PETER
GRIMES
Benjamin Britten
#46
PETER GRIMES 1
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4 PETER GRIMES
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6 PETER GRIMES
PETER GRIMES 7
8 PETER GRIMES
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PETER
GRIMES
Oper in drei Akten und einem Prolog
Libretto von Montagu Slater
nach dem Gedicht »The Borough« (1810)
von George Crabbe
Musik von Benjamin Britten (1913 – 1976)
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MUSIKALISCHE LEITUNG Nicholas Collon
INSZENIERUNG Frederic Wake-Walker
BÜHNE & KOSTÜME Anna Jones
CO-KOSTÜMBILD Linda Tiebel
LICHT Andreas Grüter
CHOR Rustam Samedov
Uraufführung: 7. Juni 1945, Sadler's Wells Theatre, London
Kölner Erstaufführung: 31. Mai 1981,
Oper Köln (Opernhaus Offenbachplatz)
Premiere: 25. November 2018, Oper Köln im StaatenHaus
12 PETER GRIMES
DIE HANDLUNG
PROLOG
Der Fischer Peter Grimes, innerhalb der Gemeinde als Einzelgänger
und Sonderling angesehen, steht vor Gericht: Sein Lehrjunge ist,
als er mit Grimes auf See war, unter ungeklärten Umständen ums
Leben gekommen. Rechtsanwalt Swallow leitet die Untersuchung.
Nachdem er den Fischer zu dem Vorfall befragt hat, bewertet er
den Tod des Jungen als Unglücksfall. Gleichzeitig erteilt er Grimes
den Rat, künftig keinen Lehrjungen mehr aufzunehmen.
Der Ausgang der Untersuchung kann das Misstrauen innerhalb der
Dorfbevölkerung nicht ausräumen. Nur die verwitwete Lehrerin
Ellen Orford gibt dem Außenseiter ein Zeichen der Anteilnahme
und Verbundenheit.
ERSTER AKT
Die Männer des Fischerdorfs suchen Ausgleich von den Entbeh-
rungen der Arbeit – man empfindet sich als vom Schicksal nicht
begünstigt, spricht dem Alkohol zu oder gibt sich in Aunties Kneipe
sonstigen flüchtigen Verlockungen hin. Der religiöse Eiferer Bob
Boles malt schwarze Szenarien. Die Bewohner sehen einen Sturm
heraufziehen. Über einen Punkt herrscht weitgehend Einigkeit: Zu
Peter Grimes möchten alle Abstand halten. Nur Captain Balstrode
und der Apotheker Ned Keene gehen dem verrufenen Fischer beim
Einziehen des Bootes zur Hand. Ned Keene hat für Grimes einen
Jungen aus dem Armenhaus besorgt. Als der Fuhrmann Hobson
sich weigert, diesen abzuholen, muss Ellen Orford vermitteln.
Die allgemeine Angst vor der Sturmflut wächst.
PETER GRIMES 13
Captain Balstrode rät Grimes, die Gegend zu verlassen und woanders
ein neues Leben zu beginnen. Doch Grimes möchte nicht weg –
er träumt davon, sich durch gute Arbeit allgemeine Anerkennung
zu verschaffen und irgendwann Ellen Orford zu heiraten.
Abends erreicht der Sturm die Küste. Der Treffpunkt aller Bewohner
ist in dieser Situation Aunties Gaststätte. Als schließlich auch
Grimes auftaucht und sich in Betrachtungen über die Himmels
gestirne und das Schicksal ergeht, schlägt ihm Ablehnung entge-
gen. Gerade bahnt sich eine gewalttätige Auseinandersetzung an,
als Ellen Orford – vom Sturm durchnässt – den neuen Lehrjungen
hereinführt und ihn, von den anderen misstrauisch beäugt, Peter
Grimes übergibt.
