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Published by lektorat, 2018-08-10 03:20:10

RHB_Textprobe

RHB_Textprobe

Robert
Hunger-Bühler
Den Menschen
spielen

Mit Beiträgen von Mathias Balzer, Klaus Dermutz, Barbara Frey,
Thomas M. Gehring, Christoph Gröner, Hans Peter Hungerbühler,
Robert Hunger-Bühler, Alexandra Kedves, Peter Kümmel,
Lothar Lohs, Peter von Matt, Stefan Mayer, Haralampi G. Oroschakof,
Arnaud des Pallières, Milo Rau, Alfred Rubatschek, Martin Schäfer,
Anna Viebrock und Stefan Zweifel
Herausgegeben von Klaus Dermutz

Limmat Verlag
Zürich

Inhalt

7 Der Ball, die Bühne und eine Fee | Barbara Frey
9 Was ist Schauspiel? | Milo Rau
20 «Unser Vater lehnte gewisse Volksstämme radikal ab»

Hans Peter Hungerbühler und Robert Hunger-Bühler
33 Herr Robert verschwindet | Mathias Balzer
44 Ein Porträt des Künstlers als junger Mann | Lothar Lohs
58 Die Maske des Narren | Haralampi G. Oroschakof
66 «Zwei Wege zur Vorbereitung grundlegender Veränderungen»

Alfred Rubatschek im Gespräch mit Klaus Dermutz
77 «Unsere Mutter erzog uns zur Waghalsigkeit»

Hans Peter Hungerbühler und Robert Hunger-Bühler
88 Im Angesicht des Nichts | Klaus Dermutz
108 Arbeiten mit Robert von 1985–2003 | Anna Viebrock
125 Gewaltige Kontraste | Peter von Matt
128 Mitten im S | Stefan Zweifel
137 Jamais pensé | Dylan-Kenner Martin Schäfer und Dylan-Liebhaber

Robert Hunger-Bühler im Gespräch
152 «Die Kindheit wischt mir übers Gesicht wie ein kalter Regenschauer»

Robert Hunger-Bühler
201 Der diskrete Herr Robert | Klaus Dermutz
211 Ein geheimnisvoller Mensch | Arnaud des Pallières
215 Die Rolle des Mannes | Christoph Gröner
219 «Penalty uf dr andere Siite» | Hans Peter Hungerbühler und

Robert Hunger-Bühler
228 Helden der Müdigkeit | Peter Kümmel
243 «Das Leben nennt der Derwisch eine Reise» | Stefan Mayer
255 Sich in den Moloch hineinwerfen | Alexandra Kedves
267 Erscheinen und Verschwinden | Robert Hunger-Bühler im Gespräch

mit Klaus Dermutz
287 Aller Anfang ist Aarau | Thomas M. Gehring
289 «Vom Sichtbaren ins Unsichtbare» | Hans Peter Hungerbühler und

Robert Hunger-Bühler
306 Bis jetzt | Robert Hunger-Bühler
311 Rollen, Regien und Performances
316 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Der Ball, die
Bühne und eine Fee

BARBARA FREY

Robert Hunger-Bühler ist Fußballer.
Er war es, bevor er Schauspieler wurde, und auf eine besondere Weise

ist er es geblieben. Aber ihn interessiert am Fußball nicht das Geschäft, das
heutzutage von Transfersummen und Beratertätigkeiten dominiert wird, sondern
die Schönheit und Intelligenz des Spiels. Und auch der theatralische Aspekt
des Fußballs fasziniert ihn. Oft haben wir uns zusammen Spiele angeschaut und
bei einem Glas Wein euphorisch darüber diskutiert.

Fußball ist Drama, Fußball ist Bühne. Die Dynamik von Sieg und Niederlage,
von Euphorie und Enttäuschung, von Überraschung und «Eingespieltheit» ist
im Fußball ähnlich wie im Theater. Ebenso ähneln sich die gruppendynamischen
Phänomene: Das Solistische muss sich in Grenzen halten; man kann die Arbeit,
wenn sie sich wirkungsvoll entfalten soll, nur im Verbund machen.

Wohin aber mit dem Ball im Theater? Entspräche der Ballstafette auf dem
Rasen die Wortstafette auf der Bühne? Wäre ein schönes Tor so etwas wie eine
perfekt gesetzte Pointe? Das wären erzwungene Analogien.

Es geht um etwas anderes: um eine bestimmte Art der radikalen Auf-
merksamkeit, der Alarmbereitschaft, der sensiblen Angespanntheit, über die man
verfügen muss. Sei es, um sich einen Ball zu erkämpfen und ihn zu beherrschen
und weiterzugeben – oder sei es, um einen Theaterraum mit der Kraft der Worte
zu füllen, den Worten der Mitspielenden zu lauschen, mit ihnen zusammen
ein Raum-Körpergefühl zu entwickeln, das einer Erzählung erst das Gewicht zu
geben vermag.

