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Published by , 2017-11-26 11:45:45

spiegel4617

spiegel4617

Sport

Bilanz der deutschen Bundestrainer und Teamchefs nach dem Zweiten Weltkrieg

Trainer/Teamchef Amtszeit Spiele Siege Remis Nieder- Durchschnittliche Bundestrainer
lagen Punktezahl
pro Spiel* Legende Löw

Sepp Herberger bis 1964 97 52 14 31 1,75 Die meisten Siege, die
beste Bilanz pro Spiel –
Helmut Schön 1964 bis 1978 139 87 31 21 2,10 Weltmeister. Joachim
Löw, 57, ist der erfolg-
Jupp Derwall 1978 bis 1984 67 44 12 11 2,15 reichste Bundestrainer der
1,85 Geschichte. Zu seiner drit-
Franz Beckenbauer 1984 bis 1990 66 34 20 12 2,18 ten WM als Chefcoach
fährt Löw im kommenden
Berti Vogts 1990 bis 1998 102 66 24 12 ANDY RAIN / DPA Jahr nach Russland mit
dem Selbstbewusstsein,
Erich Ribbeck 1998 bis 2000 24 10 6 8 1,50 die Legenden des deut-
Rudi Völler 2000 bis 2004 53 29 11 13 1,85 schen Fußballs bei Weitem
übertrumpft zu haben.
Jürgen Klinsmann 2004 bis 2006 34 20 8 6 2,00 Die Weltmeistertrainer
2,21 Sepp Herberger und Franz
Joachim Löw seit 2006 156 106 27 23 Beckenbauer gewannen
kaum mehr als jedes zwei-
Stand: 9. November *Drei Punkte pro Sieg, ein Punkt pro Remis. te Spiel – sie waren damit
nicht viel besser als Erich
Ribbeck und Rudi Völler,
die zwischen 1998 und
2004 verantwortlich wa-
ren. Löw hingegen siegte
in zwei von drei Spielen.

Magische Momente

„Die waren total stinkig“

Die ehemalige Tennisspielerin Claudia Kohde-Kilsch, 53, über den Triumph im Federation Cup vor 30 Jahren

SPIEGEL: Sie gewannen 1987 wonnen hatten, wurden die derlage bis heute nicht ver- Boden krachte. Ich weiß noch,
an der Seite von Steffi Graf Amerikanerinnen spürbar
erstmals für Deutschland den nervös. daut hat. dass unser Mannschaftsarzt
Federation Cup. Die Ent- SPIEGEL: Sie entschieden den
scheidung im Spiel gegen die dritten Satz mit 6:4 für sich. SPIEGEL: Haben Sie in Van- verzweifelt versuchte, eine
USA fiel in einem Doppel, Die Sensation war perfekt.
in dem es lange nicht gut für Kohde-Kilsch: Steffi und ich couver gefeiert? Delle auszubeulen.
Sie aussah. waren keine engen Freun-
Kohde-Kilsch: Wir lagen dinnen, aber in diesem Kohde-Kilsch: Wir waren bei SPIEGEL: Angeblich hat Ihnen
schnell 1:6 und 0:4 hinten. Augenblick fielen wir uns in
Pam Shriver und Chris Evert die Arme. Selbst unsere einem Millionär, den unser Steffi Graf nach dem Sieg
gelang alles – uns gelang verfeindeten Väter, Gott
nichts. Wir wollten uns aber hab sie selig, umarmten Teamchef Klaus Hofsäss ein besonderes T-Shirt ge-
auch nicht kampflos abschie- sich kurz. Der Erfolg
ßen lassen und erinnerten überstrahlte alles. kannte. Dabei gab es einen schenkt.
uns an ein Match von Jimmy SPIEGEL: Wie reagierten
Connors. Ihre Gegnerinnen? Schockmoment, als der Kohde-Kilsch: Stimmt. Ich war
SPIEGEL: Helfen Sie uns auf Kohde-Kilsch: Die waren
die Sprünge. total stinkig und sagten Siegerpokal plötzlich auf den damals großer Fan von Bryan
Kohde-Kilsch: Connors hatte gar nichts. Im August
1987 in Wimbledon ein dieses Jahres habe ich Adams, und sie war
Spiel gedreht, in dem er völ- auf Facebook gepostet,
lig aussichtslos hinten lag. dass der Sieg von vorher backstage bei
SPIEGEL: Und dann? Vancouver einer der
Kohde-Kilsch: Wir holten auf, schönsten meiner Kar- einem Konzert von
und auch Steffi, die wahrlich riere war. Pam Shriver
keine Volleyspezialistin war, hat den Post prompt ihm gewesen. Ich glau-
traf am Netz plötzlich alles. kommentiert. Sie
Als wir den 2. Satz 7:5 ge- schrieb, dass sie die Nie- be, es war sogar ein

Autogramm darauf.

SPIEGEL: Welchen Stel-

lenwert hat der Sieg in

Ihrer Karriere?

Kohde-Kilsch: Dieser

Weltmeistertitel steht

auf einer Stufe mit mei-

nem Wimbledon-Sieg

im Doppel gemeinsam

mit Helena Suková und

SVEN SIMON der Bronzemedaille

mit Steffi bei den

Olympischen Spielen

Kohde-Kilsch, Graf 1987 in Vancouver 1988 in Seoul. pk

DER SPIEGEL 46 / 2017 101

Sport

„Richtig bumm!“

Boxen Der einstmals drittbeliebteste Sport der Deutschen ist zu einer Freakshow
verkommen. In Oberhausen tritt jetzt ein Profi mit künstlicher Hüfte
zu einem Kampf um die Weltmeisterschaft an. Ist die Branche noch zu retten?

Für Axel Schulz ist Boxen immer noch sportlich nicht mehr viel. Schlagzeilen mehr abgeliefert hat, gleich für einen WM-
der schönste Sport der Welt. „Zwei machte Charr erst wieder vor zwei Jahren, Kampf nominiert wird, ist trotzdem nicht
Leute steigen in einen Ring, kämp- als er in einem Essener Dönerimbiss nie- leicht zu verstehen.
fen, danach haben sich alle wieder lieb. dergeschossen wurde. Axel Schulz sagt, er habe aufgehört, sich

Wunderbar!“ Manuel Charr zieht sein Hemd bis über über irgendetwas in der Branche zu wun-

Schulz, 49, ist im Auto unterwegs nach den Bauch hoch, zum Vorschein kommt dern. Vor einem Monat kam es bei einer

Frankfurt am Main zu einer Autogramm- eine große Narbe. „Bauchschuss, überall Boxgala in Stuttgart zu einer Schlägerei

stunde. Der ehemalige Schwergewichtler war Blut“, sagt er. Die genauen Hinter- auf der Tribüne. Es werden Kämpfe vorher

stand vor elf Jahren das letzte Mal gründe der Tat liegen bis heute im Dunk- abgesprochen, Ringrichter manipuliert.

im Ring, aber die Fans haben ihn nicht len. Der Angreifer soll einer Clanfamilie Und immer wieder kommt es zu Fights,

vergessen. Zusammen mit Henry Maske angehört haben, er wurde zu einer Haft- die jegliches Niveau vermissen lassen.

löste Schulz den Boxboom der Neunzi- strafe verurteilt. Der tiefe Fall des deutschen Boxens ist

gerjahre aus, mit ausverkauften Hallen Charr steckt sein Hemd wieder in die auch eine Folge des einstigen Hypes um

und Rekordquoten im Fernsehen. Ob- Hose und bestellt Tee. „Als ich nach der Maske und Schulz. 18 Millionen Menschen

wohl er die meisten seiner großen Titel- Notoperation im Krankenhaus aufgewacht sahen 1995 die Übertragung des WM-

kämpfe verlor, liebte das Publikum den bin, waren da überall Frauen. Ich dachte, Kampfes zwischen Schulz und dem Süd-

Riesen aus Frankfurt (Oder), weil er im- ich bin im Himmel.“ afrikaner Frans Botha. Danach gierten die

mer sein Bestes gab und kein Sprü- Sender nach weiteren Titelkämpfen

cheklopfer war. und Rekordquoten. Sie pumpten

Nachdem Schulz und Maske ihre Millionen in den Boxmarkt. Die

Karriere beendet hatten, begann der Promoter witterten das schnelle

Abstieg des deutschen Boxens. Der Geld. Statt Talente ordentlich aus-

einstmals drittbeliebteste TV-Sport zubilden, schickten sie unfertige

nach Fußball und Formel 1 ist heute Athleten ins Feuer, Durchschnitts-

kein Quotenbringer mehr. In einer boxer wie Sven Ottke oder Mar-

Expertenanalyse der Onlineplatt- kus Beyer wurden zu Weltmeistern

form Stadionwelt über die Zukunfts- hochgejazzt. Oder Boxer mit aus-

aussichten verschiedener Sportarten ländischen Wurzeln für das deut-

bekam Boxen eine ähnlich schlechte sche Publikum umbenannt. Der

Prognose wie Hockey. bosnische Mittelgewichtler Adnan

Wie konnte es so weit kommen? Ćatić hieß plötzlich Felix Sturm,

„Och nee“, brummt Schulz. Er hat Muamer Hukić aus Serbien nannte

die Ausfahrt verpasst. Er hasse es, PIXATHLON sich Marco Huck.

unpünktlich zu sein. „Gehört sich Die Qualität der Fights nahm ste-

nicht.“ In den vergangenen Jahren tig ab, irgendwann hatte das Publi-

hat er sein Geld als Werbefigur und Schwergewichtler Charr im Kampf gegen Vitali Klitschko 2012 kum es satt. Die Quoten brachen

Kommentator verdient. Die großen Eine verlorene Seele ein. Vor drei Jahren flog Boxen aus

Sender sind jedoch einer nach dem dem Hauptprogramm der öffentlich-

anderen aus dem Boxen ausgestiegen und Es waren die Stationspflegerinnen, die rechtlichen Sender. Und eine Rückkehr ist

zeigen keine Kämpfe mehr. Schulz muss ihn in den Wochen danach aufpäppelten. nicht abzusehen. „Ich sehe im deutschen

sich was anderes überlegen. „Ich sehe aber Nach sechs Monaten begann Charr wieder Berufsboxen nichts, was im Ersten Deut-

nicht schwarz“, sagt er. Der Boxsport habe mit dem Training, nach neun Monaten be- schen Fernsehen ausgestrahlt werden müss-

immer noch Potenzial: „Was wir brauchen, stritt er seinen Comeback-Kampf in einem te“, sagt ARD-Sportchef Axel Balkausky.

ist eine Rakete, die richtig durchstartet.“ Autohaus in Kassel. Inzwischen hat er wei- Der PR-Experte Bernd Bönte läuft bei

In einem Café in der Kölner Südstadt tere Aufbaukämpfe absolviert. Vor sieben der Amateurboxweltmeisterschaft Anfang

steht der Mann, der die Rakete sein möch- Monaten musste er sich einer Hüftgelenks- September in Hamburg durch die Wett-

te. Der Schwergewichtler Manuel Charr, operation unterziehen. Es sei aber alles su- kampfhalle. Die Luft ist stickig, es riecht

33, Kampfname Diamond Boy, wird am per gelaufen. Keine Beschwerden. Charr nach Schweiß und alten Socken. Bönte

25. November in der Arena Oberhausen hat die Röntgenbilder über soziale Netz- ist seit Jahren Manager der inzwischen

gegen den Russen Alexander Ustinow um werke verbreitet. Er fühle sich topfit: „Ich zurückgetretenen Klitschko-Brüder. Die

den vakanten WM-Titel der World Boxing werde Geschichte schreiben.“ beiden ehemaligen Weltmeister waren

Association (WBA) antreten. Die bisherige Charr bekommt seine Chance, weil ein die Letzten, die den Nerv des deutschen

Geschichte des Boxers Charr ist schnell er- Boxer, der in der Rangliste der WBA vor

zählt. Vor fünf Jahren verlor er einen Ti- ihm stand, positiv auf Doping getestet wur- * Boxer Leon (3. v. r.), Co-Trainer Marko Reinhardt, Mut-
telkampf gegen den damaligen Champion de. Dass ein Mann mit künstlicher Hüfte, ter Melanie, Vater Bernd, Bruder Allen, Schwester Keana,

Vitali Klitschko durch K. o., danach kam der seit Jahren keinen vernünftigen Kampf Rapper Jay Unique.

102 DER SPIEGEL 46 / 2017

MARKUS HINTZEN / DER SPIEGEL

Team Bauer*: Der Löwe aus der Pfalz

DER SPIEGEL 46 / 2017 103

TORSTEN HELMKE / ACTION PRESS eingeladen. Charr sprühte vor Energie und
erklärte, er könne sich gut vorstellen, nach
Boxer Feigenbutz, Manager Gottwald (r.): Chat mit Gaddafis Sohn dem Sieg in Oberhausen die Rolle der
Klitschkos zu übernehmen.
SVEN SIMON
Bernd Bönte irritieren solche Sprüche:
Idol Maske im November 1996 in München: Durchschnittsboxer zu Weltmeistern hochgejazzt „Ja, wo sind wir denn? Bei Münchhausen?“

Massenpublikums trafen. Zwei riesenhafte dem Rapper Bushido, der ihn angeblich be- Es gibt Experten, die meinen, das deut-
Kerle, die reihenweise ihre Gegner umhau- leidigt hatte. Immer wieder wurden Charr sche Boxen sei nur noch eine Freakshow.
ten, ansonsten aber ganz lieb waren und Kontakte in die Halbwelt nachgesagt. Neulich trat in der riesigen Barclaycard-
freundlich redeten. „Vitali und Wladimir Arena in Hamburg ein junger Selfmade-
haben es geschafft, die Herzen der Men- Nun hat er seit einer Weile einen Gönner, Millionär, der zuvor noch nie groß in
schen zu erobern“, sagt Bönte. den Geschäftsmann Christian Jäger aus Erscheinung getreten war, in einem Haupt-
Österreich. Sie haben sich voriges Jahr bei kampf an. Der Mann hatte die Veranstal-
Bönte sucht jetzt nach neuen Kandida- einer Party kennengelernt. Der Unterneh- tung zum Teil selbst mitfinanziert, inklusi-
ten mit Starpotenzial. Er steht nah am mer vertreibt unter anderem einen Fitness- ve eines Gegners, der kaum zurückschlug.
Ring, notiert sich dies und das auf einem anzug, der über Elektroden leichte Strom- Das Publikum verfolgte das absurde Schau-
Zettel. Aber da ist nicht viel. Es kämpfen impulse versendet. Die Methode soll das spiel ungläubig staunend.
Kubaner, Usbeken, Kasachen in den WM- Muskelwachstum fördern. Charr schwört
Finals, doch keine Boxer aus Deutschland. auf das Textil. Er spannt wie zum Beweis ARD-Mann Balkausky sagt, der deut-
seinen mächtigen Bizeps an und grinst: sche Boxsport müsse eine „integre Persön-
Bönte gähnt und zieht ab in den VIP- „Macht richtig bumm!“ Drei Männer an ei- lichkeit mit einem Alleinstellungsmerk-
Raum. nem Nachbartisch unterbrechen ihre Mahl- mal“ hervorbringen, um wieder auf die
zeit und machen Handyfotos. Beine zu kommen. Axel Schulz klingt das
Manuel Charr sagt, vielen jungen deut- zu akademisch, er sagt: „Wat wir brauchen,
schen Boxern fehle der Mumm. Ein Pro- Vor ein paar Wochen gab Charr in Köln is ne Type.“
blem der Wohlstandsgesellschaft. eine Pressekonferenz in einem Nobelhotel.
Vor der Tür eine weiße Stretchlimousine, Vor anderthalb Jahren kletterte ein jun-
Der Diamond Boy ist zum Mittagessen im Blauen Salon überlebensgroße Fotos ger Bursche, blass, schlaksig und damals
bei seinem Stammitaliener in Köln einge- des Diamond Boy in seinem Fitnessanzug. gerade 17 Jahre alt, in einen Boxring im
kehrt und sitzt vor einer Dorade mit viel Gegner Ustinow, mit 41 Jahren nicht mehr MGM Grand Garden in Las Vegas. Es war
Gemüse. Charr gehörte lange zu den ver- der Jüngste im Boxgeschäft, war auch noch sein achter Profikampf. Er gewann einstim-
lorenen Seelen des Boxsports. Er lieferte mig nach Punkten gegen einen Gegner,
sich einen wirren öffentlichen Streit mit der acht Jahre älter war. Anschließend
kam der große Roy Jones Junior aus Flori-
da auf den Knaben zu und meinte, er müs-
se noch an seiner Balance arbeiten, aber
dann hätte er das Zeug zum Champion.

„Ich bin einfach dafür gemacht“, sagt
Leon Bauer.

Auf dem Terrassentisch der Bauers in
Hatzenbühl, einem Kaff in der Nähe von
Karlsruhe, steht ein Krustenbraten, Vater
Bernd hat gekocht. Der Sohn trägt eine
Jogginghose, ein schwarzes T-Shirt voller
Sponsorenlogos und ein Basecap, auf dem
steht: „Team Bauer“.

Team Bauer, das ist eines der spannends-
ten Experimente im deutschen Boxsport.
Team Bauer, das sind: Leon Bauer, 19, Ju-
niorenweltmeister im Super-Mittelgewicht.
Sein Vater, der ihn trainiert, seit Leon lau-
fen kann. Seine Mutter Melanie, die die
Tickets für die Kämpfe verkauft. Die Oma,
die zu jedem Kampfabend mitreist. Der
Kampfhund Brockhaus, der das Grund-
stück der Bauers bewacht. Der Rapper Jay
Unique aus Germersheim, der einen Song
geschrieben hat über das Team Bauer,
„eine Einheit, eine Familie, vereint, fokus-
siert, um Geschichte zu schreiben“.

Gleich neben dem Wohnhaus der Eltern
gibt es eine kleine Halle, die sie zu einem
Trainingsgym ausgebaut haben. Bernd
Bauer, ein ehemaliger Kampfsportler, hat
seinem Sohn den attraktiven, aber riskan-
ten amerikanischen Boxstil mit hängenden
Fäusten beigebracht. Um Erfahrung zu
sammeln, wurde Leon, Kampfname „Der
Löwe aus der Pfalz“, schon mit 16 Jahren

104 DER SPIEGEL 46 / 2017

Sport

Profi. Inzwischen hat der Löwe seinen Ju- Hauruckstil bevorzugte, das klassische, de- SPIEGEL TV MAGAZIN
nioren-WM-Titel zweimal verteidigt. Im fensive Boxen mit Doppeldeckung und al-
Oktober wurde Bauer bei den German Bo- lerlei taktischen Finessen. Gottwald hat SONNTAG, 12. 11., 23.50 – 0.35 UHR | RTL
xing Awards in Hamburg zum Newcomer auch die Ziele seines Kämpfers korrigiert.
des Jahres gekürt. Nicht mehr die WM als Profi stehe im Mit- Schwarzkittel – Grenzüberschreiten-
telpunkt, sondern die Qualifikation für die de Wildschweinplage auf Usedom;
Ist er die Rakete? Olympischen Spiele 2020 in Tokio. Einer gegen alle – Umwelthilfechef
Vor einigen Monaten erklärte der Pro- Resch und sein Kampf gegen die
moter Rainer Gottwald noch, Leon Bauer Zum Kampf in Schwerin sind auch ein Autolobby; „Es gibt Kinder, die weinen
habe das Zeug, ein „ganz Großer“ zu wer- Konditionstrainer, ein Physiotherapeut den ganzen Tag“ – Reportage über das
den. Aber dann waren ein paar Sachen an- und der Vater von Feigenbutz angereist. Waisenhaus in Mossul.
ders gelaufen, als der Manager das geplant Er ist Zahntechniker und baut seinem
hatte, und deshalb, sagt er, sei er sich heute Sohn den Mundschutz. Das spare eine ARTE RE:
nicht mehr so sicher. Menge Geld. Gottwald verteilt an alle
Drei Tage vor einem Kampfabend der Vitamindrinks. „Is gesund und sauteuer – DIENSTAG, 14. 11., 19.40 – 20.10 UHR | ARTE
World Boxing Super Series in Schwerin in- also runter damit“, sagt er.
spiziert Gottwald die Veranstaltungshalle. Re: Tödliche Raserei – Harte
Arbeiter bauen den Ring und die Beleuch- In der Boxszene machen sich manche Strafen für illegale Rennen
tung auf. Es ist kalt und ziemlich duster, über Gottwald lustig, wegen seiner Hyper- Illegale Autorennen werden zuneh-
aber der Manager setzt seine Fliegerson- aktivität, wegen seiner verspiegelten Son- mend zum Problem. Neben härte-
nenbrille auf und macht ein paar Selfies. nenbrillen. Aber das sei nur Neid, sagt er. ren Strafen soll intensivere Polizei-
Gottwald, ein platinblonder Hüne, war Er habe ein Näschen. Gottwald war lange arbeit die Raser abschrecken. In
mal Kampftaucher. Später hatte er eine auch der Manager von Leon Bauer. Er hat
Tauchstation in Thailand, die beim Tsuna- ihn entdeckt, aufgebaut, verschaffte ihm Autorennen in Brilon
mi-Unglück 2004 zerstört wurde. Er ging die ersten Sponsorenverträge. Vor fünf Wo-
als Experte für Wassersport im Auftrag des chen beendeten die Bauers die Zusammen- einigen deutschen Städten rücken
Internationalen Olympischen Komitees arbeit, weil Gottwald zu viel um die Ohren die Ermittler der Szene mit groß
nach Libyen und gehörte dort, warum habe, sich nicht genug um Leon kümmern angelegten Kontrollen und Under-
auch immer, zu den Vertrauten Gaddafis. könne. cover-Beschattung zu Leibe.
Als 2011 Nato-Flugzeuge Tripolis bombar-
dierten, zog Gottwald nach Deutschland „Boxen in Deutschland ist ein verdamm- SPIEGEL GESCHICHTE
zurück. Zu einem Sohn Gaddafis habe er tes Haifischbecken“, sagt Gottwald. Er ist
immer noch Kontakt, erzählt er in der Kon- enttäuscht. Das Team Bauer werde schei- MITTWOCH, 15. 11., 23.55 – 0.40 UHR | SKY
gresshalle in Schwerin. Gottwald zeigt auf tern, wenn Leon, der Löwe, nicht bald ei-
dem Handy einen Chat. Er habe auch von nen erfahrenen Proficoach bekomme, sagt Das Diesel-Rätsel
Plänen für die Rückkehr der Gaddafis zur Gottwald. Die Dokumentation gibt Einblick in
Macht gehört, erzählt er. die Erfindung des Dieselmotors
Er rückt die Sonnenbrille zurecht. James Zwei Tage später steigt Vincent Feigen- Ende des 19. Jahrhunderts und lässt
Bond in Mecklenburg-Vorpommern. butz in der Kongresshalle in Schwerin in das bewegende Schicksal von
Im nächsten Moment ist die Weltpolitik den Ring. In Runde elf sieht er die Lücke Rudolf Diesel lebendig werden.
wieder aus der Halle geweht. Vincent Fei- in der Deckung des Argentiniers Gaston
genbutz, Gottwalds Hauptkämpfer, kommt Alejandro Vega und schickt ihn auf die ARTE RE:
vom offiziellen Wiegen zurück. „Passt al- Bretter.
les?“, fragt der Manager. „Passt“, antwor- DONNERSTAG, 16. 11., 19.40 – 20.10 UHR | ARTE
tet Feigenbutz und hält sich mit Schatten- Vielleicht ist Feigenbutz die Rakete.
boxen warm. Leon Bauer sagt: „Sport ist ein Geschäft, Re: Einsatz unter Lebensgefahr –
Vincent Feigenbutz, 22, aus Karlsruhe wenn man es nicht bringt, wird man aus- Deutsche Helfer im Irak
gehört zu den größten Boxtalenten in getauscht, das wird auch bei mir so sein, Die deutsche NGO Cadus ist dort
Deutschland, von 29 Kämpfen als Profi ge- also werde ich es bringen.“ im Einsatz, wo sich große Organisa-
wann er 23 durch K. o. Voriges Jahr verlor Manuel Charr fährt den Rhein entlang tionen aus Sicherheitsgründen zu-
er in Offenburg einen Fight um den vakan- Richtung Kölner Dom und überlegt, was rückgezogen haben. Cadus versorgt
ten WM-Gürtel der WBA gegen den Ita- er im Falle eines Sieges in Oberhausen mit direkt hinter der Front Menschen,
liener Giovanni De Carolis. Seither hat die einem WM-Titel anfangen könnte. die im Krieg gegen den IS verletzt
Euphorie um den gelernten Feinmechani- Der letzte deutsche Champion im Schwer- oder verwundet wurden. Das Team
ker ein wenig nachgelassen. gewicht war 1932 Max Schmeling. „Ich arbeitet in Reichweite feindlicher
Ein Boxkampf ist eine existenzialistische könnte mich als der neue Schmeling ver- Raketen und Granatwerfer.
Erfahrung. Es gehört Mut dazu, sich im markten“, sagt der Diamond Boy, „oder
Ring einem Gegner zu stellen, der – egal, als erster arabischer Schwergewichtswelt-
wie gut oder schlecht Kämpfer trainiert meister.“
sind – hart zuhauen kann. Charr ist in Beirut geboren. Es wäre eine
„Vince hat die Niederlage gut wegge- Möglichkeit. Als er am Dom angekommen
steckt“, sagt Gottwald. Der Manager hat ist, hat er auch ein Angebot für Angela
seinem Schützling einen zweiten Trainer Merkel. „Ich könnte für die Kanzlerin die
besorgt, den Rumänen Valentin Silaghi, Brücke zum Nahen Osten sein“, sagt Charr.
Gewinner einer olympischen Medaille, der Einer, der so zuhauen könne wie er, dem
hauptamtlich am Olympiastützpunkt in würden die Leute zuhören.
Heidelberg arbeitet. Der neue Coach ver-
mittelt Feigenbutz, der bislang eher den Malte Müller-Michaelis, Gerhard Pfeil

Video:

Im Ring mit Leon Bauer

spiegel.de/sp462017boxer
oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 46 / 2017 105

Wissenschaft+Technik

BRITTA PEDERSEN / PICTURE ALLIANCE / DPAKulinarik SPIEGEL: Deutsche Biere gel-
ten weltweit als besonders
„Hefepilze aus dem gut – zu Recht?
Zottelbart“ Raupach: Auf jeden Fall ha-
ben wir hier die angesehens-
Der Biersommelier und Mit- ten Ausbildungsstätten sowie
gründer der Deutschen Bier- die führenden Brautechnolo-
akademie in Bamberg, Markus giehersteller, Mälzereien und
Raupach, 43, über bizarre Hopfenhändler der Welt. Au-
Gerstensäfte, die Qualität der ßerdem schützt das Reinheits-
deutschen Brautechnologie gebot vor dem Einsatz pro-
und die Trinkrecherchen zu zessbeschleunigender Chemi-
seinem neuen Buch kalien. Also: ja. Das deutsche
Bier hat eine sehr stolze Ge-
SPIEGEL: Sie haben in den ver- schichte und seinen guten
gangenen Jahren mehr als Ruf zu Recht.
5000 verschiedene Biere pro- SPIEGEL: Liebhaber diskutie-
biert. Welches war das beste? ren derzeit viel über Craft-
Raupach: Das mag manche Beer-Hersteller, die manch
Leser überraschen, aber es bizarres Gebräu liefern.
war kein deutscher, sondern Raupach: Allerdings. Kürzlich
ein amerikanischer Bierstil: habe ich „Rogue Beard Beer“
ein Barley Wine. Es wurde getrunken, für dessen Her-
1999 gebraut und war 16 stellung der Brauer Hefepilze
Jahre perfekt gelagert wor- aus seinem Zottelbart iso-
den. Für Brauer ist das ein lierte. Erst habe ich mich
Schatz – das Bier schmeckte geekelt, aber das Gebräu
nach Marzipan und Trocken- war gut und schmeckte er-
früchten. Aber natürlich muss staunlicherweise nach Rosen
man nicht so weit fahren, und Jasmin. Nicht ganz so
um richtig gute Gebräue zu lecker war das schwedische
bekommen. Da kann man „Närke Bäver“, gebraut mit
auch getrost in Deutschland Castoreum, auch Bibergeil
und insbesondere in Franken genannt. Dabei handelt es
bleiben. sich um ein Sekret aus Haut-
säcken des Bibers, mit dem
Markus Raupach: „Bier: Geschichte und die Tiere ihr Revier markie-
Genuss“. Palm; 208 Seiten; 19,95 Euro. ren. Das Bier schmeckte
fürchterlich, nach Gummi
und Verwesung.
SPIEGEL: Haben Sie sich wäh-
rend Ihrer Trinkrecherche
auch schon mal den Magen
verdorben? Oder einen Kater
bekommen?
Raupach: Nein. Aber ich trin-
ke auch immer nur ein biss-
chen von den einzelnen Bie-
ren. Wenn ich die Gläser
leeren würde, wäre meine
Leber längst am Ende. gui

Fußnote Was guckst du?