ZWEITER AKT
An einem Sonntagmorgen, während die anderen Dorfbewohner
beim Gottesdienst sind, widmet sich Ellen Orford dem neuen
Lehrling. Im Gespräch versucht sie, mehr von ihm zu erfahren.
Dabei entdeckt sie nicht nur, dass die Kleidung des Knaben zerrissen
ist, sondern auch Wundmale an seinem Hals – Spuren der Miss-
handlung durch Peter Grimes.
Als Grimes hinzukommt und den Lehrjungen, obwohl Sonntag ist,
zum Fischfang abholen will, stellt sich Ellen Orford gegen ihn –
vergeblich. Grimes nimmt den Jungen mit sich.
Eine eilends zusammengetrommelte Gruppe von Männern, ange-
führt von Pfarrer Horace Adams, will den Fischer zur Rechen-
schaft ziehen und macht sich auf den Weg zu seiner Behausung.
Als Grimes, der in See stechen will, die sich nähernde Menschen-
menge bemerkt, gerät er in Hektik, macht dem Jungen Vorwürfe
und weist ihn an, von einer steilen Stelle hinab aufs Boot zu klettern.
Der Junge stürzt ab und kommt dabei zu Tode.
14 PETER GRIMES
DRITTER AKT
Auf einer nächtlichen Feier der Bevölkerung geht es hoch her.
Mrs. Sedley, die sich vom Apotheker Ned Keene regelmäßig mit
Opium versorgen lässt, hetzt bei diesem gegen Peter Grimes:
Seit zwei Tagen fehle von dem Fischer und seinem Lehrjungen jede
Spur; sie persönlich sehe es als Gewissheit an, dass der Junge tot
sei – ermordet von Peter Grimes. Die aufgestachelten Bewohner
sammeln sich zu einer konzertierten Strafaktion gegen Grimes –
man ist zu allem bereit.
Der völlig erschöpfte Grimes wird gewahr, wie die ihm nachspü-
rende Menge seinen Namen skandiert. Ellen und Captain Balstrode
wollen ihm beistehen. Schließlich folgt Grimes der Aufforderung
Balstrodes: Er fährt mit seinem Boot aufs Meer hinaus und sucht
den Tod.
Das Leben der Gemeinschaft geht weiter wie bisher.
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PETER GRIMES 19
»VON DER UNFÄHIGKEIT
DER GESELLSCHAFT, MIT
DIESER ZWIESPÄLTIGKEIT
UMZUGEHEN«
Der Regisseur Frederic Wake-Walker
im Gespräch
SIE SIND BEI ALDEBURGH AUFGEWACHSEN – JENEM ORT, IN DEM BENJAMIN BRITTEN
LEBTE UND MIT DEM DIE GESCHICHTE VON PETER GRIMES URSPRÜNGLICH VERKNÜPFT
IST. DARF MAN, WAS SIE BETRIFFT, DESWEGEN VON EINER BESONDEREN VERBINDUNG
ZU BENJAMIN BRITTEN UND SEINER WELT AUSGEHEN?
Ja, ich habe einen Teil meiner Kindheit und Jugend dort verbracht.
Auch wenn ich Benjamin Britten persönlich nie getroffen habe,
weil er damals schon nicht mehr lebte, bin ich als Kind doch ande-
ren wichtigen Menschen aus seinem Umfeld begegnet, zum Bei-
spiel Peter Pears und Joan Cross – dem ersten Peter Grimes und
der ersten Ellen Orford – und vielen anderen Freunden und Kolle-
gen Brittens. Als kleiner Junge sang ich in einigen seiner Opern, in
»The Turn of the Screw«, »A Midsummer Night’s Dream«, »Noahs
Sintflut«. Aber ich glaube nicht, dass all dies zwangsläufig hilft,
wenn man Regie bei einer »Peter Grimes«-Produktion führt.
Im Gegenteil: Ich musste mich diesbezüglich zunächst von einigen
emotionalen Bindungen befreien, bevor es mir möglich war, aus
der Sicht des Regisseurs an das Stück heranzugehen.
