- zu erzählen. Anders als Selasi Die Leseerfahrungen der digi-
Jahrgang 1989, ist seit 2016 der wachsen dank kostspieli- verknüpft Oyeyemi dabei Ele- talen Community zeigen, dass
wissenschaftliche Mitarbeiterin ger Ausbildungen an Privat- mente des Bildungsromans nigerianische Migrationsro-
des Lehr- und Forschungsge- schulen zu genau jenen »Welt- mit denen des Schauerromans mane gerade nicht zur kriti-
biets Anglistik und Neue Eng- afrikanern« heran, die Selasi und betont damit die mythi- schen Auseinandersetzung
lischsprachige Literaturen an in ihrem bereits 2005 erschie- sche Komponente des Motivs. mit der eigenen Position einla-
der Leibniz Universität Hanno- nenen Essay Bye­Bye Babar Die Geschichte wird aus der den, sondern diese als »nor-
ver. Ihre Themen in der Lehre skizziert. Als dem begnadeten Sicht der achtjährigen Jessamy mal« bestätigen. Für Literatur-
umfassen die Kulturen und Lite- Chirurgen Kweku während Harrison erzählt, die in dem und KulturwissenschaftlerIn-
raturen Großbritanniens von der einer Operation ein Fehler un- kleinbürgerlich geprägten nen, aber auch für
Renaissance bis zur Gegenwart terläuft und er daraufhin ent- Stadtteil Cranbrook im Groß- SozialwissenschaftlerInnen
sowie die Literaturen des westli- lassen wird, kehrt er tief be- raum London aufwächst. Die und HistorikerInnen, die sich
chen und südlichen Afrika. Ihr schämt nach Accra zurück, wo emotional verschlossene Toch- in der Lehrerbildung engagie-
Dissertationsprojekt, »Middleb- er im ersten Teil »Gone« (Ab- ter eines Engländers und einer ren, bietet die Wahl Nigerias
row 2.0: The New Nigerian schied) an einem Herzstill- Nigerianerin leidet unter psy- zum Zentralabiturthema eine
Novel and the Digital Affect,« stand stirbt. Auch wenn der chotischen Schüben, die der Chance. Sie können dazu bei-
beschäftigt sich mit den Pro- Text Rassismus als eine mögli- Roman mit einem Ortswech- tragen, die Erwartungen
duktions- und Rezeptionsbedin- che Erklärung für die Kündi- sel begründet: beim Besuch »authentische[r] und
gungen zeitgenössischer nigeri- gung anbietet, wenden sich der mütterlichen Großfamilie vielseitige[r]« (Klett) »Einbli-
anischer Romane. Kontakt: die folgenden Teile »Going« im nigerianischen Ibadan cke in [die] Lebenswirklich-
[email protected] (Aufruhr) und »Go« (Auf- trifft Jessamy auf die gleich- keiten« (Westermann) Nigeri-
hannover.de bruch) ausschließlich der altrige TillyTilly, die sich im as, die sowohl die Romane als
Identitätssuche der Kinder zu. weiteren Verlauf von der lang auch die Themenhefte aller
Über die Bulimie des Nest- ersehnten Freundin zur ge- großen deutschen Schulbuch-
häkchens Sadie oder den fährlichen Doppelgängerin verlage in Aussicht stellen, zu
Missbrauch der Zwillinge Tai- entwickelt. Erst als Jessamy durchbrechen. Die Analyse
wo und Kehinde weitet der von ihren Eltern erfährt, dass der sozialen Formation, zu der
Roman sein Identifikationsan- die Geisterfigur ihren verstor- AutorInnen und LeserInnen
gebot beträchtlich aus. benen Zwilling verkörpert, gehören, sowie der Strukturen
löst sich ihr gespaltenes des internationalen und zu-
Mit den Zwillingsfiguren Selbstempfinden auf. Mit die- nehmend digitalen Buch-
greift Selasi das bekannte ni- ser Neudeutung der magisch- markts liefern erste Erkennt-
gerianische Motiv des »abiku« realistischen Figur der TillyTi- nisse zur kulturellen Arbeit
auf, ein Unheil verheißendes lly verdeutlicht der Roman, zeitgenössischer nigeriani-
Kind der Geisterwelt, das bis- dass Migrations- und Aus- scher Literatur.
her überwiegend in Klassi- grenzungserfahrungen psy-
kern männlicher Autoren wie chische Auswirkungen vor al-
Achebes Things Fall Apart lem auf junge Frauen haben
(1958, dt. Alles zerfällt) oder können. Entsprechend führt
Ben Okris The Famished Road The Icarus Girl frühzeitig einen
(1991, dt. Die hungrige Straße) Psychologen ein, der einen
auftauchte. Ebenso wie Adi- therapeutischen Interpretati-
chies zweiter Roman Purple onsrahmen setzt und die Psy-
Hibiscus (2004, dt. Blauer Hibis­ chosen der Romanheldin für
kus) oder die Debütromane ih- die bürgerliche Großstadtle-
rer weiblichen Schützlinge serschaft verständlich macht,
Ayobami Adebayo (Stay With indem er Migration und ihre
Me, 2017, dt. Bleib bei mir) und Folgen im Sinne westlicher
Akwaeke Emezi (Freshwater, Wohlstandsprobleme disku-
2017, dt. Süßwasser) konzipiert tiert. Die Online-Rezensionen
Selasi ihre fragilen Romanfi- des Romans bezeugen, dass
guren als innerlich zerrissen die kulturelle Identitätssuche
und bettet diese wiederkeh- von Jessamy zur Anteilnahme
rende Erfahrung in neue Mig- aus sicherer Distanz einlädt.
rationskontexte des 21. Jahr- Mit ihren exzessiven Gefühls-
hunderts ein. Auch Helen bekundungen verhandelt die
Oyeyemis The Icarus Girl Online-Community ihre Teil-
(2005, dt. Das Ikarus­Mädchen) habe an einer globalen Markt-
platziert eine kindliche Prota- wirtschaft, die Unterschiede
gonistin zwischen zwei Kul- hervorbringt, um sie sogleich
turen, um von der Suche nach wieder einzuebnen.
Identität und Zugehörigkeit