732,2 Milliarden Was aussieht wie die glühenden Augen eines monströsen
Ungetiers, sind: Saugnäpfe. Und das Geschöpf wirkt nicht nur
E-Mails werden dieses Jahr in Deutschland versandt – Spam so, als wäre es einem Albtraum entsprungen. Es ist ein
bereits abgezogen. Das geht aus einer Analyse der Portale Schweinebandwurm, sein Hauptwirt der Mensch, sein Zwi-
GMX und Web.de hervor, bei denen mehr als 40 Millionen schenwirt das Schwein. Der Schmarotzer saugt und krallt
Postfächer registriert sind. Die Zahl ist so hoch wie nie und sich in der Dünndarmschleimhaut fest und wächst auf eine
bedeutet, dass jeder Bundesbürger etwa 25 E-Mails am Tag Länge von bis zu sieben Metern heran. Man bemerkt den Mit-
verschickt. Geschäftliche und private Post halten sich welt- bewohner meist nicht, klandestin lebt er im Unterleib, selten
weit betrachtet in etwa die Waage, schätzen die Anbieter. verursacht er Schmerz. Das Bild zählt zu den Gewinnern des
„Nikon’s Small World“-Mikro-Fotografiewettbewerbs 2017.

106 DER SPIEGEL 46 / 2017 Mail: [email protected] · Twitter: @SPIEGEL_Wissen · Facebook: facebook.com/spiegelwissen

Ökologie zu schärferen Umweltgeset-
zen und Renaturierungsmaß-
Rückkehr der nahmen, Flussufer wurden
zurückverwandelt in Über-
Störche schwemmungsgebiete. All
das zahlte sich aus: Von 179
Der Rhein ist in den vergan- Auenabschnitten im Rhein-
genen Jahren nicht nur saube- delta, die die Wissenschaftler
rer geworden, er lockt auch untersuchten, zeigen 137 eine
wieder deutlich mehr Tiere Zunahme der Biodiversität.
an. Zu diesem Ergebnis kom- Besonders die Artenvielfalt
men niederländische For- von Säugetieren und Vögeln
scher der Universitäten habe zugenommen, schreiben
Utrecht und Nimwegen nach die Forscher. Das gilt auch
der Analyse von etwa zwei für den Storch, der erheblich
Millionen Daten aus Feldbe- von der Renaturierung der
obachtungen. Jahrzehntelang Auen profitiert. Allerdings
wurden viele europäische reichten die Maßnahmen
Ströme begradigt und in en- nicht aus; zu alter Vielfalt
gere Betten gezwängt – das hätten die Tier- und Pflanzen-
half der Schifffahrt und mach- arten nicht zurückgefunden.
te den Rhein zur verkehrs- Dafür seien sie zu vielen
reichsten Binnenwasserstraße „Stressfaktoren“ ausgesetzt,
Europas. Es litten: Flora und bilanzieren die Forscher. gui
Fauna. Über die Jahre setzte
ein Umdenken ein; das führte

Einwurf

Ich bin die Angela

Viele Deutsche sehnen eine schwedische Duz-
kultur herbei, doch die taugt nicht als Vorbild.

Die Schweden begehen derzeit das Jubiläum einer Reform,

die das Land nachhaltiger verändert hat als die Gründung von

Ikea: Vor 50 Jahren unterbreitete der damalige Generaldirek-

tor der Gesundheitsbehörde seinem Personal, dass er fortan

geduzt und bei seinem Vornamen „Bror“ genannt werden

wolle. Dieser Moment wird als Stunde null der schwedischen

Duzkultur angesehen. Seitdem duzt dort (fast) jeder jeden.

Eine solche Regelung würde nach Meinung vieler Deut-

scher auch die hiesige Situation entspannen. Zumal wir be-

reits in einer Art Zwischenwelt leben, in der manch Prakti-

kant einfach so seine Chefin ankumpelt und umgekehrt Vor-

gesetzte den Neuling ungefragt ins „Du“ treiben.

Arbeitspsychologen und Soziologen sehen das durchaus

skeptisch, doch die Verfechter des Duzens lassen sich nicht be-

irren; gern verweisen sie auf das englische „You“. Linguistisch

betrachtet funktioniert der Vergleich aber gar nicht, denn

Engländer und Amerikaner differenzieren durchaus. Sie spre-

chen sich entweder mit Vor- oder Nachnamen an und pflegen

zusätzlich die gestelzten Anreden „Sir“ und „Madam“.

Im Falle Schwedens ist es wichtig zu wissen, dass es Bror

Rexed vor 50 Jahren nicht zuvörderst darum ging, für eine

kuschelige Arbeitsatmosphäre zu sorgen, sondern eine mittel-

alterliche Anredepraxis zu überwinden. Höhergestellte Per-

sonen wurden nämlich meist indirekt über Namen und Titel

angesprochen. Beispiel: „Wünscht der Generaldirektor Süß-

stoff zum Kaffee?“ Eine Absonderlichkeit, die nun nur noch

beim Umgang mit den schwedischen Royals gepflegt wird.

Da kann man froh sein, dass es in Deutschland keinen

TERESA ZGODA König mehr gibt, sondern bloß eine Kanzlerin. Im Falle einer

Duzreform nach schwedischem Vorbild dürfte hier also

wirklich jeder geduzt und beim Vornamen genannt werden.

Auch Angela. Guido Kleinhubbert

DER SPIEGEL 46 / 2017 107

208 Kilo Unglück

Psychologie Am Smartphone spielen, Süßes futtern, Schule schwänzen – viele
Jugendliche geraten in einen Strudel schädlichen Verhaltens, der ihr Leben zerstören
kann. Ein Forscher spricht bereits von einer neuen Krankheit: dem Iso-Syndrom.

M aurice war ein normaler Schüler, Tägliche Onlinenutzung* Schule fehlte. An einem Punkt waren sich
als er mit sieben seine erste Play- Mutter und Sohn einig: Durch das viele
station bekam. Der Junge spielte bei den 12- bis 19-Jährigen in Deutschland, Computerspielen gebe es „zu Hause oft
gern damit, aber noch ging die Schule vor. in Minuten ernsthaften Ärger und Streit“.
In der sechsten Klasse fing er an, auch mal
krankzumachen. Er hockte daheim vorm 99 Am Smartphone oder Computer spielen,
Bildschirm, aß Kartoffelchips, trank Cola Snacks futtern, Schule schwänzen – diese
und wurde dick. 2006 Phänomene träten mittlerweile bei so vie-
len jungen Leuten so oft zusammen auf,
In der zehnten Klasse war Maurice Clan- 117 dass man von einer neuen Krankheit spre-
führer im Spiel „Metin2“, einer fernöst- chen könne, sagt Wolfgang Siegfried, 62,
lichen Fantasysaga. Dort kämpfte er 2008 der Ärztliche Leiter der Insula. „Wir sehen
manchmal 24 Stunden am Stück. Maurice diese Trias so häufig – ich finde, sie ver-
fand es cool, um vier Uhr in der Nacht am 138 dient einen eigenen Namen.“
Rechner zu hocken und zu wissen: Alle
anderen sind jetzt im Bett. In die Schule 2010 Iso-Syndrom hat Siegfried das Leiden
ging er gar nicht mehr. Er wog 208 Kilo. getauft, I für Internetsucht, S für schulver-
131 meidendes Verhalten sowie O für Obesitas,
„Meine Mutter hat nicht mehr eingese- krankhaftes Übergewicht. Die Betroffenen
hen, dass ich mit 17 noch zu Hause bin 2012 hätten ein Symptom und bekämen die
und nix mache“, sagt Maurice, inzwischen zwei anderen hinzu. Jedes könne mit je-
18. Und er bekam mit, wie es „Metin2“- 192 dem verknüpft sein, sagt Siegfried. „Aber
Spieler aus seinem Clan erging, die waren aus unserer Wahrnehmung ist es schon so,
schon älter und ebenfalls extrem dick. „Ich 2014 dass am Anfang am häufigsten die Medien-
habe dann mit denen ein bisschen gelabert, sucht steht.“
und da ist mir irgendwann aufgefallen: So 200
will ich nicht leben.“ Das Erfinden einer neuen Krankheit
2016 birgt die Gefahr, dass normale Wechselfäl-
Seit einiger Zeit wohnt Maurice nun in le und gewöhnliche Verhaltensweisen in
der Insula, einem Rehazentrum für über- 2006 einen pathologischen Zustand umgedeutet
gewichtige Jugendliche und junge Erwach- werden. Es kann aber auch ein bisher über-
sene, das malerisch in den Berchtesgade- Quelle: Jim-Studie 2016 sehenes Problem in den Brennpunkt rü-
ner Alpen liegt. Maurice ist zwei Meter *Montag bis Freitag, Selbsteinschätzung, inkl. mobilen Endgeräten cken. Beim Iso-Syndrom geht es um drei
groß und so blass, als würde er die Nächte Phänomene, die jeweils ein Ausmaß er-
noch immer durchzocken. Er trägt graue reicht haben, mit dem niemand zufrieden
Klamotten, auf der Nase eine Brille mit sein kann.
starken Gläsern. In einer Gesprächspause
zieht er gleich sein Smartphone aus der Die Zahl der Kinder und Jugendlichen,
Hosentasche. die starkes Übergewicht haben, hat sich in
den vergangenen vier Jahrzehnten welt-
Maurice’ Geschichte lassen sich Dutzen- weit verzehnfacht, das offenbarte im Ok-
de zur Seite stellen. Eine 15-Jährige ist 1,65 tober eine Studie des Imperial College Lon-
Meter groß und wog am Tag ihrer Aufnah- don und der Weltgesundheitsorganisation.
me in die Insula 114 Kilo. Das Mädchen In Deutschland sind nach einer Erhebung
spielte, wie es in einem Fragebogen angab, des Robert Koch-Instituts 19 Prozent aller
täglich neun Stunden und 30 Minuten auf Menschen im Alter von 11 bis 17 Jahren
dem Smartphone und fehlte meistens in übergewichtig und 10 Prozent krankhaft
der Schule. Sie müsse immer mehr essen, dick. Letztere haben häufig erhöhten Blut-
erklärte die Jugendliche, um sich satt zu druck, Fettleber, Knick-Senk-Spreizfuß
fühlen. und nachlassende Insulinwirkung.

Ein 15-jähriger Gymnasiast, der bei Die Zeit, die junge Menschen mit Me-
einer Körpergröße von 1,84 Meter 138 Kilo dien verbringen, ist in den vergangenen
schwer war, sagte, er habe oft mehr geges- Jahren deutlich gestiegen. Im Jahr 1970 be-
sen, als ihm guttat, und jeden Tag „League schäftigten sie sich jeden Tag drei Stunden
of Legends“ oder „Minecraft“ gespielt. Je- und 27 Minuten mit Medien, so die Studie
doch habe er seine Spielzeit gut kontrol- „Massenkommunikation“. Neben Fernse-
lieren können. Seine Mutter, so zeigt die hen und Radio nutzten sie Zeitungen und
Akte, sah das genau anders. Dafür war ihr Magazine. Im Jahr 2015 verbrachten Ju-
entgangen, dass ihr Kind manchmal in der gendliche und junge Erwachsene jeden Tag

108 DER SPIEGEL 46 / 2017

Wissenschaft

PETER NITSCH / PLAINPICTURE

MARIA IRL / DER SPIEGEL MARIA IRL / DER SPIEGEL

Insula-Bewohner Maurice, Tom: „Wenn ich aufgestanden bin, habe ich gemerkt, mein Leben ist total inhaltslos“

sieben Stunden und 57 Minuten mit Me- sammenhang wurde in mehr als 30 wis- Generell scheint übermäßiger Medien-
dien. Der Zuwachs geht auf die Internet- senschaftlichen Untersuchungen nachge- konsum mit schlechten Leistungen in der
nutzung zurück. wiesen. Schule zusammenzuhängen. Viele Kinder
können sich kaum noch längere Zeit mit
So gut wie jeder in der Gruppe der 12- Da sich die tägliche „Screen Time“, also ihren Hausaufgaben befassen, weil sie wäh-
bis 19-Jährigen besitzt ein Smartphone die Zeit, die man auf einen Bildschirm renddessen auf ihr Smartphone schielen,
oder Mobiltelefon, drei Viertel von ihnen guckt, in den vergangenen 20 Jahren dra- Nachrichten verschicken oder spielen. Vor
haben einen eigenen Computer, wie die matisch erhöht hat, dürfte der Medienkon- einiger Zeit konstatierte eine Analyse des
Jim-Studie 2016 ergab. Und fast jeder zwei- sum einen immer stärkeren Anteil an der Kriminologischen Forschungsinstituts Nie-
te Jugendliche verfügt zu Hause über eine gegenwärtigen Adipositas-Epidemie ha- dersachsen: „Je mehr Zeit Schülerinnen
eigene mobile oder stationäre Spielkonso- ben. Wenn ein Jugendlicher sich viel mit und Schüler mit Medienkonsum verbrin-
le. Beide Geschlechter konsumieren elek- dem Internet beschäftigt oder oft Serien gen und je brutaler dessen Inhalte sind,
tronische Medien. Mädchen sind mehr in schaut, dann geht das zulasten seiner kör- desto schlechter fallen die Schulnoten aus.“
den sozialen Netzwerken unterwegs, Jun- perlichen Bewegung, wie eine Befragung
gen spielen Computerspiele. von mehr als 2000 jungen Leuten in Diese Zusammenhänge beweisen noch
Deutschland ergab. Und das begünstigt nichts, aber sie spiegeln sich in den Ge-
In Deutschland schwänzen rund eine Speckpolster, wie wiederum eine Studie schichten der jungen Leute, die in die In-
halbe Million Schüler regelmäßig den Un- unter Kindern und Jugendlichen in Iran sula kommen. Tom, ein 25-Jähriger mit Wu-
terricht, wie eine Studie der Bertelsmann- zeigte. Jene mit ausgeprägter Screen Time schelkopf, war als Kind zwar füllig, aber
und der Hertie-Stiftung vor einiger Zeit waren besonders bewegungsarm und über- oft an der frischen Luft, um mit Freunden
ergab – das entspricht einem Anteil von gewichtig, was sich an ihrem Taillenum- Fußball zu spielen. Als er 14 wurde, verän-
fünf Prozent der Schulkinder. Eine aktuel- fang ablesen ließ. derten sich zwei Dinge in seinem Leben.
le, genaue Statistik für den Bund fehlt, weil Seine alleinerziehende Mutter, die noch
die Schulen Sache der jeweiligen Bundes- Dicke Kinder werden in der Schule ge- eine Tochter bekommen hatte, litt nach der
länder sind. hänselt; viele bleiben lieber daheim vorm Geburt oft an Ängsten und Depressionen.
Monitor und tauchen in eine virtuelle Welt Und er bekam einen Internetanschluss.
Die drei Phänomene scheinen einander ab, in der sie nicht nach ihrem Aussehen
zu bedingen, darauf deuten etliche Stu- beurteilt werden – und ihre Identität wech- Tom fühlte sich verpflichtet, den Tag
dien hin. Wer viel vor der Mattscheibe seln können. über bei der Mutter und der kleinen
sitzt, neigt zum Übergewicht – dieser Zu-

DER SPIEGEL 46 / 2017 109

Den Eklat hat Siegfried zum An-

lass genommen, einen Medienraum

einzurichten, den die Patienten so-

fort „Game Zone“ getauft haben. Er

ist abgedunkelt und hat schwarze

MARIA IRL / DER SPIEGEL Lautsprecher und einen riesigen

Bildschirm. Vormittags nutzen die

Therapeuten den Raum, um das Me-

dienverhalten neuer Patienten zu er-

fassen. Nachmittags dürfen all jene,

die bei der Therapie gut mitmachen,

Diät halten und Gewicht verlieren,

hier spielen – allerdings nicht länger

als zwei Stunden in der Woche. Die

Insula-Therapeuten versuchen erst

gar nicht, den gegenwärtig 50 Pa-

tienten das persönliche Smartphone

zu verbieten – dann würden die

meisten wohl sofort abreisen.

Immer wieder sind die Ärzte und

Psychologen erstaunt, wie wenig

Eltern darüber wissen, was genau

ihr Kind mit dem Smartphone oder

dem Computer macht. Der Sozial-

MARIA IRL / DER SPIEGEL MARIA IRL / DER SPIEGEL arbeiter Tim Wanders gleicht die

Angaben der Kinder und der Eltern

ab und denkt oft: „Hey, das sind

doch Spiele ab 16 oder 18 – warum

hat euer 13-jähriges Kind diese

Spiele?“

Insula-Leiter Siegfried, Sozialarbeiter Wanders: „Hey, warum hat euer 13-jähriges Kind diese Spiele?“ Auch wenn es schnell zu Streit
führen könne, sollten Eltern schau-

en, was die Kinder spielen. „Natür-

Schwester zu bleiben, und er begann, weil Tom an einem achtjährigen Mädchen vor- lich muss man kontrollieren“, sagt Wan-

ihm langweilig wurde, „World of Warcraft“ beiging, so erzählt er, habe es gesagt: ders. Dabei gelte es, den Medienkonsum

zu spielen. Samstags begleitete er seinen „Pass auf, dass du mich nicht berührst! nicht gleich zu verteufeln, sondern sich er-

Opa beim Wocheneinkauf, um sich mit Meine Mama will das nicht.“ klären zu lassen, was die Kinder da tun.

Gummibärchen einzudecken, seine Leib- Die Leitung der Kinderpflegeschule do- Und je mehr Freizeitangebote man ihnen

speise, wenn er spielte. Die Schule schaffte kumentierte zwar sofort schriftlich, dass mache, desto geringer sei das Risiko, dass

er trotz der Fehlzeiten, aber sein berufs- nichts geschehen war, aber Tom war ent- sie in die virtuelle Welt abtauchten.

vorbereitendes Jahr brach er ab. Er schlief setzt. „Die Mama sagt der Kleinen, dass In der Insula erklärt Wanders den Ju-

bis zwölf Uhr und saß von da an bis um ich wahrscheinlich so ein ekliger, dicker gendlichen, warum Computerspiele wie

drei Uhr nachts am PC. Typ bin, der Kinder anfasst. Das hat mich Suchtmittel wirken können und was im

„Wenn ich aufgestanden bin, habe ich so erschüttert, dass ich da nicht mehr sein Netz mit den persönlichen Daten passiert.

gemerkt, mein Leben ist total inhaltslos. wollte.“ Tom ließ sich krankschreiben, Sein aufklärerischer Ansatz scheint zu

Das macht alles keinen Spaß“, erzählt spielte wieder exzessiv am Computer und fruchten.