Wenn man Robert beim Theaterspielen zuschaut, wäre man nicht erstaunt,
wenn er plötzlich einen Ball hervorzaubern würde. Man hätte vielmehr den
Eindruck, der Ball sei immer schon da gewesen, und Roberts Bühnenpartnerinnen

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und -partner hätten wie selbstverständlich mitgespielt. Roberts Konzentration
auf der Bühne, auch seine ganz unverwechselbare Art, ein Bühnenbild physisch zu
erkunden, wirken sozusagen ansteckend.

Ich habe es in unserer gemeinsamen Arbeit nie erlebt, dass Robert
einfach so, locker und sorglos einen Bühnenraum betreten hätte. Für ihn ist die
Bühne wie das Spielfeld: Es kann immer etwas passieren, man muss auf der Hut
sein. Das ermöglicht ihm seine Musikalität, seine Beweglichkeit und seine
Fantasie. Und es zeigt seinen Respekt gegenüber den Räumen und den Menschen,
die diese Räume ausgestaltet haben.

In Triumph der Liebe von Marivaux spielte er den höchst eigensinnigen
Philosophen Hermokrates, der zart durch eine Buchsbaumlandschaft tänzelt und
dabei sein ganzes liebessehnsüchtiges Seelenleben ofenbart. Als Narr in Was
ihr wollt stapfte er selbstbewusst und bodenständig durch Illyrien – und verbarg
damit doch nur seine Verletzlichkeit. Lessings Nathan war bei ihm kein
abgeklärter Weiser, sondern ein melancholischer Spaziergänger, der über sich
und die Welt staunt. In dem Edgar-Allan-Poe-Projekt A Dream Within A Dream
erfüllte seine Stimme einen großen, leeren Raum, als er sich in die Begegnung mit
einer einsamen Fee hineinträumte: «Aufgerichtet stand sie in einem ungemein
zierlich-zerbrechlichen Kanu und trieb es mit reinstem Geisterruder an.» Ich habe
diesen Satz noch genau im Ohr. Robert sagte ihn ganz selbstverständlich. Für ihn
war die Fee da, er sah sie. Und somit war sie auch für uns anwesend.

Vielleicht ist es das, was Robert auch eine gewisse Ruhe gibt bei der Arbeit:
Die Literatur und die Bühnenwirklichkeit sind für ihn nichts als die Wahrheit.
Eine eigene, autonome und unverbrüchliche Wahrheit. Und diese erforscht er
immer aufs Neue, staunend, skeptisch auch, aber mit nicht nachlassendem
Wissensdrang. Und mit Spielwitz – wie beim Jonglieren mit dem unsichtbaren
Ball.

8

Was ist
Schauspiel?
Über Robert
Hunger-Bühler,
genannt
Don Roberto

MILO RAU



Vorbemerkung zum Wesen der Schweizer Als Richard III. im
Als ich neunzehn Jahre alt war, sah ich in einem kleinen Kellerkino in Paris einen gleichnamigen Stück von
Film: Pier-Paolo Pasolinis Salò. Genau zwanzig Jahre später, im Frühjahr 2017, William Shakespeare,
inszenierte ich den Film am Schauspielhaus in Zürich. Die Gewalttätigkeit, die Schauspielhaus Zürich
Lebensfeindlichkeit des Kleinbürgerlichen, diese banale Selbstgerechtigkeit, die 2002, Regie Stefan
alles, das Schöne genauso wie das Schreckliche, das Erhabene, das Ursprüngliche, Pucher, Bühne Barbara
ja: das Leben still und unerbittlich wegdrückt, es in seine Reservate zurück- Ehnes, Kostüme Silvia
drängt und vernichtet, damit Ruhe sei, kapitalistische Dinglichkeit – dieses Thema Hasenclever.
sollte im Mittelpunkt stehen.

Mir war klar, dass diese Adaption in der Schweiz geschehen musste, in
Zürich, der Welthauptstadt des postmodernen Kleinbürgers, dem globalen Haupt-
ort der Lebensfeindlichkeit. Es würde hier zu weit führen, die Ideologie der
Peinlichkeit zu analysieren, wie sie den Geist der Schweizer beherrscht. Den
Schweizern ist alles peinlich, was nur im Ansatz physisch oder sozial ist, im End-
efekt ist ihnen das Leben selbst peinlich. Den Schweizern ist das Leben vertane
Zeit, und deshalb versuchen sie, schon lebend tot zu sein. Klar war deshalb, dass
die geistig behinderten Schauspieler des Theaters HORA in Salò mittun mussten.
Es sind wahre Anarchisten, immer voll da, laut, verliebt in ihr Gegenüber und
direkt verwoben mit jeder szenischen Situation. Sie sind «Idioten», wie es im Stück
heißt, von unerbittlicher Trottligkeit. In den Augen eines Schweizers also:
absolut peinlich.