EINE DER WICHTIGSTEN ENTSCHEIDUNGEN FÜR EINEN REGISSEUR IM ZUGE DER
BESCHÄFTIGUNG MIT EINEM WERK IST: ›WANN UND WO FINDET DIESE GESCHICHTE
STATT?‹. VON WELCHEN ÜBERLEGUNGEN LIESSEN SIE SICH DIESBEZÜGLICH LEITEN?
Ich lege bei keiner meiner Produktionen für mich in einem solchen
Sinne fest, wann und wo das das Ganze stattfindet. Natürlich
beziehe ich die Zeit, in der etwas geschrieben wurde, oder den
Handlungsort in meine Überlegungen mit ein, aber letztendlich
20 PETER GRIMES
geht es mir darum, ein Bühnenwerk zu realisieren, das, so wie wir
es zeigen, ausschließlich hier und heute stattfinden kann. Dieses Ziel
bildet den Filter, durch den alle Überlegungen, von welchen Ein-
flüssen oder Referenzen sie sich auch herleiten mögen, hindurch-
laufen.
WAS HAT UNS DIE FIGUR DES PETER GRIMES INSOFERN ›HIER UND HEUTE‹ MITZUTEI-
LEN? IST SEIN CHARAKTER LEICHT ZU ERFASSEN? WELCHE MORALISCHEN KATEGORIEN
ODER URTEILE KOMMEN DA ZUR ANWENDUNG?
Sein Charakter ist nicht leicht zu definieren, und gerade die Zwie-
spältigkeit ist ein entscheidendes Merkmal dieser Gestalt und des
gesamten Werks. Von der Unfähigkeit der Gesellschaft, mit dieser
Zwiespältigkeit umzugehen, kann man eine Parallele zu unserer
heutigen Gesellschaft ziehen, in der zunehmend simplifizierende
Antworten auf komplexe Sachverhalte zu Spaltungen und Verun
sicherungen führen, wie wir sie derzeit mit Besorgnis registrieren.
DIE DORFGEMEINSCHAFT AUF KIRCHENBÄNKEN IST EIN BESTIMMENDES BILD IHRER
DEUTUNG. WELCHE ROLLE SPIELEN IN »PETER GRIMES« RELIGION UND KIRCHE IN
IHRER DEUTUNG?
Britten nutzt im 2. Akt religiöse Elemente für musikdramatische
Wirkungen, und das Christ-Sein spielt mit Gewissheit für viele
der Figuren eine wichtige Rolle. In unserer Produktion haben wir
die Rolle der Kirche erweitert, um sie sozusagen die gesamte
Atmosphäre durchfluten zu lassen. Es geht uns dabei letztendlich
nicht darum, irgendeine Kirche oder Religion zu kritisieren,
sondern zu zeigen, wie ein jegliches Glaubenssystem schnell
Gefahr laufen kann, extreme und gefährliche Züge anzunehmen.
IST »PETER GRIMES« AUS IHRER SICHT EINE DEZIDIERT PESSIMISTISCHE OPER?
ODER GIBT ES AUCH STARKE ZEICHEN DER HOFFNUNG, ETWA VERMITTELT DURCH
ELLEN ORFORD?
Es soll einzig und allein dem Publikum überlassen bleiben, das
jeweils für sich selbst zu entscheiden. Meiner Ansicht nach kann
man sich diesem Werk »Peter Grimes« viel besser auf dem Wege
PETER GRIMES 21
des unmittelbaren Erlebens annähern, nicht mittels gedanklicher
Analysen, und das kann dann ganz individuell ausfallen.
NEBEN IHRER KÜNSTLERISCHEN ARBEIT ALS OPERNREGISSEUR WIDMEN SIE EINEN
GROSSTEIL IHRER ZEIT SOZIALEN PROJEKTEN, IM BESONDEREN DER ARBEIT MIT
KINDERN UND JUGENDLICHEN. WIE KAM ES DAZU, UND WELCHE ERFAHRUNGEN MACHEN
SIE DABEI?