Tom. „Dann habe ich gespielt, dabei konn- verlor am Ende die Ausbildungsstelle. Ge- Maurice hat 57 Kilogramm abgenom-

te man das gut wegdrücken, aber die wah- rade macht er seine zweite Therapie in men und glaubt, jetzt mit seiner Medien-

ren Gedanken waren, dass da nichts vo- der Insula. sucht klarzukommen. Er geht wieder zur

rangeht in meinem Leben.“ Anfangs dachten Wolfgang Siegfried Schule und hofft, in Bayern den qualifizie-

Schließlich wurde die Mutter auf die In- und seine Therapeuten, sie könnten neuen renden Hauptschulabschluss zu schaffen.

sula aufmerksam. Tom, der 1,93 Meter Patienten die Medien gleichsam kalt ent- Tom ist auf 117 Kilo runter, spielt weniger

groß ist, wog 152 Kilo, als er in der Heilan- ziehen. Maurice etwa war seine ersten und sagt, es gehe „wieder ein bisschen

stalt ankam. Tage im Zentrum vom Internet abgeschnit- bergauf im Leben“. Er träumt davon, Syn-

Die Ernährungsumstellung in der Insula, ten; dann rastete er abends plötzlich aus. chronsprecher zu werden.

psychologische Angebote und das Bewe- Er bedrohte eine Patientin und erzwang Wolfgang Siegfried arbeitet weiter da-

gungsprogramm halfen Tom, sein Gewicht sich so einen Zugang zum Internet. Die ran, die Befindlichkeiten seiner Patienten

auf 106 Kilo zu verringern. Und er begann junge Frau packte am nächsten Morgen zu erforschen. Sobald der Arzt hundert

eine Ausbildung als Kinderpfleger in einer ihre Sachen. Fälle ausgewertet hat, will er entscheiden,

Kinderpflegeschule. Doch dann beging er ob er der Fachwelt ein neues Leiden prä-

einen Fehler. In seine erste eigene Woh- sentieren kann.
Ob das Iso-Syndrom den Rang einer
nung stellte er sich einen PC. Er fing an, Tom sagt, es gehe „ein
nach der Arbeit zu spielen. Er ernährte eigenständigen Krankheit bekommt, wird
sich von Tiefkühlpizza und wurde wieder bisschen bergauf“. Er sich zeigen. Klar ist: Mediensucht, Fettlei-
dick. träumt davon, Synchron- bigkeit, Schulversagen – schon einer dieser

Der angehende Kinderpfleger, riesig sprecher zu werden. Umstände allein hat das Zeug, Kinder ins
wie ein Bär, war nicht jedem geheuer. Als
Unglück zu treiben. Jörg Blech

110 DER SPIEGEL 46 / 2017

Wissenschaft

Sushi für wie „Mann beißt Hund“. Oder wie eine schwer. Die Tiere scheinen am Klang der
Moby etwas unbeholfene Lobbykampagne für
höhere Fischfangquoten oder Subven- Motoren bestimmte Fischerboote wieder-
Verhalten Gefräßige Pottwale tionen.
zuerkennen – und dieses Wissen ihrem
und Orcas jagen Fischern ihren Dabei könnte der Futterneid genau da-
durch verschärft worden sein, dass seit Nachwuchs zu vermitteln.
Fang ab. Abschreckmanöver 1995 die Fangsaison verlängert wurde –
wodurch sich Wal und Mensch häufiger in Seit Jahren versucht eine Arbeitsgruppe
laufen ins Leere – die Tiere lernen die Quere geraten.
namens Southeast Alaska Sperm Whale
ständig neue Tricks. Eigentlich sind bei Konflikten zwischen
Land- und Meeressäugern Letztere stets Avoidance Project, die schlimmsten Wie-
Mensch jagt Wal, das kennt man im Hintertreffen, spätestens seit dem ers-
spätestens, seit Käpt’n Ahab ten Walfangboom Anfang des 19. Jahrhun- derholungstäter mit Trackingsendern zu
Moby Dick über die Weltmeere derts. Vor allem Pottwale wie Moby Dick
hetzte, kreuz und quer durch die mehr als waren damals begehrt. verfolgen, damit Fischer ihnen aus dem
800 Seiten des legendären Romans von
Herman Melville (1851): „Bis zum Letzten Unmengen dieser Tiere wurden zu Tode Weg tuckern können. Der Erfolg hält sich
ring ich mit dir, aus dem Herzen der Hölle gejagt, im Rekordjahr 1964 waren es rund
stech ich nach dir, dem Hass zuliebe spei 29 000. Die globale Population brach von in Grenzen, das Problem weitet sich aus.
ich meinen letzten Hauch nach dir!“ mehr als einer Million Tiere auf ein Drittel
zusammen, schließlich wurden Wale unter Längst kommen auch Schwertwale auf
Heute haben sich die Rollen scheinbar Schutz gestellt, woran sich auch die meis-
verkehrt: Der Jäger von einst fühlt sich ten Nationen halten. den Geschmack. Viele Exemplare der min-
von Walen verfolgt, jedenfalls vor Alaska.
Die Tiere lernten, dass ihnen kein Un- destens 1500 schwarz-weißen Schönlinge
Ganze Gruppen von teils 50 Schwert- heil mehr droht – im Gegenteil: Nun erle-
walen (Orcas) stellen Fischkuttern nach, ben sie den alten Todfeind als Wohltäter. im Meer vor West-Alaska lassen sich von
oft meilenweit. Sobald die Fischer ihre ha-
kenbewehrten Langleinen mit einem Fang „Wale machen die unglaublichsten Dinge den Fischern verwöhnen; dabei knabbern
aus Kohlenfisch oder Heilbutt aus der Tiefe mit Menschen“, sagt Janice Straley, Profes-
hieven, schlagen die hungrigen Wale aus sorin für Meeresbiologie an der University sie doppelt so viel vom köstlichen Kohlen-
dem Hinterhalt zu – und schnappen die of Alaska Southeast in Sitka. Vergebens
Beute von der Schnur. versuchen Fischer, die Pottwale mit Tricks fisch weg wie Pottwale, was die Erfolgs-
zu verjagen. Sie befestigen Kugeln, die
„Wir befinden uns in einer Art archai- die Ortung erschweren, an den Langleinen, quote der Fischer teils um 70 Prozent
schem Kampf“, sagte der Fischer Buck beschallen die Tiere mit tösendem Sonar
Laukitis aus Homer der Zeitung „Alaska oder krachendem Heavy Metal. Doch rasch drückt. Zu diesem Ergebnis kam unlängst
Dispatch News“. „Du weißt, wie du fi- lernen die riesigen Meeressäuger dazu –
schen musst, du weißt, dass da Fische sind, und fortan bedeuten Störgeräusche oder ein Beitrag im Fachblatt „ICES Journal of
du hast die Ausrüstung, du hast es oft ge- Musik für sie: Fressen fassen!
macht, aber die Wale können alles zunich- Marine Science“.
temachen“, so Laukitis. Und: „Wir sind ge- Zwar ist das Pottwalgehirn, gemessen
rade dabei, diese Schlacht zu verlieren.“ am Körpergewicht (bei Männchen oft über Weder das Verscheuchen noch die
30 Tonnen), kleiner als das des Menschen,
Kutterkapitäne fühlen sich ausgebeutet aber immerhin noch rund acht Kilogramm Flucht scheinen zu funktionieren. Daher
als Kellner, die den Meereslümmeln Sushi
à la carte servieren müssen, ohne Lohn, hofft man nun aufs Verschließen: Statt An-
ohne Dank, ohne Trinkgeld.
gelhaken, die verlockend frei zugänglich
Mehr als fünf Tonnen feinsten Heilbutt
hätten die tierischen Seeräuber ihm bereits sind, könnten sogenannte Pots, Fischfallen,
geklaut, beschwerte sich Kapitän Robert
Hanson unlängst bei der für die Fanggrün- die Beute vor den Wal-Gangs schützen,
de vor Alaska zuständigen Verwaltung für
Fischereiangelegenheiten. Auf der Flucht schlagen Meeresbiologen wie Boris Worm
vor der „ständigen Belästigung“ durch die
tierische Konkurrenz habe er 15 000 Liter von der Dalhousie University im kana-
Sprit verballert.
dischen Halifax vor: „Das erhöht die Qua-
Einmal spielte Hanson einfach toter
Mann. Er schaltete den Schiffsmotor aus lität des Fangs, weil die Fische lebend an
und wartete. 18 Stunden lang. Er habe ge-
hofft, dass sich die Unterwasser-Gang Bord genommen werden, und der Beifang
wieder verziehe, schrieb er in einem
Brandbrief an den Fischereirat: „Aber die reduziert sich.“ An Metallkäfigen sollten
lungerten einfach um mich herum.“ Nach
zwei Tagen gab Hanson entnervt auf. eigentlich selbst die gerissensten Meeres-

Fischer verarmen, und Moby wird dick? säuger scheitern. Oder?
Auf den ersten Blick wirkt das so absurd
„Ich traue Pottwalen fast alles zu“, warnt

Meeresbiologin Straley. „Das sind die

klügsten Tiere, mit denen ich je gearbeitet

habe.“ Hilmar Schmundt

Twitter: @hilmarschmundt

B.COLE / WILDLIFE

Orcas auf der Lauer: „Die lungerten einfach um mich herum“

DER SPIEGEL 46 / 2017 111

Wissenschaft

Flusen zupfen, Spreu pflücken

Medizin Viele alte Menschen geraten nach einer Operation in tiefe Verwirrung. Etliche werden
dadurch zum Pflegefall, nicht wenige sterben. Dabei lässt sich das „Delir“ oft verhindern.

LARS BERG / DER SPIEGEL re liegen ruhig im Bett, können aber kei-
nen klaren Gedanken fassen.
Patientin Olsen, Delir-Team des Uniklinikums Münster: „Da stimmt was nicht“
„Während meines Studiums habe ich lan-
M argarethe Olsen, 89, eine zierliche litt vielmehr an einem postoperativen De- ge in der Pflege gearbeitet“, erinnert sich
Dame mit schlohweißem Haar, lir. Diese Art von Delir hat nichts mit Al- Holger Reinecke, heute Leiter der Abtei-
liegt zugedeckt in ihrem Bett auf kohol zu tun, es ist ein Zustand tiefer Ver- lung für Angiologie am Universitätsklini-
der Orthopädiestation des Uniklinikums wirrung, der vor allem ältere Menschen kum Münster. „Ich weiß noch, dass man-
Münster. Vor rund zwei Wochen haben nach einer Operation oder bei einer schwe- che alten Patienten damals nach einer OP
Chirurgen ihre künstlichen Hüftgelenke ren Krankheit befallen kann – und zwar regelrecht durchgedreht sind. Mehrere sind
erneuert, die hatten sich gelockert. erschreckend häufig: Je nach Vorerkran- sogar aus dem Fenster gesprungen und zu
kungen und Art der Behandlung bekom- Tode gekommen.“
Die Operation hatte Olsen, die eigentlich men Studien zufolge 20 bis 80 Prozent der
anders heißt, gut überstanden, aber am Tag chirurgischen Patienten über 65 ein Delir. Insbesondere alte Menschen sind gefähr-
danach, auf der Intensivstation, war sie det. Da sie zunehmend größeren Opera-
plötzlich nicht mehr wiederzuerkennen. Der griechische Arzt Hippokrates (um tionen unterzogen werden, ist davon aus-
Unbedingt wollte sie aufstehen, sofort, nur 400 v. Chr.) kannte diesen Zustand; er be- zugehen, dass das Delir zukünftig häufiger
mit Mühe konnten die Pfleger sie zurück- schrieb die Delirierenden so: „Sie fuchteln auftritt.
halten. Olsen wusste nicht mehr, wo sie mit den Händen in der Luft umher, zupfen
war, sie redete wirr und hörte offenbar auf der Bettdecke Flusen und pflücken Trotzdem nehmen viele Ärzte es immer
Stimmen. „Es war wie am Telefon, wenn Spreu von der Wand.“ All diese Zeichen noch nicht ernst – oder diagnostizieren es
man den Hörer abnimmt“, erzählt sie heute. seien „ungünstig“. erst gar nicht. Helge Güldenzoph war über
„Ich habe gedacht: Da stimmt was nicht.“ 30 Jahre lang Leiter der Abteilung für Ge-
Manche Patienten schreien stundenlang, riatrie am Malteser Krankenhaus in Bonn.
Es war kein Anfall plötzlichen Irrsinns, versuchen, Infusionsschläuche herauszu- Er muss lachen, wenn er an die absurden
der sich da Olsens bemächtigt hätte. Sie reißen, beißen, irren nachts umher. Ande- Fehldiagnosen denkt, die er im Laufe der
Jahre anstelle der Diagnose „Delir“ in den
Verlegungsbriefen aus der Chirurgie gele-
sen hat. „,Seit drei Tagen dement‘ war ein
Klassiker“, erzählt er. Was natürlich nicht
sein könne, weil sich eine Demenz sehr
langsam, über Jahre hinweg, entwickle.

Oft verharmlosen Mediziner das Delir
als „Durchgangssyndrom“ oder sagen ab-
schätzig, der Patient sei „durch den Wind“.
Damit er den Stationsalltag nicht stört und
sich selbst nicht gefährdet, wird er mit se-
dierenden Medikamenten mitunter regel-
recht „abgeschossen“, wie es im Klinikjar-
gon heißt. Früher wurden solche durchge-
knallt wirkenden Kranken auch schnell
mal ans Bett gefesselt.

Dabei ließe sich das Delir in etlichen
Fällen verhindern, abmildern oder, wenn
es doch auftritt, erfolgreich behandeln –
mit großem Nutzen für den Patienten.
Denn anders als der Begriff „Durchgangs-
syndrom“ suggeriert, handelt es sich kei-
nesfalls um ein vorübergehendes Problem,
das stets folgenlos abheilt. Nach einem De-
lir bleiben Studien zufolge bei jedem zwei-
ten Betroffenen auf Dauer kognitive Defi-
zite, 40 Prozent der zuvor selbstständig le-
benden Patienten kommen im Alltag nicht
mehr zurecht und müssen dauerhaft ge-
pflegt werden. Die Sterblichkeit ist zeit-
weise um das 20-Fache erhöht.

Langsam erkennen einige Ärzte und
Forscher die Bedeutung des Delirs. In Stu-
dien konnte gezeigt werden, dass sich die
Delir-Raten durch Präventionsprogramme

112 DER SPIEGEL 46 / 2017

erheblich senken lassen: in einer Untersu- sich beispielsweise Begriffe Delir viel“, sagt Angiologe Rei-
chung an Patienten mit Hüftgelenksopera- über einen längeren Zeit- necke. „Da bricht man sich
tionen beispielsweise von 60 auf 7 Prozent. raum merken, komplizierte Die postoperative auch als Internist keinen
In anderen Studien an Operierten von Sätze nachsprechen, rück- Verwirrtheit tritt vorwiegend Zacken aus der Krone,
über 20 auf unter 5 Prozent. wärts rechnen, das Ziffer- wenn man einen Rat an-
bei älteren Patienten auf.

Anja Schneider, Direktorin der Klinik blatt einer Uhr zeichnen. nimmt.“

für Neurodegenerative Erkrankungen und Wer in diesem Test nicht Sollte ein Delir dennoch

Gerontopsychiatrie am Universitätsklini- gut abschneidet, dem lässt auftreten, muss es zuverläs-

kum Bonn, hat das Delir zu einem ihrer Dunings Team eine Rund- sig und rechtzeitig erkannt

Forschungsschwerpunkte gemacht. „Man umbetreuung angedeihen. werden. Was schwieriger

vermutet, dass es durch eine Entzündungs- Die Risikopatienten wer- ist, als man denkt, denn die

reaktion im Gehirn ausgelöst wird, die am den jeden Tag eine halbe Studien zufolge leiden bis zu Symptome kommen und

Ende zu einem Ungleichgewicht von Bo- Stunde lang von derselben 80 % gehen – das ist typisch für
tenstoffen führt“, sagt sie. Wirklich ver- Vertrauensperson besucht, den postoperativen Nebel
standen sei es aber noch nicht. es wird ihnen immer wie- der über 65-jährigen im Kopf. Wer das nicht
der gesagt, wo sie sind, wa- chirurgischen Patienten weiß und einen Patienten
Damit sich die Situation der Patienten rum sie im Krankenhaus in stationärer Behandlung nur fünf Minuten bei der
jetzt schon verbessert, hat ein Team um sein müssen und was als Visite sieht, kann ein Delir
den Neurologen Thomas Duning vor drei darunter.

Jahren an der Universitätsklinik Münster Nächstes mit ihnen passie- Die Sterblichkeit erhöht sich deshalb leicht übersehen.
die Stabstelle „Demenzsensibles Kranken- ren wird. „Das war sehr Und in knapp einem Drittel
haus“ eingerichtet. Wichtigstes Ziel: Delire schön“, erinnert sich Mar- dabei zeitweise um das der Fälle sind die Patienten
verhindern. garethe Olsen. „Weil diese zwar verwirrt – aber sehr,
Menschen mir auch sehr 20 -Fache. sehr still.
Viele Ärzte des Klinikums, die zunächst

skeptisch waren, hat Duning mittlerweile aufrecht begegnet sind.“ 40 % Das habe er erst lernen
überzeugt, auch den Angiologen Reinecke. Außerdem werden die müssen, berichtet Reine-
Früher, gibt Reinecke zu, sei er davon aus- Risikopatienten von Du- der Betroffenen sind nach cke. „Die Patienten sitzen

gegangen, dass es einem verwirrten Pa- nings Team zum OP beglei- einem Delir dauerhaft dann im Bett, sind schein-

tienten zu Hause automatisch wieder gut tet und nach der Operation auf Pflege angewiesen. bar glücklich und sagen ja,

gehe. „Es war ein Schock zu lernen, dass aus dem Aufwachraum ab- ja, ja.“ Früher habe er das

dem nicht so ist.“ geholt, Brillen werden ih- für den Idealzustand gehal-

Reinecke behandelt sehr viele alte Men- nen schnell wieder auf- und Hörgeräte ein- ten, inzwischen frage er lieber noch einmal

schen, oft mit einem klassischen Eingriff, gesetzt, damit Stress, Angst und Orientie- nach, ob die alte Dame oder der alte Herr

nicht sehr aufwendig, nicht sehr riskant: rungslosigkeit – alles mögliche Auslöser wirklich alles verstanden habe. „Und dann

Blutgefäße im Bein wieder durchgängig für ein Delir – gar nicht erst aufkommen. merkt man oft: Der Patient ist in einem

machen. Damit lassen sich Amputationen Auch eine Vollnarkose zu vermeiden und Delir und macht völlig dicht.“

verhindern. „Wir therapieren, damit unse- stattdessen lokal zu betäuben könnte güns- Patienten mit Delir werden in Münster,

re Patienten weiter ihr Leben leben kön- tig sein. anders als in vielen anderen Krankenhäu-

nen“, sagt er. „Aber was nützt es, wenn „Am Anfang wurden wir ja etwas belä- sern, längst nicht mehr einfach nur stark

jemand sein Bein behält, aber dann wegen chelt“, sagt Krankenschwester Liane Jan- sediert. „Medikamentös wird ganz vorsich-

anhaltender Verwirrung ins Pflegeheim ßen, die, bevor sie zu Dunings Team stieß, tig rangegangen“, sagt Krankenschwester

muss?“ in der Chirurgie gearbeitet hat. „Aber in- Janßen. Wer Stimmen höre und verwirrt

Wer geistig nicht mehr ganz auf der zwischen höre ich von meinen alten Kol- sei, bekomme zum Beispiel für kurze Zeit

Höhe ist, kann leichter ein Delir bekom- legen immer: ,Es ist so gut, dass es euch moderne, hochpotente Neuroleptika in

men – es ist wahrscheinlich der wichtigste gibt!‘“ Was das Krankenhauspersonal niedriger Dosierung, die das Denken wie-

Risikofaktor. Und einer, der im Klinikall- freut: Die Patienten sind umgänglicher ge- der ordneten, erklärt Duning. Erste Zahlen

tag leicht übersehen werde, sagt Duning: worden. Auf den besonders intensiv be- aus Münster belegen: Durch eine konse-

bei Patienten, die einfach nur ein bisschen treuten Pilotstationen konnte die Delir- quente Therapie lässt sich die Dauer eines

schusselig sind: „Wenn ein Rate mehr als halbiert Delirs von etwa zehn auf rund fünf Tage

Arzt während der Visite werden: von etwa 15 auf halbieren.

nett mit jemandem plau- nur noch 6 Prozent. Die Stabsstelle kostet circa eine halbe

dert, bekommt er eine Auch bestimmte Medi- Million Euro pro Jahr. Das Universitäts-

leichte kognitive Ein- kamente tragen zum Ab- klinikum Münster finanziert die Arbeit des

schränkung gar nicht mit.“ rutschen in die Verwirrt- Teams aus dem laufenden Etat. „Wir

Deswegen untersucht heit bei. Es gilt, diese zu machen keinen Gewinn“, gibt Duning zu,

Dunings Team alle Patien- vermeiden oder sie zumin- „im Gegenteil.“ Als er das Konzept vorge-

ten ab 65, die in den Ab- dest so niedrig wie mög- stellt habe, sei der Aufsichtsrat über die

teilungen für Orthopädie, lich zu dosieren. Ben- Kosten erschrocken gewesen. „Aber die

Unfallchirurgie und Ne- zodiazepine, die viele alte Probleme mit den vielen deliranten Patien-

phrologie der Uniklinik Menschen als Schlafmittel ten auf den Stationen wurden immer drän-

behandelt werden, und LARS BERG / DER SPIEGEL nehmen, fallen darunter, gender.“ Zudem könne das Klinikum zu-

auf Anfrage auch Risiko- ebenso einige Antibiotika mindest einen Teil der investierten Summe

patienten der anderen und Antidepressiva. Auch durch kürzere Liegezeiten und weniger

Fachbereiche. Um das Ri- Parkinson-Mittel sollten, aufwendige Pflege an anderer Stelle ein-

siko einschätzen zu kön- wenn möglich, reduziert sparen. „Am Ende“, sagt Duning, „haben

nen, überprüfen die Medi- werden. „Diese Beratun- alle gesagt: Wir müssen einfach den Mut

ziner die Hirnleistung. Neurologe Duning gen zu den Medikamen- haben, etwas zu machen.“

Dazu müssen Patienten Das Denken wieder ordnen ten bringen sehr, sehr Veronika Hackenbroch

DER SPIEGEL 46 / 2017 113

Wissenschaft

Liebreiz in befreit, meint Stiewe. Bis in die Gegenwart Selbst da, wo gutwillige Stadtväter die
behaupteten Gelehrte von zweifelhafter Renaissance des Fachwerks nach Kräften
Gesinnung, die Zimmerleute von einst hät- gefördert hätten, sei die Entwicklung von

Vollendung ten in der nach außen sichtbaren Orna- deren Nachfolgern torpediert worden. So
mentik germanische Geheimbotschaften wird die von restaurierten Fachwerkbau-
versteckt, etwa in Form von Runen. „Das ten dominierte Altstadt der niedersächsi-

ist Blödsinn“, sagt Stiewe, „dafür gibt es schen Rattenfängerstadt Hameln seit 2008

Architektur Ein Historiker überhaupt keinen Beleg.“ durch ein Einkaufszentrum verunstaltet,
preist das Fachwerk als geniale
Warum nur, wundert sich der Baufor- das wie ein Ufo in die Mittelalterkulisse

scher, stehen in Deutschland Tausende von geplumpst ist.

Baukunst – nun will er Fachwerkhäusern leer und gammeln ihrem Im mittelfränkischen Ansbach war vor

der mittelalterlichen Technik zu Abriss entgegen? gut 30 Jahren der reichlich vorhandene Be-
einer Renaissance verhelfen.
Der Bauhistoriker gehört zu einer Be- stand an Fachwerk zur Freude der Anwoh-

wegung von Heimatforschern, Geschichts- ner saniert worden. Seit Ende der Neunzi-

kundlern und Denkmalpflegern, die der gerjahre lockt allerdings ein in der Nach-

Der 8. Februar 1989 verändert alles Bauweise aus dem Mittelalter zu einem barschaft gelegenes Shopping-Quartier die
im Leben von Heinrich Stiewe: Auf zweiten Comeback verhelfen will; die ers- Kundschaft, sodass die liebreizende Alt-
dem Weg zur Universität Münster te Welle zeitgenössischer Fachwerkbegeis- stadt selbst zur Hauptgeschäftszeit einer

legt der Student einen Zwischenstopp ein, terung endete nach Meinung der Tradi- Ödnis gleicht.

um ein altes, verlassenes Bauernhaus zu tionalisten vielerorts im Desaster. Vorbei die Zeit, als deutsche Städte in

inspizieren. Der angehende Bauhistoriker In den Siebzigerjahren des vergangenen einer grassierenden Mittelaltereuphorie

gilt unter Fachleuten damals bereits als Jahrhunderts begannen neubaumüde Städ- darum zankten, welcher Ort das älteste

passionierter Kenner histo- Fachwerkhaus beherbergt.

rischer Baukunst. Dabei können die Bauhis-

Doch an diesem Tag be- toriker inzwischen anhand

geht er einen verhängnisvol- der Jahresringe im verbau-

len Fehler. ten Holz häufig punktgenau

Auf dem Dachboden des bestimmen, in welchem

westfälischen Hallenhauses Jahr die zum Bau eines Hau-

lässt er für kurze Zeit alle ses benötigten Bäume ge-

Vorsicht außer Acht; der fällt wurden. Das älteste

morsche Boden unter ihm Fachwerkhaus Deutschlands

gibt nach. Stiewe fällt knapp steht nach dem aktuellen

drei Meter tief und schlägt Stand der Forschung in Ess-

mit den Füßen zuerst auf. lingen am Neckar und wur-

Dann spürt er seine Beine de 1266 hochgezogen.

nicht mehr. Gelegentlich müssen Ge-

Seit diesem Tag ist Stiewe meinden nun sogar pein-

querschnittgelähmt. Aus ei- liche Umdatierungen hin-

gener Kraft kann der For- nehmen. In Göttingen etwa

scher, der heute im Freilicht- taxierten die Fachwerk-

museum Detmold arbeitet, HARTMUT REEH / DPA forensiker in jüngster Zeit

die Treppen eines Fachwerk- einen historischen Bau auf

hauses nicht mehr erklim- die Jahre 1425/1426, der zu-

men. Dieses Handicap hat vor auf das rekordverdäch-

den Mann indes nicht davon tige Jahr 1276 geschätzt wor-

abgehalten, etliche histori- Fachwerkhäuser in Freudenberg (Siegerland): „Murks der Deutschtümelei“ den war. Untersuchungen

sche Bauten in Europa per- brachten ans Licht, dass in

sönlich zu untersuchen. Für seine Inspek- ter, sich für die alten Bauern- und Bürger- dem Haus lediglich einige Balken aus frü-

tionen muss er Helfer organisieren, die ihn häuser zu interessieren. Gemeinden und herer Zeit erneut verbaut worden waren.

in die oberen Etagen schleppen. Städte hübschten die Fassaden ihrer ge- Verblüfft notieren die Historiker, dass

Inzwischen trage die Plackerei von Jahr- schichtsträchtigen Siedlungen auf und ver- die Technik des Fachwerkbaus offenbar

zehnten Früchte, meint der Forscher. Das schönerten dadurch das Erscheinungsbild bereits im Mittelalter ausgereift war. „Es

Fachwerk sei so gut erforscht wie nie zu- ihrer Ortschaften. Ein Scheinerfolg aus gab keine Evolution hin zum Besseren. Die

vor – und erhalte unter Experten endlich Sicht jener Puristen der Gegenwart, deren handwerkliche Holzbautechnik war schon

die gebührende Anerkennung. „Diese Bau- Ansichten etwa in der Zeitschrift „Der am Anfang vollendet“, schwärmt Stiewe.

weise ist genial – und genial einfach“, sagt Holznagel“ Ausdruck finden. Der Hausforscher bewohnt in seiner

Stiewe. Die Lebensqualität sei in den Do- Im Zuge von „katastrophalen Totalsa- westfälischen Heimatgemeinde natürlich

mizilen aus Gebälk, Bruchstein und Lehm nierungen“ sei vom alten Fachwerk mit- Fachwerk – ein starkes Bekenntnis an-

oft deutlich höher als in modernen Wohn- unter wenig mehr übrig geblieben als die gesichts der Tatsache, dass Stiewe sich in

silos; die Ökobilanz der verwendeten Bau- Fassade und das stützende Holzgerippe, einem solchen Haus beinahe das Genick

stoffe falle für herkömmliche Neubauten sagt Stiewe. „Viele Häuser, die im Origi- gebrochen hätte. Frank Thadeusz

im Vergleich verheerend aus. Zudem trot- nalzustand erhalten waren, wurden ihrer Video: Was macht ein gutes
Fachwerkhaus aus?
zen die elastischen Holzkonstruktionen historischen Bausubstanz beraubt“, klagt

sogar Erdbeben und Orkanen. er – durch Haustüren aus Aluminium,

Auch vom „Murks der Deutschtümelei“ Fenster aus Kunststoff und einem moder- spiegel.de/sp462017fachwerk
sei die urtümliche Baukunst inzwischen nen Innenausbau aus Beton. oder in der App DER SPIEGEL

