alWbihfoaeu?tt
CHIARA ALICIA FANCONI
IMPRESSUM
IDEE, TEXTE UND PORTRÄTS CHIARA ALICIA FANCONI
COVERZEICHNUNGEN © CHIARA ALICIA FANCONI, 2004 (4-JÄHRIG)
LAYOUT IN KOLL ABORATION MIT BARBARA PASTORE
D R U C K N E I D H A R T & S C H Ö N G R O U P, Z Ü R I C H
OKTOBER 2017
what
about
life?
Gespräche
mit Grossmüttern
und ihren Enkelinnen
AUFGEZEICHNET VON
CHIARA ALICIA FANCONI
MATURA-ARBEIT
CHIARA ALICIA FANCONI
LYCEUM ALPINUM ZUOZ
OKTOBER 2017
vorwort
Erwachsen werden ist für junge Menschen können. Ich fragte mich auch, ob es meinen
in der heutigen Zeit nicht ganz einfach. Das Freundinnen ähnlich geht. Wie sicher sehen
Internet und soziale Medien wie Blogs, Face- andere junge Frauen ihrer Zukunft entge-
book und Instagram schreiben vor, wie eine gen? Was ist ihr Verhältnis zu ihren Omas,
junge Frau auszusehen hat. Welche Kleider sind die eigenen Vorfahrinnen nicht viel
sie tragen soll. Was sie essen darf und was greifbarere, echtere Vorbilder als diejenigen
besser nicht. Welche Bücher angesagt sind, aus dem Netz?
welche Musik, welche Kinofilme... Ein unend- Insgesamt führte ich Interviews mit zwölf
licher Dschungel von Direktiven und Diktaten, Frauen, dabei stellte ich allen ähnliche
die jeden Bereich ihres Lebens beeinflussen Fragen. Die Antworten hingegen hätten
mit dem Hintergedanken, dass auch sie – unterschiedlicher nicht sein können. Nach
wenn sie den virtuellen Vorlagen nur unein- langen persönlichen und
geschränkt folgt - so glücklich und zufrieden manchmal auch zutiefst
wie die Schönen und Erfolgreichen aus dem berührenden Gesprächen
World Wide Web werden kann. lernte ich vor allem eines:
Es fällt mir schwer, mich diesen Einflüssen Jedes Leben ist anders,
zu entziehen. Natürlich weiss ich, dass all eine Gebrauchsanweisung gibt
das mit dem wahren Leben nichts zu tun hat. es nicht. Am wichtigsten ist, sich
Und ich fragte mich, ob es die Jungen von selber treu zu bleiben. Diesen
früher, die Generationen vor der digitalen Ratschlag und viele andere
Revolution, einfacher hatten. Woran haben habe ich im vorliegenden
sich die Heranwachsenden damals orien- Buch zusammengetragen.
tiert? Daraus entstand die Idee, meine beiden
Grossmütter zu befragen. Ich wollte mehr über Viel Freude beim Lesen.
ihre Lebensgeschichten wissen und heraus-
finden, ob sie mir ein paar wertvolle Tipps
und Ratschläge mit auf meinen Weg geben
3
Inhaltsverzeichnis Marie Sun
und Eva Meier
Chiara Alicia
und SEITE 30
Marguerite
Fanconi
SEITE 14
Julia Müller und Jana Neidhart
SEITE 6
44
Silvia Ba.. chtold
und Rebekka Schwarz
SEITE 44
Lily Penner und Effi Signer
Marylin Yutani und
SEITE 38 Chiara Alicia
Fanconi
SEITE 26
Simone Mu..ller
und
Martina Julen
SEITE 18
55
JULIA MÜLLER UND JANA NEIDHART
6
JULIA MÜLLER UND JANA NEIDHART
«Lebt, lebt!
Ihr müsst keine
Angst haben.»
Es ist ein frühlingshafter Nachmittag in Zollikon
bei Zürich. Julia Müller, 85, hat soeben mit
einer Bekannten im Gartencenter Blumentöpfe
für ihre Terrasse besorgt. Ihr Empfang ist überaus
herzlich. Sie freut sich immer über Besuch. Ihre Enke-
lin Jana Neidhart, 15, verspätet sich, sie kommt direkt
von der Schule mit dem Fahrrad zu ihrer Oma.
Die beiden begrüssen sich vertraut,
sie lachen, sie sehen sich oft.
7
JANA NEIDHART
Name Was für eine Frau ist deine Grosss- für ihre Enkel ein, sie hat immer etwas
mutter? zu tun, im Haushalt und im Garten. Mein
Jana Neidhart Sie ist eine total fröhliche Frau. Warm- Grossvater ist ja auch noch da...
herzig, herzlich, immer offen und spon-
15Alter tan. Kannst du konkret erklären, was
du einmal nicht gleich machen
KantSocnhsuslcehule Was für eine Rolle spielt sie in deinem möchtest wie sie?
Rämibühl Leben? Das ist schwierig zu beantworten. Also,
10 te Klasse Sie ist wichtig für mich, vor allem auch, was ich gehört habe, ist, dass sie nicht
weil sie in der Nähe wohnt. Ich besuche so viel Zeit für ihre Tochter, meine Mut-
Wohnort sie oft, wenn ich Zeit habe und jeman- ter, hatte. Meine Mama hat mehr Zeit für
den zum Reden brauche. Oder auf et- mich. Damals herrschten wohl strenge-
Zumikon, Zürich was Gutes zum Essen Lust habe und ein re Zeiten, die Frauen hatten viel mehr
bisschen raus muss. Hausarbeit, meine Grossmutter hatte
Hobbys auch noch einen Beruf. Ich möchte mir
Wie häufig seht ihr euch? bestimmt einmal mehr Zeit für meine
Tanzen, kochen, Mindestens einmal die Woche. Familie nehmen, als sie das konnte.
Musik hören,
Verbringst du Zeit alleine mit deiner Ist deine Grossmutter ein Vorbild für
meine Freundinnen Grossmutter, und was macht ihr dann? dich?
Habt ihr gleiche Interessen? Ja, schon, ein kleines. Ich finde, sie hat in
Meistens sehe ich sie allein, wenn ich ihrem Leben viel erreicht und ging einen
von der Schule oder vom Tanzen kom- guten Weg. Sie zog drei Kinder auf, und
me. Natürlich sind an Familienfesten ich finde es auch mega lässig, dass sie
auch alle anderen dabei, also meine El- in Zürich gleich bei der Bahnhofstrasse
tern, Bruder, Tanten, der ganze Clan. eine damals total angesagte Modebou-
tique geführt hat. Ich mag ihren Stil und
Wofür bewunderst du deine Oma? bewundere, dass sie auch jetzt in ihrem
Dafür, dass sie trotz ihres Alters immer hohen Alter noch so stylish gekleidet ist.
noch so im Leben steht und aktiv ist.
Sie hat sich nicht aufgegeben und un-
ternimmt viel. Ausserdem setzt sie sich
8
JANA NEIDHART
Welche Werte gibt sie an dich weiter? Trägt deine Grossmutter zu deiner
Auf jeden Fall, dass Zusammenreden und Motivation bei, dein Ziel zu erreichen?
Zusammensein wichtig sind und dass ich Ja, zum Tanzen trägt sie schon recht
dies auch schätzen kann. viel bei. Dadurch, dass ich oft zu ihr zum
Zvieri nach der Schule kommen darf.
Wie unterstützt dich deine Grossmut- Meistens habe ich dann keine Lust mehr
ter in deinem Selbstwertgefühl? aufs Training. Aber sie motiviert mich
Das kann ich nicht genau sagen, aber sie und sagt: «Komm jetzt, geh noch ein
unterstützt mich auf jeden Fall. Sie gibt bisschen deine Kraft beim Tanzen raus-
mir das Gefühl, eine gute Person zu sein, lassen.»
dass ich super bin (lacht).
Gibt es etwas, das du unbedingt
Glaubst du, deine Grossmutter war in deinem Leben erreichen möchtest?
glücklich und warum? Ich ziehe bald für ein Jahr nach Amerika,
Wahrscheinlich. Sie hatte eigentlich al- nach Long Island, vierzig Minuten von
les, was sie brauchte. Vor allem eine lie- New York entfernt in eine Gastfamilie.
bevolle Familie, einen guten Ehemann. Diesen grossen Traum erfülle ich mir
schon jetzt. Später möchte ich gerne
Würdest du gerne etwas von ihr lernen eine Familie haben und glücklich sein.
und was?
Ich wäre jederzeit bereit dazu und würde Hast du Angst vor dem Leben?
ihren Rat auf jeden Fall annehmen. Ich Was macht dir Angst?
wüsste jetzt einfach nicht genau, was Nein. Natürlich habe ich immer wieder
das wäre. kleine Ängste, aber ich stehe nicht mit
Angst auf und gehe auch nicht mit Angst
Was möchtest du einmal werden? schlafen. Auf keinen Fall.
Ich weiss es noch nicht. Ich will in mei-
nem Leben definitiv etwas Kreatives ma-
chen. Ich habe mir auch schon überlegt,
Tänzerin zu werden, aber die Konkurrenz
ist riesig, darum wohl eher nicht. Viel-
leicht aber etwas, das mit Tanz zu tun
hat?
9
JULIA MÜLLER
Biografie Julia Müller
Mein Name ist Julia Müller und bin 85 Jahre alt. Ich wurde damit gerechnet, es war wie ein Geschenk für mich, das ich
im Toggenburg geboren und wuchs dort in einem kleinen Dorf unbedingt weiterführen wollte. Das war 1961, als ich erst drei
auf einem Bauernhof auf. Mein Vater war Viehhändler, mei- Jahre für sie gearbeitet hatte. Das Geschäft war vom Feinsten,
ne Eltern hatten acht Kinder. Wir waren, ich kann nicht sagen die Fürstin von Liechtenstein war eine Kundin, die ich mit
arm, denn wir hatten ja alles, aber wir lebten nicht in Reich- Emilio Pucci ausstatten durfte. Puccis Kreationen galten da-
tum. Luxus kannte man damals noch nicht. Ausgang gab es mals als das Nonplusultra und waren ein Phänomen, das uns
nie, man blieb einfach zu Hause mit der Familie. Mein Vater Kundschaft aus der ganzen Welt brachte.
verunglückte, somit übernahm mein ältester Bruder den Hof. Ich war so bescheiden aufgewachsen, vielleicht machte es
Meine Mutter musste deshalb in ein anderes Haus ziehen, also mir deshalb nichts aus, wichtige Persönlichkeiten zu bedienen.
bauten wir sechs anderen Geschwister ihr eines mitten auf ei- Wir hatten die Frau des Schahs von Persien. «Goodbye your
ner Wiese. Nach der Schule machte ich ein Haushaltslehrjahr Royal Highness», sagte ich jeweils zu ihr. Wir bedienten im-
und träumte davon, eine Hotelkarriere zu starten. Ich ging ein mer wieder viel Prominenz. Der Marchese Pucci war ein super
Jahr nach England, wieder zu Hause arbeitete ich im City Ho- Typ. Ich ging zweimal pro Jahr nach Florenz für den Einkauf,
tel in Zug, wo ich für die ganzen Bankette und Hochzeiten ver- und er liess mich nie gehen, ohne dass er sich persönlich bei
antwortlich war. Meine Tante suchte jemanden, der ihr in ihrer mir verabschiedete. Irgendwann heiratete ich und bekam drei
Modeboutique in Zürich helfen konnte. Kurzentschlossen sag- Kinder. Ich arbeitete viel, kaum war ich zu Hause, musste ich
te ich zu. Von Anfang an durfte ich mit auf den Kleidereinkauf
nach Paris, Mailand und München. Sie stellte mich überall als zu den Kindern schauen. Zum Glück gab es damals
ihre Nichte vor, das kam gut an bei der Kundschaft, weil sie schon Kindermädchen, sonst hätte ich das alles
sich schon einen Namen gemacht hatte. Unerwartet starb nie geschafft. Es war eine wunderschöne Zeit.
meine Tante wenig später an Krebs. Im Testament hatte Sicher anders als ihr Jungen das kennt. Heut-
sie den Laden an mich zutage seid ihr schon selbstständiger und wer-
vererbt. Nie hätte ich det früher erwachsen. Ich glaube, die Schule
prägt euch ganz anders.
10
JULIA MÜLLER
Beschreiben Sie bitte kurz Ihre Kennen Sie Janas Instagram Wofür bewundern Sie Jana?
Enkelin. oder Facebook-Account? Folgen Dafür, dass sie frei aufwachsen kann.
Ah, sie ist meine grosse Freude. Jana Sie ihr darauf eventuell sogar? Total frei. Klar, ihre Eltern sind da, und
und ihr Bruder Alec waren meine ersten Nein, ich benütze diese Techniken nicht. sie weiss, wo sie hingehört, aber die heu-
Enkel, ich glaube, Jana und ich mögen Sehr gerne lasse ich mir aber jeweils die tigen Teenager sind total offen und frei
uns gut. Ich habe immer Freude, wenn Fotos zeigen. und können ihren Weg jetzt schon ein
sie kommt. Ich brauche es auch, dass sie bisschen steuern. Das finde ich fein.
vorbeischaut. Ich finde es toll, beobach- Was verhindert euren Kontakt via
ten zu können, wie sie ihren Weg geht. Social Media? Möchten Sie nicht Wie beeinflusst Ihre finanzielle
die neue Form der Kommunikation, Situation das Verhältnis zu Ihrer
Ist Ihre Enkelin Ihnen ähnlich? mit der Ihre Enkelin aufwächst, Enkelin?