Und hier liegt natürlich die Dialektik meiner, zugegeben, sehr simplen
Stück-Anlage: Dass genau diese Behinderten, die die Schweizer Kulturschickeria
feiert und mit Preisen auszeichnet, als hinge ihr Seelenheil davon ab – denn
die größte Angst der Schweizer ist natürlich, dass ihre Angst vor der Peinlichkeit
selbst entdeckt werden könnte, deshalb muss sie immer geleugnet werden,
Schweizer Kunstpolitik ist Leugnung der Angst vor der Peinlichkeit aus Peinlichkeit,
das Verstecken dieser Angst unter der Feier des Peinlichen –, dass also diese
heiligen Idioten von HORA, die die Schweizer Kulturförderung hemmungslos
feiert, gleichzeitig dank der Pränataldiagnostik aus der Schweiz, aus der Mensch-
heitsgeschichte, von der Erde getilgt werden sollen. Bald wird es deshalb keine
HORAs mehr geben, sie sind – wie Don Roberto in einer Szene sagt – «die Letzten
ihrer Art». Der Hass der Schweizer auf alles Lebendige, solange es nicht hin-
reichend unlebendig ist, und die Tarnung dieses Hasses in einer genauso unge-
schickten wie unheimlichen Fetischisierung des Lebens sollte meine Pasolini-
Adaption in der notwendigen Direktheit abbilden. Wie es bereits Pasolinis
Sade-Adaption tat, «weder sittlicher noch unsittlicher als die Wirklichkeit selbst»,
wie Georg Büchner irgendwo sagt.

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träumen sie nicht mal. Unser Dialekt klingt wie gar nichts, als hätte man uns die
Münder mit Seife ausgewaschen, er zeugt von unserer völligen Nutzlosigkeit in
den Augen der Spezies und der Weltgeschichte. Niemand weiß deshalb so genau
wie wir Ostschweizer, was es heißt, Kleinbürger zu sein: in Luxus zu leben seit
Generationen und keine Geschichte zu haben.

Theater aber ist eine Ethnologie der Nähe. Theatermacher zu sein, das
heißt, zu durchschauen, was einen geprägt hat: Mensch unter Menschen. Es geht
darum, wirklich anzunehmen, wer man ist – nicht nur als Individuum, sondern
als Typus, als Sozialtypus. Als Mann, als Schweizer, als Ostschweizer, als Wesen
des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts und so weiter. Und
das war wohl unser tiefes Einverständnis im Kunsthauscafé neben dem Schau-
spielhaus, das wie gesagt den lächerlichen Namen «Pfauen» trägt. Ja, Don Roberto
verstand sofort, ohne dass wir drüber sprachen, dass es in unserer Salò-Version
darum gehen würde, diesen Typus, zu dem wir beide gehören, zu analysieren.
Und ihn, während er zur totalen Darstellung kommt, zu überschreiten. Ihn zu
vernichten, während wir ihn bei seiner eigentlichen Beschäftigung zeigen: der
Vernichtung der anderen, des anderen, des Lebens.

Der sozialdemokratische Realismus und die Zärtlichkeit
Ich glaube, Don Roberto wusste von Anfang an, was er haben wollte von der Salò-
Adaption, und er nahm es sich. Er ist kein besonders kollegialer Schauspieler,
denn Don Roberto ist wie das Theater selbst: Er ist da, wenn er da ist, rücksichtslos.
Und dann auf einmal sagt er Auf Wiedersehen und ist wieder weg. Er ist kein
besonders hölicher oder geduldiger Mensch, außer man hat das Glück, sein Freund
zu sein – dann ist er von einer Zugewandtheit, die mich jedes Mal neu anrührt
und die, wage ich zu sagen, der Quell seiner zutiefst menschlichen, ja kindlichen
Konzeption von Theater ist.

Womit Don Roberto deshalb absolut keine Geduld hat, ist der Ungeist
unserer Zeit. Denn es gibt, wie wir alle wissen, nur eine Sache, die schlimmer ist
als der sozialistische Realismus: der sozialdemokratische Realismus. Ich halte die
Sozialdemokratie politisch für einen völlig vertretbaren (und vielleicht den einzig
vertretbaren) Weg, mit der Boshaftigkeit, der Gier, der Geschichtsvergessenheit
und der seelischen Beschränktheit großer Teile der westeuropäischen Wohn-
bevölkerung fertigzuwerden. In der Kunst aber sind es genau diese Negativtugen-
den, die wie Dünger die schönsten Blumen sprießen lassen, und Don Roberto, der
das natürlich weiß, verachtet deshalb jeden Anlug der Einhegung und Lüge. Er
verachtet alles, was sich der Wahrheit und der voll entfalteten Menschlichkeit und
damit der Schönheit in den Weg stellt. Er verachtet dummes Gerede, er verachtet

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Erklärungen. Gleichzeitig ist er geschwätzig. Man könnte sagen: Don Roberto
macht keinen Hehl aus den Grenzen, die ihm der geschichtliche Moment, seine
Herkunft, sein Wesen und schließlich sein Körper setzen. Er geht ins Fitness-
center, er «plegt» sich, zugleich nutzt er seinen trainierten und geplegten – oder
wie die Dramaturgin von Salò und einige andere Frauen sagten: schönen – Körper
fast ausschließlich für dekadente Zwecke, jedenfalls auf der Bühne.