114 DER SPIEGEL 46 / 2017

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GIUSEPPE CACACE / AFP

GIUSEPPE CACACE / AFP

Jacques-Louis-David-Gemälde GIUSEPPE CACACE / AFP
„Napoleon überquert die Alpen“,
um 1800, Gilles-Guérin-Skulptur

„Pferde der Sonne“, um 1670,
Innenraum des Louvre Abu Dhabi

Museen ge Geld, um deren Kultur bewundern zu dürfen. Es gab viel
Kritik an der Idee, Meisterwerke des Abendlands dort auszu-
Licht in der Wüste stellen, wo es lange weder Kunstgeschichte noch ein passen-
des Bürgertum dafür gab. Na und? Die Herrscher der Emirate
Auf einer Sandinsel im Persischen Golf wird an diesem Wo- haben ihre Scheichtümer zu Knotenpunkten im globalen Hin
chenende nach zehnjähriger Bauzeit und mit fünfjähriger Ver- und Her gemacht und erweitern ihr Portfolio jetzt um Kunst.
spätung der Louvre Abu Dhabi eröffnet, ein – wie es heißt – Längst sind große Museen und ihre Besucher so universal, wie
„universelles Museum für das 21. Jahrhundert“. Das Emirat es ihr Anspruch immer schon war. In Tokio wird gerade van
bezahlt knapp eine Milliarde Euro, um 30 Jahre lang den Gogh gezeigt, im Museum von Melbourne bald die Geschichte
Namen Louvre sowie Expertise und Fundus französischer Mu- der Wikinger. Apropos: Die ägyptische Sammlung im Origi-
seen zu verwenden. Die linsenförmige Kuppel des Gebäudes nal-Louvre ist von Napoleon zusammengeräubert worden. Es
von Jean Nouvel soll das Zwielicht einer Medina oder eines ist nicht weniger absurd, in Berlin-Dahlem eine der reichsten
Palmenhains wiedergeben. Folgen sollen bis 2025 ein Natio- Sammlungen aus der Südsee anzuhäufen, als in Abu Dhabis
nalmuseum und ein Ableger des Guggenheim, jeweils entwor- Wüste ein Madonnenbild Giovanni Bellinis hängen zu haben.
fen von Norman Foster und Frank Gehry. Eine ehemalige Jedenfalls ist die Provenienz geklärt. asm
Kronkolonie zahlt einer ehemaligen Kolonialmacht eine Men-

Literatur und alle sollen staunen. Prä- Reich – Szenen auf dem Weg JOEL SAGET / AFP kamen. Die Jury erkennt da-
miert wird ein Buch, aber in die Katastrophe, die den mit eine deutliche Tendenz in
Flüstern und damit ist auch eine Deutung Zeitgenossen entweder unbe- der französischen Literatur
Strippenziehen des ganzen Landes impliziert. deutend oder großartig vor- an, die Belletristik mit den
So geschieht es auch in die- Mitteln der Wissenschaft
Es gibt in Frankreich Jahres- sem Jahr: Der Prix Goncourt Vuillard oder der journalistischen Re-
zeiten, die hierzulande un- für Éric Vuillards „L’ordre cherche zu verbinden. Das
bekannt sind. Eine davon ist du jour“ ist eine ordentliche gilt auch für das Buch über
„la rentrée“, jene Woche Überraschung. Denn es han- die letzten Jahre von Josef
nach den Sommerferien, in delt sich um eine Mischform Mengele in Südamerika des
denen die Schule wieder be- von historischer Darstellung Journalisten Olivier Guez,
ginnt. Alle zeigen ihre neuen und literarischer Erzählung. der den Prix Renaudot er-
Kleider und fragen sich: Wie Vuillard schildert Episoden hielt. So erweitert das litera-
steht es um Frankreich? Eine aus der Geschichte des rische Establishment in Paris
weitere solche Jahreszeit ist 20. Jahrhunderts: die Sitzung, das Feld der Belletristik und
die Saison der Literaturprei- in der deutsche Unternehmer erhöht die Relevanz der
se. Im November kommt das beschlossen, für Hitler zu ohnehin schon beneidenswert
monatelange Lesen, Flüstern spenden, und den Anschluss gut aufgestellten französi-
und Strippenziehen der di- Österreichs an das Deutsche schen Literatur. nm
versen Jurys zum Abschluss,

116 DER SPIEGEL 46 / 2017

Kunstmarkt worden, der Meister habe den Kultur
Entwurf geliefert und „nur
Erlöser als Trophäe hier und dort etwas überar- Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
beitet“. Bemerkenswert auch:
Am kommenden Mittwoch Das Werk werde nicht in All das, na klar
will Christie’s in New York damaligen Quellen erwähnt –
ein Gemälde versteigern, das im Gegensatz zu allen ande- Hannah Arendt: beste Gesellschaft. Das
zum Streitfall werden könnte. ren nach 1497 entstandenen wird sich auch der Mann im tauben-
Das Auktionshaus preist die Bildern Leonardos. Der Jesus blauen Anzug gedacht haben, grauer
Jesusdarstellung als eines der in Erlöserpose, ein „Salvator Schopf, Stimme weich, im Engli-
wenigen erhaltenen Werke Mundi“, tauchte 2005 an der schen gerade mäßig genug, um bei
des Italieners Leonardo da Oberfläche des Kunstmarkts seinem Vortrag auf das allgemeine
Vinci an. Schätzpreis: 100 Mil- auf: Ein Konsortium erwarb Wohlwollen rechnen zu dürfen.
lionen Dollar. Der in Leipzig die Tafel aus amerikanischem Im legendären Bard College bei
lehrende Kunsthistoriker Privatbesitz, ließ das Werk
Frank Zöllner hält die Zu- restaurieren. 2011 wurde es in New York, akademische Heimat der Phi-
schreibung jedoch für „über- einer Schau in London als losophin Arendt und ihres Mannes Heinrich Blücher, bei-
trieben“, sie sei dem „Gesetz Schöpfung Leonardos vorge- de Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutsch-
der Sensation“ geschuldet stellt. 2013 ging es für 127,5 land: Marc Jongen, ein Schüler Peter Sloterdijks und so-
sowie dem Wunsch, „eine Millionen Dollar an den Mil- genannter Vordenker der neuen Rechten, mit deren
Trophäe“ im Angebot zu ha- liardär Dmitri Rybolowlew, ungustiösen Reflexionen sich zu befassen allenthalben
ben. Es handle sich um die einen gebürtigen Russen. Da empfohlen wird. Was mich betrifft, so kann ich seit dem
„Zuspitzung auf einen Maxi- ist der jetzige Schätzpreis fast Besuch einer höheren Schule in Nordrhein-Westfalen,
malautor“ – dabei sei das Bild ein Schnäppchen. uk vielen Dank, liebe Bildungsreformer, noch immer im
eher von Gehilfen geschaffen Halbschlaf abmurmeln, wie man von der raunenden Be-
fassung mit den alten Griechen über den Heilsgedanken
Filme spektiv zu Wort kommen. der Nation unter Zuhilfenahme eines wohlinszenierten
Pölking und Pollfuß verlassen empörten Volksempfindens in eine reale wie moralische
Evas Pirouetten sich auf den naiven Blick der Trümmerlandschaft gerät; das zu verstehen ist kein
Hexenwerk und sogar möglich, ohne Martin Heidegger,
Lässt sich ein monumentaler Zeitgenossen, die alles sehen, Carl Schmitt et alii im Original zu buchstabieren. Zu den
wenigen positiven Folgen der wahren deutschen Bil-
Verbrecher nur mit einem aber nichts verstehen. Zudem dungskatastrophe gehörte immerhin beinahe siebzig Jah-
re lang, dass bestimmte Vokabeln kontaminiert waren
monumentalen Werk darstel- reichern sie die Stummfilme und so der Unbefangenheit entzogen. Inzwischen haben
wir uns wieder an Figuren gewöhnen müssen wie einen
len? Der Regisseur Hermann mit Texten an, denen häufig ex-linken Dogmatiker, vormals Redakteur der Zeitschrift
„konkret“, der sich vorstellt mit dem Satz: „Mein Name
Pölking und sein Produzent jede Beziehung zum Gezeig- ist Jürgen Elsässer, und meine Zielgruppe ist das Volk.“
Und es ist offenbar auch nicht zu ändern, dass in so schö-
Thorsten Pollfuß sind davon ten fehlt. Da dreht Eva Braun ner wie naiver Verkennung der Idee des herrschaftsfreien
Diskurses Denker-Darsteller wie Jongen sich im befreun-
offenbar überzeugt. Ihre Pirouetten auf Schlittschuhen, deten Ausland als Opfer deutschen Rigorismus vorstellen
dürfen, der ihnen zu Hause das Reden verbiete. Es darf
Dokumentation aber daran erinnert werden, dass die Partei, als deren
Abgeordneter der Mann im taubenblauen Anzug tätig ist,
Wer war Hitler, die sich die Zeit im historischen Wartestand mit Vergnü-
gungen vertreibt, auf die Jongen am College Hannah
nun in die Kinos Arendts jedenfalls ungern angesprochen würde.

kommt, zieht sich In der Facebook-Gruppe „Die Patrioten“, die Dutzen-
de AfDler zählt, erschien kürzlich, drei Wochen nach
in der Kinoversion Jongens Vortrag in New York, eine Collage mit dem Ge-
sicht Anne Franks auf einer Pizzapackung und der Auf-
über gut drei, in schrift „Die Ofenfrische. Locker & knusprig zugleich“.
Soll man das – inzwischen entfernt, juristische Verfol-
der Festivalfassung gung garantiert – beschweigen? Ich denke nein. Denn
wenn sich dieser Trupp deutschnationaler Ungustln aufs
sogar über mehr historisch Episodische beschränkt, dann werden wir das
nicht der argumentativen Widerlegung und feinsinnigen
als sieben Stunden Entzauberung ihres akademischen Personals verdanken,
sondern der schlichten und wiederholten Feststellung,
hin. Die beiden mit wem wir es hier zu tun haben, wer hinter denen pö-
belt und marschiert, die gepflegt mit dem Taktstock we-
haben gründlich in deln und so Sätze säuseln wie: „Of course I’m against di-
scrimination, racism and all that.“ Auch Jongen ist gegen
Archiven recher- BPK Diskriminierung, Rassismus und dieses ganze Zeug.

chiert und eine Braun in „Wer war Hitler“ Dieses „all that“ hat mir am besten gefallen.

Filmbiografie der An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und Nils Minkmar im Wechsel.

besonderen Art erstellt: ein und dazu wird ein Hitler-Text DER SPIEGEL 46 / 2017 117

wildes Sammelsurium aus verlesen, in dem es um vieles,

Amateur-, Wochenschau- und aber nicht um Eva Braun

Propagandafilmen, die das geht. Da wird aus der Predigt

Leben Adolf Hitlers aus- des Bischofs von Galen zi-

schließlich aus der Sicht von tiert, der die Euthanasie kriti-

Zeitzeugen dokumentieren. sierte, und das Bild eines

Der künstlerische Anspruch Mannes beim Pfeiferauchen

erinnert an Claude Lanz- gezeigt, der definitiv nicht

manns geniales Großprojekt der Bischof ist. Die Filmema-

„Shoa“, doch leider wird cher sind stolz auf ihr „sur-

„Wer war Hitler“ diesem An- realistisches“ Verfahren, die

spruch nicht gerecht. Lanz- Zuschauer dürften am Ende

mann ließ Überlebende und eher befremdet und kein biss-

Täter des Holocaust retro- chen klüger sein. dy

#MeToo und die Folgen Seit vor fünf Wochen die Übergriffe des Diskriminierung und sexueller Gewalt berichtet. Es ist auch eine
Filmproduzenten Harvey Weinstein bekannt wurden, haben Debatte über Rollenbilder und notwendige Grenzen. Männer sind
unzählige Frauen unter dem Hashtag #MeToo von Erfahrungen mit davon ebenso betroffen, wie der Fall Kevin Spacey zeigt.

„Die neue Frau ist der alte Mann“

SPIEGEL-Gespräch Warum sie will, was er will: Die Psychologin und Buchautorin Sandra
Konrad, 42, behauptet, dass sich Frauen noch immer dem männlichen Begehren unterwerfen.

SPIEGEL: Frau Konrad, seit der sexuellen die Bilder, denen wir ausgesetzt sind, in der Konrad: Weil sie geschockt sind, weil sie
Revolution sind rund 50 Jahre vergangen, Werbung, in der Pornografie. Da werden Angst haben und weil sie zu wenig Rückhalt
aber die große #MeToo-Debatte der ver- Frauen tatsächlich zu Objekten gemacht. in der Öffentlichkeit bekommen. Die Frau-
gangenen Wochen hat gezeigt, dass Grap- SPIEGEL: Die Vielzahl der sexuellen Über- en sind mit der Abwehr ihrer Ohnmacht
schen und Übergriffe jeden Tag zigfach ge- griffe ist erschreckend, aber auch, dass sie beschäftigt, oft versuchen sie sogar, so zu
schehen. Sind Frauen für Männer immer offensichtlich über Jahre verschwiegen tun, als ob alles okay wäre. Auf diese Weise
noch Objekte? wurden. Wieso war die Hemmschwelle für unterstützen sie unbewusst die Missstände.
Konrad: Wir müssen unterscheiden zwi- Frauen so hoch, sich offensiv zu wehren? SPIEGEL: Der Versuch, souverän zu sein, be-
schen intimen Liebesbeziehungen und der Konrad: Sie ist noch immer groß. Die Frau- wirkt genau das Gegenteil?
Öffentlichkeit. Die Machtverhältnisse in en, die im Fall Harvey Weinstein an die Konrad: Niemand will Opfer sein. Selbst
Beziehungen sind viel ausgeglichener ge- Öffentlichkeit gegangen sind, haben selber wer eine Gewalttat erlebt hat, wehrt diese
worden. Wenn Liebe im Spiel ist, dann ist Macht, es sind Frauen, die prominent sind. Rolle erst mal ab. Sie passt nicht zum
bei Männern und Frauen das Bedürfnis Hätten sie diesen Schritt viele Jahre eher Selbstbild der allermeisten: Wir wollen
nach einer partnerschaftlichen Lösung unternommen, dann wäre ihnen die Erfah- stark sein, souverän, selbstbewusst. Das
groß. In der Öffentlichkeit sieht es ganz rung der allermeisten Frauen nicht erspart ist das zeitgemäße Frauenbild. Es nimmt
anders aus. Sexismus wird gepusht durch geblieben: Übergriffe werden verleugnet den Frauen aber den Spielraum, sich und
oder bagatellisiert, die Opfer werden be- anderen einzugestehen, dass sie auch heu-
Sandra Konrad: „Das beherrschte Geschlecht. Warum schämt. Oft wird ihnen sogar eine Mit- te noch in bestimmten Situationen zum
sie will, was er will“. Piper; 384 Seiten; 24 Euro. Erscheint schuld gegeben. Opfer gemacht werden. Dass sie unter Se-
im Dezember. SPIEGEL: Wieso fällt es weiblichen Opfern xismus und natürlich unter sexualisierten
Das Gespräch führten die Redakteure Tobias Becker und so schwer, angemessen zu reagieren? Übergriffen leiden.
Claudia Voigt.

JAN-PETER BOENING / LAIF

#MeToo-Demonstration: „Frauen haben mehr Macht, als ihnen bewusst ist“

118 DER SPIEGEL 46 / 2017

Kultur

SPIEGEL: Frauen wollen nicht mehr das geht es, um die Frage: Warum schweigen mit Freundinnen zu Sextoy-Partys wie frü-
schwache Geschlecht sein – und werden Frauen? Dahinter steht die jahrhunderte- her zu Tupperpartys, sie gucken Pornos,
es durch diesen Wunsch umso mehr? lange Beschämung des weiblichen Ge- sie tindern und suchen sich dort gezielt
Konrad: Zumindest dann, wenn wir die Rea- schlechts. Die fixe Zuschreibung, dass jüngere Partner, sie haben One-Night-
lität von Verletzungen und damit auch uns Frauen, die sich wehren, nerven, dass sie Stands und Affären und sprechen offen da-
selbst verleugnen. Seit Jahrhunderten wird zu laut sind, zu fordernd. rüber. Und doch schreiben Sie in Ihrem
Frauen gesagt, wie sie ihre Sexualität leben SPIEGEL: Welche Rolle spielen die Männer Buch, Frauen seien sexuell nicht befreit.
sollen. Das setzen wir auf diese Weise sehr dabei? Ist das nicht eine gewagte These?
subtil fort. Konrad: Die allermeisten können sich nicht Konrad: Ich unterscheide zwischen sexuel-
SPIEGEL: Im Dezember wird ein Buch von vorstellen, wie das ist, wenn man sich ler Freiheit und sexueller Selbstbestim-
Ihnen zum Thema weibliche Sexualität er- einen blöden Spruch nach dem anderen mung. Mit der Freiheit kamen für die Frau-
scheinen, das den Titel „Das beherrschte anhören muss, wenn man ständig damit en neue Normen. Heute gilt es, sexuell
Geschlecht“ trägt. Sie haben dem Buch rechnen muss, irgendwie angefasst zu wer- aufgeschlossen zu sein, vieles auszupro-
ein Zitat von Oscar Wilde vorangestellt: den. Weil Männer so etwas kaum erleben, bieren und mitzumachen. Aber was ist mit
„Alles in der Welt dreht sich um Sex. fällt es ihnen mitunter schwer, empathisch den Frauen, die noch gar nicht wissen, was
Außer Sex. Bei Sex geht es um Macht.“ zu sein. Die gute Nachricht ist, dass dies – sie wollen? Es ist unattraktiv geworden,
Haben Frauen nicht längst so viel Macht, zumindest bei manchen – nun geschieht. als Frau Nein zu sagen.
dass das nicht mehr gilt? Wir leben in einer Welt und in einer Zeit, SPIEGEL: Wie kommen Sie darauf?
Konrad: Frauen haben mehr Macht, als in der Männer und Frauen nicht mehr ge- Konrad: Ich habe viele Interviews mit Frau-
ihnen bewusst ist. Aber sie trauen sich oft geneinander kämpfen sollten. en geführt, und gerade bei den jüngeren
nicht, diese Macht auch auszuüben. Durch SPIEGEL: Für Sie ist #MeToo keine Ge- ist mir diese Haltung wiederholt begegnet:
die prominenten Frauen, die sich in der schlechterkampfdebatte? Ich bin jung, ich bin hip, ich tindere, ich
#MeToo-Debatte geäußert haben, bekom- Konrad: Es gibt verschiedene Fraktionen: mache mit. Aber es fehlt das Bewusstsein
men jetzt auch normale Frauen einen Zu- Frauen, die mit den Frauen mitfühlen. für die eigenen Bedürfnisse und Grenzen.
gang zum Neinsagen. Das ist das Tolle da- Frauen, die mit der männlichen Macht Was mich in den Gesprächen mit diesen
ran – dass Frauen endlich Grenzen setzen, koalieren. Und Männer, die alles von sich jungen Frauen am meisten überraschte,
dass sie sagen: Das tut mir weh, das möch- weisen und Nebelbomben werfen. Das ist war die Diskrepanz zwischen Selbstbild
te ich nicht mehr. wie immer. Was diesmal neu ist: Es gibt und Verhalten: Sie sprachen von Macht
SPIEGEL: Ist so viel Optimismus wirklich Männer, die reflektieren und diesen Pro- und Selbstbewusstsein, verhielten sich
schon angebracht? zess auch öffentlich machen. In der #Me- aber absolut angepasst, norm- und regel-
Konrad: Nun ja. Eine der ersten Schauspie- Too-Debatte zeigt sich viel Solidarität zwi- konform. Sie beteuerten, selbstbestimmt
lerinnen, die sich zum Fall Weinstein ge- schen Männern und Frauen. zu sein, und berichteten gleichzeitig, wie
äußert hat, twitterte: „Ladys, euer Schwei- SPIEGEL: Frauen engagieren heute Stripper sie physisch und psychisch über ihre Gren-
gen ist ohrenbetäubend.“ Genau darum für Junggesellinnenabschiede, sie gehen zen gegangen sind, und zwar nicht um ihre

WATTIE CHEUNG / CAMERA PRESS / PICTURE PRESS

Popstar Cyrus: „Den Körper als Währung und Ware einsetzen“

DER SPIEGEL 46 / 2017 119

Kultur

MARIA FECK / DER SPIEGELbewertet. Das normative Bild heut-nografie und Prostitution eine große Rolle,
zutage ist das der aufgeschlossenen, die Sexindustrie und deren wirtschaftliche
Psychologin Konrad promisken Frau. Dagegen gibt es Interessen. Auch die sozialen Medien.
nichts einzuwenden. Es wäre nur SPIEGEL: Mädchen und junge Frauen insze-
Wo ist das weibliche Begehren? schön, wenn sich jede Frau erst mal nieren diese Bilder von sich zum Teil selbst.
selber befragen würde, was ihre Auf Instagram zeigen sie sich in Pin-up-
eigene Lust zu erkunden, sondern um Wünsche sind. Posen.
Männern zu gefallen. SPIEGEL: Sie schreiben, weibliche Se- Konrad: Wie bewusst ist den jungen Frauen,
SPIEGEL: Miley Cyrus fasst sich in einem xualität habe sich nicht emanzi- was da passiert? Wir leben in Zeiten eines
berühmten Musikvideo zwischen die Bei- piert, sondern lediglich maskulini- globalen Narzissmus. Macht wird auch
ne, so wie viele Jahre zuvor Elvis oder Mi- siert. Was soll das sein: „maskuline über den Blick von anderen generiert. Das
chael Jackson. Ist das ein starkes Symbol Sexualität“? ist aber eine brüchige Macht, die ist in dem
für das neue sexuelle Selbstbewusstsein Konrad: Die neue Frau erscheint in Moment weg, wo der andere sagt: Du bist
der Frau? vielerlei Hinsicht wie der alte dick, du hast Cellulite oder Falten, du bist
Konrad: Miley Cyrus ist ein Prototyp des Mann: Frauen sollen heute sexuell alt geworden.
immer noch sexistischen Zeitgeistes: Als aktiv sein, und sie sollen Sex und SPIEGEL: Warum wollen Frauen gefallen:
15-Jährige trug sie einen sogenannten Pu- Gefühle fein säuberlich trennen die 17-Jährigen genauso wie 50-Jährige,
rity Ring und versprach, bis zur Ehe ent- können. Besonders in jungen Jah- die sich ihre Falten wegspritzen lassen?
haltsam zu bleiben. Mit 24 gibt sie die Sex- ren unterdrücken viele die Sehn- Konrad: Das ist die Tradition, in der das
bombe und beschwört ihre vermeintliche sucht nach einer Liebesbeziehung, Frauenbild steht. „Will er mich“ ist wichti-
sexuelle Befreiung. Aber ist es tatsächlich um nicht schwach und abhängig zu ger als „Was will ich“. Frauen hatten über
ein Zeichen für die Befreiung und Eman- erscheinen. Jahrhunderte nur eine Möglichkeit, an
zipation der Frau, wenn sie ihre Erotik ver- SPIEGEL: Die sexuelle Selbstbestim- Macht zu kommen: über ihre Äußerlich-
marktet? Ich glaube, dass in der fortschrei- mung der Frauen ist also nicht so keit. Heute hätten sie viel mehr Möglich-
tenden Sexualisierung der Frau für viele weit fortgeschritten wie die sexuelle keiten, viele Frauen nutzen die ja auch,
Frauen ein Problem liegt. Nicht für alle, Freiheit? aber die junge Generation scheint wieder
aber für viele. Konrad: Es gab Machtverhältnisse, zurückzufallen in alte Muster.
SPIEGEL: Die Selbstinszenierung von Pop- und es gibt sie noch heute. Aus mei- SPIEGEL: Wieso schwingt das Pendel zu-
stars wie Miley Cyrus trägt für Sie zu die- ner Sicht ist die Fremdbeherrschung der rück?
sem Problem bei? Frau heute in eine Selbstbeherrschung Konrad: Na ja, wie werden die jungen Frau-
Konrad: Na ja, Superstars mögen von die- übergegangen. Viele gesellschaftliche For- en und auch die jungen Männer heute so-
sem sexualisierten Image profitieren, aber derungen haben sich zu weiblichen Wün- zialisiert? Unter anderem durch Pornogra-
gilt das auch für normale Mädchen? Miley schen gewandelt. Weshalb viele Frauen fie. Wir dürfen die Bilder nicht unterschät-
Cyrus ist ein Vorbild, über das Millionen sich selber glauben machen, sie wollten zen, mit denen wir überflutet werden.
von Teenagermädchen lernen, wie wichtig das alles so. Aber unterm Strich hat sich SPIEGEL: Können die Zuschauer und Zu-
es ist, sexy zu sein, sie sehen, dass man für sie wenig geändert. Sexuelle Freiheit schauerinnen von Pornos denn nicht un-
den Körper auch als Währung und Ware bedeutet heute wie damals: Sie will, was terscheiden zwischen Fiktion und Realität?
einsetzen kann. er will. Bei gewalttätigen Kriminalfilmen gelingt
SPIEGEL: Gab es diese Art von Vorbildern SPIEGEL: Ist der Mann besser dran? ihnen das doch in der Regel auch.
nicht immer schon? Konrad: Ich glaube, dass beide Geschlechter Konrad: Es gibt dazu verschiedene, sich
Konrad: Es gehört zur Geschichte der weib- unter starren Rollenbildern leiden. Denken zum Teil widersprechende Studien. Wel-
lichen Sexualität, dass von außen bestimmt Sie an die klassische Pornografie: der gro- che Folgen der enorme Pornokonsum für
wurde, was richtig und was falsch ist: Die Kinder und Jugendliche hat, wissen wir
Frau war entweder zu lustvoll oder zu lust- „Welche Folgen hat der daher noch nicht mit Sicherheit. Es ist ein
los. Sogar der weibliche Orgasmus wurde Pornokonsum für Jugend- gesellschaftliches Großexperiment. Ich bin
liche? Es ist ein gesell- davon überzeugt, dass all die Bilder – nicht
schaftliches Experiment.“ nur Pornografie, auch die sexualisierten
Bilder auf Instagram – ins Unbewusste ein-
be Mann, der immer will und kann, der sickern. Denken Sie an den Ekel vor In-
seinen Trieben ausgeliefert ist. Viele Män- timbehaarung oder an die zunehmende
ner mögen sich damit nicht identifizieren Anzahl von Brustvergrößerungen, das sind
und haben mit diesem Rollenbild schwer nur zwei Beispiele dafür, wie weit der Por-
zu kämpfen. Ein wichtiger Unterschied be- no-Chic im Mainstream angekommen ist.
steht allerdings darin, dass Männer lange SPIEGEL: In Ihrem Buch schreiben Sie, Frau-
die Macht hatten, Rollenbilder zu defi- en ließen sich auf bestimmte sexuelle Prak-
nieren. tiken nur ein, weil sie einem Mann gefallen
SPIEGEL: Wenn beide Geschlechter unter wollen. Die Frauen erbrächten „sexuelle
den Zuschreibungen leiden, warum ändert Gefälligkeiten“. Aber gilt das nicht umge-
sich so wenig? kehrt ebenso? Geht es darum beim Sex
Konrad: In den verbindlichen Beziehungen nicht immer auch: erregt zu werden davon,
ist das ja schon passiert. Jetzt geht es um dass der andere erregt ist?
die öffentlichen und die kulturellen Bilder. Konrad: Ich würde auch hier wieder unter-
Und die werden von sehr unterschiedli- scheiden: Sprechen wir von einer intimen
chen Einflüssen geprägt. Da spielen Por- Beziehung oder von Gelegenheitssex? Da
gibt es einen Unterschied. Männer können
sehr viel selbstverständlicher damit um-
gehen, dass es bei Gelegenheitssex um