Dieser Teil meiner Tätigkeit, bei dem ich Opernaufführungen
gemeinsam mit jungen Menschen erarbeite, wurde wesentlich
durch Benjamin Britten inspiriert. Als Kind in Aufführungen
seiner Werke mitgewirkt zu haben, zählt für mich zu den prä-
gendsten Erfahrungen meines Lebens. Seine Fähigkeit, als Kom-
ponist beispielsweise mit einem Stück wie »Noahs Sintflut« einer-
seits alle einzubeziehen, andererseits dabei aber kompromisslos zu
bleiben, was die Qualität angeht, ist ein Leitprinzip meiner Arbeit
mit jungen Menschen. Ich möchte, dass so viele Kinder wie mög-
lich die Gelegenheit bekommen, ähnliche Erfahrungen zu machen,
wie ich sie hatte. Ich glaube auch, dass Kinder die wunderbarste
Quelle von Kreativität, Energie und Ehrlichkeit sind, und so ist es
für mich gleichermaßen inspirierend wie erfüllend, mit ihnen zu
arbeiten.
Fragen: Georg Kehren
Übersetzt aus dem Englischen
22 PETER GRIMES
PETER GRIMES 23
PETER GRIMES 25
DAS MEER ALS NATUR-
PHÄNOMEN UND AUSDRUCK
EINES GEISTESZUSTANDS
Der Dirigent Nicholas Collon im Gespräch
WAS IST DIESER PETER GRIMES FÜR EIN CHARAKTER? IM LIBRETTO IST ER ALS EIN
SEHR RAUER, RÜDER MENSCH GEZEICHNET. IN DER MUSIK HINGEGEN SCHWINGT,
WAS IHN BETRIFFT, VIEL SENTIMENT UND MITGEFÜHL MIT.
Man weiß, dass Britten – und mit ihm sein Partner Peter Pears, der
in der Uraufführung die Titelpartie sang – einen Peter Grimes
schaffen wollte, der komplexer sein sollte als der grobe, unangenehme
Charakter in Georg Crabbes »The Borough«. Es war ihnen ein
Anliegen, beim Publikum Sympathie bzw. Empathie für diesen
Außenseiter und Einzelgänger entstehen zu lassen. Britten und sein
Librettist Montagu Slater haben das auch erreicht – und zwar mit
durchaus traditionell ›opernhaften‹ Mitteln. Zwei Passagen sind da
ganz besonders hervorzuheben: zuerst das unglaublich schöne
Arioso des Peter aus dem 1. Akt »Now the Great Bear and Pleiades«
– das ist der erste lyrische Moment für diesen Charakter, und natür-
lich impliziert diese Passage mit ihrem komplexen Text, bei dem
Peter über die Konstellation der Sterne sinniert, eine Persönlichkeit
mit emotionaler Intelligenz, und nicht bloß einen raubeinigen Fi-
scher. Ähnlich verhält es sich mit dem Ende des 2. Akts, dem Besin-
nungsmoment Peters im Gespräch mit dem Jungen: da ist eine so
süße Zärtlichkeit in der Musik, dass man Grimes plötzlich als eine
ganz menschliche und verletzliche Gestalt begreift. Um es so zu
sagen: die Musik, die Britten für ihn vorgesehen hat, ist so persön-
lich wie nur möglich, dabei immer ausdrucksstark, manchmal auch
zärtlich. Ein wichtiges musikalisches Mittel Brittens zur Charakte-
risierung des Fischers ist die kleine None, wie sie zum Beispiel bei
seinem »What harbour shelters peace« verwendet wird – mit ihr
verbindet sich ein schmerzlicher und sehr menschlicher Eindruck.