Wenn ja, worin? kennenlernen? Gar nicht. In unserer Beziehung spielt
Eigentlich nicht. Jana ist disziplinierter Ich beherrsche die Technik einfach Geld keine Rolle, denk ich mal.
als ich. Ich habe wenig Disziplin, das ist nicht. Ich würde schon gerne, aber ich
schade. Das fällt mir erst jetzt im Alter habe den Einstieg komplett verpasst. Welche Werte möchten Sie
auf. Als Kind hatte meine Mutter viel Ihrer Enkelin mitgeben?
zu viel zu tun, wir mussten uns selber Wie nah fühlen Sie sich Ihrer Vor allem, dass sie irgendwie ihren Weg
irgendwie erziehen. Dafür kann ich gut Enkelin? erkennt. Ich bete viel für sie, dass sie ge-
improvisieren. Sehr nah. rade bleibt und Schutz bekommt, falls
sie welchen braucht. Ich hoffe, dass sie
Wie ist das Verhältnis zu Ihrer «Wenn ich diese Werte in sich spürt.
Tochter? Wie beeinflusst es die noch einmal
Beziehung zur Enkelin? jung wäre, Gibt es etwas, das Sie von Ihrer
Ich verstehe mich gut mit meiner Toch- Enkelin lernen können?
ter. Natürlich beeinflusst unser Verhält- würde ich Lernen? Ich freue mich einfach, wenn
nis das zu meiner Enkelin. Meine beiden vielleicht sie vorbeikommt und wenn es ihr gut
Töchter führen heute die Boutique zu- einen anderen geht, so nehme ich Teil an ihrem Leben.
sammen. Die dritte Generation ist kom- Weg wählen.» Von mir aus gesehen passiert in Janas
plett anders, wer weiss, was Jana später Leben fast zu viel. Eure Generation ist
einmal will? JULIA MÜLLER schon recht verwöhnt. Meine zweite
Tochter flog in den Sommerferien mit
Was unternehmen Sie gemeinsam ihrer Familie drei Wochen nach Japan...
mit Ihrer Enkelin? Wenn ich das vergleiche mit dem, was
Wir spielen ab und zu, aber meistens re- in der Welt los ist, in Syrien und all den
den wir. Wir waren schon zusammen im anderen Ländern, habt ihr so viel Glück.
Kino, ich würde schon gern mit ihr etwas Dafür muss man dankbar sein. Als Kind
unternehmen, aber ich habe ein Han- fühlte ich mich glücklich, wenn ich im
dicap, ich bin schlecht zu Fuss. Schade. Frühling meinen eigenen Kirschbaum
Deswegen ist es so schön, dass sie hier- auf der Wiese blühen sah. Das war das
herkommt. Paradies.
Wie kommunizieren Sie am Wie unterstützen Sie Ihre Enkelin
häufigsten mit Jana? in ihrem Selbstwertgefühl?
Per Telefon. Zwei- bis dreimal die Woche Ich rate ihr, «machs so» und «nein, das
kommt sie auf ein «Bsüechli», zwischen solltest du nicht». Vielleicht hört sie ja
Schule und Tanzen. Jana schreibt mir
auch E-Mails, die der Opa ausdruckt und zu. (Lacht.)
an mich weiter reicht.
11
JULIA MÜLLER
Würden Sie Ihr Leben als erfüllt Ich glaube schon, doch. Aus Liebe zu
bezeichnen? einem Mann aus Glarus hätte ich von
Ich denke schon. Zürich wegziehen müssen. Das hätte be-
deutet, dass ich das Geschäft nicht mehr
Was bereuen Sie am meisten? hätte führen können. Ich entschied mich
Als ich meine Modeboutique führte, war für die Boutique.
ich dreissig und musste dem Geschäft
schauen. Damals hatte ich nicht viel Zeit Sind Sie mutig genug gewesen?
für mich. Ich war viel beschäftigt mit (Seufzt.) Ich hatte keine andere Wahl.
dem Einkauf in Paris, in Mailand und Mir gehörte ein Geschäft, das mich
Florenz. Zudem eröffneten wir einen erfüllt hat, es war eine super Zeit. Ich
Laden in St. Moritz und veranstalteten finde, ich habe es gut gemacht, es war
Modeschauen. Ich bereue nichts, ich schon richtig so.
fand es super. Jetzt, wo ich alt bin, denke
ich, dass ihr Jungen viel reist, zu meiner
Zeit konnte ich das nicht. Aber ich finde,
ihr solltet gehen. Jetzt. Man weiss nie,
was in zehn oder zwanzig Jahren sein
wird. Lebt, lebt.
Was ist das Schönste, das Sie «Ich kann
je erlebt haben? für Jana da sein
Mit Sicherheit, meine Kinder zu bekom-
men. und mit ihr
Spass haben,
Was würden Sie anders machen, sie verwöhnen.
wenn Sie könnten? Viel mehr kann
Schwierige Frage. Ich hätte gern ein ich ihr nicht
bisschen mehr Zeit für anderes gehabt. mehr mitgeben.
Mein Feierabend war immer um sieben, Ich bin alt.»
und ich arbeitete viereinhalb Tage die
Woche und trug viel Verantwortung. JULIA MÜLLER
Ist in Ihrem Leben etwas passiert,
das Sie völlig verändert hat?
Ich glaube nicht. Bevor ich den Laden
übernahm, hatte ich versucht, bei der
Swissair einen Job zu bekommen, als
ich noch in England lebte. Ich musste
mich vorstellen, aber wahrscheinlich
reichte es nicht, die Anforderungen wa-
ren sehr hoch. Die Auswahl war damals
viel selektiver als heute, wo alles schnell
gehen muss.
Haben Sie sich getraut, Ihre Träume
zu verwirklichen? Was war Ihr
grösster Traum?
12
13
CHIARA ALICIA UND MARGUERITE FANCONI
"MAN KANN NICHT
WIRKLICH VIEL VON
ANDEREN LERNEN"
MEINE GROSSMUTTER MARGUERITE FANCONI, 86, DIE MUTTER
MEINES VATERS, EMPFÄNGT MICH BEI IHR ZUHAUSE AM ZÜRICHBERG.
ES RIECHT KÖSTLICH NACH FRISCH GEBACKENEM APFELKUCHEN.
WIR ESSEN IHN IN DER KÜCHE, NACH UNSEREM GESPRÄCH LIEGEN
NUR NOCH KRÜMEL AUF DER KUCHENPLATTE...
14
MARGUERITE FANCONI
Biografie Marguerite Fanconi
Ich heisse Marguerite Fanconi und bin Als der Krieg endlich fertig war, war ten, von da an bekam ich jeweils Geld,
86 Jahre alt. Ich wurde in England ge- das Verlangen nach Bildung riesig. Was um zurück nach Hause zu kommen. Ich
boren und habe eine Schwester und ei- mich aber am meisten über das Ende arbeitete in verschiedenen Spitälern in
nen Bruder. Der Bruder war meiner des Kriegs erstaunte, war, dass uns die London, im letzten Spital betrieb ich mit
Meinung nach immer etwas verwöhnt, Regierung ein kleines Büchlein mit Cou- einem Professor Forschung zu Vitamin
wahrscheinlich weil meine Mutter im- pons schenkte. Der Titel des Büchleins D und Calcium. Wir hatten häufig Besu-
mer schon einen Sohn wollte. Ich wuchs lautete: «Let them forget...». Ich erinne- cher aus den verschiedensten Ländern
während des Zweiten Weltkriegs auf. re mich noch genau an diese Coupons, bei uns, auch aus der Schweiz. Es kamen
Das war schwierig. Wir wurden dreimal mit dabei waren Gutscheine für einen zwei Männer aus der Schweiz vorbei, der
evakuiert. Das erste Mal hätte ich mit Mars-Riegel, eine Banane, eine Packung erste war sehr nett und heiratete dann
meinen Geschwistern auf einem Boot Kekse, einen Apfel und ich glaube, eine ein englisches Mädchen. Als der zweite
nach Amerika reisen sollen. Meine Mut- Orange. Natürlich ist es unmöglich, die- aus der Schweiz anreiste, sagte ich mir,
ter nahm uns Kinder in letzter Sekun- se Ereignisse zu vergessen. Nach dem dieses Mal werde bestimmt nicht ich
de vom Schiff, es wurde samt all mei- Krieg mussten wir nonstop lernen und die sein, die diesen Mann heiraten wird,
nen Freunden von deutschen Torpedos studieren, wir gingen sogar abends zur doch genau so kam es. Wir bekamen drei
beschossen und versenkt. Wir wurden Schule, wir wollten alle weiterkommen. Kinder miteinander.
aufs Land evakuiert, doch wir lebten in Ich beabsichtigte, Ernährungsberaterin
der Nähe einer Fabrik, die Militärwaf- zu werden und ging zuerst in London
fen herstellte, also wurden wir auf dem zur Schule und wurde dann von der Uni-
Land auch bombardiert. Wir zogen uns versität von Edinburgh in Schottland
schliesslich zurück in unser ursprüngli- aufgenommen. Es war eine wunder-
ches Haus nach Wellington und danach schöne Zeit, abgesehen davon, dass ich
nach London, weil die Stadt inzwischen einfach überhaupt kein Geld hatte. Aus
durch Fliegerabwehr geschützt wurde. diesem Grund wollte ich einmal in den
Als die Deutschen jedoch ferngesteuerte Ferien zu Fuss, das heisst per Autostopp,
Bomben entwickelten, waren wir wieder von Edinburgh zurück nach England
gezwungen, aufs Land zu ziehen. Wäh- gelangen. Nach einer langen Reise kam
rend des Kriegs gab es ständig Warnun- ich tatsächlich zu Hause an, mitten in
gen, und wir Schulkinder mussten uns in der Nacht, es war drei Uhr früh. Um
Bunkern verstecken. Einmal rannten wir meine Eltern nicht zu wecken, schlich
so schnell, um in Sicherheit zu gelangen, ich ganz leise die Treppe hinauf und war
dass ich in ein Lagerfeuer stürzte, das mir sicher, kein Geräusch gemacht zu
zwischen zwei Bunkern aufgebaut war. haben, doch oben angelangt warteten
Ich verbrannte meine ganze Hand, woll- meine Mutter mit einem Topf kochen-
te der Lehrerin aber nichts davon sagen, den Wasser und mein Vater mit einem
weil ich dann bei ihr hätte bleiben müs- Golfschläger auf mich. Sie dachten, ich
sen und den Angriff nicht bei meinen wäre ein Einbrecher. (Lacht.) Sie waren
Freunden hätte abwarten können. gar nicht glücklich über mein Verhal-
15
M A R G U E RMI TAERUGNUDE RCIHT EI AFRAANFCAONNCIO N I
Kannst du mich ganz kurz Welche Werte möchtest du mir für Was ist das Schönste, das du je
mein eigenes Leben weitergeben? erlebt hast?
beschreiben? Respekt. Respekt für andere Menschen, Meine Kinder zu gebären. Wenn das
Weisst du, ich kenne dich, das jüngste egal, wer sie sind und was sie machen. erste Kind auf die Welt kommt, ist man
von sieben Enkelkindern, nicht allzu Respekt ist wichtig. Und Ehrlichkeit. total euphorisch und wahnsinnig aufge-
gut. Ich kann dir nicht viel über dich er- Und Fairness. Man soll immer fair sein. regt. Es ist etwas Aussergewöhnliches,
zählen, du bist immer in der Schule, und was da mit einem passiert. Es ist wirk-
deine Schule ist nicht mehr in Zürich. Kannst du etwas von mir lernen? lich faszinierend, wundervoll.
Ich sehe dich an Weihnachten, nicht Oder bewunderst du mich sogar
über Ostern, weil du dann von deinen für etwas? Was würdest du anders machen,
Eltern in Anspruch genommen wirst. Oh, ich wünschte, ich könnte diese Fra- wenn du könntest?
Du bist wirklich ein sehr süsses Mäd- ge beantworten. Ich denke, du bist sehr Nichts.
chen, ich glaube, du wirst eine tolle Per- neugierig und abenteuerlustig, du passt
son werden, wenn du deine Ausbildung dich immer sehr gut und schnell an ver- Ist in deinem Leben etwas passiert,
fertig hast und etwas Lebenserfahrung schiedene Situationen an. Neugierig zu was dich komplett verändert hat?
bekommst. Ich glaube, dass du eine be- sein, ist wichtig. Du möchtest vieles se- Was mein Leben extrem verändert hat,
sondere Persönlichkeit hast und speziell hen und erleben, das ist gut. war – klar –, einen Schweizer zu heiraten
bist, viel mehr als das kann ich leider und England zu verlassen. Ich verliess
nicht über dich sagen. Würdest du dein Leben als erfüllt meine Eltern, Schwester und meinen
bezeichnen? Bruder und all meine Freunde. Das ist
Findest du, ich bin dir ähnlich? Um Himmels willen – ja! Ich meine, ein enormer Einschnitt in die Biografie.
wenn man 86 wird und dann nicht zu- Man muss sich an ein komplett neues
Und falls ja, inwiefern? frieden ist, ist Hopfen und Malz verlo- Umfeld anpassen, neue Freunde finden.
Ich denke, du bist wahrscheinlich aben- ren. Man kann ja nicht wieder von vorne
teuerlustig und magst die Natur, vor al- anfangen. Mit 86 kann man ziemlich Was war dein grösster Traum und
lem die Berge. Ich glaube, du möchtest stolz auf sich sein, dass man so weit warst du stark genug, dir diesen zu
eine gute Ausbildung erhalten, das ha- gekommen ist. Mehr als das kann man erfüllen?
ben wir mit Sicherheit gemeinsam. Und nicht erwarten. Ich glaube, mein grösster Traum war es,
ich denke, du möchtest einmal etwas zu heiraten und Kinder zu haben. Ja, das
machen, was du auch wirklich mit Lei- Bereust du irgendetwas? konnte ich mir erfüllen.
denschaft tun kannst. Vielleicht wirst Schwer zu sagen. (Lange Pause.)
du auch einmal Kinder bekommen, ich Findest du, dass du genug mutig
glaube, du wärst eine gute Mutter. Heisst das, dass du nichts bereust? warst in deinem Leben?
Doch klar bereut man Dinge, aber das Es hätte ein bisschen besser sein können.
Denkst du, deine Beziehung zu ist privat. Ich hätte ein wenig mutiger sein können.