120 DER SPIEGEL 46 / 2017

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ihre eigene Befriedigung geht. Und Frauen SUNSET BOX / ALLPIX / LAIF
sind darauf trainiert, eher Lustspenderin
zu sein als Lustempfängerin. Vor allem Schauspieler Spacey: Wolf im Rudel
jungen Frauen geht es bei unverbindlichen
sexuellen Kontakten eher darum, über se- „Er ist so nett“
xuelle Erfahrungen sprechen zu können
und dabei möglichst gut bewertet zu wer- Filmindustrie Eine Vielzahl von Erfahrungsberichten offenbart
den, weniger um eine lustvolle, befriedi- auch die Drangsalierung vor allem junger Männer.
gende Erfahrung an sich. Gut im Bett zu
sein ist wichtiger, als sich im Bett gut zu Als der Mann, den er bewunderte, te, was man dafür manchmal alles tun
fühlen. ihm zwischen die Beine griff, da muss, war überrascht vom Charme und
SPIEGEL: Wieso kommen Frauen in Bezie- dachte Harry Dreyfuss vor allem der Freundlichkeit von Kevin Spacey, der
hungen eher auf ihre Kosten? daran, wen er beschützen musste. Drey- das Old Vic von 2004 bis 2015 leitete. „Er
Konrad: Weil die Angst geringer wird, be- fuss, ein 18-Jähriger, war ein Missbrauchs- ist so nett“, sagte er sich immer wieder,
wertet zu werden. Wenn die Frauen sicherer opfer, das im Moment der Verletzung „er ist so nett.“
sind, geht es nicht mehr so sehr darum, was darauf bedacht ist, dass der Täter keinen
sie nach außen darstellen wollen, sondern Schaden nimmt. Bis zu dem Abend, als die drei bei Spa-
eher um das innere Erleben. Und Sie haben cey zu Hause waren, um zu arbeiten. Der
völlig recht: Natürlich ist Sexualität Geben Es war aber auch eine zu verwirrende ältere Dreyfuss war in seine Rolle vertieft,
und Nehmen. Aber da gibt es eben Unter- Situation. Dreyfuss war nach London ge- während der jüngere Dreyfuss auf dem
schiede zwischen Männern und Frauen. Es kommen, um seinen Vater zu besuchen, Sofa saß und Spacey sehr nah an ihn
fängt damit an, dass fast alle Jungs, wenn den berühmten Schauspieler Richard Drey- heranrückte. Und ihm dann die Hand mit
sie die erste sexuelle Beziehung eingehen, fuss, der mit dem noch berühmteren klarer Absicht erst auf den Schenkel legte
bereits Masturbationserfahrung haben, Mäd- Schauspieler Kevin Spacey ein Stück am und immer höher schob, in den Schritt.
chen aber viel seltener; die Schätzung liegt allerberühmtesten Theater Old Vic ein-
bei gut 40 Prozent. studierte. „Ich war wie leer“, schreibt Dreyfuss in
SPIEGEL: Die #MeToo-Debatte ist dank der seinem eindrucksvoll nüchtern und zu-
sozialen Medien durchgestartet. Sind sie Der junge Dreyfuss, der selbst Schau- gleich schmerzvollen Erfahrungsbericht,
ein Segen – oder auch eine Gefahr auf dem spieler werden wollte und noch nicht ahn- der auf der amerikanischen Website Buzz-
Weg zur sexuellen Selbstbestimmung?
Konrad: Seit Facebook, Instagram, YouPorn
und Co. verbreiten sich Normen schneller
und zwingender als je zuvor. Wir brau-
chen auf jeden Fall mehr Aufklärung
über Internetpornografie, auch in den
Schulen. Die Schüler gucken die Videos
ja sowieso.
SPIEGEL: Auch die jungen Frauen?
Konrad: Studien sagen: 60 Prozent aller
Männer, 10 Prozent aller Frauen. Von den
jungen Frauen, die ich befragt habe, hatte
jede schon Pornos gesehen, ausnahmslos,
einige schauen sie sehr bewusst.
SPIEGEL: Wie ist die Reaktion?
Konrad: Meine Interviewpartnerinnen su-
chen sich das Material, das ihnen gefällt.
Was ihnen nicht gefällt, gucken sie nicht
mehr. Sachen, die man eklig findet, schaut
man sich vielleicht mal gemeinsam an und
grenzt sich davon ab. Ähnlich scheint das
bei Jungs auch zu sein.
SPIEGEL: Das ist aber ein ganz emanzipier-
ter Umgang damit.
Konrad: Ja. Aber wieso machen die Frauen
die Normen nicht selbst? Heute studieren
so viele Mädchen wie Jungs, Frauen
können Kanzlerin werden, doch sie sind
umgeben von Bildern weiblicher Sexuali-
tät, die sie bevormunden. Es geht wirklich
darum, dass jede und jeder für sich selber
sorgt. Und dazu braucht man Mut. Die
#MeToo-Debatte wurde von Frauen an-
gestoßen, die Mut hatten. Jetzt kommen
hoffentlich immer mehr Frauen und Män-
ner nach.
SPIEGEL: Frau Konrad, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.

122 DER SPIEGEL 46 / 2017

Kultur

Feed erschienen ist. „Ich hob den Kopf brauchs beschuldigt hatte, mit dem Be- an Leukämie erkrankt, als er zehn Jahre
und sah ihn an. Ich schaute ihm in die Au- kenntnis seines Schwulseins verband. alt war.
gen und schüttelte so schwach wie nur
möglich den Kopf. Ich wollte ihn warnen, „Wie kannst du es wagen?“, schäumte Er wollte weg, er zog nach Los Angeles.
ohne die Aufmerksamkeit meines Vater etwa der „Guardian“-Kolumnist Owen Er war glücklich, als er einen Manager
zu erregen, der immer noch auf den Text Jones, der fürchtet, dass Spacey mit der fand, auch als der ihm sagte, dass er seinen
starrte.“ Verbindung von Missbrauch und Homo- schwulen Stil loswerden müsse, wenn er
sexualität die „böse Lüge“ über schwule Erfolg haben wolle. Am gleichen Abend
Das war 2008. Und nun, fast zehn Jahre Männer weiterverbreitet: die Verbindung ließ sich dieser Manager von Curtis oral
später, nachdem immer mehr junge Män- von schwulem Sex und Pädophilie. befriedigen.
ner davon erzählen, wie sie von Spacey
bedrängt wurden, ist Dreyfuss noch immer Manche der Männer, die Spacey sich Es sind solche Geschichten, die den
verwundert, wie Spacey es wagen konnte, aussuchte, waren extrem jung und ihm Abgrund beschreiben, an den Hollywood
ihn zu begrapschen, während sogar sein ziemlich ausgeliefert: Anthony Rapp war ziemlich viele Menschen gebracht hat.
Vater dabei war. „Am meisten ekelt mich 14, als Spacey sich auf ihn legte, mit einem „Wir schwulen Männer“, schreibt Curtis,
an Kevin“, schreibt Dreyfuss, „wie sicher damals 14-jährigen Jungen hatte Spacey inzwischen 31, „dürfen nicht die sein, die
er sich fühlte.“ wir sind. Um zu arbeiten und unsere Träu-
Das Hollywood-System me zu verfolgen, müssen wir die Essenz
Was Spacey so sicher sein ließ, war ein von Macht und sexuellem dessen verraten, was uns ausmacht.“
System, in dem viele schwiegen, weil sie Missbrauch zerfällt
abhängig waren; ein System, in dem Miss- vor den Augen der Welt. Was Brit Marling über Frauen in Holly-
brauch von Frauen wie Männern derart wood erzählt, das beschreibt Simon Curtis
selbstverständlich war, dass die Täter keine 1983 eine sexuelle Beziehung, einen für Männer. Kevin Spacey ist für ihn nur
Angst vor dem Absturz haben mussten. 16-Jährigen lud Spacey zu sich nach Hause ein Wolf in einem Rudel, „dessen Macht
ein und zeigte ihm Schwulenpornos; aus in Hollywood tief verankert ist“. Für junge
Jemand wie der Produzent Harvey der Bar des Old Vic wie vom Set von homosexuelle Männer bedeutet das, so
Weinstein, mit dessen Fall vor mehr als „House of Cards“ wird berichtet, wie über- Curtis, mehr als die sprichwörtliche Beset-
fünf Wochen dieser systemische Großskan- griffig Spacey sich hier bewegte. zungscouch: Er spricht von „psychologi-
dal begonnen hatte, schickte Anwälte, Pri- schen Kriegsspielen“, bei denen die jungen
vatdetektive, Journalisten los, um die Op- Ein Journalist, den Spacey nach einem Männer gezwungen werden, ihre Homo-
fer mit Geld oder üblen Gerüchten zum Interview „aggressiv“ begrapschte, ent- sexualität zu verstecken, und auf diese
Schweigen zu bringen. Sein Fall legt nun schied sich, den Vorfall zu verschweigen, Weise schwach und zum Opfer werden –
erstmals offen, wie alltäglich, wie unaus- weil er davor zurückschreckte, Spacey als und „eine ganze Industrie – Schauspieler,
weichlich, wie erniedrigend und trauma- homosexuell zu outen. Dass er nicht offen Agenten, Regisseure, Manager und Produ-
tisierend die Verbindung von Macht und schwul war, schützte Spacey auf widersin- zenten – ist mitschuldig an diesem Umfeld,
Sex war und ist – was sich in Hollywood nige Weise: Schwule Sexualität wird in das fast ein Jahrhundert bestehen konnte“.
nun so spektakulär wie detailliert zeigt. Hollywood immer noch unterdrückt – was
wiederum den Missbrauch und dessen Ver- Was bei all dem deutlich wird: Miss-
Dort begannen die Opfer zu reden, weil tuschung befördert. brauch verläuft im heterosexuellen wie im
sie sich ermutigt fühlten und die Angst vor homosexuellen Bereich nach ähnlichen
Absturz und Ausgrenzung nachgelassen Was das bedeutet, schildert etwa der Mustern, es gibt mehr Gemeinsamkeiten
hat. Es sind persönliche Erzählungen wie Schauspieler Simon Curtis. Auch er hat, als Unterschiede.
die von Harry Dreyfuss, die dem Schmerz wie Harry Dreyfuss, einen Text geschrie-
eine Form geben, ein kollektiver Real-Ro- ben – ein Text bietet noch immer die Mög- Missbrauch als System erscheint gerade
man gegen die Mythenfabrik Hollywood. lichkeit, Herr über die eigene Geschichte in Hollywood in seiner ganzen Mechanik –
zu sein. und zerfällt vor den Augen der Weltöffent-
Zunächst fingen Daryl Hannah, Kate lichkeit. Ein Spektakel von shakespeare-
Beckinsale, Léa Seydoux, Cara Dele- Curtis wuchs in Oklahoma auf. Er be- scher Düsternis, dessen Helden Gestalten
vingne, Gwyneth Paltrow, Angelina Jolie, schreibt, wie seine Familie ihn verstieß, als sind wie Präsident Underwood in „House
Asia Argento, Ashley Judd an zu sprechen, sie herausfand, dass er homosexuell ist. Er of Cards“: kalt und gewissenlos und eigen-
berühmte und weniger berühmte Schau- war 18 Jahre alt. „Wir wünschten, du wä- tümlich faszinierend.
spielerinnen. „Raubtier“, das ist das Wort, rest gestorben, als du ein Kind warst“, sag-
das für Männer wie Weinstein verwendet ten seine Eltern zum Abschied. Curtis war Die Geschichten der Opfer allerdings,
wird. Die Frauen, so die Schauspielerin wie sie jetzt erzählt werden, öffnen eine
Brit Marling, galten als „Frischfleisch“. Dreyfuss-Tweet andere Sicht. Es sind reale Geschichten,
„Ich war wie leer“ die die shakespearesche Dramaturgie nicht
Die Vorwürfe und Enthüllungen nun, brauchen, um ihre Wirkung zu entfalten.
die Kevin Spacey betreffen – der vom Auch kommen darin lange Phasen des
Streamingdienst Netflix während der Pro- Schweigens vor; erzwungene Handlungs-
duktion der letzten Staffel der Präsiden- pausen, wie Überwältigung und Überfor-
tenserie „House of Cards“ gefeuert wur- derung sie oft erzwingen.
de –, verlagern die Frage nach sexuellem
Missbrauch in einen anderen Bereich, in Harry Dreyfuss kann sich bis heute nicht
den des schwulen Hollywood, das bis heu- erinnern, wie er an jenem Abend nach
te mit vielen Verklemmungen und Vor- Hause kam oder was er dort gemacht hat;
urteilen betrachtet wird. und er schwieg über Jahre. Er wollte sich,
schreibt er, die Chance nicht verbauen, mit
Eines dieser Vorurteile betrifft die an- Spacey zu arbeiten.
geblich andere, schwule Sexualität – pro-
miskuitiver, permissiver, krasser, vielleicht Manchmal erzählte er Freunden in An-
auch lustvoller und freier. Auch deshalb deutungen davon, aber eher wie einen
war die Aufregung groß, als Kevin Spacey Witz. Er erinnerte sich an den Satz der
seine Entschuldigung an den Schauspieler Schauspielerin Carrie Fisher: „Wenn mein
Anthony Rapp, der ihn als Erster des Miss- Leben nicht witzig wäre, wäre alles wahr,
und das wäre inakzeptabel.“ Georg Diez

DER SPIEGEL 46 / 2017 123

Kultur

Natur, erhaben wie hilflos

Künstler Julius von Bismarck reist Wirbelstürmen hinterher, sprengt Gestein, löst Blitze aus –
und schafft Werke, die von der Schönheit der Katastrophe leben.

Das Atelier befindet sich, fast schon men unterscheiden sich so deutlich von aufnahme eines gerade berstenden Steines.
typisch für Berlin, in einer alten denen, die die TV-Reporter machten, als Eine Einheit, brachial in lauter Teile auf-
Fabrik. Splitter zersprengter Find- wären sie auf einem anderen Planeten ent- gelöst. Die Wolfsburger Schau, in der auch
linge liegen auf dem Boden, undefinier- standen. Auf seinen langsamen, grauen diese Arbeit zu betrachten ist, heißt pas-

bare Gerätschaften stehen herum, da- Filmbildern wirkt die Feuchtigkeit in der senderweise „Gewaltenteilung“.

zwischen Kübel mit Pflanzen. Auch ein Luft beinahe dreidimensional, die Äste Im Mittelpunkt steht die gewaltige, auch

Exemplar der Bismarck-Palme ist dabei, und Blätter der Bäume und Palmen bewe- überwältigende Natur – und was Men-

benannt nach dem einstigen deutschen gen sich, als hätte sie jemand dirigiert, als schen so mit ihr anstellen.

Reichskanzler. So viel Ironie Bismarck hat den Kunstpreis

muss sein. der im Wolfsburger Schloss an-

Julius von Bismarck, 33, ein sässigen Städtischen Galerie ge-

Nachfahre des Bruders des wonnen, die Ausstellung ist ein

ehemaligen Kanzlers und mit Teil der Ehrung. Die Auszeich-

seinem Mut zum Experiment nung wird nur alle drei Jahre

einer der wichtigsten Künstler verliehen, bekannte Leute wie

seiner Generation, nutzt die Katharina Fritsch oder Angela

Räume gemeinsam mit Kolle- Bulloch haben sie erhalten, er

gen. Aber Steine und Grünzeug selbst ist aber auch auf dem

gehören ihm, alles ist Arbeits- Weg zum Weltruhm. Im globa-

material und dient der Kunst, len Kunstbetrieb gibt es kaum

auch die mehrfach gekrümmte jemanden, der noch nicht von

Metallstrebe, die an der Wand ihm gehört hat.

neben seinem Schreibtisch Ihm sei klar, sagt er, dass vie-

lehnt. Aus Hunderten solcher le auf die unzugängliche Kunst-

Stangen ließ er eine Meereswel- welt schimpften, aber er sehe

le nachformen und von Schwei- das nicht so verbissen. Man

ßern an einer Saaldecke im müsse eben Geld auftreiben, in-

Wolfsburger Schloss installie- vestieren und „einfach krasse

ren, wo an diesem Wochenende Sachen machen“.

seine neue Ausstellung eröffnet Am krassesten sind vielleicht

wird. Man kann dann durch die- die Blitze, die er selbst erzeugt

se Stahlwoge spazieren, die im JULIUS VON BISMARCK / COURTESY ALEXANDER LEVY, BERLIN hat.

Raum zu schweben scheint. Dreimal flog er mit einem

Er selbst hat solch gigan- Team jeweils für einige Wochen

tische Aufwallungen des Mee- nach Südamerika. Sie fuhren in

res (und des Wetters überhaupt) eine Gegend von Venezuela, in

in echt und in nass erlebt, in Ir- der es häufig gewittert. Mit einer

land, als dort der Orkan „Ophe- kleinen Rakete, die aussieht wie

lia“ tobte, in Miami, als im Sep- ein übergroßer Bleistift, lösten

tember der Hurrikan „Irma“ sie Blitze aus – und lenkten und

viele Leute in die Flucht trieb. begradigten sie auch noch. Denn

Der Mann aus Berlin aber ist der Blitz nimmt, wenn alles

„Irma“ eigens entgegengereist; klappt, die Spur eines stromlei-

nach Kuba hatte er es nicht ge- tenden Fadens auf, der am Ge-

schafft, aber nach Florida. Er Preisträger Bismarck schoss hängt.

traf mit einem Künstlerkumpel Den Urwald neu angemalt, das Meer in Stahl gegossen Die Ausrüstung hatten er und

und einer Zeitlupen-Filmkame- seine Leute zum Teil ins Land

ra ein, die er zuvor bei einem Zwischen- hätten sie sich einer höheren Choreografie schmuggeln lassen, weil man das, was man

stopp in Los Angeles als Gebrauchtware unterworfen. Die Natur erscheint bei ihm braucht, um Raketen zu zünden, nicht ein-

erstehen konnte. Überhaupt hatte er erhaben und hilflos zugleich. fach importieren kann. „Dann sitzt man

Glück, der Fernsehsender ABC war in Flo- Im Grunde ist die Kunst für ihn ein Ex- da in einem Fischerdorf am Ende der

rida mit einem eigenen Tanklaster unter- perimentierkasten, auch Mutprobe, aber Welt“ – und das Wichtigste sei plötzlich

wegs, und er erhielt eine Benzinspende. am Ende kommt seltsamerweise das he- Geduld. „Es muss sich erst etwas zusam-

Ein Hotel, das nur noch für Journalisten raus: Schönheit, Staunen. menbrauen, genügend Spannung in der

geöffnet war, hatte Erbarmen mit den deut- Wie bei der Skulptur, die Bismarck aus Luft sein.“ Hunderte Versuche haben sie

schen Künstlern und nahm sie auf. den Einzelteilen eines Felsbrockens gestal- unternommen, vier sind geglückt.

Von dort aus fuhren sie los, und dann tete, den ein Sprengmeister im Berliner Vor etlichen Jahren wurde sein Auto

hat er den peitschenden Regen gefilmt, Fabrikareal auf sein Geheiß hin in die Luft vom Blitz getroffen, das war beim Campen

den Wind, die Wucht – und seine Aufnah- gejagt hatte: Sie wirkt wie die Moment- in Italien, er hatte darin geschlafen, stand

124 DER SPIEGEL 46 / 2017

unter Schock. „Inzwischen bin ich ver- Selbst an seinen Erfolg hat er sich bis Der Künstler beherrscht, das hat er be-

rückt nach Blitzen, ich muss das machen“. her nicht gewöhnt, obwohl schon alle über wiesen, auch anderes, Performances etwa.

Aber er wisse ja auch nie, was hinterher ihn sprachen, als er noch studierte. Das Auf der Messe Art Basel hielt er sich 2015

an Kunst herauskomme, vielleicht nur drei war im vergangenen Jahrzehnt; er hatte in einer rotierenden Betonschale auf, ar-

Fotos, ein Video, im schlimmsten Fall gar ein Gerät erfunden, das er den „Image beitete am Laptop, nahm eine Mahlzeit zu

nichts. Wenn Bilder und Filme gelingen, Fulgurator“ nannte, viele wollten es ihm sich, legte sich auf eine Matratze. Jeder

dann handeln sie auch davon, wie wir Na- abkaufen, vor allem Werbeagenturen konnte ihn sehen, er durfte niemanden an-

tur wahrnehmen – oder wie wir sie eben meldeten sich. Er hätte reich werden kön- schauen – hätte er über den sich drehenden

nicht mehr wahrnehmen. Keiner spreche nen, aber er meldete 2007 lieber ein Pa- Tellerrand hinausgeblickt, wäre ihm

noch davon, sagt er, dass man die Natur tent an. schwindelig geworden.

bezwingen müsse. Er selbst habe sich mit Der Apparat ist eine Art Bildercrasher, Man könnte vieles mehr erwähnen, sei-

seinen Arbeiten darüber eher immer lustig er dient der Sabotage fremder Fotos. Wenn ne Form der „Landschaftsmalerei“ zum

gemacht. jemand zum Beispiel eine Touristenattrak- Beispiel: In Mexiko heuerte er Helfer an,

Für die Wolfsburger Schau konnte er tion oder eine berühmte Persönlichkeit fo- die für ihn in die Wüste und in den Dschun-

dank des Preisgeldes seine neuen Arbeiten tografiert, und Bismarck steht mit seinem gel zogen und die Landschaft anmalten,

finanzieren, und wenn man sie sieht, wird Fulgurator in der Nähe, dann befinden sich die Bäume im Urwald zum Beispiel erst

deutlich: Mehr denn je will er weiß, anschließend wieder grün.

die Natur und ihre Brutalität Doch welcher Grünton passt?