26 PETER GRIMES
WIE WÜRDEN SIE DIE BEDEUTUNG DER ›INTERLUDES‹ BZW. MUSIKALISCHEN
ZWISCHENSPIELE BESCHREIBEN? ES SIND INSGESAMT SECHS.
Jeder der drei Akte beginnt mit einem Zwischenspiel – das sind
reine ›Meeres-Interludien‹, will heißen: Sie erzählen uns auf dem
Wege der Musik etwas über das Meer als Naturphänomen und
lassen das Publikum sozusagen die salzige Luft über den Wellen
riechen. Die anderen Interludien, die innerhalb der Szenen einge-
blendet sind, sind ganz auf die Geisteswelt des Titelhelden bezogen,
sie erzählen uns etwas über seine Gedanken und Gefühle. Das
zweite der sechs Zwischenspiele – the ›Storm‹ – verbindet beides,
das Meer und die Person Grimes. Britten hatte großes Vertrauen
in seine Fähigkeit, Orchesterstücke zu schreiben, und er wusste,
dass er in den reinen Orchesterstücken, ohne Sänger, mindestens
ebensoviel in der Lage sein würde auszudrücken, wie es in den
Vokalmusik-Passagen der Fall ist. Sie sind unglaublich gut kompo-
niert, und sie geben dem Drama um Peter Grimes sehr viel hinzu.
WELCHE BEDEUTUNG KOMMT DEM CHOR INNERHALB DIESER OPER ZU?
Keine andere, als ihm etwa in großen Verdi-Opern zukommt.
Er spielt eine enorme Rolle, wenn es darum geht, ihn als Gemein-
schaft aller Bewohner in diesem ›Borough‹ die Geschehnisse
kommentieren zu lassen. Der Chor treibt die Handlung nicht
voran – das bleibt den solistischen Charakteren überlassen, die für
sich genommen auch eine Art ›kleine Gemeinde‹ bilden – doch bei
jeder Gelegenheit gibt der Chor als ›öffentliche Meinung‹ seine
Gedanken zu den verschiedenen Situationen der Handlung preis.
Das schafft eine beklemmende, geradezu klaustrophobische
Atmosphäre – man spürt, wie sich in solch einem Dorf die Stim-
men dieser kleingeistigen Bewohner zusammenfinden, um einem
alleinstehenden Individuum, einem Außenseiter wie Grimes,
schlimm zuzusetzen.
IN DER PARTITUR HÖREN WIR ANKLÄNGE AN GUSTAV MAHLER, AUCH – WENN MAN AN DIE
SCHRÄG KLINGENDE KNEIPENSZENE DES 3. AKTS DENKT – AN ALBAN BERGS »WOZZECK«, UND
IM QUARTETT DER FRAUEN – ELLEN ORFORD, AUNTIE, NIECES – LÄSST DER »DER ROSENKAVA-
LIER« VON RICHARD STRAUSS GRÜSSEN. WELCHE BEDEUTUNG HABEN DIESE EINFLÜSSE?
PETER GRIMES 27
Britten hat sich selbst dazu geäußert, dass er mit diesem Stück,
was die Musikalisierung der englischen Sprache betrifft, eine
»Brillanz, Freiheit und Lebendigkeit« herstellen wollte, wie man
sie seit Henry Purcell kaum mehr zu hören bekommen hatte.
»Peter Grimes« ist unbestreitbar eine ›englische‹ Oper – sie spielt
in einer definitiv englischen Ortschaft, mit Anklängen an alte
englische Sprache. In der Zeit, als er sich mit diesem Werk zu
beschäftigen begann, hielt er sich in den USA auf, und er scheint
sich nach seiner Heimat, die schwer vom Krieg betroffen war,
gesehnt und sich ihr in dieser Situation und schicksalhaften Zeit
ganz besonders verbunden gefühlt zu haben.