Aber im Grossen und Ganzen war ich ei-
deinen eigenen Kindern beeinflusst gentlich ziemlich okay. Beispielsweise
fuhr ich mit dem Auto von Zürich zu
auch unser Verhältnis? meiner Schwester nach Birmingham.
Klar. So wie man seine Kinder erzieht, Das war eine tolle Erfahrung. Als ich
werden diese auch ihre Kinder erziehen. endlich da war, realisierte ich, dass ich
Sie werden sicher von der Art, wie sie es tatsächlich geschafft hatte. Die Rück-
erzogen wurden, beeinflusst. Ausser sie fahrt gestaltete sich etwas schwieriger.
haben eine aggressive Haltung ihrer Er- Ich hatte zwei eigene Kinder und noch
ziehung gegenüber. Aber ich halte meine zwei Kinder meiner Schwester Pat da-
Kinder nicht für wahnsinnig aggressiv, bei, um sie in die Schweiz zu bringen.
sie denken nicht, dass sie eine schreck- Plötzlich explodierte der Motor auf einer
liche Erziehung hatten, nehme ich mal Autobahn in Frankreich. Ich schloss das
an. Nein, keine schlechten Gefühle
diesbezüglich. Ich denke, sie werden be-
stimmt die gleiche Beziehung zu ihren
eigenen Kindern haben wie ich zu ihnen.
16
MARGUERITE FANCONI
Auto ab und sagte den Kindern, wenn recht schockiert, als ich merkte, dass die Als wir Forschung betrieben mit Vit-
sie es auch nur wagen würden, aus dem Frauen hier nicht so gebildet waren wie amin D und Calcium, haben wir eine
Auto zu steigen, ich ihnen eine deftige ich. Ich merkte es zum Beispiel, als ich ziemlich angesehene Arbeit geleistet.
Ohrfeige verpassen würde. Ich lief und die Gattinnen anderer Ärzte traf und Das hat die Welt zwar nicht verändert,
lief, bis ich zu einer Telefonzelle kam immer ich diejenige war, die Ideen und aber unsere Ergebnisse haben zu wich-
und irgendwie in meinem gebrochenen Vorschläge brachte und sagte: «Kommt, tigen Erkenntnissen beigetragen.
Französisch angeben konnte, wo wir uns lasst uns dies und das machen.» Die
befanden. Dann sagte ich noch: «Alors, anderen wirkten dann immer sehr unsi- Hast du Angst vor dem Sterben?
c’est fini.» Zum Glück wurden wir dann cher und fragten mich: «Was? Wirklich? Alle haben irgendwie Angst. Im Sinne
vom Pannendienst abgeholt und den Bist du sicher, dass wir das können?» von, dass man nicht sterben möchte.
ganzen Weg bis zur Autowerkstatt in Zwischen meinem Heimatland und hier Es stellt sich für mich nicht wirklich die
Winterthur abgeschleppt. gab es also definitiv einen grossen Un- Frage, ob man Angst davor hat, es ist
terschied. Aber ihr jungen Frauen von vielmehr so, dass man möchte, dass es
Hast du einen Tipp, eine Warnung heute seid emanzipiert, kein Vergleich weitergeht. Man möchte mehr – das Le-
zu den Zuständen von früher. ben ist fantastisch! Angst ist das falsche
oder einen Ratschlag, welchen du mir Wort. Die Menschen fürchten sich nicht
«Alle haben vor dem Tod, sie wollen einfach nicht
für mein Leben mitgeben möchtest? irgendwie Angst sterben. Das ist etwas anderes.
Nimm es, wie es kommt. Hab keine vor dem Sterben.
Angst. Das Leben ist Wie denkst du, wie wird mein Leben
Denkst du, dass ich etwas von dir fantastisch, aussehen, wenn ich erwachsen bin?
man möchte, dass Uff, das ist echt schwierig. Ich wäre
lernen möchte? überhaupt nicht überrascht, wenn du
Na ja, die Gene sind da, und einige da- es weitergeht.» in die Fussstapfen deiner Mutter tre-
von werden mit Sicherheit an dich wei- ten würdest und Journalistin werden
tergegeben worden sein. Aber dass du MARGUERITE FANCONI würdest. Du interessierst dich für Men-
etwas von mir lernst? Jedes Leben ist schen, eigentlich interessiert dich alles,
so anders, ich glaube, man kann nicht Möchtest du nochmals so alt wie und du kannst Geschichten schreiben.
wirklich viel von anderen lernen. So- ich sein? Medizin oder etwas Medizinisches käme
gar, wenn man ein sozusagen «ideales Nicht unbedingt. Natürlich würde ich für dich wohl eher nicht in Frage. Ich
Vorbild» hat, das man sehr bewundert, dann in England leben. Aber ich den- kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber
kann man nicht wirklich etwas von die- ke nicht wirklich, dass sich inzwischen ich denke, du hast ein bisschen Angst vor
ser Person lernen. Jeder muss auf seine etwas drastisch verändert hat. Wir hat- Blut. Das ist nicht so dein Ding.
eigene Art Fehler machen und daraus ten den Krieg und viele andere Schwie-
lernen. rigkeiten, mit denen wir uns abfinden
mussten. Heute gibt es noch immer
Denkst du, dass es junge Frauen wahnsinnig viele Probleme. Terror, Um-
weltverschmutzung oder Klimawandel
heutzutage besser haben als du zu zum Beispiel. Jede Zeit hat ihre eigenen
Sorgen.
deiner Zeit?
Natürlich spielt bei dieser Frage eine Glaubst du, du hast die Welt in irgend-
Rolle, dass ich in England aufwuchs und einer Form zum Besseren verändert?
meine Jugend dort verbracht habe. Als
ich schliesslich in die Schweiz zog, hatte
ich das Gefühl, dass wir Londonerinnen
den jungen Schweizerinnen um einiges
voraus waren. Als ich England verliess,
waren die Frauen dort selbstständig und
fortschrittlich. Wir studierten und fuh-
ren Auto. In der Schweiz durften Frauen
nicht einmal abstimmen. Ich war regel-
17
SIMONE MÜLLER UND MARTINA JULEN
«Hab Gott vor Augen.
Und bleib brav.»
Ich treffe Martina Julen, 91 und ihre Enkelin Simone
Müller, 20, in der Lobby des Hotel Backstage in
Zermatt. Es gehört Martinas Sohn Heinz, hier fühlt
sie sich so wohl wie in ihrem eigenen Wohnzimmer:
Martina erscheint im Bademantel und ist auch in
weissem Frottee eine elegante Frau. Ihr Walliser Dialekt
klingt in meinen Ohren wie Kauderwelsch, vermutlich
versteht sie mein Züridütsch genauso wenig.
18
19
SIMONE MÜLLER
Name Sie ist eher eine ängstliche Person und Migros einkaufen gehen, gucke ich noch
macht sich grundsätzlich viele Sorgen. schnell bei ihr vorbei. Ich versuche wirklich,
Simone Müller Aber das ist ja auch verständlich, mit sie so oft wie möglich zu sehen. Ich weiss,
vier Kindern und fünfzehn Enkeln. Vie- dass sie das sehr freut.
20Alter le von uns Enkeln fahren professionell
Ski, mein Bruder Joel wie auch unser Wie kommuniziert ihr am häufigsten
Schule Cousin Elia, der Sohn von Skiweltmeis- miteinander?
ter und Abfahrts-Olympiasieger Pirmin Wir reden meistens. Aber sie ruft mich auch
Kollegium Brig, Zurbriggen. Deshalb sorgt sie sich halt ab und zu während der Woche an, so zwi-
12 te Klasse manchmal. Ansonsten ist sie eine sehr, schen fünf und sechs Uhr abends.
sehr liebe Oma, die immer alles für uns
Wohnort gemacht hat. Früher, als ich noch im Folgt deine Oma dir auf deinem
Dorf lebte, wohnten wir im gleichen Instagram?
Zermatt Haus wie meine Grosseltern, dann ging Nein, sie hat kein Instagram.
ich ständig zu ihnen hinauf. Sie hat unse-
Hobbys re Socken geflickt und uns mit Makkaro- Ist deine Grossmutter ein
ni verwöhnt. Vorbild für dich?
Skifahren, Tennis, Unbedingt. Vor allem, wie sie ihre Familie,
Zeit in der Natur Was für eine Rolle nimmt deine ihre Kinder aufgezogen hat. Und natürlich
Grossmutter in deinem Leben ein? auch moralisch. Ihre positive Einstellung
verbringen Sie ist wichtig für mich. Unter der Wo- zum Leben. Auch von ihrem starken Glauben
che bin ich halt immer im Internat in Brig zur Kirche oder einfach zum Herrgott kann
Was für eine Frau ist deine und nur am Wochenende in Zermatt. Am man viel lernen. Ihr Gottvertrauen inspiriert
Grossmutter? Freitag, Samstag und Sonntag versuche mich sehr. Wenn man das so leben kann wie
Sie ist extrem elegant. Schon an ihrem ich aber, sie jeden Tag zu besuchen. Das sie, ist man auf einem guten Weg. Sie rät uns
Gang erkennt man sie von weitem. Sie macht mir Freude, wir reden viel. auch oft, wir sollen zur Messe und an das
geht immer total aufrecht und ach- Gute glauben.
tet darauf, gut auszusehen. Die Haare Verbringt ihr Zeit allein oder sind
zum Beispiel lässt sie sich mindestens noch andere Familienmitglieder dabei? Denkst du, deine Grossmutter
einmal in der Woche beim Coiffeur Wir sind eine grosse Familie, meistens war glücklich?
machen, und wenn sie das Gefühl hat, besuchen sie mehrere von uns gleichzei- Auf jeden Fall. Vor allem auch wegen ihres
dass sie nicht so gut aussieht, geht sie tig. Vor allem am Freitag, wenn ich mit Mannes, meinem Grossvater. Sie sagt je-
lieber nicht aus. Sie trägt immer schö- dem Zug hochkomme, stösst auch mein den Tag, wie dankbar sie ist, einen so lieben
ne Ohrringe und anderen Schmuck. Bruder dazu. Mann gehabt zu haben. Oma musste lange
auf Opa warten, bevor er sie heiratete. Sie
Wie verbringt ihr eure Zeit dort? kannten sich schon als Kinder, als meine
Seit sie nicht mehr so gut zu Fuss ist, Grossmutter zwanzig war, tanzten sie ein-
bleiben wir häufig bei ihr daheim, trin- mal zusammen, diese Geschichte erzählt
ken viel Kaffee und reden, gemütlich sie mir oft. Nach dem Tanz sagte Opa zu ihr:
halt. «Du musst noch zehn Jahre auf mich warten.
Ich will noch viel erleben.» Sie wartete, und
Was beeinflusst, wie häufig ihr nach zehn Jahren kamen sie tatsächlich zu-
euch seht? sammen, da war sie schon dreissig, was da-
Sie wohnt mitten im Dorf, ich gehe ei-
gentlich nie ins Dorf, ohne sie kurz zu
besuchen. Muss ich zum Beispiel in die
20
SIMONE MÜLLER
mals bereits als alt galt, um zu heiraten. Teilt ihr gleiche Interessen? Hast du einen Traum, gibt es etwas,
Dass sie so lange auf ihn gewartet hat, Weniger. Sie war nicht so sportlich. Aber das du unbedingt erreichen willst?
ist schon ziemlich speziell. sie führte ein Restaurant und servierte, Eigentlich ist mein Traum, eine Familie
darin sind wir uns ähnlich, meine Eltern zu gründen. Einen flotten Mann und Kin-
Wofür bewunderst du betreiben das Boutiquehotel Coeur des der zu haben. (Lacht.)
deine Oma? Alpes, dort helfe ich regelmässig mit.
Für ihre Dankbarkeit. Und ihr Grundver- Hat das in irgendeiner Form auch mit
trauen. Sie sagt oft: «Das kommt schon Du lebst in den Bergen und fuhrst deiner Grossmutter zu tun?
gut.» Und natürlich auch dafür, wie sie professionell Ski. Jetzt nicht mehr? Ja, sie erzählt mir viele Geschichten von
sich um ihre Familie sorgte. Ich mag sie Bis ich siebzehn war, fuhr ich professio- ihr und Opa und ihren früheren «Lieb-
wirklich gern. nell Skirennen und war zwei Jahre lang schaften», das inspiriert schon.
in der Sportschule in Brig. Danach kam
Unterstützt dich deine Grossmutter ich ins NLZ, das Nationale Leistungszen- Was würdest du anders machen als sie?
auch in deinem Selbstbewusstsein? trum, bis an die Spitze hats dann nicht Sie macht sich zu viele Sorgen. Proble-
Sie sagt, ich hätte schöne Haare oder gereicht. Also hörte ich mit dem Pro- me macht man sich schon ein bisschen
so was in dieser Art. Ich besuche sie fisport auf und wechselte ins Kollegium. selber, nicht? Wenn man immer das Ge-
häufiger als die anderen Enkel. Dann Skifahren ist aber noch immer meine fühl hat, dass etwas passieren kann. Das
meint sie immer, ich sei das flotteste Leidenschaft. Ich mag Sport noch im- braucht auch viel Energie, wenn man
Enkelkind. (Lacht.) Momol, mer, jetzt vor allem auch Tennis. Neben immer Angst hat. Das versuche ich zu
sie macht mir viele der Schule arbeite ich als Skilehrerin. Ich vermeiden.
Komplimente. bin auch gern draussen in der Natur. Zer-
matt ist ein fantastischer Ort zum Leben. Dann ängstigst du dich nicht so sehr?