38

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Die Zukunft der Städte

VON DER ARCHITEKTUR DES ZUSAMMENLEBENS

1

Lange waren Städte nur die

Bühne, vor der gesellschaftliche

Entwicklungen im urbanen

Raum betrachtet worden sind.

Doch seit einiger Zeit rückt der

sich gegenseitig bedingende

Zusammenhang von Raum und

Gesellschaft stärker in den

Blick. Für Prof. Tim Rieniets ist

damit ein aktuelles Forschungs-

feld entstanden, dem sich die

Fakultät für Architektur und Städte sind für uns das Nor- lung ihres Turmes, der bis die hier ein besseres Leben su-
Landschaft verstärkt zuwenden malste der Welt – so normal, zum Himmel reichen sollte. chen. Die Urbanisierung der
möchte: die sozial nachhaltige als wären sie schon immer da Menschheit war also kein
gewesen. Aber das sind sie Aber die Menschen haben Fluch, sondern eine Erfolgsge-
Entwicklung unserer Städte. nicht. Sie haben sich über weitergebaut, nicht in Babel, schichte. Das legen auch sta-
Jahrhunderte, manchmal über aber an zahllosen anderen tistische Daten nahe, denn es
Jahrtausende entwickelt und Städten. Keiner weiß genau, gibt eine enge Korrelation
zeugen von einem uralten wie viele es heute sind. Aber zwischen dem Verstädte-
Menschheitstraum: Sich ein wir wissen, dass heute mehr rungsgrad eines Landes und
menschengemachtes Lebens- als die Hälfte der Weltbevöl- seinen sozialen Indikatoren
umfeld zu schaffen, aus dem kerung in Städten lebt. Diese wie Wohlstand, Bildung oder
die Gefahren und Abhängig- Städte haben mit ihren Bau- Lebensqualität: Je mehr Men-
keiten der Natur verbannt werken längst die Ausmaße schen eines Landes in Städten
sind. Schon die Bibel erzählt des biblischen Babylon über- leben, um so größer der Wohl-
von diesem Menschheits- troffen und auch das Spra- stand und die Entwicklung
traum und berichtet im chengewirr ist in den Metro- der Bevölkerung.
»Turmbau zu Babel«, wie Gott polen der heutigen Welt zur
den Übermut der Menschen Normalität geworden. Denn Deutschland, als eines der
strafte: Er ließ die Babylonier Städte – vor allem die großen ältesten Industrieländer, hat
in verschiedenen Sprachen unter ihnen – sind Anzie- vergleichbare Prozesse der
sprechen und verhinderte auf hungspunkte für Menschen Landflucht und Verstädterung
diese Weise die Fertiggestel- unterschiedlichster Herkunft, bereits im 19. und frühen 20.