Es gab auf musikalischem Feld nicht viel englische Tradition, auf
die er aufbauen konnte – darüber hat er sich selbst geäußert. Der
bedeutendste englische Komponist vor ihm, Edward Elgar, hat
keine Oper geschrieben, also blickte er fast 300 Jahre zurück zu
Henry Purcell, wie es zum Beispiel auch Michael Tippett getan
hat. Sein wichtigster englischer Einflussgeber war sein Lehrer,
Frank Bridge, davon abgesehen war sein musikalischer Geschmack
›allesfresserisch‹ – Schönberg, Mahler, Berg, Debussy. Nichtsdes-
totrotz ist Brittens Musik natürlich ›britisch‹, aber in dem Sinne,
dass er diese neue britische Musiksprache geschaffen hat. Gleich-
zeitig ist es faszinierend zu beobachten, wie alle britischen Kom-
ponisten nach ihm sich von ihm haben beeinflussen lassen, das
geht von George Benjamin zu Thomas Adès. Keiner von ihnen
konnte sich der Brillanz Brittens entziehen.
DAS MEER IST IN DER »PETER GRIMES«-PARTITUR SCHEINBAR OMNIPRÄSENT.
WAS VERRÄT UNS BRITTEN HIER ÜBER SEINE HALTUNG ZU MENSCH UND NATUR?
Insbesondere in den beiden größten Britten-Opern, »Peter Grimes«
und »Billy Budd«, wird die Geschichte über das Meer definiert.
Britten drückte es selbst so aus: »Ich habe die meiste Zeit meines
Lebens in engem Kontakt mit dem Meer verbracht … Ich wollte
mein Bewusst-Sein, das um den permanenten Kampf der Männer
und Frauen weiß, deren Leben vom Meer abhängt, zum Ausdruck
bringen.« Das Meer als eine Farbe, ein Leitmotiv, eine Atmosphäre,
einen Generator thematischen Inhalts zu verwenden, war eine von
28 PETER GRIMES
Britten ganz besonders ausgearbeitete Idee. So zieht er Parallelen
zwischen Natur und Menschheit – nur als Beispiel: in der Wildheit
des Sturm-Interludiums erzählt er dem Zuhörer einerseits etwas
über die Physikalität bzw. Körperlichkeit des Windes und des
Regens auf dem Meer, zugleich nutzt er das aber auch andererseits
als Metapher für den Geisteszustand des Peter Grimes. Gleich
danach, in der Kneipenszene, hören wir jedes Mal, wenn wieder
eine solistische Gestalt zur Tür hereinkommt, ein paar Takte
Sturmmusik. Das klingt, als würden wir für einen Moment den
Sturm von draußen vernehmen, gleichzeitig bringt aber auch die
jeweilige Person ihren eigenen ›Sturm‹ mit in den Pub hinein.
Britten liebte die Natur, und er bezog aus ihr viel Inspiration. Sie
müssen nur mal sein geliebtes Snape Maltings besuchen, um das zu
verstehen. Das ist umgeben von Schilf und Sümpfen, die Vögel
singen, ein Fluss bahnt sich seinen Weg, und doch ist diese
Suffolk-Landschaft schön und gefährlich zugleich – wie die
Musik von »Peter Grimes« kann sie zur gleichen Zeit zart und
beklemmend sein.
Fragen: Georg Kehren
Übersetzt aus dem Englischen
PETER GRIMES 29
30 PETER GRIMES
»VON LANDSCHAFT
UND LEBENSRAUM
GEPRÄGT (...)