Also dass ich mich richtig fürchte, ist
Weisst du, was du einmal werden mir eher fremd. Durch den katholischen
möchtest? Glauben unserer Familie vertrauen wir
alle darauf, dass es kommt, wie es kom-
Nein, eben noch nicht so recht. men muss. Meine Oma sagt, wir sollten
Früher wollte ich Skirennfah- jeden Abend beten, dann würde alles
rerin werden. Auf jeden Fall gut. Das nimmt mir die Angst, aber ich
würde ich gerne in Zermatt frage mich dennoch, werde ich einmal
bleiben und vielleicht eine Familie gründen können? Gesund
etwas in Richtung Hotel- bleiben? Durch die Familie bekomme
tourismus machen. ich viel Kraft, vor allem meine Mutter
Das wäre cool. ermutigt mich immer wieder. Im nächs-
ten Jahr besuche ich noch das Kollegi-
um, was danach kommt, ist ungewiss.
Darüber mache ich mir natürlich schon
meine Gedanken.
21
MARTINA JULEN
Mein Name ist Martina Julen und ich 91 bin ich dankbar für mein tolles Le- sie sich gegenseitig haben und glücklich
bin 91 Jahre alt. Ich bin hier in Zermatt ben, ich habe es sehr genossen. miteinander sind. Dass sie sich gegensei-
aufgewachsen. Ich heiratete einen fei- tig respektieren ist fundamental.
nen Mann, uns wurden vier Kinder ge- Ist Ihre Enkelin Simone Ihnen ähnlich?
schenkt. Eines süsser und artiger wie das Die sind alle so lieb, ich habe einfach Würden Sie Ihr Leben als erfüllt
andere. Ich hatte das Glück, sechzig Jah- den grössten Fun mit ihnen. Sie sind
re lang verheiratet zu sein. Das ist auch nicht ausgeflippt, sondern auf dem Bo- bezeichnen?
etwas wert. Leider musste ich meinen den geblieben. Sie sollen in der Schule Ich sollte wohl. Ich musste lange auf
Mann vor zwei Jahren gehen lassen. Das Spass haben, was auch wichtig ist. Ja, ja, meinen geliebten Mann warten, zehn
ist ziemlich schwer für mich. Auf der an- so geht das, leider kann mein Mann das Jahre lang. Und nachher bekam ich vier
deren Seite kann man nicht genug dan- alles nicht mehr erleben. Geistig geht es Kinder. Ein fünftes hat sich der Herrgott
ken, und die fünfzehn Enkelinder sind schon noch im Kopf, aber ich kann mich geholt, als es zwei war. Wir haben nun
allerliebst. Eines herziger wie das ande- nicht mehr gut bewegen, mit ihnen tur- einen Engel im Himmel, das ist auch et-
re. Mein Sohn Heinz wohnt gegenüber nen oder auch Fahrrad fahren ist vor- was wert. Ich nahm einfach alles an, was
auf dem gleichen Stock, so habe ich im- bei. Aber wir hatten es über viele Jahre uns der Herrgott geschickt hat, nahm es
mer Gesellschaft und doch noch meine schön miteinander. mit Freude und erlebte schöne Zeiten.
eigene Wohnung, das ist wirklich schön. Daneben gab es natürlich auch unend-
Mein Mann war Skilehrer, Dokumentar- Wofür bewundern Sie Simone? lichen Schmerz, zum Beispiel als wir
filmer, wir haben zusammen das Bergre- Bewundern? Ich bewundere sie auf al- das Büblein verloren. Wir lebten vierzig
staurant «Findeln» geführt. Er brachte len Kanten. Sie ist herzlich, gütig, wie Jahre auf der Alp Findeln und führten
vielen prominenten Gästen das Skifah- alle anderen auch, sie verwöhnen mich ein Restaurant, das schliesslich mei-
ren bei, unter anderem auch der Familie einfach. Das ist wundervoll. Die drei ne Tochter Vrony übernahm. Ich habe
Heinz, dem Ketchup-Hersteller. Darum kleinsten Enkel sind die von Heinz, sie grosse Sehnsucht nach meinem Mann.
tauften wir unseren Sohn Heinz. Inzwi- sind vier und zwei und ein Neugebore- Man kann nicht sagen, ich sei einsam,
schen führt Tochter Vrony das Berg- nes, sie wohnen gleich nebenan und ma- ich habe ja die Kinder...
restaurant weiter. chen mir unglaublich Freude.
Was ist das Schönste, das Sie in Ihrem
Können Sie Ihre Enkelin kurz Was für Werte möchten Sie Ihrer
beschreiben? Leben erlebt haben?
Enkelin mitgeben? Sicher, dass ich den Ehemann bekam,
Simone ist eines meiner liebsten Immer, wenn ein Enkel irgendwohin den ich gerne hatte. Das war das Aller-
Enkelkinder, sie kommt mich so verreist, sage ich: «Hab Gott vor Augen. wertvollste. Ich hegte vom ersten Tag an
oft hier oben besuchen. Nach der Bleib brav und komm gesund zurück.» Respekt für ihn. Unsere Kinder merkten
Schule kommt sie gerade direkt Das ist das Allerwichtigste. das auch, wie sehr wir uns liebten, das
vom Zug zuerst zur Grossma- war wichtig. Respekt und miteinander
ma. Sie tätigt Kommissionen Können Sie etwas von den jungen arbeiten, gemeinsam das Leben gestal-
für mich, auch alle anderen ten zu können und den Kindern mög-
helfen mir, wenn ich etwas Menschen lernen? lichst viel Gutes mitgeben, das sind die
brauche. Es geht mir wirk- Uuh, lernen könnte ich viel. Ich bin Grundpfeiler eines gelungenen Lebens.
lich gut. Ich habe Probleme dumm geboren und habe nichts dazu-
mit den Augen, Makula-De- gelernt. (Lacht.) Ich mache nur Spass... Würden Sie etwas in der Vergangen-
generation, das ist furchtbar Wir konnten früher die Schule nicht
mühsam. Die Beine sind halt geniessen, ich denke, das ist heute an- heit ändern, wenn Sie nochmals jung
auch nicht mehr gut. Aber mit ders. Ich bekam Französisch- und Eng-
lischunterricht, das wars, damit kamen wären?
wir im Restaurant klar. Kinder von heu- Ich würde wieder von vorne anfangen
te haben die Chance, eine Ausbildung und alles genau so machen! Ich habe
zu wählen, die ihnen Freude macht. mehr bekommen, als ich verdient habe.
Wichtig sind auch Sport und Musik. Es Ich denke oft, dass es das selten gibt:
ist wundervoll, dass sie beides pflegen, Alle vier Kinder in Zermatt, drei haben
Fremde geheiratet, alle blieben hier im
Dorf mit ihren Familien. Das ist etwas
22
MARTINA JULEN
wert, nicht? Alle stehen mir bei, wenn ist, sind gleich alle vier mit der ganzen Unsere Generation kommt gar nicht
etwas ist. Es ist fast zu viel des Guten. Familie da. Herrlich. mehr mit, aber das muss sie ja eigentlich
auch nicht.
Geschah in Ihrem Leben etwas, das Wären Sie gern noch einmal jung?
Ich denke, ich erlebte alles so, dass ich Haben Sie Angst vor dem Sterben?
Sie völlig verändert hat? jetzt zufrieden bin, wenn der Herrgott Nein, nein. Weil das ist Gesetz, es
Der Tod unseres Söhnchens nahm uns mich abholen kommt und ich wieder kommt jeder dran. Ich sage immer, dass
unerhört mit. Noch früher, ich war mit meinem Mann zusammen sein darf. der Schutzengel, die Muttergottes und
vierzehn und fünfzehn, verlor ich zwei Man muss für jeden Tag danken, den der Heiland hier sind und vor dem Tor
Brüderlein. Eines hatte eine Nussscha- man hier ist, aber das Alter macht schon stehen, um mich in Empfang zu neh-
le verschluckt und erstickte, das andere auch Beschwerden. Mit 86 Jahren fuhr men. (Lächelt.) Das ist so. Angst darf
fiel in den Findelbach, wir konnten es ich noch Ski, heute, mit 91, komme ich man nicht haben, so ist das irdische Le-
nicht mehr finden. Das sind harte Schlä- kaum mehr die Treppe hoch. Von den ben, es endet mit dem Tod. Wenn man so
ge. Aber der Herrgott schickt einem Augen rede ich gar nicht. alt wird, hat man noch Glück, weil man
nichts, was man nicht ertragen kann. Es sich lange darauf vorbereiten kann. Ich
ist schwer, aber man kommt irgendwie «Der Tod denke nicht daran, dass ich bald sterbe,
darüber hinweg. Ohne Glauben wäre es unseres Söhnchens sondern bin dankbar für jeden Tag, der
furchtbar. mir noch bleibt.
nahm uns
Getrauten Sie sich, Ihre Träume zu unerhört mit. Haben Sie die Welt in irgendeiner
Aber der Herr-
verwirklichen? gott schickt einem Form zum Besseren verändert?
Ja, alle. Nach dem Warten auf meinen nichts, was man Die Welt? Ich? Die Welt hat sich sicher
Mann ging mein Traum in Erfüllung. Er nicht ertragen verbessert, trotzdem habe ich Angst um
sagte: «So Martina, ich würde jetzt gern die Jugend. Es ist verrückt, was denen
eine Familie gründen.» Darauf sagte ich, kann.» heute geboten wird, schon im Kindes-
dass ich da sei und bereit wäre. Das Le- alter. Da hatten wir es einfacher. Wir
ben bekam eine neue Wendung, ich war MARTINA JULEN wussten genau, was wir machen kön-
sehr zufrieden. nen und was nicht. Heutzutage ist alles
Haben es Frauen heutzutage besser erlaubt, es gibt keine Sünden mehr. Wie
Was für einen Rat oder Warnung das dann auf der anderen Seite aufge-
als zu Ihrer Zeit? nommen wird, ist eine andere Frage...
geben Sie an Ihre Enkelin weiter? Heute sind sie selbstständiger. Wir sind
«Bleib so lieb und hübsch und brav, wie eigentlich dem Manne ebenbürtig. Sie Was denken Sie, wird einmal aus
du bist». Wenn ich mich manchmal können, wann immer sie wollen, einen
einsam fühle oder wenn Heinz weg ist, Kaffee trinken gehen. Das gabs früher Ihrer Enkelin?
schläft sie bei mir. Ich singe ihr dann nicht, wir durften nicht einfach so in Ich bete immer, dass jedes Enkelkind ei-
manchmal ein Marienlied vor. ein Restaurant. Wenn wir am Sonntag nen Beruf findet, an dem es Freude hat.
spazieren gingen, war das in Ordnung, Simone – davon bin ich überzeugt – wird
Denken Sie, Ihre Enkelin möchte etwas aber am Montag mit den Kindern spa- es sich zwei-, dreimal überlegen,
zieren zu gehen, war überdimensioniert. bevor sie einen Freund heim-
von Ihnen lernen? Wir mussten zu Hause arbeiten. In bringt. Sie will auf sicher gehen.
Vielleicht, wie sie ihre Mitmenschen ach- meinen fast hundert Jahren erlebte ich Ich hoffe nur, dass sie einen gol-
ten kann. Das sehe ich jetzt an unseren alles Mögliche. Ein Zuhause ohne elek- denen Mann bekommt, wie ich.
Kindern, die hängen alle aneinander. trisches Licht bis zum Mobiltelefon, die Nicht dass sie zehn Jahre lang
Das haben sie von zu Hause. Alle vier technische Entwicklung ist unglaublich. warten muss. Aber mit ihrem
wuchsen in Findeln auf, bis sie in die Charakter steht ihr nichts im
Schule kamen. Sie lachten, spielten und Weg. So, jetzt habe ich genug
stritten miteinander, ganz normal. Sie gesagt. Das gibt ja sonst eine
hatten eine wundervolle Jugend. Da- ganze Bibel!
durch haben sie heute noch einen derart
engen Zusammenhalt. Wenn etwas los
23
herkunft
Eva Meier
LONG ISLAND
N .Y.
Lily Penner
LOS ANGELES
Effi Signer Rebekka Schwarz Julia Müller
ETTINGEN, BL Silvia Bächtold Jana Neidhart
THALWIL, ZH ZUMIKON, ZH
Simone Müller Chiara Alicia
Martina Julen Fanconi
Z E R M AT T, V S
ERLENBACH, ZH
24
Marguerite
Fanconi
LONDON
Marie Sun
LIAONING
Marylin Yutani
YA M A G U C H I
25
CHIARA ALICIA FANCONI UND EFFI SIGNER
«Denke niemals,
‹das kann ich nicht›.»
Effi Signer, 74, ist meine Grossmutter mütterlicherseits.
Ich besuche sie nicht häufig in Baselland, wo sie wohnt.
Wir unterhalten uns in ihrem Garten, Gärtnern ist ihre Passion.
Voller Stolz zeigt sie mir ihre Blumen, sie sind wunderschön.
26
EFFI SIGNER, MEINE GROSSMUTTER MÜTTERLICHERSEITS
Biografie Kannst du mich kurz beschreiben?
Effi Signer Du bist ein von mir heiss geliebtes We-
sen. Du könntest alles von mir haben.
Mein Name ist Effi Signer und bin 74 uns sofort. Ich musste dann jedoch wie- Alles. Du bist meine einzige Enkelin,
Jahre alt. Ich schwimme jeden Tag elf- der zurück nach Bern. Mein Chef dort intelligent und wunderhübsch. Ein tol-
hundert Meter, das sind 22 Längen in erlitt einen Herzinfarkt, wir brauchten les Mädchen. Als du noch klein warst,
einem olympischen Becken. Bereits als schnell Ersatz, also schlug ich deinen ging ich zwei bis drei Mal die Woche zu
junges Mädchen ging ich regelmässig Opa vor, so wurde er mein Chef. Er sagt dir nach Zürich. Du kamst auch zu uns
schwimmen. Ich war auch Abteilungslei- immer, das seien die einzigen drei Mo- in die Ferien, das fand ich immer herr-
terin bei den Pfadfinderinnen. Mit fünf- nate gewesen, in denen er der Chef war, lich. Mein Mann engagierte sich auch
zehn zog ich für ein Jahr nach Neuchâtel nicht ich. (Lacht.) Wir heirateten, mit sehr, weil er als Vater nicht so präsent
und lernte dort Französisch. Ich absol- 21 bekam ich unsere erste Tochter. Ich gewesen war. Unsere Töchter sagen, sie
vierte eine Schule für Laborantinnen in habe in meinem Leben noch anderes hätten eigentlich keinen Vater gehabt,
Bern, heute nennt man das medizinische gemacht, mich politisch engagiert. Vom weil er immer im Spital arbeiten musste.