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Jahrhunderts durchlaufen. der verarmten Landbevölke- Unter Fremden leben zu Abbildung 1
Und auch heute sind unsere rung, dann von Kriegsflücht- können ist eine zivilisatorische
Städte Anziehungspunkte für lingen und später von soge- Errungenschaft Tokio gilt als eine der größten
Menschen aus aller Welt, die nannten Gastarbeitern, die Städte der Welt.
hier ihr Glück suchen. Spit- man als billige Arbeitskräfte Für eine städtische Gesellschaft Foto: Monica Volpin/pixabay
zenreiter ist die Stadt Frank- für die deutsche Industrie ins ist es darum von existenzieller
furt, die als erste Stadt Land geholt hat. Dass unsere Bedeutung, dass sie über die
Deutschlands mehr Menschen Städte für alle diese Menschen Eigenschaft verfügt, Fremde
mit Migrationshintergrund Sehnsuchtsorte waren, die aufnehmen zu können. Diese
beheimatet als Menschen Frieden, Wohlstand und sozi- Eigenschaft liegt keineswegs in
ohne. Zwar bilden die Deut- alen Aufstieg versprachen, ist der Natur des Menschen, son-
schen noch immer die größte uns heute kaum noch be- dern ist eine zivilisatorische Er-
Bevölkerungsgruppe, aber sie wusst. Darum fehlt es einigen rungenschaft, die gar nicht
bilden nicht mehr die Mehr- in unserer Gesellschaft auch hoch genug eingeschätzt wer-
heit. an Verständnis für die Zu- den kann. Denn die längste
wanderer, die heute mit genau Zeit seiner rund 300.000 Jahre
Doch das ist alles nur Statis- denselben Erwartungen zu andauernden Geschichte war
tik. Denn wer einen Migrati- uns kommen. der Homo Sapiens nicht sess-
onshintergrund hat und wer haft und lebte in kleinen Grup-
nicht, erklärt sich nicht von Erst recht fehlt es unserer Ge- pen. Erst vor rund 10.000 Jah-
selbst, sondern beruht auf sellschaft an Verständnis da- ren, als die ersten städtischen
komplizierten (und durchaus für, dass wir auf die Zuwande- Ansiedlungen entstanden, be-
diskutierbaren) Definitionen. rer angewiesen sind – schon gann er damit das Zusammen-
Genau so wenig erklärt sich aus demografischen Gründen. leben in städtischen Gesell-
von selber, wer fremd ist und Denn ohne den Zuzug von au- schaften zu lernen.
wer dazu gehört. Denn wer in ßen und ohne die vergleichs-
einer Stadt lebt, dem sind weise hohe Kinderzahl von Heute verfügen wir über ein
(fast) alle Menschen fremd. Migranten könnten unsere großes Repertoire an sozialen
Städte ihre Bevölkerungszahl und kulturellen Techniken,
Migranten brauchen nicht halten. Das war schon um in städtischen Gesell-
unsere Städte. Unsere Städte immer so und das wird auch schaften zu leben: Wir haben
brauchen Migranten in Zukunft so sein, denn es ge- gelernt, die Grundversorgung
hört zu den Merkmalen aller für uns und unsere Kinder
Stellt sich die Frage, warum entwickelten Stadtgesellschaf- (zum Beispiel Ernährung,
immer mehr Menschen in ten, dass ihre Geburtenraten Ausbildung, medizinische
Städten leben und bereit sind, unter dem Erhaltungsniveau Versorgung etc.) in die Hände
ein Leben unter Fremden füh- von 2,1 Kinder pro Frau liegen. anderer zu legen. Wir haben
ren? Und warum Millionen Mittel und Instrumente entwi-
von Menschen Jahr für Jahr Zuwanderer sind nicht nur ckelt, um Konflikte gewaltfrei
ihre Heimat verlassen, um aus demografischen Gründen beizulegen. Und wir wissen,
sich in einer fremden Stadt wichtig, sondern auch, weil wie man in einer überfüllten
niederzulassen? Die Antwort sie in der Wirtschaft ge- U-Bahn fährt, ohne die Intim-
ist einfach: Weil sie in diesen braucht werden. Sie waren im- sphäre der Mitreisenden zu
Städten auf bessere Lebens- mer willkommene Arbeits- verletzen.
perspektiven hoffen. Hier fin- kräfte, ganz gleich, ob sie aus
den sie eine größere Auswahl einem Dorf oder aus fremden Seit Beginn des 20. Jahrhun-
auf dem Arbeitsmarkt, mehr Ländern kamen. Hunderttau- derts gibt es eine wissen-
soziale, kulturelle und religiö- sende von ihnen arbeiteten als schaftliche Auseinanderset-
se Angebote, mehr Konsum- geringqualifizierte Arbeits- zung mit der Frage, wie die
möglichkeiten, Freizeitange- kräfte in der Industrie. Ohne Menschen in einer Stadt zu-
bote usw. sie wäre die Industrialisie- sammenleben. Vor allem die
rung und das deutsche Wirt- Soziologie hat auf diesem Ge-
Aus diesem Grund sind auch schaftswunder nicht möglich biet Bahnbrechendes geleistet
deutsche Städte ein Ziel für gewesen. Aber auch in ande- und eine eigene Teildisziplin,
Migranten aus aller Welt, ren Wirtschaftsbereichen sind die Stadtsoziologie, hervorge-
nicht nur heute, sondern auch Menschen mit Migrationshin- bracht. Auch Ethnografie, Mi-
schon in der Vergangenheit. tergrund unverzichtbar ge- grations- oder Genderfor-
Bereits seit Mitte des 19. Jahr- worden, zum Beispiel in der schung haben die Stadt als
hunderts haben unsere Städte Gastronomie, der Pflege, im Forschungsfeld für sich ent-
einen großen Zustrom von Handwerk und in bestimmten deckt und verschiedenste As-
Zuwanderern erlebt, erst von Dienstleistungs- und Einzel- pekte des Stadtlebens ins Licht
handelssegmenten. der Wissenschaft gerückt.