IST AUCH DAS
FIGURENARSENAL IN
›PETER GRIMES‹.«
Oswald Panagl
PETER GRIMES 31
Oswald Panagl
SEEBILDER ALS ABBILDER DER
MENSCHLICHEN SEELE –
NATUR UND GESELLSCHAFT IN
»PETER GRIMES«
I. Form und Gehalt
Die Bezeichnung Interludes der sechs Orchesterstücke in Benjamin
Brittens Oper, aus denen der Komponist vier Nummern zu einer
Art von Suite zusammengestellt hat, lässt sich nicht glasklar, trenn-
scharf und eindeutig fassen und übersetzen. Ähnlich wie beim
gebräuchlichen Terminus Intermezzo kann man das ›zwischen‹ rein
zeitlich verstehen und damit die Abfolge und Grenze zwischen
SAzuesndernucokdeenrtSr,iatuctatdieornFenalbl eistto.nIemn,Wwoiertdteaisl auch im geläufigen
inter schwingt aber
ebenso das Verbindende, die Verschränkung im Übergang, der
gemeinsame Nenner in der dramaturgischen Entwicklung mit und
legt Spuren eines übergreifenden Zusammenhangs frei. Dieses
›integrale‹ Moment ist unschwer mit einigen bekannten Zwischen-
spielen des Opernrepertoires zu illustrieren.
Im Einakter Cavalleria rusticana von Pietro Mascagni trennt und
vermittelt das Intermezzo zugleich die Handlungssplitter von
Verrat, Eifersucht und Leid, welche auf eine Tragödie hinauslau-
fen und im blutigen Duell der beiden Rivalen Turiddu und Alfio
gipfelt. Das Hochamt am Ostersonntag aber überragt und über-
wölbt rituell und sakral das hocharchaische Schema.
Ganz ähnlich verhält es sich beim Zwischenspiel in Giacomo Puccinis
Manon Lescaut, wo das zwiespältige Charakterbild der Titelheldin
als zugleich große Liebende und leicht verführbare Frau den Hand-
lungsbogen dramatisch und melodisch bestimmt.
32 PETER GRIMES
Die Four Sea Interludes, op. 33a gestatten zwei grundverschiedene
Betrachtungsweisen. Als Bestandteile der Opernpartitur separieren
und verknüpfen sie im soeben genannten Sinn Szenen des Bühnen-
werks oder stimmen musikalisch auf diese ein.
Andererseits ist die Vierzahl der ausgewählten Stücke für ein
Orchesterwerk kaum zufällig gewählt: entspricht sie doch der
traditionellen Viersätzigkeit der Symphonie als dem exemplarischen
Prototyp der Orchestermusik. Eine enge Beziehung zwischen den
beiden Zugängen ermöglichen jedenfalls der Habitus, die jeweilige
Benennung und die Binnenstruktur der einzelnen Stücke.
Die Komposition Dawn, in der Oper wie im symphonischen Werk
als die erste Nummer lento e tranquillo vorzutragen, charakterisiert
im Wechselspiel von ›getragenen‹ hohen Violinen und huschenden
Klangfiguren von Oboe, Harfe und tiefen Streichern das Nach- und
Miteinander von Ruhe und Bewegung im Bild einer Morgendämme-
rung am Meer. In der Dramaturgie des Bühnenwerks bildet diese
Einleitung einen scharfen Gegensatz zum Alltag einer Kleinstadt.
Als ›symphonischer‹ Satz erinnert der Titel an die erste Nummer
Morgenstimmung der gleichfalls vierteiligen ersten Peer Gynt-Suite
von Edvard Grieg sowie das Eröffnungsstück von Claude Debussys
drei Orchesterskizzen La mer, das gleichfalls »de l’aube« einsetzt
und das maritime Flair bis zum Mittag hin klanglich deutet. In
jedem Fall aber entsprechen Struktur und Gehalt dem Motto Lud-
wig van Beethovens zu seiner Symphonie Pastorale: »mehr Ausdruck
der Empfindung als Malerei«.