Assistentin. Zu meiner Zeit wurde man französischen Atomkraftwerk Fessen- Aber mit dir hat er spannende Sachen
in diesem Beruf ausgenutzt, man über- heim sollte durchs ganze Baselbiet eine unternommen. Er kaufte Chemie-Bau-
liess es uns, die ekelhaften Dinge zu er- Hochspannungsleitung gebaut werden. kästen und zeigte dir Experimente. Nun
ledigen. Damals fing ich an zu rauchen. Wir formierten eine Gruppe, in deren bist du grösser, und wir sehen dich leider
Nach einem Praktikum in Biel arbeite- Vorstand ich war. Dank unserer Hartnä- nur noch selten. Wenn man älter wird,
te ich in Bern in der Bakteriologie eines ckigkeit konnten wir die Stromleitung ist man nicht mehr so an den Grossel-
Tuberkuloselabors. Erstmals waren Tu- verhindern. Ich engagiere mich auch tern interessiert. Für mich kam das En-
berkulose-Resistenzen aufgetaucht. Auf sozial und habe mich immer um ande- kelkind immer an erster Stelle. Ich sagte
kleinen Platten züchteten wir Bakteri- re gekümmert. Über Jahre sah ich nach alle Pläne ab, wenn du mich brauchtest.
en und testeten unterschiedliche Arten einem alten Mann, heute schaue ich zu Sein Enkelkind darf man verwöhnen,
von Antibiotika, um herauszufinden, einer alten Frau. Wir hatten immer vie- oder? Ich genoss das sehr. Wenn ich ehr-
welches Medikament am wirksamsten le Tiere; Hunde, Katzen, Hasen, Fische, lich bin, genoss ich dich mehr als meine
war. Dafür wurde ich mit knapp zwan- Vögel, ich liebe Tiere. Unsere Kinder eigenen Kinder. Ich konnte mich hun-
zig nach Deutschland an die Universi- waren aktiv. Sie spielten alle ein Musik- dertprozentig engagieren und dich am
tätsklinik in Freiburg im Breisgau ge- instrument und trieben Sport. Ich chauf- Abend wieder abgeben und nach Hause
schickt. Als ich jung war, konnte man als fierte sie zu ihren Hobbys. Als die Mäd- fahren. Ich hatte die Verantwortung nur
Frau unmöglich alleine essen gehen. In chen grösser waren, begann ich wieder während des Hütens, danach waren die
der Uniklinik standen am Montag alle zu arbeiten. Zuerst in einer Galerie, dann Eltern wieder zuständig. Das war wahn-
in einer Schlange vor dem Büro des Pro- am Zahnärztlichen Institut in Basel. Ich sinnig schön.
fessors, um ihn persönlich zu begrüssen. lernte Italienisch, meine letzte Stelle im
Fast ausschliesslich Männer: Mediziner, Tropeninstitut in Basel auf der medizi- Bin ich dir ähnlich? Wenn ja, worin?
Bakteriologen, Assistenten. Alle sagten nischen Poliklinik ermöglichte mir als Hm, ich weiss nicht. Dein Vater sagt,
«Guten Tag», aber plötzlich kam einer, einer der Ersten ein Jobsharing. Heute dass du ziemlich ungeduldig bist. Das
der sagte «Grüezi». Das war dein Gross- ist das selbstverständlich, aber damals bin ich auch, wobei es mit dem Alter
vater. Ich war sehr erleichtert, endlich gabs das noch nicht. besser wird. Mich nervt es, wenn etwas
einen Schweizer zu sehen, wir verliebten langsam geht. Wir sind beide sehr tier-
liebend. Und sonst? Du bist natürlich
die Tochter meiner Tochter.
Wie ist dein Verhältnis zu meiner
Mutter? Hast du das Gefühl, das
beeinflusst unsere Beziehung?
Durchaus. Wenn meine Tochter sich
über mich ärgert, sagt sie das dir viel-
27
EFFI SIGNER, MEINE GROSSMUTTER MÜTTERLICHERSEITS
leicht, und du hast schon eine vorgefass- Denkst du, dass Geld unser Verhältnis Schwierige Frage. Dazu habe ich mir
te Meinung mir gegenüber. irgendwie beeinflusst? noch nie Gedanken gemacht. Vielleicht,
Nein. Du freust dich immer über Ge- dass ich nicht mehr Sprachen gelernt
Erinnerst du dich, was wir zusammen schenke, auch über ganz kleine. habe, obwohl ich schon vier beherrsche.
Oder, dass ich vielleicht in der Erziehung
unternommen haben? Wie kommunizieren wir am meiner Töchter nicht immer gerecht war
Früher, als du ganz klein warst, habe ich häufigsten miteinander? und manches nicht so gut hinbekom-
dich praktisch jede Woche gehütet. Auch So wie jetzt, auf Berndeutsch und Züri- men habe. Ich war noch so jung – 21.
noch, als du in den Kindergarten gingst. dütsch. Aber ich war mit dem Herzen dabei und
Wir unternahmen viel, haben in der sorgte dafür, dass sie gefördert wurden.
Küche gewerkelt, gespielt, Zirkus bei- Folgst du meinem Instagram- Sie mussten zu Hause nicht mithelfen,
spielsweise. Wenn du bei mir in den Fe- Account? mir war wichtiger, dass sie ein Instru-
rien warst, halfst du mir viel beim ko- Leider nicht. Ich mache kein Facebook ment lernten. Sie spielten im Trio und
chen, wir buken Guetzli, alles Mögliche. und so. Es dünkt mich lächerlich, allen Quartett, wunderschön. Es kam noch
mitzuteilen, was man gerade unter- ein Freund einer Tochter hinzu, weil für
Wie nah bin ich dir? nimmt. Und auch diese ganzen Selfies ein Quartett das Cello fehlte. Ich war
Sehr nah. Ich vermisse dich. Wenn ich überall sind doof. Mails oder auch SMS ehrgeizig, das stimmt. Aber leider hat es
manchmal nichts von dir höre, denke finde ich hingegen gut. Bist du auf Ins- nichts gebracht, heute macht keine mehr
ich, du könntest auch mal anrufen und tagram? Könnte ich dich dann dort an- Musik. Deine Mutter spielte wirklich gut
fragen, wie es geht. Aber du hast offen- schauen? Das könntest du mir ja einmal Geige, sie hat ein Musikgehör. Schade.
bar keine Zeit, weil du gestresst bist we- erklären. Ich folge dann aber nur dir.
gen der Schule. Ich schicke dir dann im- Was war das Schönste, das du in all
mer wieder ein Päckli ins Internat und Welche Werte möchtest du mir gern
gebe mir Mühe, das lustig zu verpacken. für mein eigenes Leben mitgeben? den Jahren erlebt hast?
Dann höre ich etwas von dir, was mich Ehrlichkeit ist das Wichtigste. Und In- Die drei Geburten. Vor allem auch, weil
sehr glücklich macht. tegrität. Und Freude an Musik, wie auch man sich damals noch überraschen liess,
an Literatur natürlich. ob es ein Mädchen oder Junge wird.
Gibt es etwas, wofür du mich Heute verrät der Ultraschall ja alles. Kin-
Kannst du von mir auch etwas lernen? der kriegen war das Schönste, obwohl es
bewunderst? Viel, eben zum Beispiel die neuen Me- sehr schmerzhaft ist.
Unbedingt. Du bist unglaublich anstän- dien. Und Gespür für Mode. Wie man
dig. Ich sagte deiner Mutter bereits, dass sich anziehen soll. Das kannst du, das Ist in deinem Leben irgendetwas
du extrem gut erzogen wurdest. Aber als hast du von deiner Mutter. Ich habe dich
Mama erlebt sie dich natürlich anders. jedenfalls noch nie daneben gekleidet passiert, das dich völlig verändert hat?
Ich nehme an, bei mir bist du netter. gesehen. Hmmm, man sagt, ich sei immer noch
(Lacht.) Deine Intelligenz gefällt mir wie früher, ich glaube also nicht.
auch, dass du dein Hirn einsetzt. Zum Hast du das Gefühl, du unterstützt
Beispiel musstest du für die Gymi-Auf- mich in meinem Selbstwertgefühl? Was war dein grösster Traum? Hast du
nahmeprüfung in einer Aufgabe be- Wenn ich könnte, würde ich es. Aber ich
kannte Sprichwörter vervollständigen. glaube, du bist dafür schon fast zu er- dich getraut, ihn zu verwirklichen?
Weil du an einer internationalen Pri- wachsen. Nicht ganz. Ich sagte mir eigentlich, dass
marschule warst, kanntest du unsere ich nie heiraten werde. Und ich hätte
deutschen Redewendungen nicht so Würdest du dein Leben als erfüllt gern beruflich Karriere gemacht, das
gut. Bei der Frage, «Was Hänschen nicht bezeichnen? konnte ich mit drei Kindern vergessen.
lernt...», wusstest du die Antwort nicht Total, ich würde nichts anders machen. Damals kamen die Elektronenmikro-
und schriebst: «Was Hänschen nicht skope neu auf den Markt, damit hätte
lernt, lernt Gretchen.» Sensationell! Ich Gibt es dennoch etwas, das du ich gern gearbeitet. Aber mich um die
erzählte einem befreundeten Gymi-Leh- bereust? Kinder, den Mann und die vielen Tiere
rer davon, er meinte, die wäre bei mir zu kümmern, war auch schön. Wenn ich
auch sofort ins Gymi gekommen. nicht geheiratet hätte, wäre ich sicher ir-
gendwo «on top», denke ich mal.
28
EFFI SIGNER, MEINE GROSSMUTTER MÜTTERLICHERSEITS
Hast du einen Rat oder eine Warnung Mit Sicherheit, aber sie haben es noch mich viel Mut, Zeit und Beharrungsver-
immer nicht gut genug: Lohnungleich- mögen. Ich weiss auch, dass das alles ein
für mich? heit, Doppelbelastung... Als mehrfache Tropfen auf den heissen Stein ist, aber
Dass du an dich glaubst. Nicht denkst, Mutter einem Beruf nachzugehen, ist es ist immerhin etwas. Mich stört, dass
«das kann ich nicht», wenn du etwas enorm anstrengend. Es gibt heutzutage Fliegen so wahnsinnig billig ist. Keiner
tun willst. Dass du probierst und durch- zwar durchaus Männer, die zu Hause denkt an die Folgen, ich werde das nicht
hältst. Ich wünsche dir, dass du ein we- anpacken, aber im Grossen und Gan- mehr erleben, aber der Klimawandel
nig starrköpfig bist, im Sinne von: «Das zen sind es immer noch wir Frauen, die macht ja jetzt schon riesige Probleme.
ziehe ich jetzt durch!» Ausserdem ist praktisch alles tragen. Das liegt auch Hurrikane, die Gletscher schmelzen,
wichtig, seinen Mitmenschen zu ver- daran, dass es in der Wirtschaft noch ich weiss nicht, wie es aussehen wird,
trauen, aber auch eine gewisse Distanz viel zu wenig Jobsharing für Männer wenn du fünfzig bist, ich möchte dir kei-
zu bewahren, sich nicht blind auf jeman- gibt. Wenn Frauen wegen der Kinder ne Angst machen, aber die Wasserver-
den einzulassen. Da fällt mir ein Spruch ihre Arbeit aufgeben, haben sie es später sorgung wird katastrophal werden. Es
meines Fahrlehrers in Bern ein, er sagte schwer, wieder einzusteigen. Verbessert ist eine verrückte Welt, auch die vielen
damals zu mir: «Fahre immer so, wie hat sich, dass Frauen heute alleine aus- Flüchtlinge... Ich freue mich, wenn jun-
wenn alle anderen Dummköpfe wären. gehen können und nicht mehr seltsam ge Leute als Politiker an die Spitze kom-
Dann passiert nichts.» Das denke ich angeschaut werden. men, vielleicht ändern die etwas.
mir heute noch ab und zu. Wenn man
mit allem rechnet, kann einem nichts «Ich hätte Hast du Angst vor dem Sterben?
passieren. gern beruflich Nein, da bin ich fatalistisch. Man akzep-
tiert einfach, wie es kommt, macht sich
Was kann ich sonst von dir lernen? Karriere keine Sorgen. Aber ich fände es schreck-
Das musst du sagen. Gut kochen wür- gemacht, das lich, wenn ich zum Beispiel Alzheimer
de ich dir gern beibringen. Wir haben konnte ich mit bekäme. Wir haben eine Patientenver-
oft Gäste, Kochen ist meine Lieblings- drei Kindern fügung, worin steht, dass wir das alles
beschäftigung in der Hausarbeit. Ohne vergessen.» nicht möchten, künstlich ernährt wer-
zu bluffen, aber mein Essen wird im- den und so weiter.
mer sehr gerühmt. Meistens wollen die EFFI SIGNER
Frauen nachher das Rezept, das stinkt Was denkst du, wird einmal aus mir?
mir, weil ich selber lange dafür pröbeln Hast du das Gefühl, dass du die Welt Darüber sprechen wir oft, dein Grossva-
musste. Starköche verraten nie all ihre zum Besseren verändert hast? ter und ich. Wir möchten das so gerne
Geheimnisse. (Grinst.) Aber dir würde Ja. Ich achte sehr auf meinen ökologi- miterleben. Zuerst dachten wir, du wür-
ich es ganz genau aufschreiben, das gan- schen Fussabdruck, fliege wirklich nur, dest Medizinerin, weil dich die Experi-
ze Rezept. wenn es sein muss. Ich benutze öffent- mente so interessierten. Später sagtest
liche Verkehrsmittel, reduziere Abfall, du Tierärztin, aber das war dann auch
Wärst du gerne noch einmal so alt wir haben jede Woche nur einen kleinen nix mehr. Hast du eine Idee? Du willst
Sack, manchmal gar keinen. Es gibt jetzt jetzt einfach mal die Matura machen,
wie ich? diese Läden, wo man verpackungsfrei stimmts? Das ist wichtig, danach kannst
Auf keinen Fall. Heute ist alles so einkaufen kann und eigene Gefässe mit- du alles studieren. Sprachen sind auch
schnelllebig und oberflächlich. Mit elek- bringt, das mache ich jetzt auch. Stolz sinnvoll, Englisch sprichst du ja bereits,
tronischer Musik kann ich nichts anfan- bin ich auf mein Engagement gegen wenn du noch Französisch, Italienisch
gen. Für eine Liebhaberin klassischer die Hochspannungsleitung. Das kostete und Spanisch lernen würdest: Wäre das
Musik und Jazz sind diese Bässe nur laut nicht grossartig?
und rhythmisch. Ich verdiente nicht viel
Geld, vor allem nicht in meinem Prakti-
kum, aber ich war glücklich und kostete
meine Jugend voll aus.