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Abbildung 2 Ein neues Forschungsfeld viduen einer Stadtgesellschaft gang mit Wänden, Türen,
In Großstädten ist das entsteht miteinander in Beziehung tre- Fenstern, oder öffentlichen
Zusammenleben auf engem Raum ten können. Räumen als kollektives Wis-
nur möglich, wenn Menschen Gemeinsam ist diesen ver- sen zur Verfügung stellt. Aber
sich räumlich organisieren. schiedenen Ansätzen, dass sie Diese Zusammenhänge sind dieses Wissen hat seine Gren-
Foto: picture alliance/ ihren Forschungsfragen nach- lange bekannt und in der sozi- zen, weil es sich um ein kon-
Hollandse Hoogte gegangen sind, ohne dabei die alwissenschaftlichen Stadtfor- servatives Wissen handelt, das
räumlichen Eigenschaften der schung verschiedentlich the- sich zwar auf herkömmliche
Prof. Dipl.-Ing. Tim Rieniets Stadt zu berücksichtigen. Der matisiert worden. Aber zeitge- Problemstellungen anwenden
Jahrgang 1972, ist seit 2018 städtische Raum wurde bes- nössische Forschungen, die lässt, aber nicht unbedingt auf
Professor an der Fakultät für tenfalls als Forschungskontext dieses Thema bearbeiten, sind neue Problemstellungen.
Architektur und Landschaft. Er aufgefasst, gleich einem Büh- rar. Auch in den bauschaffen-
hat an der Leibniz Universität nenbild im Hintergrund, vor den Disziplinen – gemeint sind Neuen Problemstellungen gibt
nach Stationen an der ETH Zü- dem sich das Stadtleben ab- die Architekten, Stadtplaner, es aber zuhauf, ganz beson-
rich sowie an der TU München ders dort, wo unsere Städte
die Abteilung Stadt- und Raum- 2 und alle anderen Akteure, die von starker Zuwanderung und
entwicklung am Institut für für die Herstellung städtischer Diversifizierung geprägt sind.
Entwerfen und Städtebau über- spielt. Erst seit den 1990er Jah- Räume verantwortlich sind – Das Zusammenleben in diesen
nommen. Unmittelbar zuvor war ren ist in den Sozialwissen- haben sich bisher nur wenig Städten wird in Zukunft nicht
Rieniets als Geschäftsführer der schaften das Bewusstsein ge- mit diesem Thema befasst. einfacher werden und der Er-
Landesinitiative StadtBauKultur wachsen, dass der städtische Zwar wird in diesen Diszipli- fahrungsschatz der Architek-
NRW beschäftigt. Kontakt: Raum kein »Bühnenbild« ist nen intensiv über soziale Fra- ten und Planer könnte womög-
[email protected] und dass man Raum und Ge- gen der Stadt diskutiert, etwa lich nicht mehr ausreichen, um
hannover.de sellschaft nicht getrennt von- über den aktuellen Mangel an die entstehenden Herausforde-
einander, sondern als Wech- bezahlbarem Wohnraum oder rungen zu lösen. Hier tut sich
selbeziehung betrachten muss. über die Gentrifizierung sozial ein großes und gleichermaßen
schwacher Stadtteile, aber aktuelles Forschungsfeld auf,
In diesem Sinne könnte man auch diese Diskussion bleibt dem sich die Fakultät für Ar-
die Stadt als eine räumliche räumlich abstrakt. chitektur und Landschaft ver-
Anordnung betrachten, die ei- stärkt zuwenden möchte.
nerseits durch gesellschaftli- Räumlich konkret wird es bei
che Prozesse hervorgebracht den bauschaffenden Diszipli- Die Professur für Stadt- und
wird und andererseits auf die- nen immer dann, wenn es um Raumentwicklung in einer di-
selben zurückwirkt. Das lässt reale Bauprojekte geht. Aber versifizierten Gesellschaft, die
sich besonders gut am Beispiel die praktizierenden Architek- im vergangenen Jahr besetzt
des städtischen Zusammenle- ten und Planer verfügen über wurde, wird dieses For-
bens illustrieren. Denn das keine wissenschaftlich fun- schungsfeld intensiv bearbei-
Zusammenleben auf engem dierten Erkenntnisse darüber, ten. Ihre Motivation besteht da-
Raum ist nur möglich, wenn wie sich ihre Bauwerke auf rin, mit ihrer Forschung einen
wir uns räumlich organisie- das soziale Miteinander der Beitrag zu einer sozial nachhal-
ren: Zum Beispiel in dem wir Bewohnerinnen und Bewoh- tigen Entwicklung unserer
die Privatsphäre eines Haus- ner auswirken. Stattdessen Städte zu leisten. Sie möchte
haltes durch Wände, Türen greifen sie auf einen großen vor allem ein Wissen generie-
und Fenster schützen; oder in- Erfahrungsschatz zurück – ren, dass in der baulichen Pra-
dem wir nachbarschaftliche auf einen Erfahrungsschatz, xis Anwendung finden kann.
Beziehungen zweier Haushal- der sich aus hunderten von
te durch Mauern, Zäune oder Jahren baulicher Praxis speist Die ersten Adressaten dieser
Abstandsflächen markieren; und der den richtigen Um- Forschung sind die Studieren-
oder indem wir öffentliche den. Sie machen sich im Rah-
Räume schaffen, wo alle Indi- men forschungsnaher Semi-
narangebote mit den Heraus-
forderungen der Zuwande-
rungsgesellschaft vertraut.
Außerdem lernen sie in Form
praxisnaher Entwurfsaufga-
ben, wie sie geeignete archi-
tektonische oder städtebauli-
che Lösungen für diese Her-
ausforderungen entwickeln
können – damit unsere Städte
auch weiterhin kein Fluch,
sondern ein Segen sind.