Und damit meine ich: für Zwecke der Zärtlichkeit. Die Szene, in der Don
Roberto mitten auf der Bühne sitzt, nackt neben dem nackten HORA-Schauspieler
Gianni, und über das Ende der revolutionären Hofnungen spricht sowie über
jenes Wülstchen über dem Knie, dem er sexuell hörig ist – das ist die beste, wahrste
Szene des Schweizer Theaters, jedenfalls habe ich auf einer Zürcher Bühne
niemals etwas gesehen, das mich so tief angerührt hat. Man sollte diese Szene,
wenn es irgendwie möglich ist, in eine Rakete packen und in ferne Galaxien
schicken, wo sie davon berichten würde, wozu wir Menschen fähig gewesen wären,
wenn wir nicht beschlossen hätten, uns anzulügen. Was ist denn Menschlichkeit?
Ich verlange nichts anderes von einem Schauspieler, als dass er absolut ehrlich
ist, zu sich selbst und zu denen, die auf der Bühne bei ihm sind – und natürlich zu
dem, der ihm zuschaut.

Übrigens hat diese Zärtlichkeit, die ich meine, nichts mit Selbstvergessenheit
zu tun (aber teilweise schon), auch nichts mit Sanftheit (die aber sehr wichtig ist).
Denn in der erwähnten Szene ist auch Verachtung drin, Wut, Egoismus, sogar ein
bisschen ironische Eifersucht: dass Gianni und die anderen HORA-Darsteller
von derselben Gesellschaft, die sie abtreiben und vernichten will, aus schlechtem
Gewissen mit Kunstpreisen ausgezeichnet werden. Ich sehe Don Roberto dabei
zu, wie er sein Ego (das immer präsent bleibt, man täusche sich nicht) gegen
außen spiegelt, sein Ego prüft, wie man eine Rasierklinge mit dem Daumen prüft.
Und so sehe ich diesen Menschen, Don Roberto, nackt in einen Behinderten
verhakt, wie er nach Wahrheit und Ewigkeit strebt. Das ist Glück: dass ich einem
Menschen, nicht größer als ich, ein völlig normaler Mensch aus der Ostschweiz –
dass ich diesem Menschen dabei zusehen kann, wie er in humaner Vollendung
um Transzendenz ringt, gemeinsam mit einem anderen Schauspieler. (Später wird
er mit einem anderen, Noha, Karate machen und tanzen.)

Die Beantwortung der Frage: Was ist Schauspiel? In Die 120 Tage von
Es läuft, man weiß es, ein Krieg zwischen zwei Schulen des Schauspiels. Die eine Sodom von Milo Rau,
Schule verlangt vom Darsteller Autorenschaft: dass er sich nicht auf toten Figuren mit Gianni Blumer,
ausruhe, dass er als Überlebender eines ganz bestimmten (seines eigenen Schauspielhaus Zürich
oder eines von ihm erfundenen) Lebens spreche, Spezialist seines Berufs, seiner 2017, Regie Milo Rau,
Bühne und Kostüme
14 Anton Lukas.





«Unser Vater
lehnte gewisse
Volksstämme
radikal ab»
Erstes Aarauer
Stadtgespräch

HANS PETER HUNGERBÜHLER UND
ROBERT HUNGER-BÜHLER

Es ist sieben Uhr am Morgen des 25. Juni 2017. Wir stehen vor dem Steinigen Tisch
am Südrand von Aarau. Mein Bruder Hampi sieht zum Suhrenkopf, dort ist es
sehr steil, zum Suhrenkopf gehen wir nicht, wir starten von hier Richtung Norden
oder Nordwesten über das Zelgli. Rechts vor uns liegt die Eisbahn von Aarau, in
unserer Jugend war sie noch nicht überdacht. Dahinter erstreckt sich das berühmte
Stadion Brügglifeld mit seinen Trainingsplätzen. Hier beindet sich ein kleines,
bewaldetes Plateau, und auf diesem Plateau am Nordrand des Suhrer Waldausläufers
steht der Steinige Tisch, und wie der Name schon sagt, ist es ein Tisch aus Stein.
Es gibt wahrscheinlich nur in Aarau eine Bevölkerung, die einen Tisch nach dem
Material nennt. Auch die Bänke sind aus Stein, Tisch und Bänke sind in einem
hellen Kalkstein gehalten. Wir haben beide den Eindruck, in den Steinigen Tisch
sind früher mehr Botschaften, Liebeserklärungen usw. eingeritzt gewesen. Unser
Spaziergang ist auch eine Bestandsaufnahme dessen, was damals war und was
heute noch ist. Du bist voller Erwartungsfreude und hast den Mund voller Wörter.