ästhetisieren. „Irma“ in Zeitlu- Und dann das leuchtende Rie-

pe zeigt eine fast malerische sensmiley, den er in verschiede-

Kraft, sogar die Skulpturen er- nen Städten auf Dächer setzte

innern an erstarrte Bewegung – und der die Mimik der gefilmten

als hätte jemand auf die Stopp- Passanten in ein Grinsen oder

taste gedrückt. Man könnte einen grimmigen Ausdruck

daher meinen, dass Bismarck übersetzte. Was Bismarck

Bilder für die Ewigkeit schaffen macht, kann auch sehr amüsant

wollte, doch er will eher andeu- sein – und auf einer anderen

ten, dass es mit der Ewigkeit Ebene ziemlich ernst.

schnell vorbei sein kann. Die Kurz hatte er überlegt, Wissen-

Menschen, an Naturereignissen schaftler zu werden, sein Groß-

nicht mehr unbeteiligt oder un- vater war Astronom und Astro-

schuldig, sind zugleich von ih- physiker, sein Bruder ist Physiker,

nen fasziniert, und das will er der Vater Geologe und Volkswirt;

sozusagen mitfilmen. wegen eines seiner Jobs wuchs

Mensch und Natur stehen in Bismarck die ersten sieben Jahre

einer widersprüchlichen Bezie- in Saudi-Arabien auf. Als er, der

hung zueinander. Gewaltfrei ist Künstler in der Familie, vor ein

die Verbindung eben nicht. paar Jahren selbst einige Monate

Doch für viele, so sagt er, sei JULIUS VON BISMARCK / COURTESY SIES + HÖKE, DÜSSELDORF im Kernforschungszentrum Cern

die Natur zugleich so etwas wie verbringen durfte, spürte er gele-

eine neue Religion. Superrei- gentlich Neid, aber im Grunde

che Neohippies pilgerten zu In- weiß er die Freiheiten der Kunst

dianern, Wissenschaftler wie- zu schätzen.

derum zur Antarktis, als wäre Er war Meisterschüler beim in

das ein heiliger Ort, weil er von Berlin ansässigen Dänen Olafur

den Menschen noch nicht so Eliasson. Auch er, einer der ge-

besudelt sei. In seiner Genera- fragtesten Künstler weltweit, ver-

tion glaubten viele nicht an ei- steht sich als jemand, der eine

nen christlichen Gott, aber an forschende Kunst betreibt, er ge-

Organisationen, die Tierliebe staltet Solarlampen, veröffent-

über Menschenrechte stellten. licht auf seiner Website Statisti-

Früher, sagt er, hätten Kirche ken zur Erderwärmung, lässt Eis-

und Politik über die Welt be- Bismarck-Fotografie „Talking to Thunder (Palm Tree)“, 2017 brocken auf öffentlichen Plätzen

stimmt, heute seien es Politik „Ich bin verrückt nach Blitzen, ich muss das machen“ schmelzen. Bismarcks Ansatz

und Wissenschaft, die Deu- wirkt weniger didaktisch, ist irri-

tungshoheit einforderten. Und wenn diese später auf den Abbildungen seltsame Zei- tierender, schwelgender. Sein Kunstbegriff

Instanzen kollidierten, wenn sich etwa US- chen, die man in der Situation so nicht ist ein erweiterter und klassischer zugleich.

Präsident Trump gegen den Klimavertrag sehen konnte. Wer, als er vor Jahren nach Er, der in der Kunst die Zeit anhalten

ausspreche, dann erzeuge eben auch das Peking reiste, das Mao-Porträt am Platz kann, hat angeblich nur ein Problem: das

eine besondere Spannung. Diese Entwick- des Himmlischen Friedens ablichtete, sah eigene Zeitmanagement. Manchmal ist

lungen interessieren ihn, sie sagen viel aus später auf den Aufnahmen außerdem eine erst eine Stunde vor Ausstellungseröffnung

über den Zustand der Menschheit, der Friedenstaube. In Berlin eröffnete 2008 die alles an seinem Platz, er tüftelt gern immer

Welt, und er will sie, auf seine Weise, do- mumalsstrRitetegnieereOn²d-WenorBldü,rgaeurfmFeoisttoesrsdeKsladuas- weiter.
kumentieren. Man kann so oder so Adrenalin erzeu-

Bismarck wirkt überhaupt wie jemand, Wowereit tauchte das Firmenlogo dank gen. Wie Zeus Blitze schleudern oder All-

der weiß, was er will, der schon eine Ewig- Bismarck ebenfalls auf – auf dem Anzug- tägliches wie eine Uhr ignorieren.

keit mitmischt – aber nicht abgebrüht ist. revers des Politikers. Ulrike Knöfel

DER SPIEGEL 46 / 2017 125

Kultur

Der oft einzige Bienenstich

Literatur Peter Handke wird 75. Sein neues Buch „Die Obstdiebin – oder – Einfache Fahrt
ins Landesinnere“ wirkt, als wolle er seine Nachfolge regeln.

Wohin führt sie, diese Straße in kannt wurde als eine Art literarischer sich kurz danach auf; es entstand der My-
Chaumont-en-Vexin, nordwest- Beatle. 1966, mit 23 Jahren, veröffentlichte thos, sie habe sich vom Vernichtungsschlag
lich von Paris? Einfach nur in die er sein Theaterstück „Publikumsbeschimp- dieses jungen Österreichers nicht erholt.
französische Hauptstadt, ins Umland oder fung“, im selben Jahr sein Angriff auf die Peter Handke sah aus wie einer der wilden
vielleicht doch ganz woandershin, in die in Princeton versammelten Schriftsteller Kerle auf den Plattenhüllen, mit langen
Kulturgeschichte oder in eine Sphäre jen- der Gruppe 47, denen er „Beschreibungs- Haaren, dunkler Brille; bald war er ein
seits von Raum und Zeit? Eine junge Frau impotenz“ vorwarf. Die Gruppe 47 löste Star wie sie. 1970 erschien „Die Angst des
steht an dieser Straße, ihr Name ist Alexia,
die Obstdiebin genannt. Sie ist die Haupt- ROBERTA VALERIO / AGENTUR FOCUS
figur in Peter Handkes neuem Buch, un-
tertitelt: „Einfache Fahrt ins Landesinne-
re“. Es ist ja nicht schwer, in Chaville bei
Paris, wo Handke wohnt, ein Ticket für
die Vorortbahn zu kaufen, doch wohin
soll eine derartige Reise ohne Rückfahr-
schein führen?

In die Literatur des Mittelalters viel-
leicht. Der Suhrkamp Verlag hatte „Die
Obstdiebin“ als das „Letzte Epos“ ange-
kündigt. Diese Bezeichnung ist in der
fertigen Version verschwunden, ein Epos
jedoch ist das Buch allemal, mag es auch
in der Gegenwart spielen. Es ist ein Werk
in der Tradition Wolfram von Eschen-
bachs, der Anfang des 13. Jahrhunderts
die Geschichte des Gralsritters Parzival
verfasste. In zwei vorigen kleineren Stü-
cken hatte Handke seine Hauptfigur schon
erwähnt, sie, einer winzigen Vorankündi-
gung gleich, hineingeschrieben in seinen
Peter-Handke-Kosmos, in dem sich seit
Jahrzehnten vieles, wenn nicht alles auf-
einander bezieht: „Parzivals Schwester
folgt nach, im Gewand einer Obstdiebin“,
hieß es 2015 im Schauspiel „Die Unschul-
digen, ich und die Unbekannte am Rand
der Landstraße“.

In Handkes neuem Buch nun steht die
Obstdiebin am Straßenrand in Chaumont-
en-Vexin: „Ein Fußgängerstreifen über die
fast autobahnbreite, mehrspurige Umfah-
rungsstraße, ampelgesteuert. Viel Zeit,
jetzt am Sonntagnachmittag, kaum Ver-
kehr, sie zu überqueren, auf den Zebra-
streifen zudem gemächlich, ein ums
andere Mal, die großen Schritte nachzu-
spielen, mit denen, mehr als ein halbes
Jahrhundert ist das nun her, John Lennon,
Paul McCartney, George Harrison und
Ringo Starr für das Coverfoto die Zebra-
streifen der Abbey Road ausschritten.“
Vielleicht haben sich Handke und sein
Lektor bei Suhrkamp verrechnet, „Abbey
Road“ erschien erst 1969, ganz sicher aber
ist es mehr als ein halbes Jahrhundert her,
dass Peter Handke selbst schlagartig be-

Peter Handke: „Die Obstdiebin – oder – Einfache Fahrt Tisch in Handkes Garten in Chaville: „Aber ich bestimmte es so“
ins Landesinnere“. Suhrkamp; 560 Seiten; 34 Euro.

126 DER SPIEGEL 46 / 2017

sen, auch das womöglich eine

Tormanns beim Elfmeter“, Reverenz an Wolfram von

nicht sein bestes Buch, aber Eschenbach, der dem „Parzi-

das mit dem wohl meistzi- val“ eine Geschichte von Par-

tierten Titel. In einer Zeit, zivals Vater vorangestellt hat.

in der Schriftsteller noch Die Obstdiebin tritt auf, ein

Größen waren, auf die sich Zug ist stehen geblieben, ir-

sogar der literaturferne Teil gendwo am Rande eines Gleis-

der Öffentlichkeit bezog, bettes geht sie über ein Stop-

zählte er zu jener Handvoll pelfeld: „Ab und zu bückte sie

Leute, deren Name fast au- sich nach einer auf Teer und

tomatisch fiel, wenn es um MANFRED SIEBINGER / IMAGO Schotter verwehten ungeern-

deutschsprachige Autoren teten Weizenähre und steckte

ging. sie sich hinters Ohr wie eine

Der große Bruch kam in Zigarette.“ Nun ist es die Obst-

den Neunzigern. Handke diebin, die das Land um Paris

veröffentlichte „Eine win- durchschreitet, mal begleitet

terliche Reise zu den Flüs- sie ein Rabe, mal horcht sie

sen Donau, Save, Morawa Schriftsteller Handke, Tochter Léocadie 2012 dem blechernen Ruf eines

und Drina oder Gerechtig- „Eminem ist ihr Sänger“ Fasans, mal stiehlt sie einen

keit für Serbien“, setzte Pfirsich oder pflückt Sauer-

sich mit dem Krieg in Jugoslawien ausei- meinem stillen Haus“ hatte er 1997 bereits kirschen, schließlich begegnet sie einem

nander, schrieb: „Allzu schnell nämlich im Titel die Struktur beschrieben, die er Burschen, „ansteckend jung“ wie sie

waren für die sogenannte Weltöffentlich- seitdem allen seinen großen Erzählungen selbst.

keit auch in diesem Krieg die Rollen des gegeben hat: Ein Mensch bricht auf und Immer wieder hat Peter Handke seine un-

Angreifers und des Angegriffenen, der rei- schlägt sich im Hinterland durch, allein, mittelbare Familiengeschichte als Stoff her-

nen Opfer und der nackten Bösewichte, etwa so wie in den alten Epen die Vogel- genommen für seine Bücher; in „Wunsch-

festgelegt und fixgeschrieben worden.“ freien, die von der Gesellschaft ausgeschlos- loses Unglück“ schrieb er ganz direkt vom

Handkes Blick war nicht der eines Politi- senen. „Die Obstdiebin“ unterscheidet sich Selbstmord seiner Mutter, in der „Links-

kers oder Meldungsschreibers, sondern der von „In einer dunklen Nacht ging ich aus händigen Frau“ nicht sonderlich verhüllt

eines Schriftstellers, eines Beobachters, der meinem stillen Haus“ strukturell nur da- über das Scheitern seiner Ehe, in der „Kin-

sich mit Sprachregelungen nicht abfinden durch, dass das Buch bei Tag beginnt. dergeschichte“ vom Aufwachsen seiner

will; der Großteil der Öffentlichkeit aber Der Erzähler wird in seinem Garten von erstgeborenen Tochter. Seine jüngere Toch-

hatte kein Verständnis für seine Suche einer Biene gestochen: „Inzwischen weiß ter Léocadie hatte einen Auftritt in der

nach Ambivalenzen, zu sehr war die Zeit ich, dass diese Tage des ersten und oft ein- „Morawischen Nacht“, und man könnte

vom Schrecken des Völkermords auf dem zigen jährlichen Bienenstichs in der Regel vermuten, dass auch die Obstdiebin Ale-

Balkan geprägt. Die Formulierung „anders- zusammenfallen mit dem Sichauftun der xia nicht allein die Schwester Parzivals ist,

gelb“, die Handke für die Beschreibung weißen Kleeblüten, der erdbodennahen, sondern auch Züge dieser Handke-Tochter

von Nudeln verwendet hatte, wurde zum worin sich die Bienen halbversteckt tum- trägt. „Die Obstdiebin war einmal Musik-

Synonym für den gewollt naiven Blick meln.“ Bald danach geht er los, hinaus in närrin gewesen, und war das fallweise

des Poeten. die Welt oder zumindest in Richtung des immer noch. Am tiefsten war ihr der Rap

1968 hatte der junge Autor in einem Auf- benachbarten Départements: „Hinauf zur gegangen. Ah, Eminem, mit wahrem Na-

satz festgestellt, die Kritik an der „Bild“- Landstraße durch die Zypressenallee. In men ‚Marshall …‘ Es war erst ein paar Jah-

Zeitung werde in Sätzen geäußert, die ähn- Wirklichkeit war es ja weder eine Land- re her, dass sie, wie anders als allein, eins

lich mechanisch verwendbar seien wie die straße, noch war die Allee eine Zypressen- der Elendsviertel von Detroit mit Namen

Sprache der „Bild“-Zeitung selbst. 30 Jah- allee. Aber ich bestimmte es so, für diese ‚8 Miles‘ = 8 Meilen, weg vom Zentrum,

re später wurde sein Versuch, ein Nach- Geschichte und, in meinem Selbstbewusst- aufgesucht hatte, wo der Rapper seine,

richtenereignis in einer Sprache zu be- sein episodisch nach dem eines Wolfram heißt es, jammervolle Kindheit zugebracht

schreiben, die sich nicht der Mechanik der von Eschenbach, über die Geschichte hat, in der Hoffnung, der Erwachsene, Star

Nachrichtensprache unterwarf, fast ebenso hinaus.“ Er mustert den Quittenbaum in oder nicht, werde sich, und wenn auch nur

scharf angefeindet wie einstmals die der Hoffnung auf „anders gelbe“ Quitten, aus der Ferne, umso besser, einen Moment

„Bild“-Zeitung. Es war die Zeit, in der die er begegnet einem Nachbarn, passiert die lang zeigen.“ Zumindest diese Szene ver-

rot-grüne Bundesregierung an die Macht Spezialeinheit, die den Bahnhof bewacht. weist eindeutig auf Léocadie, Peter Hand-

kam und sich mittels des Jugoslawienkon- Die den Alltag der Franzosen überschat- ke war selbst mit ihr in Detroit, auf ihren

flikts an der deutschen Vergangenheit ab- tende Gefahr eines Terroranschlags ist Wunsch. „Eminem ist ihr Sänger“, hat er

arbeitete: „Nie wieder Auschwitz“, so der auch in Handkes Universum eingedrungen, gesagt.

Satz, den der damalige Außenminister das ja eigentlich schon lange ein Parallel- In Peter Handkes Büchern geht es oft

Joschka Fischer auf das Kosovo übertrug. universum bildet zur Realität eines mittel- um das Wort Schwelle und den Moment

Einzelgänger war Handke, der einstige europäischen Ballungsraums mit seinen des Übergangs. Auch „Die Obstdiebin“

Lieblingsautor der nun regierenden Gene- Abertausenden Menschen, rasenden Ver- lässt sich als Werk des Übergangs lesen.

ration, schon zuvor gewesen, nun wurde kehrs- und Nachrichtenströmen. Das Maß Am 6. Dezember wird Handke 75 Jahre

er zum Außenseiter. Dieses Außenseiter- von Peter Handkes Geschichten ist das alt. Zeit, die eigene Nachfolge zu regeln;

tum hat er in allen seinen folgenden Bü- Maß des vormodernen Menschen: das des Zeit, der nächsten Generation die Stoppel-

chern stilisiert. Man versteht sie nur, wenn menschlichen Schrittes, das der direkten felder, die Wälder und Brachen um Paris

man Handkes Geschichte kennt, die Ge- Wahrnehmung. zu überlassen. Und vielleicht sogar Zeit,

schichte des gefallenen Stars. In seinem Ro- Es dauert etwa hundert Seiten, und der selbst etwas Neues zu wagen. Das Alters-

man „In einer dunklen Nacht ging ich aus Erzähler hat die Geschichte wieder verlas- werk. Sebastian Hammelehle

DER SPIEGEL 46 / 2017 127

Kultur

Mission Mitmensch

Filme Die Schauspielerin Vanessa Redgrave und der Künstler Ai Weiwei schildern ihre Sicht
auf das globale Flüchtlingsdrama – ein heikles, aber auch ergreifendes Unterfangen.

Einmal wird die Stimme der stolzen, nen aber sieht man syrische, irakische und ALESSIA PARADISI / ABACA / DPA sima Wagner gespielt und in Kinowerken
oft in forscher Lautstärke sprechen- afghanische Bootsflüchtlinge, die in Grie- von „Mord im Orient-Express“ (1974) über
den Schauspielerin Vanessa Redgrave chenland anlanden und von Ai Weiwei mit PIERO OLIOSI / POLARIS / LAIF „Mission: Impossible“ (1996) bis „Abbitte“
verblüffend warm und sanft. „Ich saß eines Worten und Schulterklopfen begrüßt wer- (2007) ein Massenpublikum begeistert.
Abends in London am Radio und war pa- den. „Mir war lange nicht klar, warum ich
nisch vor Angst, dass der Faschismus zu- so eine starke Beziehung zu Flüchtlingen Ein bisschen berüchtigt ist Redgrave in
rückkehrt“, sagt Redgrave. Sie sitzt auf dem habe“, sagt Ai Weiwei. „Ich musste ihnen ihrer Rolle als Politaktivistin. In den Sech-
Sofa eines Nürnberger Hotelzimmers, rückt meinen Respekt zeigen. Ich musste sie be- zigern engagierte sie sich gegen den Viet-
ein Stück nach vorn und lässt ihre berühm- rühren.“ namkrieg, in den Siebzigern für die trotz-
ten blauen Augen strahlen. Sie schildert kistische Workers’ Revolutionary Party, in
eine Kindheitserinnerung; sie war damals, Es gibt ein paar Gemeinsamkeiten zwi- den Achtzigern gegen Nuklearwaffen, und
1948, keine zwölf Jahre alt. „Der BBC-Spre- schen der britischen Schauspielerin Red- bis heute ist sie eine verlässliche Aktivistin
cher las die Allgemeine Erklärung der Men- grave und dem chinesischen Künstler Ai für die Sache der Palästinenser. Als sie
schenrechte vor, Artikel für Artikel. Und Weiwei, so verschieden ihre Herkunft, 1978 den Oscar für die Rolle einer jüdi-
ich beschloss, dafür zu kämpfen, dass diese ihr Denken und ihre Arbeitsweise sein mö- schen Widerstandskämpferin in einem
Rechte auch durchgesetzt werden. Das war gen – unter anderem die, dass beide, in- Film namens „Julia“ erhielt, nannte sie die
der Moment, in dem ich zu einem politisch dem sie sich im Handwerk der Filmregie vor der Hollywoodgala demonstrierenden
denkenden Menschen wurde.“ versuchen, sich ziemlich weit entfernt von israelfreundlichen Protestierer, die Redgra-
den Jobs abrackern, für die sie bislang in ves Sympathien für palästinensische Ge-
Der Künstler Ai Weiwei sitzt an einem der Welt Anerkennung fanden. walttäter anprangerten, „zionistische Strol-
Holztisch in seiner Berliner Werkstatt, ver- che“. Im Jahr 2017 sagt Redgrave in Nürn-
knotet seine erstaunlich zarten Hände auf Redgrave ist berühmt als Schauspielerin. berg: „Ich habe viele Fehler gemacht in
der Tischplatte und berichtet in brummi- In ihrer glanzvollsten Rolle, in Michelan- meinem Leben, natürlich. Aber ich habe
gem Verschwörerton von seiner Arbeit. Für gelo Antonionis „Blow Up“ aus dem Jahr immer Menschen gefunden, die verstan-
eine kurze Weile dimmt er die Stimme auf 1966, verkörpert sie eine zauberhaft stör- den, dass ich mit offenem Herzen sprechen
Flüsterlautstärke herunter. „Fast meine gan- rische, kluge und rätselhafte Frau, die sich muss.“ Ob heftige, mitunter berechtigte
ze Kindheit über war meine Familie geäch- in einem Park mit einem Fotografen um Kritik einen davon nicht manchmal abhal-
tet“, sagt er. „Kurz nach meiner Geburt dessen Kamera balgt. Redgrave hat Thea- ten sollte? „Das finde ich nicht.“
hat man uns von Peking aus in den äußers- tertriumphe mit Shakespeare und Ibsen
ten Nordwesten Chinas verbannt, später gefeiert, in einer noblen Fernsehserie Co- Der Künstler Ai Weiwei ist von ähnlicher
in den äußersten Nordosten, weil mein Va- Unbeirrbarkeit geprägt. Weltbekannt wur-
ter plötzlich als Feind des Kommunismus Regisseure Redgrave, Ai Weiwei de er durch eine Konzeptkunst, die mit kla-
galt. Man nannte das Umerziehung. Seit „Man muss handeln und helfen“ ren Zeichen arbeitet, und durch seine un-
dieser Zeit weiß ich, was es bedeutet, ein beugsame Haltung gegenüber den staatli-
Vertriebener, ein Outlaw zu sein.“ chen Autoritäten in China. Er präsentierte
in der Londoner Tate Modern einen Raum,
Die Schauspielerin Redgrave ist 80 Jahre voll mit hundert Millionen handbemalten
alt und reist derzeit durch die Welt, weil Sonnenblumenkernen aus Porzellan, und
sie einen Film bekannt machen will, bei stellte den Lichthof des Berliner Martin-
dem sie selbst Regie geführt hat. Er heißt Gropius-Baus mit einer Installation aus
„Sea Sorrow“ und hatte im Mai beim Fes- 6000 antiken Holzschemeln zu. Er doku-
tival in Cannes Premiere. Er zeigt unter mentierte in einem Blog die Gleichgültig-
anderem die Not syrischer, irakischer und keit der chinesischen Autoritäten gegen-
afghanischer Bootsflüchtlinge, die vor der über Zehntausenden Erdbebenopfern und
griechischen Küste aus Schlauchbooten ge- drehte kritische Videos über Chinas Wirt-
rettet und dann an Land von Vanessa Red- schaftsboom. Im Jahr 2011 wurde er unter
grave befragt und aufgemuntert werden. dem Vorwand der Steuerhinterziehung mo-
„Ich musste mich einmischen“, sagt Red- natelang interniert. Seit 2015 lebt er vor-
grave. „Freundliche Worte allein bedeuten wiegend in Europa; zeitweise auf Lesbos
noch gar nichts. Man muss handeln und und meist in Berlin. „Meine Arbeit hat
helfen. Alles andere ist nutzlos.“ nicht unbedingt mit Mut zu tun“, sagt er
in seinem Atelier in einem ehemaligen
Der Künstler Ai Weiwei ist 60 Jahre alt Brauereikellergewölbe. „Ich tue und sage
und kommt gerade von einer wochenlan- die Dinge, von denen ich glaube, dass sie
gen Reise durch die USA, Südamerika und getan und gesagt werden müssen.“
ein paar europäische Länder zurück. Über-
all, wo er zu Besuch war, hat er auch sei- Redgraves Film „Sea Sorrow“ ist ein
nen Film vorgestellt. „Human Flow“ hatte Pamphlet. Zu Beginn zeigt er einen syri-
Anfang September beim Festival in Vene- schen Jungen in Großaufnahme, der er-
dig Premiere und zeigt zum Beispiel zählt, wie vor seinen Augen seine Eltern
Flüchtlingslager in Kenia, im Libanon und hingerichtet wurden. Es folgen historische
in Jordanien. In den dramatischsten Sze- Aufnahmen von Kindertransporten, mit

128 DER SPIEGEL 46 / 2017

HUMAN FLOW UG / NFP

Szene aus Ai-Weiwei-Film „Human Flow“: Irritierend schöne Bilder aus dem Leben der Vertriebenen und Entrechteten

denen jüdische Kinder aus Nazideutsch- an den Grenzanlagen zwischen Mexiko nicht helfen will. Niemand anderes als die
land nach Großbritannien gerettet wurden. und den USA und vom Regen durchnässte Politiker der EU sind verantwortlich!“ Der
Man sieht Eleanor Roosevelt im Jahr 1948 Kinder, Frauen und Männer am Grenz- Deal mit der Türkei zur Verhinderung wei-
die Erklärung der Menschenrechte vortra- zaun zwischen Griechenland und Maze- terer Flüchtlingsströme nach Mitteleuropa
gen und den Schauspieler Ralph Fiennes donien. Immer wieder sieht man den sei „inhuman“ und verstoße gegen die
im Jahr 2016 einen Monolog aus Shake- Regisseur, dessen Team in 23 Ländern Menschenrechtskonvention. Noch schlim-
speares „Sturm“ aufsagen. Das Zentrum unterwegs war, selbst im Bild: wie er mit mer: „Man bezahlt Konzentrationslager in
dieses Bekennerfilms ist Vanessa Redgrave gezückter Handykamera Helfer befragt, Libyen, in denen Flüchtlinge gefoltert wer-
selbst. Sie spricht mit brüchiger Stimme wie er mit einem syrischen Mann Pässe den!“ Ausdrücklich lobt Vanessa Redgrave
über die Pflicht der Politiker, Kindern zu tauscht, wie er mit dem Vater des toten die Politik Angela Merkels. „Sie ist eine
helfen, sie lässt sich von der Kamera bei Flüchtlingsjungen Alan Kurdi zu sprechen mutige Frau. In Großbritannien sind die
der Besichtigung des Flüchtlingslagers im versucht. Vor anderthalb Jahren gab es Politiker fast ausschließlich Feiglinge.“
französischen Calais begleiten. Sie hört empörte Reaktionen, als sich Ai Weiwei
afrikanischen und arabischen Frauen in am Strand der Insel Lesbos in genau jener Ai Weiwei sagt in Berlin: „Mein Film
Griechenland und Italien zu, erkundigt Haltung fotografieren ließ, in welcher der soll begreiflich machen, dass diese Krise
sich bei Unicef-Helfern nach den Bedin- Leichnam des kleinen Jungen Alan ange- alle Menschen angeht.“ „Human Flow“ sei
gungen ihrer Arbeit und mahnt Zuschauer spült worden war. Auch für „Human Flow“ kein journalistisches Werk und kein politi-
und Politiker zum Mitgefühl. Ein boshafter bekam er ein paar böse Kritiken, die ihm sches Plädoyer, sondern ein Appell an die
britischer Kritiker nannte Redgraves Werk Selbstinszenierung vorwarfen. Kinozuschauer, Flüchtlinge als ihresglei-
eine „amateurhafte Polemik zur Flücht- chen zu begreifen. „Die Politik und die
lingskrise“, die „besser als Familienschatz „Ich verstehe meinen Film als einen Akt Wirtschaft in den reichen Ländern haben
gehütet worden wäre“. der Ermutigung“, sagt Vanessa Redgrave sich großartig entwickelt, Deutschland,
in Nürnberg, wo sie mit „Sea Sorrow“ das China oder die USA haben in unfassba-
Ai Weiweis Film ist eine monumentale Internationale Filmfestival der Menschen- rem Ausmaß von der Globalisierung pro-
Großansicht des globalen Flüchtlings- rechte eröffnet. „Ich möchte vom Horror fitiert. Gerade deshalb ist es eine Schande,
elends. In irritierend schönen Drohnen- und von der Angst all dieser Menschen er- wenn die Bewohner dieser Länder vor
aufnahmen zeigt „Human Flow“ Bara- zählen. Und davon, dass wir alle verpflich- dem, was in den armen Ländern passiert,
ckenlager in Kenia, Zeltstädte in Grie- tet sind, sie zu retten. Sehen Sie sich die die Augen verschließen.“ Ai Weiweis „Hu-
chenland und hässliche Betonbauten im Kinder an!“ Sie redet sich in Rage. „Es ist man Flow“-Aufnahmen sind immer wie-
Gazastreifen. Ai Weiwei filmt Polizisten ein Skandal, dass die EU diesen Kindern der mit Gedichtzeilen berühmter Poeten

DER SPIEGEL 46 / 2017 129

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control); geschmückt. Sie stehen in merkwürdigem
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
Gegensatz zu den Zahlen, Fakten und

Pressezitaten, die der Regisseur einblen-

Belletristik Sachbuch den lässt: als wäre die Lyrik ein Gegengift

zu düsteren Prognosen und Statistiken.