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Der Zugang und die Integration ins Studium

AKTUELLE ERGEBNISSE AUS DZHW-STUDIEN

Das Deutsche Zentrum für Phasen der Zuwanderung In dieser Studienreihe werden von der Schule in die Hoch­
Hochschul- und Wissenschafts- spezifischer Gruppen nach regelmäßig Schülerinnen und schule. Diese Forschungslücke
Deutschland, wie die von Schüler ein halbes Jahr vor wird in einer aktuellen Studie
forschung (DZHW) betreibt Gastarbeiter*innen in den und ein halbes Jahr nach dem von Swetlana Sudheimer und
anwendungsorientierte 1960er und 1970er Jahren, Erwerb der Hochschulzu­ Sandra Buchholz (2019) ge­
empirische Forschung Aussiedler*innen in den gangsberechtigung sowie zu schlossen. Sie untersucht, ob
1990ern sowie Asylsuchenden späteren Zeitpunkten befragt. sich Studienberechtigte mit
im Bereich des Hochschul- und Geflüchteten, aber auch und ohne Migrationserfah­
und Wissenschaftssystems. die gestiegene Attraktivität In der Bildungsforschung rungen hinsichtlich ihrer sozi­
Es versteht sich als Partner und deutscher Hochschulen für wurden die Bildungschancen alen Herkunft unterscheiden.
Dienstleister der Wissenschaft internationale Studierende, von Schülerinnen und Schü­ Angesichts der vorherigen
sowie der Wissenschaftspolitik. führen dazu, dass eine zuneh­ lern mit Migrationserfahrun­ Bildungswege handelt es sich
mende Zahl von Personen mit gen bis zur Ebene der Sekun­ bei Studienberechtigten mit
Die wissenschaftliche Migrationserfahrungen Zu­ darstufe II bereits intensiv Migrationserfahrungen um
Geschäftsführerin Prof. Monika gang zu Hochschulen suchen. erforscht. Dass sie geringere eine positiv selektierte Grup­
Jungbauer-Gans berichtet über Dabei handelt es sich um eine Bildungschancen haben, kann pe, die die Sekundarstufen
aktuelle Forschungsergebnisse heterogene Gruppe im Hin­ im Wesentlichen durch die bereits erfolgreich hinter sich
zu den Übergangschancen von blick auf die ihnen zur Ver­ soziale Herkunft (das durch­ gebracht hat. Die Autorinnen
fügung stehenden bildungs­ schnittlich geringere Bil­ stellen die Frage, ob auch in
der Schule in die Hochschule relevanten Ressourcen. Die dungsniveau und die soziale dieser Gruppe noch migra­
von Jugendlichen mit erfolgreiche Integration von Position der Eltern) und die tionsspezifische Leistungs­
Studierenden mit Migrations­ schulische Leistungsfähigkeit disparitäten bestehen und
Migrationserfahrungen. erfahrungen in der Familie in erklärt werden. Zugleich welchen Einfluss die soziale
ein Hochschulstudium ist je­ zeigen die Ergebnisse der Bil­ Herkunft dabei hat. Zudem
doch angesichts langfristiger dungsforschung trotz schwie­ vergleichen sie die Bildungs­
demografischer Prozesse und riger Ausgangsposition, die aspirationen von Studienbe­
des zu erwartenden Fehlens nicht zuletzt durch die Me­ rechtigten mit und ohne Mig­
von Hochqualifizierten auf chanismen und Phasen der rationserfahrungen und die
dem Arbeitsmarkt von hoher Zuwanderung beeinflusst ist, Rolle, die die soziale Herkunft
Bedeutung. Vielfach wird höhere Bildungsaspirationen und die schulischen Leistun­
insbesondere in technischen von Schülerinnen und Schü­ gen dabei spielen. Ergebnis
Berufsfeldern bereits jetzt ein lern mit Migrationserfahrun­ der Studie ist, dass – auch in
Fachkräftemangel offensicht­ gen. Erklärt wird dieses un­ der positiv selektierten Grup­
lich. In diesem Beitrag werden erwartete Ergebnis mit der so pe der Studienberechtigten –
daher aktuelle Forschungser­ genannten Immigrant­Opti­ Kinder mit Migrationserfah­
gebnisse zu den Übergangs­ mism­Hypothese, der zufolge rungen im Vergleich zu Kin­
chancen von der Schule in die migrierende Personen eine dern ohne solche häufiger aus
Hochschule von Jugendlichen positiv vorselektierte Gruppe eher gering gebildeten und
mit Migrationserfahrungen im Hinblick auf Motivation, seltener aus hoch gebildeten
zusammengefasst. Die Daten­ Ambition und Optimismus Elternhäusern stammen als
grundlage dieser Arbeiten sind, die mit ihrer Migrations­ Studienberechtigte ohne
sind verschiedene Kohorten entscheidung hoffen, ihre Migrationserfahrungen. Ein
und Befragungswellen des Lebensbedingungen zu ver­ genauerer Blick auf die Her­
Studienberechtigtenpanels bessern. kunftsregionen zeigt, dass der
des Deutschen Zentrums Anteil von Akademikereltern
für Hochschul­ und Wissen­ Deutlich seltener erforscht bei Studienberechtigten, de­
schaftsforschung (DZHW). wurde bisher der Übergang ren Eltern aus ehemaligen