Denkst du, dass Frauen es heute
besser haben als früher?
29
«Mir kommt nichts
in den Sinn, was ich
einem jungen Menschen
mitgeben könnte. »
Manchmal ist die geografische Distanz ein grosses Hindernis in einer
Familie. Eva Meier, 17, und ihre Grossmutter, Marie Sun, 93,
leben auf zwei Kontinenten. Aus diesem Grund konnte ich
Eva im Lyceum Alpinum in Zuoz interviewen, ihre Grossmutter
in den USA leider nicht. Diesen Part übernahm Eva mittels meines
Fragebogens. Besser so, im aufgezeichnetem Video-Gespräch
antwortet Marie Sun auf Chinesisch.
30
MARIE SUN UND EVA MEIER
31
MARIE SUN
Biografie Marie Sun
Ich heisse Marie Sun und bin 93 Jahre alt. Schule, sie durften nicht. Ich jedoch wollte
Ich bin in China geboren, im hohen Norden unbedingt lernen und bestand die Prüfung
Chinas, es ist sehr, sehr kalt dort. Es schne- in die Oberstufe, meine Geschwister haben
it fast jeden Tag, es ist wirklich unglaublich sich alle sehr für mich gefreut. Als Beloh-
eisig. Mein Vater und meine Mutter waren nung bekam ich ein Fahrrad, ich war die
Bauern wie die meisten Leute zu jener Zeit Einzige, die ein Velo besass. Nicht einmal die
dort. Mein Vater arbeitete ausserdem im Jungs hatten eines, weil es sehr teuer war.
Polizei-Departement, meine Mutter war Alle auf dem Land lebten von der Hand in
zu Hause und kümmerte sich um die Kin- den Mund. Ich war stolz, als ich das Fahrrad
der und die Familie. Ich habe einen Bruder bekam und erinnere mich, wie alle meine
und zwei Schwestern, ich bin die Dritt- Freunde neidisch auf mich waren deswegen.
geborene. Ich wuchs auf einer Obstplantage Mein Bruder half mir dann, damit fahren
auf. Mit vielen Bäumen, Äpfeln, Birnen. Es zu lernen. Am ersten Tag fiel ich zu Boden,
herrschte eine grosse Armut. Damals auf dem noch heute ist die Narbe zu sehen.
Land gingen die meisten Mädchen nicht zur
32
MARIE SUN
Können Sie Ihre Enkelin beschreiben? «Weil mein mann hatte Beziehungen zur japani-
Ich habe drei wunderbare Enkelkinder, Mann schen Monarchie und wurde deswegen
das älteste ist 32 Jahre alt und verheira- von den Chinesen gefangen genommen.
tet, das andere ist Evas Bruder Max, er gefangen Dadurch waren wir gezwungen, auszu-
ist so gross geworden, grösser als sein genommen wandern und gingen zusammen nach
Vater. Und dann noch Eva. In China ha- Kalifornien.
ben wir zwölf Tier-Sternzeichen, meine worden
Enkelin wurde im Jahr des Drachens ge- wäre, hatten Was ist das Schönste, das Sie je
boren. Sie ist ein wunderschönes, gros- erlebt haben?
ses Mädchen, sie ist meine Lieblingsen- wir keine Wann immer ich mit meinen Kindern
kelin. (Lacht.) Ich habe eine nette, kluge andere Wahl, zusammen bin, bin ich am glücklichsten.
Enkelin. Leider lebt sie in der Schweiz, Ich fühle mich noch immer gesund und
sehr weit weg von mir. als nach geniesse jede Minute, die ich mit ihnen
Amerika verbringen kann.
Wie häufig sehen Sie Eva? auszuwandern.»
Nur einmal im Jahr, weil meine Tochter Was, denken Sie, wird aus Eva später
Christina in New York lebt, und wäh- Was war Ihr grösster Traum? einmal werden?
rend den Ferien kommt Eva vor allem Und konnten Sie sich diesen Traum Das Mädchen ist sehr gescheit, deswegen
ihre Mutter in Long Island besuchen. erfüllen? bin ich mir sicher, dass sie auch ein gutes
Wenn sie in New York ist, kommt sie Die meiste Zeit über war ich ganz zufrie- Leben führen wird. Sie ist auch ein sehr
aber auch bei mir vorbei. Das macht den und happy. Ich habe Kinder und En- herzlicher Mensch.
mich sehr glücklich. Sie fahren mit dem kelkinder... Als ich jung war, herrschte
Auto zu mir, wir wohnen nicht allzu in China Revolution, das war hart. Jetzt
weit voneinander entfernt, vielleicht 40 bin ich glücklich und führe ein schönes
Minuten Fahrt. Jedes Mal ist Eva ein Leben.
bisschen grösser. Ihr Vater entschied,
dass sie ihre Ausbildung in der Schweiz Finden Sie, Frauen haben es heutzu-
erhalten soll. In der Schweiz sprechen tage einfacher als zu Ihrer Zeit?
sie mehr Sprachen als hier, ich glau- Früher gab es allerlei Schwierigkeiten,
be Deutsch ist schwierig. Ich bin sehr jedes Land hatte seine eigenen Proble-
glücklich und stolz auf meine Enkelin. me, aber in China war es sehr schwer.
In einem Jahr werde ich Eva hoffentlich Wir waren wie gesagt sehr arm, und es
wiedersehen. war bitterkalt. Eine Ausbildung zu ma-
chen war für ein Mädchen fast unmög-
Finden Sie, Ihre Enkelin ist Ihnen lich. Die Revolution habe ich ebenfalls
aus nächster Nähe miterlebt, das war
ähnlich? Und falls ja, inwiefern? eine schreckliche Zeit. Wir sind dann
Ja, natürlich. Eva ist immer glücklich, nach Amerika ausgewandert. In China
und sie hilft gern anderen Menschen. lebte ich in der Mandschurei, die die
Japaner im Mukden-Zwischenfall an-
Gibt es etwas, das Sie in Ihrem gegriffen hatten. Mein damaliger Ehe-
Leben gelernt haben, das Sie an Ihre
Enkelin weitergeben möchten?
Die junge Generation von heute ist ganz
schön klug. Ich denke nicht, dass ich sie
etwas lehren muss, in meiner Generati-
on ist ja noch alles sehr altmodisch. Es
kommt mir nichts in den Sinn, was ich
ihr mitgeben könnte.
33
EVA MEIER
Name Kannst du deine Grossmutter kurz bens zu verstehen begann. Wie zum Bei-
beschreiben? spiel, dass sie mir beibrachte, respektvoll
Eva Meier Meine Grossmutter ist eine sehr starke zu seinen Nachbarn zu sein. Das Quartier
Frau. Ich kenne die Details nicht genau, meiner Grossmutter war das erste, in
Alter 17 aber sie hat in ihrem Leben offenbar dem ich mich alleine auskannte, weil ich
schon viel durchgemacht. Ich glaube, das so viel Zeit bei ihr verbracht habe.
Schule hat sie sehr taff und eigenständig ge-
macht. Wie oft seht ihr euch heute noch?
Lyceum Alpinum Zuoz, Nur etwa drei, vier Mal im Jahr.
12 te Klasse Was für eine Rolle nimmt sie in deinem Und dann seid ihr allein?
Leben ein? Nein, leider sind immer andere Leute
Wohnort Als ich noch klein war, war sie eine wich- dabei, weil wir dann irgendwelche Fami-
tige Bezugsperson für mich. Ich ging lienzusammenkünfte feiern. Es ist heute
Long Island, jedes Wochenende zu ihr nach Queens, ganz anders als damals als Kind, weil wir
New York, USA das eine Stunde von unserer Wohnung fast nicht ungestört miteinander spre-
in New York entfernt lag. Wegen meiner chen können.
Hobbys Oma war Chinesisch meine erste Spra-
che. Sie spielte auch eine wichtige Rolle, Habt ihr gleiche Interessen,
Sport, Kunst und als ich als Kind ein paar Regeln des Le- über welche ihr euch austauscht?
Basteln, Lesen, Wir reden viel über meine Schule in der
draussen spazieren Schweiz, ansonsten verbindet uns ehr-
zu gehen, mit lich gesagt nicht mehr besonders viel.
meinen Freundinnen
etwas zu
unternehmen
34
EVA MEIER
Was beeinflusst, wie häufig ihr euch Kennt deine Oma dein Instagram- Was möchtest du denn konkret später
seht? oder Facebook Account? einmal nicht so machen wie sie?
Meine Ferien. Und dass wir leider so weit Nein. (Lacht.) Sicher nicht. Meine Grossmutter ist nicht wirklich viel
voneinander entfernt wohnen. Wenn ich gereist. Ich weiss nicht, ob das etwas mit
dann für die Ferien zu Hause in New York Ist deine Grossmutter ein Vorbild ihrer Zeit zusammenhing, wo Chinesin-
bin, ist es natürlich etwas komplett an- für dich? nen nicht selbstständig reisten, oder ob
deres für mich, in der Stadt mit meinen Bis zu einem gewissen Grad. Ich habe sie nicht genügend Geld hatte, oder ob
Freundinnen zusammen zu sein oder mit einige schlechte Dinge über sie gehört, sie es nicht wollte. Sie verbrachte fast ihr
meiner Grossmutter in Queens. Mit ihr weil ich immer viel Zeit mit meiner Tan- ganzes Leben entweder in China oder in
muss ich mich irgendwie auf eine an- te und meiner Mutter verbringe, sie be- den USA. Das finde ich schade. Es gibt
dere, zurückhaltendere Art benehmen, klagen sich oft ein bisschen über ihre einige Dinge, zum Beispiel wie sie ihre
ich glaube, ich kann bei ihr nicht so frei Mutter. Einige Aspekte ihrer Persönlich- Kinder, also meine Mutter und meine
sein, und das möchte ich nicht immer. keit sind nicht wirklich etwas, was ich Tante negativ beurteilt hat, das würde
Es ist nicht so, dass ich sie nicht sehen anstreben würde, die ich mir aneignen ich sicher bei meinen Kindern versu-
will. Aber sie lebt im Altersheim, diese möchte. Meine Oma ist sehr dickköpfig. chen, zu vermeiden.
Umgebung ist ein Riesenunterschied zu Wohl wegen ihren schlechten Erfahrun-
meinen Leben in New York, ich würde gen, als sie nach Amerika ziehen musste. Gibt deine Grossmutter irgendwelche
einfach nicht jeden Tag hingehen wollen. Sie ist ein schwieriger Mensch und hat Werte an dich weiter?
eine dominante Seite. Als meine Tante Sie findet immer, dass es sehr wichtig
Wie kommuniziert ihr am häufigsten an Magersucht litt, holte meine Gross- ist, nett mit anderen Leuten zu sein und
miteinander? mutter keine professionelle Hilfe von ei- ein fröhliches Leben zu haben. Das glau-
Ich telefoniere recht oft mit ihr und schi- nen Psychiater beispielsweise, sondern be ich, ist für sie sehr wichtig. Es freut
cke ihr auch Briefe. zwang ihre Tochter zu essen. Meine mich, dass jemand, der so wichtig in
Tante durfte nicht vom Tisch aufstehen, meinem Leben ist, mir positive Ratschlä-
ehe sie aufgegessen hatte. Abgesehen ge gibt. Dass man gut und fröhlich leben
davon bin ich aber schwer beeindruckt, kann und soll.
wie stark sie ist und wie sie ihrer Familie
perfekte Manieren beigebracht hat.