Der Steinige Tisch oberhalb der Eisbahn war einer der Besammlungsorte
der Aarauer Pfadinderabteilung St. Georg, hier absolvierten wir am Samstag-
nachmittag unsere Übungen. Ich war Gruppenführer der Gruppe Hirsch
mit Pfadiname Omar, ich musste für den Samstag die Übungen vorbereiten.
Wir besammelten uns außer beim Steinigen Tisch auch bei der Echolinde
oder auf dem Alpenzeiger.
Der unverwüstliche Steinige Tisch, darüber erhebt sich ein riesiger alter Ahorn-
baum. Was habt ihr am Steinigen Tisch gemacht?
Wir besprachen die Übungen und scherten in Richtung Suhrenkopf aus,
machten Schnitzeljagden, wir haben «abgekocht» und gebrätelt. Der Steinige
Tisch war berüchtigt, er war ein Ort für Liebeleien. Ich war nie dabei,
aber man hörte, dass Pärchen sich zum Steinigen Tisch verzogen und später
wieder zur Eisbahn zurückkamen.
Hattest Du auch ein diesbezügliches Erlebnis in deiner Adoleszenz?
Nein, nie, ich war beim Paarlaufen glücklich.
Kannst du dich an die Musik jener Zeit erinnern? Ich habe, wenn wir nun auf die
Eisbahn blicken, zwei Titel im Ohr, der eine ist Massachusetts von den Bee Gees
und der andere San Francisco von Scott McKenzie.
Beide Songs wurden durch eine schlechte Lautsprecheranlage auf- und
abgespielt. Da wir aus einer vielköpigen Familie stammen, konnten die Eltern
uns keine Schlittschuhe kaufen. Wir hatten Schruubedampferli, die an die
Schuhe geschraubt wurden. Die Schrauben hielten natürlich nie, es schep-
perte und klapperte die ganze Zeit. Für die Kinder, die keine Schlittschuhe
hatten, war die Zeit auf der Eisbahn eigentlich ein Spießruteneislaufen.

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Ich hatte hier einen Unfall, kannst Du Dich daran erinnern?
Ein Teil der Eisbahn war immer für die Eiskunstläuferinnen abgesperrt.
Damals liefen nur wenige Jungs Schlittschuh. Du veringst dich im Seil und
ielst kopfüber aufs Eis, du schlugst hart mit dem Kopf auf.

Ich fuhr rückwärts unter dem Seil durch, wollte mich im letzten Moment am Seil
festhalten, rutschte weg, iel auf den Hinterkopf und war bewusstlos. Dr. Meng,
unser Hausarzt, musste kommen. Ich bin im Schlafzimmer, das ich mit dir teilte,
aus der Bewusstlosigkeit aufgewacht und konnte mich an nichts erinnern. Wir
hatten zwei berühmte Kunsteisläuferinnen, Gaby Mollet, eine wunderschöne höhere
Tochter aus der Umgebung, und Huguette Rohr, beäugt.

Dieses Waldgebiet kennen wir auch aus einem anderen Anlass. Es war das
Trainings- und Konditionsgelände für angehende Fußballer.
Ich habe eine relativ steile, junge Fußballerkarriere hinter mir, heftig trainierend,
C-, B-, A-, Inter-Junioren. Wir trainierten in diesen Wäldern bei jedem Wetter,
auch im Winter bei Temperaturen unter null Grad. Wir liefen bis zum Suhrenkopf,
für den Schlussspurt mussten wir eine ganz steile Treppe nehmen. Ich weiß noch,
dass ich dort oben einmal mit komplett übersäuerten Oberschenkeln atemlos
herumgestanden bin. Das Brügglifeld hatte früher eine Holztribüne, die landesweit
berühmt war. Das Stadion hat bis heute seinen unverwechselbaren Charakter
bewahrt. Die Trainingsplätze sind dem Brügglifeld-Stadion vorgelagert. Gott sei
Dank sind die Aarauer sich noch nicht über ein neues Stadion einig geworden.
Hampi, magst du die Geschichte erzählen, die zum Abbruch deiner großartigen
Fußballkarriere führte?
Du hattest mehr Erfolg. Ich strebte ihn auch an, war aber im Fußball nicht
talentiert, ich bemühte mich, schoss nie ein Tor, war Verteidiger.
Stell dein Licht nicht unter den Schefel, du spieltest im Defensivbereich einen
hängenden Mittelfeldspieler.
Ich hatte Freude am Fußball, war aber kein Goalgetter. Einmal bekam ich die
Chance, ein Tor zu schießen, der Goalie war schon geschlagen, die Verteidi-
gung auch – ich schoss den Ball übers leere Tor. Das war das jähe Ende meiner
Fußballkarriere. Du standest neben dem Tor. Es war ein trüber Tag im Herbst,
der Boden sehr tief und morastig, der Strafraum eigentlich ein Minenfeld.
Ich konnte nicht fassen, was mir passiert war. Wir verlassen den Steinigen
Tisch und gehen an eine andere Stätte unserer Jugend. Wir sehen unseren
geliebten Jura, er ist von überall zu sehen, er umgrenzt auf der Nord- und Ost-
seite bis weit in den Westen hinein Aarau, die Stadt unserer Jugend.
Gleich unter dem Steinigen führt der Gönhardweg Richtung Norden. Links ist das
Goldern-Quartier, ein bürgerliches Quartier, das in den Siebzigerjahren entstand,