1 (5) Lucinda Riley 1 (3) Rolf Dobelli Die Kunst Er habe noch in China ohne Reisepass
Die Perlenschwester Goldmann; 19,99 Euro des guten Lebens
Piper; 20 Euro festgesessen, als er entschieden habe, seine

Künstlerwerkstatt nach Lesbos zu verlegen,

2 (2) Dan Brown 2 (2) Peter Wohlleben Das geheime sagt Ai Weiwei. „Ich hatte keine Wahl. Ich
Origin Netzwerk der Natur Ludwig; 19,99 Euro
Lübbe; 28 Euro wollte bei diesen Menschen sein.“ Fast je-

3 (4) Gregor Gysi den Tag erführen die Bewohner der reichen
Ein Leben ist zu wenig Aufbau; 24 Euro
3 (1) Sebastian Fitzek Länder von zerstörten Städten in Syrien
Flugangst 7A
Droemer; 22,99 Euro oder Amokläufen in Las Vegas oder einem

4 (4) Daniel Kehlmann 4 (7) Ranga Yogeshwar Nächste Ausfahrt texanischen Dorf. „Wir werden mit solchen
Tyll
Zukunft Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro Nachrichten zugeschüttet und verlieren un-

Rowohlt; 22,95 Euro ser Empfinden für das, was Menschsein aus-

5 (3) Robert Menasse 5 (5) Axel Hacke Über den Anstand macht.“ Ai Weiwei stockt eine Kunstpause
Die Hauptstadt in schwierigen Zeiten und die Frage,
Suhrkamp; 24 Euro wie wir miteinander umgehen lang. „Ich wollte am Strand von Lesbos sein

Kunstmann; 18 Euro und diesen Frauen und Männern und Kin-

6 (6) Ken Follett Das Fundament dern Respekt zeigen. Ich wollte ihnen sagen,

der Ewigkeit Lübbe; 36 Euro 6 (11) Christian Lindner dass ich mit ihnen leide.“
Schattenjahre
Klett-Cotta; 22 Euro Tatsächlich ist es anrührend zu beobach-

7 (7) Kerstin Gier ten, wie die beiden prominenten Flücht-
Wolkenschloss
Fischer; 20 Euro 7 (6) Peter Wohlleben Das geheime lingsfreunde im Angesicht ihrer Schützlin-

8 (8) Maja Lunde Leben der Bäume Ludwig; 19,99 Euro ge auftauen und aus ihren öffentlichen Rol-
Die Geschichte der Bienen btb; 20 Euro
8 (14) Herfried Münkler Der Dreißigjährige len kippen. In „Sea Sorrow“ sieht man die

Krieg strenge, stets mit gerecktem Haupt durch

9 (–) Sabine Ebert Schwert und Krone. Rowohlt; 39,95 Euro Kulissen und Camps stapfende Vanessa

Der junge Falke Knaur; 19,99 Euro 9 (1) Richard David Precht Redgrave einige Male herzlich lachen, als
Erkenne dich selbst Goldmann; 24 Euro
sie mit Kindern scherzt oder sie beim Spie-

10 (9) Marc-Uwe Kling len anfeuert. In „Human Flow“ tapert der
QualityLand
Ullstein; 18 Euro 10 (8) Gerald Hüther Raus aus bullige Künstler Ai Weiwei einmal völlig

der Demenz-Falle! Arkana; 18 Euro hilflos um eine weinende ältere Frau he-

11 (–) Robert Harris 11 (16) Ferdinand von Schirach / rum, die mit dem Rücken zur Kamera sitzt.
München
Alexander Kluge Die Herzlichkeit Irgendwann steckt ihr der Regisseur verle-
Heyne; 22 Euro
der Vernunft gen zerknüllte Taschentücher zu.
Luchterhand; 10 Euro
„Human Flow“ kommt nun in die deut-
Robert Harris rehabilitiert
einen viel Gescholtenen: den 12 (12) Yuval Noah Harari schen Programmkinos, für „Sea Sorrow“
britischen Premier Chamber- Homo Deus
lain und dessen Appease- C.H. Beck; 24,95 Euro wird Vanessa Redgrave wohl weder in
ment-Politik gegenüber Hitler
13 (9) Andreas Michalsen Heilen mit Deutschland noch in Großbritannien einen

der Kraft der Natur Kinoverleiher finden. Man kann manche

Insel; 19,95 Euro technischen, argumentativen oder erzäh-

12 (11) Jojo Moyes 14 (13) Eckard von Hirschhausen Wunder lerischen Unzulänglichkeiten dieser Filme
Kleine Fluchten
Wunderlich; 12 Euro wirken Wunder Rowohlt; 19,95 Euro beklagen. Man kann sich bei der Erkennt-

13 (10) Jo Nesbø nis ertappen, dass man sehr viele ähnliche
Durst
15 (–) Elli H. Radinger Bilder arabischer und afrikanischer Flücht-
Die Weisheit der Wölfe
Ullstein; 24 Euro linge bereits gesehen zu haben glaubt in
Ludwig; 19,99 Euro
14 (12) Mariana Leky Was man von hier den vergangenen Jahren. Aber man muss

aus sehen kann DuMont; 20 Euro schon sehr hartherzig sein, um die Begeis-

Wölfe haben einen schlech- terung und den glühenden Willen zur An-
ten Ruf – zu Unrecht, wie
15 (13) Sven Regener Elli H. Radinger meint. Die teilnahme nicht zu spüren, die Vanessa
Wiener Straße Menschen könnten von den
Galiani; 22 Euro Tieren sogar lernen Redgrave und Ai Weiwei in diesen Arbei-

ten angetrieben haben.

16 (15) Walter Moers Prinzessin Insomnia & Beide zeigen Mut zum Pathos schon mit
der alptraumfarbene Nachtmahr
16 (20) Reinhold Messner den Symbolen, die sie benutzen, um für
Knaus; 24,99 Euro Wild
S. Fischer; 20 Euro ihre Botschaft zu werben. Vanessa Red-

17 (16) Elena Ferrante Die Geschichte grave hat eine Rettungsdecke in ihr Hotel-
der getrennten Wege Suhrkamp; 24 Euro
17 (10) Thorsten Schulte zimmer in Nürnberg mitgebracht. „Fassen
Kontrollverlust
Kopp; 19,95 Euro Sie das Ding ruhig an“, sagt sie. „Diese

18 (–) Elena Ferrante Meine 18 (15) Susanne Fröhlich / Constanze Kleis Decke macht für viele Menschen den Un-

geniale Freundin Suhrkamp; 22 Euro Kann weg! terschied zwischen Leben und Tod aus.“

Gräfe und Unzer; 17,99 Euro In Berlin reicht Ai Weiwei dem Besucher

19 (18) David Lagercrantz 19 (–) Alexander Gorkow ein Baumwollarmband mit der Aufschrift
Verfolgung Hotel Laguna Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
Heyne; 22,99 Euro „Human Flow“ über den Tisch. „Das ist ein

Geschenk“, sagt er. „Wer es trägt, hat be-

20 (17) Carmen Korn 20 (–) Nadia Murad griffen, dass die Menschen aller Zeiten
Zeiten des Aufbruchs Kindler; 19,95 Euro Ich bin eure Stimme
Knaur; 19,99 Euro Flüchtlinge sind.“ Wolfgang Höbel

130 DER SPIEGEL 46 / 2017

Kultur

und diskutierten über die Leitsätze einer „Charta für das

21. Jahrhundert“. Eine Minenarbeiterin aus Südafrika be-

richtete über den Mord an streikenden Kollegen, der bra-

silianische Gewerkschafter eines Volkswagen-Werks über

selbst erlittene Folterqualen, eine Tierrechtlerin über die

Sturm im Glühweinglas Niedertracht der Fleischindustrie. Am Ende gab es so
herzliche Uneinigkeit, dass die oft kompliziert angereisten
Parlamentarier zu keiner endgültigen Einigung kamen.

Theaterkritik Der Regisseur Milo Rau spielt In Teil drei des Revolutionspakets, dem am Dienstag an-
gesetzten „Sturm auf den Reichstag“, musste Milo Rau des-

in der Schaubühne und vor dem halb auf die Übergabe eines Pamphlets verzichten. Die Char-
Reichstag ein bisschen Weltrevolution. ta soll nachgereicht werden. Sie soll den Bundestagsabge-
ordneten klarmachen, dass ihre Beschlüsse sich weltweit

oft verheerend auswirken. „Der deutsche Bundestag ist kri-

Es riecht nach feuchter Erde und altväterlichen Joints minell in dem Sinn, dass nicht einmal fünf Prozent der von
auf der Wiese vor dem Berliner Reichstag, als die seiner Politik Betroffenen darin vertreten sind“, sagt Rau.
Aufständischen sich zum Kampf formieren. „Nicht
Der Regisseur ist 40 Jahre alt und als politischer Kopf in

zu breit werden, bitte!“, ruft der Regisseur, um die Menge der Theaterwelt geachtet. Er hat in Russland die juristische

aus rund 200 Frauen und Männern zu ordnen. Vorn stehen Verfolgung von Regimegegnern nachgestellt („Die Moskau-

zwei Fahnenträger, von denen einer die rote Fahne des er Prozesse“, 2013) und im Kongo einen Schauprozess mit

Aufruhrs trägt, der andere die blaugrüne der Roma. Hinten Vertretern von Rohstoffkonzernen, Bürgerkriegs-Warlords

stehen drei Polizeibeamte in dicken Schutzpanzern, einer und Verbrechensopfern organisiert („Das Kongo Tribunal“,

hat eine gelbe Leuchtweste mit den Lettern „Verbindung 2015). Er hat belgische Kinder auf der Bühne die Taten des

zum Veranstalter“ übergestreift. Mitten im Menschenpulk Kindermörders Marc Dutroux nacherzählen lassen („Five

ist auf einer drei Meter hohen Metallstange eine Kamera Easy Pieces“, 2016), womit ihm ein Theaterhit gelang.

montiert. Als sie einsatzbereit ist, stürmt die Menge in Rau ist in seiner Doppelrolle als Politaktivist und En-

Richtung Reichstagsgebäude – und in Ermangelung bes- tertainer ein toller und nicht uneitler Einzelkämpfer, dem

serer revolutionärer Parolen rufen die Menschen „Wow!“ es zu schmeicheln scheint, dass er öfter mit Christoph

und „Wuh!“, bis sie 20 Meter vor den Stufen des Parla- Schlingensief oder Rainer Werner Fassbinder verglichen

mentsgebäudes an einem Absperrgitter jäh-

lings stoppen und sich ohne Murren in die

Dämmerung trollen.

Es ist eine Mischung aus sportlichem Jux

und Demo für eine gerechtere Welt, die da

an einem eisig kalten Dienstagnachmittag

in Berlin zelebriert wird. Der Schweizer Re-

gisseur Milo Rau setzt zum 100. Jubiläum

der russischen Oktoberrevolution auf der

Reichstagswiese ein sogenanntes Reenact-

ment in Szene. Er stellt ein historisches Er-

eignis nach. Die etwa 200 Freiwilligen, unter

denen Schauspieler und Politiker sind, imi-

tieren mit einigem Eifer den Sturm auf das

Petersburger Winterpalais am 7. November MICHAEL KAPPELER / DPA

1917, der nach dem seinerzeit dort geltenden

Kalender an einem Oktobertag stattfand.

Mit der Erstürmung des Gebäudes durch

die Bolschewiken – die, wie die Revolutio-

näre von heute auch, durch die Tore und

Türen normal hätten eintreten können – Rau-Aktion „Sturm auf den Reichstag“ am 7. November in Berlin: „Nicht zu breit werden!“

begannen ein Bürgerkrieg und ein revolu-

tionärer Weltenbrand. Beide kosteten viele Millionen Men- wird. Nach dem „Sturm auf den Reichstag“ lässt er auf

schen das Leben. Milo Rau sagt trotzdem: „Wir brauchen einem mit Plakaten beklebten Transporter am Rande der

einen neuen Anlauf zur Weltrevolution.“ Reichstagswiese eine öde deutschsprachige Jazzpopband

Der Regisseur Rau hat sich einen Dreierpack von Thea- spielen. Die Zuhörer trinken Glühwein. Die zur Betreuung

teraktionen ausgedacht, um auf spielerische, aber ernst ge- der Theaterrevolutionäre eingeteilten Polizisten sagen den

meinte Weise auf die Notwendigkeit einer basisdemokrati- Presseleuten, die Reichstagserstürmer hätten sich vorbild-

schen globalen Neuordnung hinzuweisen. Er begann mit lich diszipliniert verhalten. Der Schaubühnen-Intendant

der Premiere eines selbst geschriebenen Stücks Mitte Ok- Thomas Ostermeier wiegt seinen Lulatschkörper im No-

tober in der Schaubühne, das „Lenin“ hieß und an den his- vemberwind und sagt, er bewundere Milo Rau für seinen

torischen Revolutionär erinnerte. Vom Freitagabend ver- politischen Furor – und dafür, dass er „mit den Gesetzen

gangener Woche an ließ Rau dann am selben Ort rund der Aufmerksamkeitsindustrie zu spielen versteht wie kein

20 Stunden lang in einer Show mit dem Titel „General As- anderer“. Der Weltumstürzler Wladimir Iljitsch Lenin, der

sembly“ ein vom ihm einbestelltes „Weltparlament“ tagen. die Oktoberrevolution des Jahres 1917 organisierte, hat

60 Zeitzeugen und Wissenschaftler aus vielen Ländern mal in etwa gesagt: „Sage mir, wofür man dich lobt, und

der Welt schilderten im Theatersaal Fälle bösen Unrechts ich sage dir, worin dein Fehler besteht.“ Wolfgang Höbel

DER SPIEGEL 46 / 2017 131

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132 DER SPIEGEL 46 / 2017

Nachrufe

EVERETT COLLECTION / ACTION PRESS HANS-MICHAEL REHBERG, 79 viert gab sich der Kölner nach
dem Karriereende 1965. Wie
KARIN DOR, 79 Er konnte mit seinen monu- THOMAS MEYER / ACTION PRESS sich mancher WM-Mitstreiter
mentalen Kieferknochen so HANSDIETRICHKAISER / WITTERSvermarktete und herumrei-
Sean Connery scherzte, wenn Deutschland das WM-Finale bedrohlich malmen wie kaum chen ließ, stieß dem gelernten
in Wembley gewinnen sollte, würde sie keine Arbeitser- ein anderer und war nicht nur Friseur und späteren Tankstel-
laubnis erhalten. Deutschland verlor, die Formulare lagen unter den Schurkendarstel- lenbesitzer Schäfer eher übel
am nächsten Tag im Briefkasten. Das war 1966, Karin Dor lern auf der Theaterbühne auf. Seine Karriere war makel-
spielte an Connerys Seite das erste – und einzige – deut- und im Fernsehen ein Großer. los: einmal „Fußballer des Jah-
sche Bond-Girl. Die Rolle der Helga Brandt in „Man lebt Hans-Michael Rehberg hat res“, zweimal Deutscher Meis-
nur zweimal“ machte die elegant und kühl agierende Dor sich als sensibler Einzelgän- ter mit dem 1. FC Köln, dem
international bekannt, Alfred Hitchcock besetzte sie bald ger, der stets eine Neigung er 17 Jahre lang treu blieb, drei
darauf im Agententhriller „Topas“. In der Bundesrepublik zur Gewalt auszustrahlen WM-Teilnahmen, eine Ikone
war die in Wiesbaden geborene Darstellerin da längst ein schien, früh Theaterruhm er- ohne Allüren und im Rhein-
Filmstar. In Filmen wie „Der grüne Bogenschütze“ (1961) spielt. Mit fünf Geschwistern land weltbekannt. Mit Ehefrau
aus der Edgar-Wallace-Reihe wurde sie vor mörderischen wuchs Rehberg unter ande- Isis, die bei der 54er-WM in
Nachstellungen gerettet. Als Häuptlingstochter Ribanna rem in Schlesien und am
verliebte sie sich in „Winnetou 2“ (1964) unglücklich in den Starnberger See auf. Nach der Spiez im Nachbarhotel der
Titelhelden, und dank der häufigen Wiederholungen im Schauspielschule arbeitete er Mannschaft wohnte, war Schä-
Fernsehen litten noch Generationen junger Zuschauer mit in München, Hamburg, Berlin, fer 64 Jahre lang verheiratet.
ihr. Oft hatte sie unter der Regie ihres Mannes Harald Wien und bei den Salzburger Seinem „FC“ stand er bis zum
Reinl gespielt, bei den Vertretern des Neuen Deutschen Festspielen mit vielen be- Schluss nahe, ohne sich einzu-
Films war Dor dagegen nicht gefragt. Margarethe von Trot- rühmten Theatermachern – mischen. Hans Schäfer starb
ta besetzte sie schließlich für den Film „Ich bin die andere“ und geriet nicht selten mit ih- am 7. November in Köln. wei
(2006) als dekadente alkoholkranke Mutter der Protagonis- nen in Streit. Rehberg war ein
tin Katja Riemann. Anders als viele Stars ihrer Generation, Zweifler, der sich nur unter-
so Trotta, sei Dor bei der Zusammenarbeit unkompliziert ordnen mochte, wenn ihm das
gewesen – ihre Darstellung hingegen überzeugend und zu- als richtig einleuchtete. Wie
rückhaltend. 2015 besetzte die Regisseurin Dor noch ein- im Theater wurde er auch im
mal in einer Mutterrolle im Film „Die abhandene Welt“. Fernsehen und im Kino zum
Karin Dor, die im vergangenen Jahr schwer gestürzt war,
DPAstarb am 6. November in München. smo Spezialisten für das Fach der ANTONIO CARLUCCIO, 80
äußerlich knallharten Macht-
RICHARD GORDON, 88 männer und schillernden Ty- Viele, die schon einmal in
rannen. Er spielte in Steven Großbritannien waren, ken-
Sein Puls kletterte auf 162, Spielbergs „Schindlers Liste“ nen sie, die blaue Schnörkel-
als Richard Gordon 300 Kilo- mit, gab in zahllosen Krimis schrift „Carluccio’s“. Minima-
meter über der Erde aus der und Serien den schrulligen ler Aufwand, maximaler Ge-
„Gemini 11“-Kapsel stieg. Charakterkopf und trat zu- schmack: Das war das Motto
Mitten ins Nichts. Der erste letzt unter anderem 2015 in des Starkochs Antonio Car-
Außeneinsatz des Astronau- der TV-Version von Ferdinand luccio. Der gebürtige Italiener
ten Gordon im Jahr 1966 ist von Schirachs „Schuld“ auf. arbeitete erst als Journalist in
genau dokumentiert. Die klo- „Der innere Quark von Schau- Turin, auch als Weinhändler
bigen Schutzanzüge machten spielern interessiert mich in Hamburg. Vor knapp 40
die Bewegungen im Weltraum anstrengend und gefährlich. nicht“, hat er einmal gesagt. Jahren eröffnete er sein erstes
Er verfing sich im Luftversorgungsschlauch. Die Astronau- Hans-Michael Rehberg starb Restaurant in London, in dem
ten der Sechzigerjahre waren die mythischen Helden einer am 7. November in Berlin. höb auch Jamie Oliver seine Kar-
riere begann. Er veröffentlich-
neuen Zeit, der SPIEGEL sah damals gar griechisches Schick- HANS SCHÄFER, 90 te 22 Kochbücher, hatte un-
zählige Fernsehauftritte und
sal am Werk und schrieb über den Einsatz: „Laokoon- Mit dem Titel „Held“ konnte bekam sogar Verdienstorden
gleich rang Richard Gordon mit der Nabelschnurschlange.“ er nichts anfangen, das „Wun- der britischen und italienischen
Drei Jahre später – Neil Armstrong hatte bereits seine Fuß- der von Bern“, der deutsche Regierung. Grundpfeiler sei-
spuren auf dem Mond hinterlassen – flog Gordon ebenfalls Fußballtriumph bei der Welt- nes Erfolgs war die Idee, quali-
zum Erdtrabanten. Es war ihm nicht vergönnt auszustei- meisterschaft 1954, beruhte für tativ anspruchsvolle Küche in
gen, er musste die „Apollo 12“ bewachen. Wie viele Astro- ihn auf Willensstärke, Selbst- günstigen Kettenrestaurants
nauten kehrte auch er vom Mond heim, um sich ganz vertrauen und Glück – und anzubieten. Im Vereinigten
irdischen Dingen zu widmen: Er leitete ein Footballteam. überhaupt: So redselig der Königreich sind seine Restau-
Richard Gordon starb am 6. November in Kalifornien. xvc Linksaußen im Kreis der Na- rants und Cafés an mehr als
tionalmannschaft war, so reser- 80 Standorten zu finden. Anto-
nio Carluccio, der dort zu Recht
als Pate der italienischen Gas-
tronomie gilt, starb am 8. No-
vember in London. red

DER SPIEGEL 46 / 2017 133

Im KartenhausEVA TEDESJO / PICTURE ALLIANCE / DPA vorerst die laufenden Dreharbeiten zur sechsten Staffel und
ANNE-CHRISTINE POUJOULAT / AFPkündigte an, sich komplett von Spacey zu trennen. Inhaltlich
Warum eigentlich nicht? Statt die Erfolgsserie „House of wäre es durchaus vorstellbar, Claire Underwood zur Haupt-
Cards“ komplett einzustellen, könnte Robin Wright, 51, mit figur zu machen – schließlich übernahm sie Ende der vergan-
ihrer Figur Claire Underwood die Hauptrolle übernehmen. genen Staffel sogar die Präsidentschaft von ihrem Gatten Frank
Das schlug jedenfalls die Golden-Globe-Gewinnerin Jessica alias Kevin Spacey. Schon zuvor verlangte die Schauspielerin,
Chastain auf Twitter vor. Grund dafür: Kevin Spacey, der in die gleiche Gage wie Spacey zu erhalten. 2014 verdiente sie
der Netflix-Serie die bisherige Hauptrolle des skrupellosen 420 000 Dollar pro Folge, ihr männlicher Kollege dagegen eine
amerikanischen Machtpolitikers Frank Underwood spielt, halbe Million. In einem Interview im Juni sagte Wright, dass
wurde in der vergangenen Woche von mehreren Männern der sie noch immer nicht wisse, ob sie jetzt genauso viel verdiene.
sexuellen Belästigung bezichtigt. Daraufhin stoppte Netflix Als Hauptdarstellerin dürfte sich das ändern. red

Verausgabt Sexszene. Diese Bandbreite Bang; zwei Tage lang habe
sei so außergewöhnlich, dass er sich im Regen durch einen
Es sei der Rolls-Royce des sich in dem Film für jedes Müllberg wühlen müssen.
Schauspielens gewesen, sagt Genre eine Arbeitsprobe fin- Bang, der fließend Deutsch
Claes Bang, 50, über seine de, meint einer von Bangs spricht und sich für die deut-
Hauptrolle im Film „The Agenten. Regisseur Ruben sche Version selbst synchro-
Square“. Als blasierter Mu- Östlund bestand auf höchster nisierte, fühlt sich jetzt reif
seumskurator hat der däni- Authentizität, und so waren für die Zusammenarbeit mit
sche Schauspieler es in einer die Dreharbeiten eine Feuer- Regisseuren wie Michael
Szene mit einem Affen zu probe für den Darsteller. Sze- Haneke („Das weiße Band“)
tun, in einer anderen mit nen von mehreren Minuten oder Maren Ade („Toni Erd-
einem verzweifelten Zwölf- Länge habe er 60- bis 70-mal mann“) – beide sind bekannt
jährigen, er verausgabt sich wiederholen müssen, fast bis dafür, Szenen zigmal wieder-
in einer Tanz- sowie in einer zur Besinnungslosigkeit, so holen zu lassen. smo