35
EVA MEIER
Unterstützt dich deine Grossmutter nicht sicher, wie stark sie das Auswan- Würdest du gerne etwas von deiner
in deinem Selbstwertgefühl? dern bereut. Aber sich mehr zu Hause Grossmutter für dein eigenes Leben
Vor ein paar Jahren, bei einem gemein- zu fühlen, ein Gefühl von Heimat, wäre lernen oder möchtest du lieber alles
samen Abendessen, brachte sie mir ein definitiv etwas, was sie in ihrem Leben selber herausfinden?
chinesisches Wort bei. Das Wort lautete hätte besser machen können. Sie war Ähm, kann das denn auch so etwas
«tsu ming», was auf Deutsch so viel wie immer ein wenig verächtlich der neuen wie Nähen sein? Sie ist eine sehr gute
«intelligent» bedeutet. Sie sagt mir im- Welt gegenüber. Meine Grossmutter ist Schneiderin. Das wäre etwas, das ich
mer, dass ich «tsu ming» sei. Und auch, in China aufgewachsen, und China blieb gerne von ihr lernen würde. Und es wäre
dass ich hübsch sei. Ich denke, das ist für für immer ihr Zuhause. Ich finde es je- auch toll, wenn ich lernen könnte, wie
alle jungen Frauen etwas sehr Schönes doch wahnsinnig interessant und vor- man stark und anpassungsfähig wird.
zu hören. bildlich, wie sie dann ihr Leben in Ameri- Das wäre echt wichtig für mich gewe-
ka gemeistert hat und wie sie immer das sen, als ich neu ins Internat nach Zuoz
Glaubst du, dass deine Grossmutter Beste für ihre Kinder wollte. Obwohl die kam. Oh, fast hätte ichs vergessen, Chi-
glücklich war? Umstände nicht ideal für sie waren und nesisch möchte ich auch unbedingt von
Ich nehme an, sie war glücklich, dass sie sie sich China als Lebensmittelpunkt ge- ihr lernen.
eine Familie gegründet hatte, aber sie wünscht hätte.
war nicht zufrieden mit den Umständen. Weisst du, was du später beruflich
Als sie etwa 20 Jahre alt war, musste sie machen möchtest?
von China wegziehen, obwohl sie nicht Nein, noch nicht wirklich.
wirklich in den USA leben wollte. Ich bin
36
EVA MEIER
Hast du Träume oder gibt es etwas, Hast du Angst vor der Zukunft,
das du einmal unbedingt erreichen fürchtest du dich vor etwas?
möchtest? Ich habe sehr viel Angst vor dem Leben,
Ich würde gern anderen Menschen hel- weil ich einfach nicht weiss, was pas-
fen. Nicht immer nur etwas für mich ma- sieren wird und wie meine Zukunft aus-
chen, sondern etwas, dass allen guttut. sehen wird. Aber das weiss man ja nie.
Oder zumindest vielen Leuten. Ich denke, meine grösste Angst ist, dass
ich eines Tages einmal etwas tun wer-
Hat dich deine Grossmutter beein- de, das ich später bereuen könnte und
flusst in deinem Wunsch, anderen zu zu spät herausfinde, dass das nicht das
helfen? Richtige für mich gewesen ist.
Wahrscheinlich hat sie mich in dieser
Hinsicht tatsächlich gefördert. Als ich
klein war, pochte sie immer wieder ve-
hement auf Anstand und eine gute Mo-
ral. Ansonsten nahm und nimmt sie aber
nicht genügend an meinem Leben teil,
als dass sie einen grossen Einfluss neh-
men könnte. Leider.
37
LILY PENNER UND MARYLIN YUTANI
38
«Respektiere
die Meinung anderer,
auch wenn du sie
nicht teilst.»
Es ist ganz schön praktisch, wenn der Vater Tennis Coach
ist und man zu Hause einen Tennisplatz hat.
Auf einer Ferienreise besuche ich Lily Penner, 15
und ihre Grossmutter Marylin Yutani, 67, in Los Angeles.
Nach einem Match, den leider Lily gewonnen hat,
interviewe ich sie und ihre Oma. Wir bestellen
uns beim mexikanischen Home Delivery
Guacamole und Tacos, so, wie es hier üblich ist.
39
LEI LVYAPME NE INEERR
EVA MEIER
Name Was für eine Frau ist deine ist immer total freundlich, geduldig und
Grossmutter? einfühlsam. Sie ist ausserdem ein Vorbild
Lily Penner Sie ist sehr selbstständig und weiss, was für mich, weil sie einen extrem guten Ge-
sie will. schmack in Sachen Mode und Stil hat.
15Alter Und sie ist immer da, wenn jemand sie
Was für eine Rolle spielt sie in deinem ruft. Vor allem ich. Wenn ich jemanden
Schule Leben? zu Reden brauche oder um mich irgend-
Eine sehr grosse, sie schaut oft zu mir. wohin zu fahren, dann kommt sie.
La Serna Als ich klein war, unternahmen wir viel
Highschool, zusammen. Sie war so etwas wie eine Gibt es etwas, was du eher nicht so
zweite Mutter für mich. Jetzt reden wir machen möchtest wie sie?
Whittier, häufig miteinander, vor allem während Ich möchte offener sein und mehr Freun-
Kalifornien, USA, Autofahrten. Wir wohnen in Los An- de haben als sie. Meine Oma hat einen
geles, der Verkehr hier ist mörderisch, kleinen Freundeskreis. Ich hätte lieber
10. Klasse schon nur um eine kleine Distanz zurück- viele und ganz unterschiedliche Freunde.
zulegen, kann es eine Stunde dauern.
Wohnort Gibt deine Grossmutter Werte an
Wie häufig siehst du deine Oma? dich weiter und falls ja, welche?
Los Angeles, Sehr oft. (Lacht.) Ein paar Mal die Wo- Sie zeigt mir, wie wichtig es ist, das Le-
USA che. Manchmal sogar jeden Tag, zum ben in vollsten Zügen zu geniessen. «Live
Beispiel während der Sommerferien. life to the fullest», wie sie immer sagt.
Hobbys
Wovon hängt ab, wie häufig ihr euch Unterstützt deine Grossmutter dich für
Ich spiele seht? ein besseres Selbstwertgefühl?
regelmässig Tennis, Wenn meine Eltern mich irgendwo nicht Unbedingt, sehr sogar. Sie macht mir vie-
mein Vater arbeitet hinbringen können, springt meine Oma le Komplimente und hilft, dass ich mich
als Tennis Coach, ein und fährt mich. Der öffentliche Ver- besser fühle, wenn es mir mal nicht so
kehr ist hier quasi inexistent, man muss gut geht. Also: «She makes me feel good
ich singe gerne, zwingend ein Auto haben, sonst kommt about myself when I’m feeling down.»
male ab und zu man nirgends hin.
und liebe Fotografie Denkst du, dass deine Grossmutter
Wie kommunizierst du mit deiner in ihrem Leben glücklich war?
Grossmutter? In ihrer frühen Kindheit war sie es wahr-
Mit Textnachrichten, Telefonieren und scheinlich nicht, weil sie ein schlechtes
wir reden wie gesagt häufig miteinander. Verhältnis zu ihrem Vater hatte. Aber
jetzt hat sie ein angenehmes, schönes
Ich weiss, dass du Instagram hast, Leben.
kennt deine Oma deinen Account?
Wenn ich ihr davon erzählen würde, Würdest du gerne etwas von deiner
würde es sie bestimmt interessieren, Grossmutter lernen oder würdest du
und sie würde mich followen, aber sie lieber alles selber herausfinden?
hat kein Instagram. Lieber alles selber herausfinden. Aber
bei gewissen Dingen, wo sie mehr Erfah-
Findest du, deine Grossmutter ist ein rung und Wissen hat, hätte ich sie auch
Vorbild für dich? gern zur Hilfe.
In einigen Aspekten schon, doch. Wie
sie mit anderen Menschen spricht und Gibt es etwas, dass du jetzt gerade
umgeht, finde ich bewundernswert. Sie von ihr lernen möchtest?
40
LILY PENNER
Ich würde gerne mehr über meine Her-
kunft und meine japanischen Vorfahren
erfahren.
Weisst du, was du später einmal
machen möchtest?
Im Moment weiss ich es überhaupt noch
nicht. Ich hab ein paar Ideen, aber noch
nichts Konkretes.
Hast du Lust, ein bisschen mehr
darüber zu verraten?
Ich singe und tanze total gern. In meiner
Kirche sagen sie, ich hätte eine wunder-
schöne Stimme. Nächsten Sonntag darf
ich beim Gottesdienst ein Lied ganz al-
lein vortragen. Ich träume davon, eine
Ausbildung als Musical-Darstellerin zu
absolvieren, ganz in der Nähe von Long
Beach gibt es ein Kunst-College, aber
mal sehen...
Hast du noch einen Traum, den du
dir unbedingt erfüllen möchtest?
Ich möchte mehr reisen. Ausserhalb der
USA.
Beeinflusst dich deine Oma dabei
irgendwie?
Auf jeden Fall, sie verreist oft. Das wür-
de ich auch gern. Diese Sehnsucht habe
ich also sicher ein bisschen von ihr. Sie
erzählt mir viele Geschichten von ihren
Reisen, das inspiriert mich total.
Hast du Angst vor dem Leben?
Oder wovor fürchtest du dich?
Ich habe einfach Angst davor, mich zum
Beispiel irgendwie zu blamieren oder
nicht zu wissen, was ich mache.
41
MARYLIN YUTANI
Biografie Marylin Yutani Können Sie Ihre Enkelin kurz
beschreiben?
Ich heisse Marylin Yutani und bin 67 Jahre Lily ist sehr intelligent, einfühlsam und
alt. Ich wurde am 5. Oktober 1949 in Los eine Problemlöserin.
Angeles geboren. Ich habe einen Bruder
und eine Schwester. Aufgewachsen bin ich Finden Sie, Ihre Enkelin ist Ihnen
in Pasadena, Kalifornien. Aber ursprüng- ähnlich?
lich stammt meine Familie aus Yamaguchi Schon, wir sind beide sehr empathische
in Japan. Seit der Junior Highschool wuss- Frauen und versuchen, Probleme und
te ich, dass ich Pharmazie studieren wollte. Konflikte zu lösen, wenn es welche gibt.
Schliesslich ging ich dann auf die USC Phar-
macy School, von 1969 bis 1973. Im Dezem- Wie häufig sehen Sie Ihre Enkelin und
ber 2016 ging ich bei meinem Arbeitgeber wie verbringen Sie Zeit zusammen?
Kaiser Permanente Home Infusion Phar- Da wir nur etwa zwei Meilen (ca. drei
macy in Rente. Kilometer) voneinander entfernt leben,
sehen mein Mann und ich unsere En-
42 kelkinder ziemlich häufig. Früher lebten
meine Schwiegereltern in Lilys Haus,
wir konnten uns deshalb schon immer
häufig sehen.
Wie nah fühlen Sie sich Ihrer Enkelin?
Wahnsinnig nahe.
Wofür bewundern Sie Lily?
Dafür, dass sie sehr mitfühlend und
einfühlsam ist. Sie ist auch ein äusserst
liebenswürdiges Mädchen, voller Güte,
alles andere als berechnend.
Was für Werte sind Ihnen so wichtig,
um Sie Ihrer Enkelin weiterzugeben?
Grosszügigkeit, Freundlichkeit und
Wohlwollen, Einfühlsamkeit und Res-
pekt. All das möchte ich ihr mit auf ihren
eigenen Lebensweg geben.
Können Sie etwas von Lily lernen?
Wenn ja, was?
Absolut, durch meine Enkelin erlernte
ich die Geduld.
Wie unterstützen Sie Ihre Enkeltochter
in ihrem Selbstbewusstsein?
Ich besuche sie und schaue ihr bei so
vielen Aktivitäten wie möglich zu. Dabei
mache immer einen positiven Kommen-
tar.
MARYLIN YUTANI
Würden Sie Ihr Leben als erfüllt mehr über ihre japanische Herkunft und auch davor, dass ich nicht mit meiner
bezeichnen? die Kultur Japans beibringen. Familie zusammen sein werde. Was mir
Ja, auf jeden Fall. aber die Angst nehmen wird, ist, bis es so
Wären Sie gern noch mal jung? weit sein wird, ein gutes Leben zu füh-
Was bereuen Sie am meisten? Ich muss sagen, dass ich meine Jugend ren.
Dass ich so viele Stunden im Gesund- genossen habe. Es scheint mir, als wären
heitswesen gearbeitet habe, als meine wir damals weniger unter Druck gestan- Was glauben Sie, wird einmal aus
eigenen Kinder klein waren. den, als die Jugendlichen das heute tun. Ihrer Enkelin?
Das Leben war viel sorgenfreier. Vermutlich wird sie einen Beruf aus-
Was ist das Schönste, das sie in Ihrem üben, in welchem sie anderen Menschen
Leben erlebt haben? «Meine beiden helfen kann.
Die Geburt meiner Kinder. grössten
Wie kommunizieren Sie miteinander?
Was würden Sie heute anders Träume waren, Wir reden häufig zusammen, wenn wir
machen, wenn Sie könnten? in die Pharmazie- uns sehen, wir telefonieren und schrei-
Wie gesagt, weniger arbeiten, als meine schule zu gehen ben uns SMS.
Kids jung waren. und eine Familie
Folgen Sie Ihren Enkeln auf Facebook
Ist in Ihrem Leben etwas passiert, zu gründen. oder Instagram?
das Sie völlig verändert hat? Beides habe ich Nein.
Ja, als ich 16 Jahre alt war, wurde in un-
ser Haus eingebrochen. Bevor bei uns mir erfüllt.» Warum lernen Sie diese neue Form der
eingebrochen wurde, hätten wir nie- Kommunikation nicht kennen?
mals daran gedacht, dass das je passie- MARYLIN YUTANI Ich bevorzuge es, zu telefonieren und
ren könnte und schlossen unsere Türen Nachrichten zu schreiben.
nicht ab. Der Grund, warum jemand bei Haben es junge Frauen in der heutigen
uns eindringen wollte, war, um mich zu Zeit besser als Sie damals?
verletzen. Dieses Ereignis machte mich Die Probleme sind immer noch die glei-
zu einer viel aufmerksameren und auch chen, finde ich. Bloss haben sie viel mehr
verletzlicheren Person. Technologie und Elektronik, was die
Dinge ja nicht nur vereinfacht, wie wir
Waren Sie mutig genug, sich Ihre wissen.
Träume zu erfüllen?
Ich denke schon. Meine beiden grössten Denken Sie, dass Sie die Welt in
Träume waren, in die Pharmazieschule irgendeiner Form, auch wenn nur
zu gehen und eine Familie zu gründen. ein ganz klein wenig, zum Besseren
Beides habe ich mir erfüllt. verändert haben?
In meiner Arbeit war immer mein wich-
Gibt es einen Tipp, den Sie Ihrer tigstes Anliegen, den Leuten zu helfen
Enkelin für ihre Zukunft mitgeben und mitfühlend zu sein.
möchten?
Die Meinung aller, auch wenn sie von der
eigenen abweicht, zu respektieren.
Denken Sie, Ihre Enkelin würde Haben Sie Angst vor dem Sterben?