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dort wurden die ersten, sanften Hochhäuser gebaut. Das Gönhardgebiet erstreckt
sich bis in die Vorstadt, es ist gehobenes Bürgergebiet mit sehr vielen Villen,
versteckt hinter großen, schönen Gärten. In der Kurve zum Gönhardweg stand
damals eine Salzkiste für die Straßenbestreuung im Winter. Aus unerindlichen
Gründen war die Kiste im Winter leer. Mein Freund Christian Wehrli und ich
kamen auf die Idee, bei der Salzkiste eine von uns beiden verehrte Freundin
abzupassen. Andrea Werder war die Tochter des Inhabers eines Sportgeschäfts an
der Igelweid! Der Abend war schon am Eindunkeln, wir beschlossen, uns in der
Kiste zu verstecken. Wir sprangen hinein, und der Deckel log zu. Wir kamen von
allein nicht mehr heraus. Am Anfang lachten wir fürchterlich, bekamen jedoch
immer mehr Angst und riefen laut um Hilfe. Die vorbeigehenden Aarauer dachten
vermutlich, wir machten einen Scherz. Wir bekamen gar nicht mit, ob Andrea
Werder die Salzkiste passierte. Wir polterten nur noch wild, und irgendwann wurden
wir erlöst. Auf jeden Fall schweißten uns diese Minuten als Freunde zusammen.
Christian Wehrli wurde unter anderem auch deshalb mein bester Freund, weil ich
ihm in sportlicher Hinsicht ständig nacheiferte. Er war fast in allen Disziplinen
hervorragend, wurde ein berühmter Eishockeyspieler beim ZSC Zürich. Ich verlor
ihn aus den Augen, wir hatten irgendwann einen Krach, ich sollte ihm einen
Klumpen Haschisch besorgen, dann stellte es sich heraus, dass alles Dreck war.
Ich kannte mich auf diesem Gebiet überhaupt nicht aus, ich glaube, das hat er mir
bis heute nicht verziehen. Hampi, wie erinnerst du dich an die Salzkisten-
Geschichte?

Nach dem Verlassen der Eisbahn verloren wir uns aus den Augen, ich ging
allein nach Hause. Mama fragte mich, wo du geblieben bist. Ich erwiderte,
ich hätte keine Ahnung. Die Zeit verging, eine Stunde, zwei Stunden,
du warst noch immer nicht zu Hause. Plötzlich standest du vor uns, die
Hosen voller Salz, und sagtest: Wir waren in der Kiste eingesperrt. In welcher
Kiste, fragte Mama. In der Salzkiste. Wo denn? Was habt ihr denn gemacht?
Die Klappe iel zu, hast du erwidert, und ein alter Mann befreite uns.
Wir stehen vor dem Gönhardschulhaus, hier besuchten wir die Primarschule.
Wir stehen an der Weltistraße, beim Nordeingang. Wir besuchten die erste
und zweite Klasse im Südtrakt. Die Abwartswohnung ist liquidiert.
Ernst Bolliger hatte hier seine Wohnung, er lebt nun im Altersheim Golatti.
Wir sehen den Froschbrunnen, Hans Elsener, 1960, ein Aargauer Bildhauer,
schuf diesen wunderschönen Brunnen, der komischerweise Froschbrunnen
heißt, er besteht aus zwei Fröschen und einem Fisch, die sich an den
Brunnenrand klammern.
Welche Bedeutung hatte die Schule für dich?

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2
1

4
5

7

3

8 6
9
1 Familie mit Mutter, 5 Primarschule 1964,
Verena, Robert, Esther, Klasse Kurt Hauser, in der
Hans Peter und Rosmarie zweitletzten Bank Mitte.
in Montreux 1963. 6 Inter-Junioren FC Aarau
2 Roberts Geburtstag mit im Stadion Brügglifeld
geschenktem Ball, 1970, stehend rechts
Dress und Tasche hinter außen.
dem Haus 1966. 7 Der Vater bei der Arbeit
3 Rudern auf dem als Schreiner 1953 in
Zürichsee vor Sonnen- Sommeri.
aufgang 2012. 8 Lothar der Sturm,
4 Der Vater am Ruder 26.12.1999 mit einer
eines Weidlings in Balgen-Kamera aufgenom-
der Aare mit Kollegen men von Mark E. Johnson.
des Wasserfahrvereins 9 Die Hungerbühlers
Aarau 1961. herausgeputzt für den
Aarauer Maienzug 1964.



Jamais pensé
Von der
Verwandlung auf
ofener Bühne

DYLAN-KENNER MARTIN SCHÄFER UND DYLAN-LIEBHABER

ROBERT HUNGER-BÜHLER IM GESPRÄCH

Martin Schäfer: Das war ein schönes Trefen mit dir am Rheinhafen! Dass ein
Schif mit dem poetischen Namen Jamais pensé gleich bei uns ankerte, das musste
natürlich besonders dir aufallen … Don’t Think Twice? Wer deine Arbeit über die
Jahre hinweg verfolgt, stößt immer wieder auf den Namen Bob Dylan. Was macht
ihn gerade für dich zur Inspiration?