134 DER SPIEGEL 46 / 2017

Personalien

Überraschendes Lob in innerpolnische Angelegen- PETER-JUELICH.COM / DER SPIEGEL
heiten einzumischen sowie
Der polnische Außenminister zu regierungsfeindlichen
Witold Waszczykowski, 60, hat Aktionen anzustiften. Auch
sich in der EU den Ruf er- den amtierenden amerikani-
arbeitet, mit seinen Urteilen schen Präsidenten sieht er im
oft zu überraschen. Vergan- Gegensatz zu den meisten
gene Woche riss er ein Zitat EU-Partnern positiv. Neulich
der deutschen Verteidigungs- outete sich der Politiker der
ministerin Ursula von der rechtsnationalen PiS-Partei
Leyen aus dem Zusammen- als Trump-Fan. Anlass war
hang und warf ihr vor, sich ein Treffen der EU-Außen-
minister vor drei Wochen in
KACPER PEMPEL / REUTERS Luxemburg, bei dem viele Der Augenzeuge
Vertreter ihre Sorge über das
Bestreben Trumps zum Aus- „Biotope und Spielplätze“
druck brachten, den Atom-
deal mit Iran zu torpedieren. Mit Gedenktagen wie Allerseelen, Totensonntag oder Volks-
„Ich weiß, dass viele hier in trauertag rufen Kirche und Staat im November zur Erinnerung
der Runde in Herrn Trump an die Verstorbenen auf. Doch der Umgang mit der Trauer
einen schlechten Präsidenten verändert sich, vor allem in den Großstädten. Und das habe
sehen“, sagte Waszczykowski. gravierende Auswirkungen auf die Friedhöfe dort, sagt Thomas
Er sehe das anders. „Trump Bäder, 55, Chef der Friedhofsverwaltung in Frankfurt am Main.
wird ein großer Präsident
werden.“ csc „Früher dachten wir: Wenn die Städte größer werden
und die Einwohnerzahlen wachsen, dann braucht man
Klamottenmarotte (520 440 Dollar). Die Recher- auch mehr Platz für Friedhöfe. Tatsächlich ist es heute
chen der Associated Press genau andersherum, zumindest in den großen Städten.
Donald Trumps ehemaliger ergaben jetzt, dass in den be- Die Menschen sind mobiler geworden. Viele werden
Wahlkampfmanager Paul sagten Läden eine Krawatte nicht mehr dort bestattet, wo sie lange gelebt und gear-
Manafort, 68, muss sich ernst- 1000 Dollar, ein Anzug um beitet haben, sondern dort, wo Angehörige sind. Oder
haft Sorgen machen. Nicht die 7500 Dollar kostet. Es wo die Grabstätten günstig und pflegeleicht sind.
nur, weil er wegen Geldwä- stellt sich jedoch nicht nur
sche und Steuerhinterziehung die Frage, warum jemand so Hier in Frankfurt gibt es seit einigen Jahren sinkende
angeklagt ist. Sondern auch, viel Geld für Anzüge ausgibt, Bestattungszahlen und einen Trend zum kleineren Grab.
weil er sich der Öffentlich- sondern vor allem, wie er Wir haben heute etwa 73 Prozent Urnenbeisetzungen
keit gegenüber jetzt wegen so viel Geld ausgeben und und nur noch einen kleinen Teil klassische Erdbestattun-
schlechten Stils verantworten gleichzeitig so schlecht dabei gen. Vor 10, 15 Jahren war das Verhältnis noch umge-
muss. Aus der Anklageschrift aussehen kann. Die Anzüge kehrt. An einigen unserer 36 Friedhöfe bieten wir Baum-
geht hervor, dass Manafort würden nicht richtig passen, oder Rasengräber an. Da liegt dann nur noch eine kleine
mehr als 1,3 Millionen Dollar und die Krawatten seien häss- Steinplatte im Gras, und das wird von uns regelmäßig
für Kleidung ausgegeben ha- lich, so das allgemeine Urteil gemäht. Dadurch entfällt die Grabpflege für Angehörige
ben soll. Manaforts Shopping- der Medien. Vielleicht hat komplett. So etwas wird immer stärker nachgefragt.
touren verteilten sich auf Manafort eine alte Regel für
zwei Herrenausstatter, einer den Dresscode am Arbeits- Für uns ist das eine Herausforderung, denn die Einnah-
in New York (849 215 Dollar) platz befolgt: Kleide dich nie men sinken natürlich, wenn die Gräber kleiner werden.
und einer in Kalifornien besser als dein Chef. xvc Gleichzeitig müssen wir immer größere Flächen selbst
pflegen, Überhangflächen nennen wir die. Der Frank-
DAMON WINTER / NYT / REDUX / LAIF furter Hauptfriedhof ist ungefähr 70 Hektar groß, davon
werden wir in Zukunft vielleicht nur noch 30 oder 40
Hektar für Gräber benötigen. An den Rändern des Ge-
ländes ziehen wir uns schon jetzt langsam zurück, dort
haben wir beispielsweise ein Biotop angelegt. Es gibt
aber noch viele andere Überlegungen, was man mit den
freien Flächen machen kann: warum nicht auch Spiel-
plätze anlegen oder naturkundliche Lehrpfade?

In den Großstädten sind die Friedhöfe nicht mehr nur
für die Trauernden da. Es sind attraktive Grünflächen
für alle Bürger. Auf den Hauptfriedhof kommen heute
schon viele Jogger und Eltern mit Kinderwagen. Denn
der Friedhof ist eben nicht nur eine Fläche für Gräber,
sondern auch ein schöner, schattiger Park, eine Erho-
lungsfläche, eine große grüne Lunge mitten in der Stadt.“

Aufgezeichnet von Matthias Bartsch

DER SPIEGEL 46 / 2017 135

„Was wäre Amerika erspart geblieben, wenn es vor zwei
Generationen Einreiseverbote für Migranten aus der Pfalz gegeben
hätte? Vermutlich wäre Donald Trump heute AfD-Chef.“

Ekkehard Sander, Denkendorf (Bad.-Württ.)

Ungehemmt So klar, so dicht an Atmosphäre wurde das STEPHEN VOSS / DER SPIEGEL rer Herrschaft und absoluten Heilsverspre-
heutige Treiben in Washington kaum zu- chen. Die Menschen sollten begreifen, dass
Nr. 45/2017 Washington, ein Jahr danach vor beschrieben. Allerdings ging es dort sie auf demselben Planeten sitzen. Der
schon öfter wild zu, beispielsweise zu Lin- mündige Bürger muss sein Schicksal selbst
„Washington, ein Jahr danach“ titelt der colns Zeiten, wie Doris Kearns Goodwin in die Hand nehmen. Dialoge muss es zwi-
in ihrer Biografie „Team of Rivals“ über schen allen geben. Dazu gehören inzwi-
SPIEGEL und lässt zum Jahrestag von ihn ans Tageslicht befördert hat. Angefeu- schen 26 Prozent Konfessionsfreie – und
ert von einer völlig ungehemmten Presse, ihr Anteil wächst. Für Religionen und Ideo-
Donald Trumps Wahlsieg Washingtoner die mit Verleumdungen und falschen Dar- logien, die uns in Rechtgläubige und
Machtsymbole durcheinanderpurzeln. Doch stellungen nur so um sich schmiss, kam es Falschgläubige einteilen, ist die Zeit abge-
damit nicht genug: Der Illustrator verbin- laufen. Luther und Calvin waren nicht to-
det diese Aussage mit der gegenwärtigen Kapitol in Washington leranter als die Päpste und Mohammed.
Asienreise Trumps, indem er mit Trumps Der Weg zur Freiheit und Mündigkeit führt
Haartolle auf den bekannten Farbholz- damals zu wüsten Streitereien, das heutige über den säkularen Staat. Was uns verbin-
schnitt „Die große Welle vor Kanagawa“ fromme Getue war nicht en vogue, und det, sind die Werte der Aufklärung: De-
des japanischen Künstlers Hokusai (1760 sinnvolle Gesetzesentwürfe wurden fast mokratie, Menschenrechte, Toleranz.
bis 1849) anspielt. Meisterhaft! bis zur Unkenntlichkeit verwässert, ehe es
zwischen den Kontrahenten zu einer Eini- Roland Fakler, Ammerbuch (Bad.-Württ.)
Dr. Siegfried von Niswandt, Fellbach (Bad.-Württ.) gung kommen konnte. Die Stadt hat diese
Auseinandersetzungen überlebt, wenn- Gott sei Dank hat der nervige Luther-Rum-
Den amtierenden US-Präsidenten mit schon Abe Lincoln nicht. mel bald ein Ende!
einer Naturkatastrophe gleichzusetzen
ist an Geschmacklosigkeit kaum zu über- Frauke Warner, Wien (Österreich) Georg Malkowsky, Bockenem (Nieders.)
bieten.
Der Rummel Zum Glück ist Martin Luther reformiert,
Arnd Deterding, Hamburg sonst hätten ihn die Deutschen im Jubi-
Nr. 44/2017 Die magere Bilanz des läumsjahr schon längst heiliggesprochen.
Wann endlich versteht die SPIEGEL- Reformationsjahres
Raffaele Ferdinando Schacher, Rorschach (Schweiz)
Redaktion, dass Trump auf vier Jahre ge- Sie haben das Thema EKD-Reformations-
wählt ist und vielleicht noch mal vier Jahre feiern hervorragend beschrieben. Auch der Weg zur Entstigmatisierung
anhängen kann – mir wär’s recht. Er ist Theologe Friedrich Schorlemmer sagte
unkonventionell und, besonders wichtig, treffend: „Zu viel Event, zu wenig Bot- Nr. 44/2017 Wie Kinder in einer psychiatrischen Klinik
er ist politisch inkorrekt. Das haben all die schaft.“ Martin Luther hat völlig zu Recht in den Alltag zurückfinden
weichgespülten Politiker und Journalisten, gegen die damaligen entsetzlichen Zustän-
besonders die in der EU, halt nicht so gern. de in der katholischen Kirche protestiert. Diese hervorragende Reportage öffnet die
Seine schriftlichen Leistungen waren ge- Augen dafür, wie wir mit unseren Kindern
Albert Augustin, Gelterkinden (Schweiz) nial, und seine Empörung ist nachvollzieh- umgehen beziehungsweise umgehen soll-
bar. Jedoch war und bleibt Martin Luther ten. Es ist ein lesenswerter Blick hinter die
Ich kann Ihre plumpen Anti-Trump-Pam- für die Folgen seiner Taten verantwortlich. Kulissen eines Themas, das eine saturierte
phlete nicht mehr lesen. Es ist frappierend, Er hätte, wie es derzeit Papst Franziskus Gesellschaft gern ausblendet. Sehr gut
wie einseitig negativ ein Mann dargestellt tut, vernünftiger gegen die Missstände in auch, dass die Rolle der Eltern, der Schule
wird, den zu wählen eine der größten der katholischen Kirche vorgehen müssen. und der Gesellschaft so intensiv beleuchtet
Demokratien der Welt sich erdreistet hat. Martin Luther ist für mich kein Vorbild. wurde.
Es geht nicht darum, dass Trump diese Ne- Er hat eine Religion in zwei Teile gespal-
gativseiten nicht hätte, sondern dass sie ten, die wohl nie mehr zusammenfinden Hans Moritz, Erding (Bayern)
bei der hochkorrupten Hillary Clinton völ- werden.
lig ausgeblendet werden. Trumps „Pro- Katja Thimms Text ist ein weiterer wichti-
blem“ ist, dass er nicht in Ihr Weltbild Volker Freiesleben, Köln ger Beitrag auf dem langen Weg zur Ent-
passt. Diese Bigotterie lenkt die Sympathie stigmatisierung psychisch erkrankter Men-
aus reiner Reaktanz hin zu Trump, selbst Die Reformation kann nur als ein Schritt schen. Kritisch möchte ich allerdings auf
wenn man den Mann durchaus kritisch be- in die richtige Richtung betrachtet werden: die Formulierung „eine Schwester wacht
trachtet. zur Befreiung des Menschen von totalitä- am Bett“ im letzten Abschnitt des Artikels
eingehen. Dieser vermittelt eher das alte
Dr. Rüdiger Christ, Oberndorf am Neckar (Bad.-Württ.) Bild einer kustodialen Psychiatrie aus
einer Zeit, in der sich Pflegende noch als
Der Wahlkampf hat in der Tat seit Trumps „Wärter“ verstanden. Dies ist zum Glück
Wahl nicht nachgelassen. Seit einem Jahr nicht mehr so. Vielmehr ist es heute eine
bekomme ich als Amerikaner täglich von Intensivbetreuung, eine wichtige therapeu-
den Demokraten in Washington Hiobsbot- tische Intervention. Sie verlangt von dem
schaften zu Trump, mit anhängender Bitte Ausführenden eine hohe Fachlichkeit und
um eine Spende. Einerseits ist das zermür- ist, bei richtiger fachlicher Ausgestaltung,
bend, andererseits hofft man, dass beim für den Patienten in der Intensivbetreuung
nächsten Mal die Wahlbeteiligung nicht so extrem stützend und wertvoll.
miserabel sein wird, weil die niedrige Be-
teiligung ein Grund für Hillary Clintons Stefan Rogge, Troisdorf (NRW)
Niederlage war.

Alan Benson, Berlin

136 DER SPIEGEL 46 / 2017

Briefe

Das Tier in uns F1ONLINEben Sie etwas Grundlegendes nicht ver- Interessant ist Melanie Amanns Aussage:
JAKE ROTH-USA TODAY SPORTS/DDP IMAGESstanden: Wenn eine Frau vergewaltigt„Kein junger männlicher Polit-Shootingstar
Debatte: Nr. 44/2017 Jochen-Martin Gutsch: Was wird, dann ist das erst einmal kein Sexis- müsste sich diese Begrüßung anhören.“
genau ist eigentlich Sexismus? Nr. 45/2017 Melanie mus, sondern eine Straftat. Sexismus ist, Der Autorin scheint entgangen zu sein,
Amann: Warum die Männer falsch auf den Alltags- wenn eine Person aufgrund ihres Ge- wie häufig Christian Lindner, Justin Tru-
sexismus reagieren schlechts diskriminiert wird. Wie Sie sehen, deau oder Sebastian Kurz auf Alter bezie-
geht es hier um eine Person. Nicht um hungsweise Aussehen reduziert werden.
Der Beitrag von Jochen-Martin Gutsch Frauen. Nicht um Männer. Wenn ein Mann
spricht mir aus der Seele. Derzeit melden eine Frau vergewaltigt, dann bedeutet das Julian Rieger, Neustadt an der Weinstraße (Rhld.-Pf.)
sich ständig Frauen zu Wort, denen in ei- Folgendes: Der Mann glaubt, es wäre legi-
ner Bar an den Hintern gegriffen wurde tim, die Frau als Objekt ohne eigenen Wil- Für Ideale bestraft
oder die sich im Büro einen dummen len zu verstehen. Sie wäre weniger wert
Spruch anhören mussten. Ich finde es be- als er. Er könnte über sie und ihre Sexua- Nr. 44/2017 Der US-Footballstar Colin Kaepernick
schämend, dass diese sich auf eine Stufe lität bestimmen, weil er ein Mann ist und erfand den Kniefall als Symbol gegen Rassismus –
stellen mit Frauen, die von machtmissbrau- sie eine Frau. Wissen Sie, wie man so was jetzt ist er arbeitslos
chenden Männern vergewaltigt wurden. nennt? Genau, Sexismus. Sie sind aber an-
scheinend der Meinung, dass Sexismus nur Der unterschwellige und häufig auch offe-
Daniela Jaus, Stuttgart in solchen Extremfällen besteht. ne Rassismus in den USA ist ein großes
Problem der amerikanischen Gesellschaft
Der Artikel offenbart für mich einen gro- Felicitas Dahmen, 17 Jahre, Köln und muss so lange thematisiert werden,
ßen Teil des Dilemmas dieser Debatte. bis sich grundlegend etwas ändert.
Herr Gutsch hat, so scheint mir nach der Ich kann jeden Satz im Essay von Jochen-
Lektüre, nichts verstanden. Er schreibt, er Martin Gutsch nur unterstreichen und „ge- Jonathan Bloch, Hamburg
sei ein Mann und ihm fehle der Erfahrungs- nau!“ an den Rand schreiben – als Frau
horizont, was sexuelle Belästigung angeht. und Feministin der Siebzigerjahre! Seit Die Menschheit wird noch Hunderte Jahre
Gut, dann sollte er aber auch nicht darüber Langem fällt mir auf, dass diese völlig ab- brauchen, bis es hoffentlich keinen Rassis-
urteilen, was Frauen (und Männer) als se- surde Hysterie um „Sexismus“ und „Gen- mus mehr gibt. Persönlich empfehle ich je-
xuelle Belästigung oder als Sexismus emp- der“ eine tief sitzende Angst vor der Bio- dem potenziellen Rassismusopfer den Weg
finden dürfen. logie sein muss, eine verzweifelte Rebellion Obamas: Man muss Teil des Systems wer-
der Postmoderne gegen das Tier in uns. den und versuchen, es so in die richtigen
Anna Duda-Alles, Mainz
Julia Berendsohn, Hamburg Sportler Kaepernick 2016
Herr Gutsch kann sich so gar nicht erklä-
ren, weshalb die Worte des Ex-Botschaf- Melanie Amann skizziert sehr anschaulich Bahnen zu lenken. Konfrontation führt lei-
ters Kiderlen, „Ich habe keine so junge die vielen, leider immer noch aktuellen der zu Isolation. Aber in jungen Jahren
Frau erwartet. Und dann sind Sie auch so Strukturen und Zusammenhänge, die Se- glaubt man noch an Ideale – und wird da-
schön“, Sexismus in Reinkultur sind. Dazu xismus im Alltag begünstigen. Gerade jene, für, wie Colin Kaepernick, leider bestraft.
möge er sich in die Lage der Staatssekre- die nicht auf den ersten Blick erkennbar
tärin Sawsan Chebli versetzen. Die rele- sind. Denn einige Männer (und leider auch Akgün Kizilkaya, Willstätt (Bad.-Württ.)
vanten Sätze sind bei einer Podiumsdis- Frauen), die sich nicht einmal als Sexist_in-
kussion gefallen, mithin in der Öffentlich- nen bezeichnen würden, empfinden es als „Touchdown“ – eine vorgezogene zeitge-
normal, die Leistungen von Frauen weni- mäße Weihnachtsgeschichte, die in alle
Mann beim Abwaschen ger zu honorieren als die von Männern, Schulzimmer gehört und die deodorierten
sie kleinzumachen und kleinzuhalten. Weihnachtsnarrative weit in den Schatten
keit. Frau Chebli musste sich vorkommen stellt. Dank dem Autor Claas Relotius und
wie ein Schulmädchen, bei dem Mann alles Janine Adomeit, München
Mögliche gut findet, nur nicht ihre Kom- dem SPIEGEL!
petenz. Dies nicht zu erkennen ist doch In der Vorwoche hat der Essay von Jochen-
schon ziemlich ignorant. Martin Gutsch durch seine Mischung aus Andreas Meyer, Gibswil (Schweiz)
ahnungsloser Ignoranz und dumm-dreister,
Andreas Meißner, Dresden das Thema auf männliche Flirtproblemati- Michael Bennett ist nicht Quarterback der
ken reduzierender Verharmlosung Brech- Seattle Seahawks, sondern Defensive End.
Sie sind der Meinung, Herr Gutsch, das reiz bei mir ausgelöst. Das eklige Gefühl Also Verteidiger statt Spielmacher. Ich
Wort Sexismus werde inflationär benutzt, nach diesem Rechtfertigungsquatsch ist
beim Sexismus werde heute alles ver- glücklicherweise seit der aktuellen Aus- schätze den SPIEGEL als gutes Nachrich-
mischt. Der anzügliche Spruch, die Verge- gabe und dem darin enthaltenen Essay von
waltigung, das missglückte Kompliment – Melanie Amann verflogen. Es zeigt sich ten-Magazin. Gerade deshalb hoffe ich,
alles eine Soße. Dabei, so argumentieren für mich wieder einmal deutlich, dass Män- dass dieser Fehler ein Ausrutscher war.
Sie, seien diese drei Beispiele nicht Teil nern wie Herrn Gutsch stets mehr daran
desselben Problems. Und genau dort ha- gelegen ist, ihre empathischen Impulse auf Lars Mindermann, Hannover
eine Bagatellisierung der tief verwurzelten
Tradition des patriarchalischen Sexismus – Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
will heißen: auf sich selbst als armes Opfer ([email protected]) gekürzt
dieser Debatte – zu lenken, anstatt mithilfe sowie digital zu veröffentlichen und unter
der Empathie einen scharf differenzierten www.spiegel.de zu archivieren.
Täter-Opfer-Begriff zu entwickeln und sich
so schonungslos mit der eigenen Vormacht-
stellung als weißer Mann auseinander-
zusetzen.

Florian Stauch, Halle (Saale)

DER SPIEGEL 46 / 2017 137

Hohlspiegel JETZT IM HANDEL: Rückspiegel

Aus der „Rhein-Neckar-Zeitung“ EDITION Zitate
AGILES
Aus dem SPIEGEL: „Seine Deutsch MANAGEMENT Das „Hamburger Abendblatt“ zum

wird immer besser.“ ORGANISATION SPIEGEL-Gespräch „Wir hätten
Aus der „Schwäbischen Zeitung“: So werden Marketing und
Vertrieb beweglicher gewinnen können“ mit SPD-Parteivize
„Weil der Aufsteiger zuhause BEST PRACTICE Olaf Scholz (Nr. 45/2017):
verloren hat, muss er daheim die Wie Vodafone seine Kunden-
betreuung modernisierte Als in der Pressekonferenz der Name
Punkte wettmachen.“ FALLSTUDIE Olaf Scholz fällt, wird Martin Schulz
Ein Bauunternehmen will einsilbig. Das Interview, das sein Stell-
Aus der „Neuen Westfälischen“ dezentral arbeiten. Droht nun
Aus der „Saarbrücker Zeitung“: der Kontrollverlust? vertreter im Parteivorsitz dem SPIEGEL
„Bliesgau-Ranger Michael Kessler
übt deutliche Kritik an Hundebesitzern, ! gegeben hat, habe er auch gelesen, sagt
die ihre Zweibeiner nicht anleinen.“ der SPD-Chef. „Mit großem Interesse“.
Auch als digitale Ausgabe erhältlich: Schulz vermeidet am Montag dann aber
Aus einem Werbeprospekt harvardbusinessmanager.de jede Bewertung dessen, was Scholz in
eines Getränkehandels dem Gespräch gesagt hat. Der Hambur-
Aus der „Welt am Sonntag“: „Das Ganze ger Bürgermeister gilt als größter Kriti-
wiederholt sich alle 24 Stunden, ker von Schulz und als möglicher Kon-
weil sich die Erde in 24 Stunden einmal kurrent im Amt des Parteivorsitzenden.
um die Sonne dreht.“ Das ganze Interview liest sich wie ein
einziger Vorwurf an den gescheiterten
Schild am Hochwasserschutzbecken Kanzlerkandidaten, jede Antwort ist
Kalte Bode in Mandelholz (Harz) eine Ohrfeige. „Wir hätten die Bundes-
Aus dem „Deutschen Ärzteblatt“: tagswahl gewinnen können“, sagt Scholz,
was nichts anderes heißt als: Ich hätte
„Der Abbau von Bürokratie in der ambu- diese Wahl gewonnen.
lanten Versorgung kommt nur langsam
voran. Für das aktuelle Jahr wird ein An- Die „Welt“ zum selben Thema:

stieg von 0,2 Prozentpunkten berechnet.“ Eine Spannung liegt aber noch immer in
138 DER SPIEGEL 46 / 2017 der Luft, vor allem zwischen Schulz und
seinem Stellvertreter, Hamburgs Bürger-
meister Scholz. Er, Schulz, übernehme
Verantwortung für die Niederlage bei
der Bundestagswahl, während andere,
die „seit August Bebel“ der Parteispitze
angehörten, dies nicht täten, habe der
Vorsitzende im Präsidium gesagt, hieß
es aus dieser Runde. Dies wurde als
Kritik an Scholz aufgefasst, der in einem

SPIEGEL-Interview seinerseits indirekt

Schulz kritisiert hatte.

Die „Stuttgarter Zeitung“ zur SPIEGEL-

Meldung „Einladung aus Doha“
über ungeklärte Fragen zur Fußballwelt-
meisterschaft 2006 (Nr. 45/2017):

Reinhard Grindel erklärt die Aufarbei-
tung des WM-Skandals 2006 endgültig
zur Chefsache: Der Präsident des Deut-
schen Fußball-Bundes (DFB) persönlich
wird im Dezember in Katar einen neuen
Versuch für ein Gespräch mit der Schlüs-
selfigur der Affäre, Mohammed Bin
Hammam (Katar), unternehmen. Das
Ziel ist, damit zur womöglich endgülti-
gen Aufklärung des Rätsels um die un-
geklärte Millionenzahlung der deutschen
WM-Macher von 2006 beizutragen …
Grindels Bekanntgabe der Mission er-
folgt zu einem pikanten Zeitpunkt: Wie

der SPIEGEL aktuell berichtet, soll der

DFB schon im Frühling 2016 eine erste
Gelegenheit auf eine Aussage von Bin
Hammam zu den ominösen Vorgängen
im WM-OK ungenutzt gelassen haben.

„Spitzenburgunder
braucht Spitzenberatung.“

Julia Bertram,
Inhaberin Weingut Julia Bertram
und Genossenschaftsmitglied

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