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Anwerberegionen stammen, berechtigte mit Migrations­ der ehemaligen Sowjetunion
deutlich niedriger ist. Studien­ erfahrungen sehr häufig die und sonstige Länder. Für die
berechtigte mit Migrations­ Absicht zu studieren, wäh­ Schulleistungen und die so­
erfahrungen verlassen die rend bei Studienberechtigten ziale Herkunft wird hierbei
Schule seltener mit sehr guten ohne Migrationserfahrungen kontrolliert, um deren Ein­
und guten Abschlussnoten. die soziale Herkunft eine grö­ fluss auf die Wahl des Stu­
Ein Vergleich der Bedeutung ßere Rolle spielt. dienbereichs auszuschließen.
der sozialen Herkunft zeigt, Ergebnis der Analysen ist,
dass diese bei Studienberech­ Ist der Entschluss für ein Stu­ dass sich Studienberechtigte
tigten mit Migrationserfah­ dium gefasst, sind weitere mit türkischem Migrations­
rungen einen größeren Effekt Entscheidungen zu treffen, erfahrungen häufiger für Jura
auf die Schulleistungen hat nämlich welches Fach die und Medizin, Mathematik
als bei Studienberechtigten Studienberechtigten studieren oder Informatik und seltener
ohne Migrationserfahrungen. wollen und ob sie dies an für Psychologie, Sozial­ und

100% 8,4% 12,4% 13,9% 18,1% 5,5% 4,2% 9,5% 5,0% 2,1% 6,1% 6,5% 3,0% 8,4% 4,9% 10,6% 7,4% 1,4% 0,0% 11,3% 5,8%
90% 11,1% 14,1% 13,4% 12,3% 10,7% 8,5% 10,4% 10,1% 15,6% 13,8% 8,1% 10,3% 8,5% 3,4% 11,4% 11,6% 11,9% 14,8% 10,9% 6,4%
80%
70% 80,5% 73,5% 72,7% 69,6% 83,9% 87,3% 80,1% 84,9% 82,3% 80,1% 85,3% 86,8% 83,1% 91,7% 78,0% 81,0% 86,7% 85,2% 77,9% 87,8%
60%
50%
40%
30%
20%
10%
0%

Hochschulabschluss
Hochschulreife
Mittlere Reife

Max. Hauptschule
Hochschulabschluss

Hochschulreife
Mittlere Reife
Max. Hauptschule
Hochschulabschluss
Hochschulreife
Mittlere Reife
Max. Hauptschule
Hochschulabschluss
Hochschulreife
Mittlere Reife
Max. Hauptschule
Hochschulabschluss
Hochschulreife
Mittlere Reife
Max. Hauptschule

Ohne Migrationshintergrund Mit Migrationshintergrund Länder der ehemaligen Anwerbeabkommen Länder des ehemaligen Ostblocks Sonstige Länder

Studium beabsichtigt Studium eventuell beabsichtigt Studium nicht beabsichtigt

1

Dies gilt allerdings nicht für einer Fachhochschule oder Geisteswissenschaften sowie Abbildung 1
Studienberechtigte aus einem Universität tun werden. In der Naturwissenschaften ent­
Land mit Anwerbeabkommen: Studie von Mentges und Span­ scheiden als Studienberechtig­ Migrationsspezifische
Hier sind die Schulleistungen genberg (2019) wird unter­ te ohne Migrationserfahrun­ Unterschiede im Einfluss des
in der Regel höchstens befrie­ sucht, ob die unterschied­ gen. Befragte mit polnischem elterlichen Bildungsniveaus
digend, relativ unabhängig lichen Zuwanderungskontexte oder rumänischem Zuwande­ auf die Studienintention von
vom Bildungsniveau der für die Wahl des Studienberei­ rungskontext nehmen seltener Studienberechtigten (Predictive
Eltern. Ein weiteres wichtiges ches von Bedeutung sind. Die ein Lehramtsstudium auf. Margins, multinomiale
Ergebnis der Studie von Sud­ Personen aus den verschiede­ Diejenigen aus Ländern der logistische Regression)
heimer und Buchholz (2019) nen Herkunftsregionen unter­ ehemaligen Sowjetunion stu­ Quelle: Sudheimer und Buchholz 2019
ist, dass Studienberechtigte scheiden sich danach, wie dieren ebenfalls signifikant
mit Migrationserfahrungen schnell sie gegebenenfalls die seltener ein Lehramtsstudium,
höhere Bildungsaspirationen deutsche Staatsbürgerschaft aber häufiger Mathematik
haben. Sie haben signifikant bekommen, welches Qualifi­ und Informatik als Studieren­
häufiger als Personen ohne kationsniveau in der Familie de ohne Migrationserfahrung.
Migrationserfahrungen das verfügbar ist und in welchem Die Gruppe der sonstigen
Ziel, ein Studium aufzuneh­ Umfang Sprachkenntnisse Länder unterscheidet sich in
men. Auch bei Kontrolle vorhanden sind. Differenziert der Wahl der Fachbereiche
weiterer Faktoren, wie der so­ werden fünf verschiedene nicht von Studienberechtigten
zialen Herkunft, bleiben diese Herkunftslandgruppen, näm­ ohne Migrationserfahrungen.
Unterschiede bestehen. Un­ lich die Türkei, sonstige Län­ In weiterführenden Analysen
abhängig von der sozialen der mit Anwerbeabkommen, wurden auch Variablen be­
Herkunft haben Studien­ Polen und Rumänien, Länder rücksichtigt, die verschiedene