Ich vermute, ich habe einfach Angst vor
gerne etwas von Ihnen lernen? dem Unbekannten. Und natürlich un-
ter Schmerzen sterben zu müssen. Aber
Wenn ja, was könnte das sein?
Ich glaube schon. Ich würde Lily gern
43
SILVIA BÄCHTOLD UND REBEKKA SCHWARZ
44
«Man wird
nicht gefragt,
man muss
aushalten, was
das Schicksal
für einen
bereithält.»
Manche Treffen verlaufen einfach:
Fröhlich und unbeschwert wird über die Leichtigkeit
des Seins geplaudert. Andere Gespräche machen
nachdenklich. Das Interview mit Silvia Bächtold, 77,
und Rebekka Schwarz, 17, ging mir sehr nahe.
Was Rebekka und ihre Grossmutter über ihre
Erfahrungen erzählten und wie die Schülerin
die Herausforderungen ihres jungen Lebens meistert,
erfüllt mich mit grosser Bewunderung.
45
S I LVEIVAABMÄCEHI ETRO L D
EVA MEIER
Biografie Silvia Bächtold
Mein Name ist Silvia Bächtold und ich bin 77 Nähe von einander, aber erst in der Ober-
Jahre alt. Ich bin in Uster geboren und habe stufe lernten wir einander richtig kennen.
einen älteren Bruder und eine ältere Schwes- Wir machten beide die Matura, er studierte
ter. Wir lebten in einem Haus oberhalb vom danach Elektrotechnik, und ich wurde Pri-
Dorf, wunderschön. Meine Mutter ist Bünd- marlehrerin. Ich arbeitete gern mit Kindern.
nerin, und wir gingen immer in den Sommer- Man ist wie eine Mutter für die Kleinen.
ferien ins Bündnerland. Dort lebten meine Ausserdem studierte ich an der Universität
Grosseltern als Kleinbauern. Als ich vier Jah- in Genf, um Französisch zu lernen und ging
re alt war, starb mein Grossvater. Dann kam mit einer Freundin nach Perugia, um bes-
meine Grossmutter zu uns. Ich wuchs also im ser Italienisch zu lernen und nach England,
selben Haushalt wie meine Grossmutter auf. um mein Englisch aufzufrischen. Bald dar-
Ich hatte sie wahnsinnig gern, sie erzählte mir auf heiratete ich meinen ersten Schulfreund.
häufig Geschichten und ging meiner Mutter Mit 25. Wir bekamen drei Kinder, und ich
zur Hand. Meine Grossmutter wurde immer gab nicht mehr Schule. Ich flickte Kleidchen
älter und schwächer, aber auch meine Mut- und spielte mit den Kindern. Ich liess mich
ter war nicht sehr gesund. Man hatte bei ihr zur heilpädagogischen Fachlehrerin ausbil-
eine Krankheit übersehen. Ich bin sicher, dass den und wurde Therapeutin. Ich arbeitete mit
mich mein gutes Verhältnis zu meiner Oma Patienten, die Probleme jeglicher Art hatten,
genauso geprägt hat wie meines zu Rebekka. beispielsweise Legasthenie oder Dyskalkulie.
Mein Mann und ich haben sieben Enkel und Ich gab meistens Einzelunterricht, das gefiel
zu allen eine nahe Beziehung. Aber sie werden mir und ich übte diesen Beruf bis zu meiner
älter und haben nicht mehr Zeit, zu uns zu Pensionierung aus. Die eigenen Kinder waren
kommen, wir sehen uns nicht mehr oft. Briefe mir natürlich das Wichtigste, aber meine
werden ja auch keine mehr geschrieben, aber Arbeit als Therapeutin tat mir auch gut.
ab und zu bekommen wir einen Telefonanruf, Kinder waren sowohl Beruf wie auch Hobby.
um zu hören, wie es geht. In der Kantonsschu- Zudem lebte meine Mutter damals im Alters-
le in Wetzikon war ich in der gleichen Klas- heim neben uns, und ich betreute sie eben-
se wie mein Mann. Wir wohnten auch in der falls.
46
SILVIA BÄCHTOLD
Wie würden Sie Ihre Enkelin Wie häufig sehen Sie einander? Was Unterstützen Sie Ihre Enkelin auch
unternehmen Sie zusammen?
beschreiben? Wir kommen häufig her und essen ge- finanziell?
Rebekka ist ein anständiges Mädchen meinsam. Weihnachten feiern wir auch, Wir schenken ihr etwas zum Geburtstag
und eine herzige. Aber sie ist viel beschäf- das schätzt Rebekka sehr. Natürlich und zu Weihnachten und zur Konfir-
tigt, wir sehen uns oft beim Essen, weil nicht wegen uns Grosseltern, sondern mation, obwohl sie uns sagte, Letzteres
wir ja häufig hier sind. Meine Tochter wegen ihren Cousinen und Cousins, die müsse nicht sein. Wir würden sie be-
braucht unsere Hilfe, aber das machen dann auch dabei sind. An Rebekkas Ge- stimmt nicht darben lassen, aber so weit
wir gern. Früher halfen wir Rebekka burtstage wurden wir eingeladen, als sie kommt es sicher nicht.
beim Französisch, aber ihre Schularbei- klein war. Jetzt hat sie ihre Freundinnen,
ten macht sie jetzt immer allein. Mein das ist auch richtig so. Wie kommunizieren Sie mit Ihrer
Mann studiert mit ihr Mathe und Phy-
sik. Ich finde es toll, wie Rebekka zu ihrer Wofür bewundern Sie Ihre Enkelin? Enkelin?
Mutter ein gutes Verhältnis hat. Auch Können Sie etwas von ihr lernen? Sie rief mich an, um für dieses Interview
Rebekka und ich verstehen uns ausge- Ich freue mich, wenn sie ein bisschen abzumachen, aber eigentlich telefonie-
zeichnet. Zeit hat, um mir von der Schule, ihren ren wir selten. Wie oft wir uns sehen,
Freundinnen und Freunden und was hängt auch davon ab, ob am nächsten
Sind Sie einander ähnlich? sie so macht, zu erzählen. Das ist immer Tag eine Prüfung ansteht. Dafür lernt
Ich denke schon. Rebekka ist auch gern sehr schön für mich. Wie sie die schwere sie manchmal mit meinem Mann. Wenn
mit Kindern zusammen, sie zu hüten Situation meistert, ist bewundernswert. wir hier sind, geht sie meistens in ihr
macht ihr Spass. Mit Babysitting ver- Sie ist eine tolle junge Frau. Zimmer, was ich gut verstehe. Sie ist
dient sie ihr Taschengeld. Aber sie ist auch viel unterwegs, hat ihr Programm
auch gut zu älteren Menschen. Ich hoffe, «Ich hatte mit dem Reiten, trifft Freundinnen...
sie muss mich nie so unterstützen wie ich nicht immer Manchmal sehen wir sie gar nicht, wenn
meine Mutter und meine Grossmutter. Glück: Dass wir unsere Tochter besuchen kommen.
meine Tochter
Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihrer Tochter? so krank wurde Was für Werte möchten Sie Rebekka
und unser Sohn
Beeinflusst das Ihre Beziehung zur mit 42 starb, mitgeben?
waren schwere In die Erziehung ihrer Eltern möchte ich
Enkelin? Erlebnisse mich eigentlich nicht einmischen. Man
Wir mögen einander sehr, das wirkt sich und bleiben will natürlich, dass sie ein guter Mensch,
sicher positiv auf mein Verhältnis zu Re- und nicht egoistisch wird, aber das ist sie
bekka. auch für sowieso nicht. Ich wünsche mir, dass es
immer schwer.» ihr gut geht und sie einen Beruf findet,
Ist Ihre Enkelin stärker auf Sie den sie so liebt wie ich meinen. Ehrlich-
SILVIA BÄCHTOLD keit ist wichtig, aber die hat sie von zu
angewiesen, weil Sie für ihre Mama Hause längst mitbekommen.
da sein müssen? Unterstützen Sie Ihre Enkelin in ihrem
Das kann ich nicht beantworten, das
müsste man Rebekka fragen. Es gab Selbstwertgefühl?
Zeiten, wo ich Rebekka stark unter die Oh, frag mich etwas Leichteres! Wir lo-
Arme griff, als sie zum Beispiel auf die ben sie immer wieder dafür, wie gut sie
Gymiprüfung lernte. Jetzt darf und muss alles macht, und das ist zu hundert Pro-
ich ihr nicht mehr helfen. Mit 17 will Re- zent ehrlich gemeint.
bekka verständlicherweise selbstständig
sein. Ich hoffe, dass das schwere Schick-
sal meiner Tochter meine Verbundenheit
zu Rebekka nicht beeinflusst, falls doch,
dass sie es mir sagen würde.
47
S I LVEIVAABMÄCEHI ETRO L D
EVA MEIER
Würden Sie Ihr Leben als erfüllt Wovon träumten Sie? Getrauten Sie Denken Sie, Ihre Enkelin würde gern
bezeichnen? sich, Ihre Wünsche zu erfüllen? etwas von Ihnen lernen?
Ja. Ich hoffe, mir bleiben noch ein paar Ich hatte ein gutes Leben. Abgesehen Kommt drauf an. Vor zwei, drei Jahren
gute Jahre. Man darf nie vergessen, von den Sorgen jetzt. Aber ich lernte sagte sie, sie möchte kochen lernen. Zum
dass jeder Tag, den man erleben durfte, das, was ich wollte. Wenn ich noch ein- Beispiel Maluns, eine Bündner Speziali-
gleichzeitig einen Tag weniger bedeutet. mal jung wäre, würde ich vielleicht Me- tät. Die kann sie inzwischen längst. An-
Das trifft auf alle Menschen zu. dizin studieren. Ich absolvierte beim sonsten glaube ich nicht, dass sie gross
Roten Kreuz einen Spitalhelferkurs und Lust hat, dass ich ihr noch mehr beibrin-
Bereuen Sie irgendetwas? besuchte die Wiederholungskurse regel- ge. Es liegt an den Eltern, die Kinder zu
Bereuen?! Ich bereue eigentlich nichts. mässig im Spital. Das gefiel mir ausser- erziehen.
Ich hatte nicht immer Glück: Dass mei- ordentlich, obwohl ich nur die einfachs-
ne Tochter so krank ist und unser Sohn ten Dinge erledigen durfte. Aber das ist Wären Sie gerne nochmal jung?
mit 42 Jahren an Leukämie starb, waren ja klar, wenn man nur geringe medizini- Auf jeden Fall. Meine Jugend war so
schwere, schwere Erlebnisse, sie bleiben sche Kenntnisse hat... Die Kinder lagen schön, ich hatte zwei total nette Freun-
auch für immer schwer. Unser grösster mir wie gesagt am Herzen. Die eigenen dinnen, leider ist eine schon gestorben,
Wunsch in Bezug auf die Enkel ist, dass wie auch die fremden in der Schule. Stell mit der anderen stehe ich noch oft in
sie gut herauskommen und nicht auf Ab- dir vor: Ich habe noch immer Kontakt Kontakt. Ich hatte immer Glück mit den
wege geraten. Das hängt natürlich stark mit einer Frau, die 1962 bei mir in die Menschen um mich herum. Ich weiss,
von ihren Kollegen und Kolleginnen ab. Therapie kam, wir schreiben und treffen dass viele ältere Leute sagen, nein, nur
In diesem Alter sind sie leicht zu beein- einander heute noch. das nicht, aber ich würde schon noch
flussen, wir wünschen unseren sieben einmal jung sein wollen. Vielleicht ist
Enkeln einfach nur das Beste. Waren Sie mutig genug in Ihrem es heutzutage anders und unterrichten
wäre eine viel grössere Herausforderung.
Welches war der schönste Moment Leben? Wenn ein Kind sich nicht benahm, sagte
Ich brauchte nicht besonders viel Mut. ein anderes: «Hör auf, oder ich sags zu
Ihres Lebens? Mir fiel eigentlich alles in den Schoss. Hause.» Ich weiss nicht, ob das inzwi-
Die Geburten der Kinder. Sie waren so Unsere Eltern waren freundlich, meine schen noch etwas nützen würde. Heute
lieb, wir hatten nie ein Problem, erst als Geschwister hatten zwar Streit unterein- gibt es so viele Drogen, Computerspiele,
die Krankheiten kamen, wurde es hart. ander, aber nie mit mir. Ich hatte es gut. das ständige Gamen meiner Enkel be-
Man wird nicht gefragt, sondern muss reitet mir Mühe. Solche Probleme kann-
aushalten, was das Schicksal für einen Ihr Rat oder Warnung an Ihre Enkelin? ten wir nicht. Mein Vater rauchte, bevor
bereithält. Gegen solche Krankheiten Hoffentlich spürst du immer, ob die man wusste, wie schädlich Rauchen
kann man medizinisch kämpfen, aber Person, mit der du verkehrst, richtig für ist. Er sagte: «Fang das nie an, das ist
sonst nicht viel tun. Ich bin froh, dass dich ist. Seien das nun Freundinnen, schlimm, davon kommt man nicht mehr
ich meine Zeit meinen Kindern gewid- Freunde oder auch Partner oder Part- los.» Meine beiden Geschwister began-
met habe. Ich arbeitete, während sie in nerin. Aber das sage ich ihr nicht direkt, nen auch zu rauchen, ich nie.
der Schule waren. Einen Tag pro Woche das wünsche ich ihr im Geheimen.
kam ich jeweils um 12 Uhr nach Hause,
dann bereiteten die Kleinen das Mitta-
gessen vor. Ich sagte, sie könnten einfach
Brot und Käse auf den Tisch stellen, das
sei auch eine gute Mahlzeit, aber das
reichte ihnen nicht, sie machten jeweils
Omeletts. Ich hatte Vertrauen in sie und
war in der Nähe, wenn so ein kleiner
Zweitklässler am Herd hantierte, aber
es gab nie ein Unglück. Sie waren zuver-
lässig.
48