Robert Hunger-Bühler: Dylans Mysterium hat mich mitten in seiner
Krise gepackt, in den frühen Achtzigern. Ich war auch in der Krise und wusste
nicht, wohin mit meinem Beruf. Ich sah ihn zum ersten Mal live in Wien,
hörte Señor, und es war für mich gelaufen, wobei ich nicht an Jesus dachte,
sondern an eine Bezeichnung für einen edlen Herrn. Den Text verstand
ich kaum, aber der Sound und die Aura haben mich augenblicklich in
Beschlag genommen.
Wien in den frühen Achtzigerjahren – das muss 1981 gewesen sein, da war Dylan
tatsächlich noch halbwegs in seiner (bis heute so umstrittenen) Jesusphase …
obwohl er grade in Señor ursprünglich nicht explizit Jesus gemeint hatte, das
stammte ja noch aus der Zeit vorher. Hat er den Song damals in Wien gesungen?
Ich habe ihn zufällig zwei Tage später in Basel gesehen, das war mein zweites
Dylan-Konzert nach Paris 1978. Und es war wirklich hoch spannend, das Konzert
wurde – wie wohl auch in Wien – noch von den Begleitsängerinnen mit einem
kleinen Gospelset eröfnet, das von einem Teil des Publikums sogar ausgebuht
wurde. Wie hast du das erlebt? Hast du diese Spannung auch gespürt? Oder waren
dir die Texte eher egal? Was hat dich denn so fasziniert, war es vor allem die
Stimme?
Meine Erinnerung an Señor war ein Fake, passend zu Bob, der sein Leben
so oft inszeniert. Ich habe nachgeschaut und dieses Lied erst ’94 live gehört.
Dafür It Ain’t Me, Babe und Ballad of a Thin Man schon beim ersten Mal! Aber
mit Señor und Changing of the Guards (beide auf Street Legal) ist für mich klar,
dass Dylans Konversion zum Christentum sich da schon ankündigte und
dass der Señor natürlich Jesus ist und nicht der Chef von einem Musikstudio.
Aber zurück zu It Ain’t Me, Babe: Hier singt Dylan sehr privat davon, dass
man sich nicht auf ihn verlassen kann, das ist ein frühes, grausames, aber
klares Eingeständnis Dylans, seiner Unfähigkeit, «a lover for your life» zu
sein. Aber das Lied ist auch programmatisch dafür, dass man sich in allen
Belangen, auch in politischer Hinsicht, nicht auf Dylan verlassen kann.
Dieses Hasardieren mit der Erwartungshaltung des Publikums und der
Medien hat mich schon früh für ihn eingenommen. Als hätte er sich
Rimbauds Vers «Ich ist ein Anderer» früh übergestülpt als Tarnung für seinen
Lebensplan. – Es war seine Stimme, seine Art zu singen, die mir direkt in

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die Bauchhöhle stach, die Weise, wie er die Konsonanten schleuderte und
die Vokale auf- und abheulen ließ. Dylan hatte ja nie eine junge Stimme, ich
erschrecke jedes Mal, wenn ich Aufnahmen aus den frühen Sechzigern
höre, da singt er mit der Stimme eines alten Mannes, später wurde sie dann
jünger … It Ain’t Me Babe, das war ja schon 1964, zusammen mit My Back Pages,
die klare Ansage: Ich bin nicht der Messias, zu dem ihr beziehungsweise
die Medien mich machen wollt.
«Hasardieren mit der Erwartungshaltung des Publikums», das sagst du sehr schön,
manche haben ihm gerade das immer wieder übel genommen, bei jeder neuen
Wendung, zur elektrischen Gitarre, zum Country-Rock, zum Christentum erst
recht – und neustens jetzt zurück zu jenem andern Great American Songbook, dem
von Sinatra beziehungsweise Irving Berlin und so weiter. Dass dich grade diese
Wandelbarkeit für ihn eingenommen hat! Genauso war es auch für mich, so wie
ja auch die Stimme und der Umgang mit den Worten die einen immer schon
abgeschreckt und die andern begeistert hat. Als junger Mann sang er mit der
Stimme eines alten Bluesmanns, in Like A Rolling Stone wie ein höhnischer Punk,
auf Nashville Skyline wie ein relaxter Country-Gentleman … Diese endlosen
Verwandlungen auch in der Stimme! Und doch war er, vielleicht anders als Bowie,
immer erkennbar und unbeirrbar derselbe. Wie ein Schauspieler? Was würdest
du zu diesem Vergleich sagen? Ist er einer, und wenn ja: welche Art? Ist er auch für
dich als Schauspieler eine Inspiration?
Witold Gombrowicz schreibt in seinem Tagebuch über den Protagonisten
seines Hauptromans Ferdydurke, dass dieser und somit jeder Mensch ein
ewiger Schauspieler sei, naturgemäß, «denn das Künstliche ist ihm
angeboren», und schließt dann: «Menschsein heißt den Menschen spielen.»
Der Mensch ist immer nur ein wenig sich selbst, er wird es erst durch die
Form, die zwischen ihm und anderen Menschen entsteht. Diese Form hat
Dylan in seiner Kunst immer wieder zerbrochen, um sich wieder neu zu
erinden. So ist seine Stimme der sensibelste Ausdruck seiner jeweiligen
Selbstneuerindung. Dylan hat es immer wieder geschaft aus der Ver-
puppung einen neuen Schmetterling hervorzuzaubern. Inzwischen liegen
mindestens fünfzig solche Schmetterlinge über den alten Ball. Dylan kann
Erinnerungen wegwerfen und das Morgen einfach Morgen sein lassen.
So steht fast jede Platte singulär da, ohne Vorher und Nachher. – Gerade
habe ich mir Don’t Fall Apart On Me Tonight auf Inidels angehört. Seine Stimme
klingt hier engelhaft jugendlich, mit einem warmen, bernsteinfarbenen
Timbre. Er beschwört in dieser herzzerreißenden Ballade das lüchtige
Glück der Gegenwart und ist gefangen im Vakuum des Jetzt: «But it’s like