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Prof. Dr. Monika Jungbauer- Einstellungen messen, die für Folge ihrer höheren Aspiratio­ ben oder die als langfristiges
Gans die Wahl des Studienfaches nen sich häufiger an Univer­ Berufs­ und Lebensziel ihre
relevant sein könnten. Der sitäten einschreiben, auch für Persönlichkeit entfalten wol­
Jahrgang 1963, ist wissen- Wunsch nach hohem Berufs­ die Fachwahl kontrolliert wer­ len, wählen häufiger Univer­
schaftliche Geschäftsführerin prestige erhöht die Wahr­ den. In ihrer aktuellen Studie sitäten. Wurde die Hochschul­
des Deutschen Zentrums für scheinlichkeit für die Wahl untersuchen Schneider und zugangsberechtigung an einer
Hochschul- und Wissenschafts- von Medizin oder Jura. Hohe Woisch (2019), welche Deter­ berufsbildenden Schule er­
forschung (DZHW) sowie Pro- Erwartungen der Eltern kor­ minanten die Wahl der Hoch­ worben, ist die Wahrschein­
fessorin für Hochschul- und relieren ebenfalls mit der schulart beeinflussen und ob lichkeit für die Studienauf­
Wissenschaftsforschung an der Aufnahme eines Medizinstu­ es dabei Unterschiede nach nahme an einer Universität
Leibniz Universität. Ihre For- diums, aber auch der Wunsch verschiedenen Herkunfts­ signifikant geringer als bei
schungsschwerpunkte sind Wis- nach einem sicheren Arbeits­ regionen gibt. Die Ergebnisse Studienberechtigten von all­
senschafts- und Hochschulfor- platz. Wenn die Studienbe­ der Analysen zeigen, dass – gemeinbildenden Schulen.
schung, Bildungssoziologie, Or- rechtigten ein hohes Einkom­ unter Kontrolle von Leis­ Studienberechtigte, die den
ganisationssoziologie, men als sehr wichtig ansehen, tungsniveau und sozialer Her­ Kosten eines Studiums eine
Arbeitsmarktforschung, Exis- wählen sie ebenfalls häufiger kunft – Studienberechtigte, (sehr) große Bedeutung bei­
tenzgründungsforschung, quan- ein Jurastudium. Da Studien­ die beziehungsweise deren El­ messen, eine möglichst kurze
titative und qualitative Metho- berechtigte aus der Türkei tern aus der Türkei, aus Asien Ausbildungsdauer oder einen
den der empirischen Sozialfor- beziehungsweise deren Eltern oder aus Polen stammen, mit hohen Praxisbezug wünschen,
schung, Medizin- und höhere berufliche Aspiratio­ höherer Wahrscheinlichkeit studieren häufiger an Hoch­
Gesundheitssoziologie sowie nen haben, verringern sich die ein Studium an einer Univer­ schulen für Angewandte Wis­
Soziologie sozialer Ungleichheit. aufgezeigten Differenzen bei sität beginnen als Studien­ senschaften.
Kontakt: [email protected] der Wahl prestigeträchtiger berechtigte ohne Migrations­
Fächer, so schwächen sich bei erfahrungen. Die Präferenz Zusammenfassend lässt sich
Kontrolle dieser Einstellungen für ein Studium an einer Uni­ festhalten: Die aktuellen For­
die Unterschiede zu Studien­ versität lässt sich dabei nicht schungsergebnisse des DZHW
berechtigen ohne Migrations­ durch das Leistungsniveau, zeigen, dass sich das Studien­
erfahrungen geringfügig ab. durch unterschiedlich ein­ verhalten und die Präferenzen
geschätzte Erfolgswahrschein­ von Studierenden mit Migra­
Nicht nur das Studienfach, lichkeiten, Unterschiede in tionserfahrungen je nach Her­
auch die Art der Hochschule den Erwartungen bezüglich kunftsregion unterscheiden.
ist von Bedeutung für die Kosten und Ertrag eines Stu­ Dabei spielt die soziale Zu­
Realisierung beruflicher As­ diums, inhaltlichen Präferen­ sammensetzung dieser Grup­
pirationen. Eine nach wie vor zen und auch nach Kontrolle pen eine Rolle, aber auch wei­
wesentliche Differenzierung der bei Studienberechtigten tere Faktoren, die sich in stu­
besteht zwischen Hochschu­ mit Migrationshintergrund dien­ und berufsbezogenen
len für Angewandte Wissen­ höheren Bildungsaspirationen Einstellungen und Erwartun­
schaften und Universitäten. der Eltern erklären. Auf­ gen widerspiegeln. An den
Da diese Hochschularten ein schlussreich sind auch die Hochschulen führt dies zu
unterschiedliches Studienan­ weiteren Determinanten: Stu­ einer entsprechenden Diver­
gebot haben, muss dies bei der dienberechtigte, deren Eltern sität, der durch differenzierte
Frage, ob Studienberechtigte Akademiker*innen sind, die Angebote begegnet werden
mit Migrationserfahrungen in bessere Schulleistungen ha­ sollte.

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mit und ohne Abschluss auf der Suche nach einem Quereinstieg. Hierfür tragen
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gerne für ein unverbindliches Informationsgespräch kontaktieren.

Unser Leistungsspektrum beinhaltet darüber hinaus integrative Maßnahmen und
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M I G R A T I O N U N D I N MT EI G R A T I O N L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E R

Mikropolitik im akademischen Feld

INSTITUTIONALISIERUNG VON DIVERSITÄT AN DER LEIBNIZ UNIVERSITÄT

Plötzlich war sie da und in aller Inklusion, diversitätssensible dern je nach Kontext, in dem cher Form zur Sprache? Wie
Munde – sowohl im univer­ Lehre, geschlechterneutrale Diversität verwendet wird, va­ werden sie verhandelt? Oder,
Sprache oder auch der Um­ riieren können. Das Konzept welche sozialen Differenz­
sitären als auch im schulischen gang mit religiöser Diversität setzt also Differenzkategorien kategorien verstummen und
Kontext: Diversität. im Unterricht sind Themen, oder ­linien voraus und festigt werden unsichtbar? Darüber
die im universitären Kontext beziehungsweise (re­)produ­ hinaus interessiert, welche
Dr. Carmen Becker und zunehmend verhandelt wer­ ziert diese gleichzeitig durch Strukturen, Praktiken, Mate­
Ricarda Darm vom Institut für den. Doch woran liegt das? die damit verbundene Wirk­ rialien und Akteure an der
Religionswissenschaft widmen Was hat dafür gesorgt und mächtigkeit. Ferner wird Dif­ Leibniz Universität (auch his­
sich in dem Forschungsprojekt sorgt weiterhin dafür, dass die ferenz im Kontext von Diver­ torisch gesehen) involviert
»Mikropolitik im akademischen Thematiken rund um Diver­ sität meist auf individueller sind und auf welche Art und
sität nicht nur auf deutliches und gruppenspezifischer – Weise, mit welcher Funktion
Feld: Institutionalisierung Interesse, sondern auch mate­ nicht aber struktureller Ebene und welchen Ziel­ bezie­
von Diversität an der LUH« rielle Förderungen stoßen – gedacht. Sara Ahmed (2007) hungsweise Normvorstellun­
der Frage, wie Diversität wie beispielsweise durch die weist aus der Perspektive gen die Kategorie Diversität
an der Leibniz Universität Qualitätsoffensive Lehrerbildung einer kritischen­analytischen »arbeitet« und auf institutio­
und das Projekt Leibniz-Prinzip Diversitätsforschung – in die neller Ebene funktioniert. Die
sichtbar wird. Was sorgt da­ sich auch das hier vorgestellte Kernfrage – um an dieser Stel­
für, dass Projekte rund um Forschungsprojekt einordnet – le erneut Sara Ahmed (2007)
das Thema – vor allem auch in darauf hin, dass »the open­ heranzuziehen – lautet »What
der Lehrerbildung – deutsch­ ness of the term also means does diversity do?« – und
landweit gefördert werden that the work it does depends zwar auf mikropolitischer
und mit welchen Zielvorstel­ on who gets to define the Ebene der Leibniz Universität.
lungen erfolgt dies? term, and for whom. Diversity
can be defined in ways that Eine kritische Perspektive auf
What does diversity do? reproduce rather than chal­ Diversität: Was ist das?
lenge social privilege«.

wirksam wird. Unter Diversität werden meist Im akademischen Arbeits­ Die von uns eingenommene
Merkmale wie die Ethnizität/ kontext innerhalb der Leibniz kritische Perspektive postu­
Rasse, soziale Herkunft/Klas­ Universität sind ein vermehr­ liert, dass Diversität nicht ein­
se, Geschlechtszugehörigkeit tes Sprechen über und Sicht­ fach natürlich gegeben ist,
beziehungsweise geschlecht­ barmachen von Diversität als sondern auf vielfältige und
liche Identität, aber auch zentraler Kategorie auf insti­ sehr unterschiedliche Weisen
(Nicht­)Behinderung, Kultur, tutioneller und materieller in unterschiedlichen sozialen
Alter oder Religion gefasst, Ebene – zum Beispiel in Do­ Feldern produziert wird. Ziel
wobei das Konzept um viel­ kumenten wie Stellenaus­ der Analyse beziehungsweise
fältige weitere (individuelle) schreibungen oder der Verän­ des Forschungsprojektes ist es
Merkmale ergänzbar ist. In derung von Modulordnungen nicht, zu beurteilen, ob die
diesem Sinne wird Diversität der Lehramtsstudiengänge im Institutionalisierung von Di­
auch im »Diversity Glossar« Rahmen des Reformprozesses versität an der Leibniz Univer­
der Leibniz Universität defi­ der Lehrerbildung – zu sität auf positive oder negative
niert. Diversität präsentiert beobachten. Daraus ergeben Weise erfolgt – es geht also
sich somit als offenes Kon­ sich folgende spannende For­ nicht darum, am Ende eine
zept, da die Differenzlinien, schungsfragen: Welche Diffe­ Bewertung abzugeben oder
die als Bezugspunkte dienen, renzkategorien kommen an gar ein Urteil zu fällen – viel­
nicht klar definiert sind, son­ der Leibniz Universität in wel­ mehr interessiert, wie Diver­

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