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I’m stuck inside a painting/That’s hanging in The Louvre/My throat starts Als Clown in der
to tickle and my nose itches/But I know that I can’t move.» Davor ist I And I Garderobe in den Spiegel
zu hören, für mich ein Höhepunkt von Dylans Dichtkunst. Der letzte Satz blickend vor dem
ist wie ein Schlüssel für das Menschenspiel, um das Leben zu überleben: Auftritt, Was ihr wollt von
«I And I – One says to the other, no man sees my face and lives» … Mit William Shakespeare,
Dylans Stimme klingt der Satz heiter und tröstlich … Schauspielhaus Zürich
Der Mensch «ein ewiger Schauspieler», das passt wirklich auf Bob, der einst 2010, Regie Barbara Frey,
Zimmerman hieß und (seit 1962 ganz legal) den Dylan spielt. Fühlst du dich darum Kostüme Bettina Walter.
ihm so verwandt, weil auch du aus dieser «reality of man» deinen Beruf gemacht
hast? Und kannst du ihm darum die Fähigkeit oder den Drang zur Selbstneu-
erindung so gut nachfühlen? – Es gibt ja in Dylans Leben und Werk eine ganze
Anzahl von Momenten, wo er «die Form zerbrochen» hat, 1965 nach der ersten
großen Englandtournee (die in Pennebakers Dokilm Don’t Look Back nachzu-
erleben ist), 1967 nach dem Motorradunfall, als die Basement Tapes und John Wesley
Harding entstanden, dann sicher 1979 mit der Gospelwende, 1987 bei der myste-
riösen Erleuchtung in Locarno (von der er in den Chronicles berichtet), aber auch
wieder in den frühen Neunzigerjahren, als er eine Zeit lang gar keine neuen Songs
mehr schrieb … Ganz neu erinden musste er sich aber gerade auch in der Phase
um Inidels, die du ansprichst, als er nach den drei «christlichen» Platten nach
einer neuen, weniger missionarischen Ausdrucksweise suchte. Auch mir scheint
I And I ein poetischer Höhepunkt: Im Titel scheint das «Ich bin, der ich bin» des
jüdischen Gottes auf, aber auch eine Redensart der jamaikanischen Rastafarier
(I & I heißt bei Bob Marley so viel wie «wir»). Und gleichzeitig eben die von Dylan
immer wieder beschworene Doppelnatur des Ich (Rimbauds «Je est un autre»), die
mit sich selber im ewigen Kampf steht. «No man sees my face and lives», das sagt
der Gott des Alten Testaments, und sich selber ins Gesicht zu sehen – wie in der
Psychoanalyse – ist bekanntlich auch nicht ungefährlich. Aber es ist, wie du sagst,
bei Dylan klingt es doch auch heiter und tröstlich. Das ist für mich das Wesentliche
seiner Kunst: Sogar noch, wo er unsere Zerrissenheit erfasst, gilt doch immer:
Don’t Think Twice, It’s All Right! 1981, im Radio-Interview mit Dave Herman, fällt
einmal das Wort «healing music» – und im Gespräch mit Allen Ginsberg taucht
umgekehrt einmal ein Satz von Henry Miller auf: Es sei die Aufgabe der Kunst «to
inoculate the world with disillusion». Kann es sein, dass Trost und Desillusio-
nierung für Dylan gar nicht im Widerspruch zueinanderstehen? Was meinst du
dazu?
Ich glaube, Trost oder Heiterkeit und Enttäuschung stehen tatsächlich
nicht im Widerspruch für Dylan. Es ist vielmehr das künstlerische Gelände,
in dem er sich seit langer Zeit mit traumwandlerischer Sicherheit bewegt,

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