Auch im zweiten Interlude Sunday morning bereitet der musikalische
Verlauf eine Szene vor: In der Oper (als Nummer 3) steht es am
Beginn des zweiten Akts und entfaltet musikalisch das Milieu eines
Sonntagsmorgens mit entspannten Gesprächen und Glockentönen,
die zum Kirchgang einladen. Das Allegro spiritoso (sic!) als Tempo –
und Vortragsangabe evoziert eine gleichsam beschwingte Feierlich-
keit im Kontrast zum hektischen Treiben der Wochentage als dem
vorherrschenden Ambiente des Plots. Im Kontext der ›Suite‹ aber
wirkt die Nummer wie ein ländliches Scherzo, oszillierend zwischen
PETER GRIMES 33
entspannter Natur und einer seltsam ›lastenden‹ Nacht. Diese
bestimmt das musikalische Profil des folgenden Stücks Moonlight,
das im musikalischen Drama als sechstes und letztes Interlude (An-
dante comodo e rubato) erklingt. Die unwillkürliche Assoziation an
Claude Debussys Clair de lune oder an den Typus des Notturnos in
Felix Mendelssohn Bartoldys Musik zum Sommernachtstraum bzw.
der beiden ›Nachtmusiken‹ in Gustav Mahlers siebenter Symphonie
täuscht – und enttäuscht – freilich vollends. An Stelle von innerer
Gelassenheit und äußerem Frieden als Klangprogramm vernimmt
und empfindet der Hörer dramaturgisch stimmungsdrückende
Schwere und latente Spannung anstatt erwarteter Entspannung.
Und wenn schon eine Spur des Grundmusters übrig bleibt, so ist es
die ominöse Ruhe vor dem Sturm. Dieser bricht dann auch pro-
grammatisch, strukturell und akustisch in der Schlussnummer
(Storm) des orchestralen Ablegers abrupt herein. An diesem Bei-
spiel wird die Differenz zwischen der szenischen Rolle und der
symphonischen Funktion überdeutlich. In der Handlung ist der jähe
meteorologische Umbruch der Auslöser für die Flucht und Zuflucht
der handelnden Personen. Alles drängt sich im Pub des ›Borough‹
zusammen. Furcht ist das menschliche Leitmotiv, Rettungsversuche
von Hab und Gut sind die Parole der Stunde, Sicherung und Einho-
lung der Boote wird als Devise laut, und diese Vorgänge ereignen
sich geballt und machen den Großteil des Geschehens im ersten Akt
der Oper aus.
Anders sieht es in der symphonischen Bauform aus. Das Stück folgt
›attacca‹ auf Moonlight und bildet mit seiner geradezu semantischen
Tempobezeichnung Presto con fuoco die Schlussnummer im viersätzigen
Ablauf. An Sturm- und Gewittermusiken mangelt es im Werk
inventar der Musikgeschichte keineswegs: Man denke an Beispiele
aus Gioacchino Rossinis Guillaume Tell, an Giuseppe Verdis Rigoletto,
vor allem aber an den letzten Satz von Beethovens Pastorale. Doch
anders als in diesem Werk verebbt das Unwetter nicht und macht
keinen »frohen und dankbaren Gefühlen« Platz. Nur ein kurzer
Mittelteil (largamente) von 20 Takten schafft einen Ruhepunkt, ehe
die Musik wieder jäh im Grundtempo einsetzt und im dreifachen
Forte des Orchesters abrupt endet.
34 PETER GRIMES
II. Mensch und Natur
Die Beziehung menschlicher Befindlichkeit zur umgebenden Natur,
zwischen Subjekt und Ambiente, noch allgemeiner zwischen Text
und Kontext, ist ein uraltes künstlerisches besonders literarisches
Thema in wechselnden Spielarten: als Harmonie, als Gegensatz und
Widerspruch, als Brechung oder Überlappung. Die altgriechische
Dichterin Sappho empfindet die eigene Einsamkeit im Kontrast zum
Liebeserwachen in der nächtlichen Natur besonders schmerzlich.
Im berühmten »Es war, als hätt’« der Mondnacht des Joseph von
Eichendorff findet sich das Seelenleben des lyrischen Subjekts im
naturhaft-kosmischen Geschehen wie in einem Spiegel wieder. In
Hermann Hesses Gedicht September korrespondiert der als Person
gedachte Monat als Passage zwischen Sommer und Herbst deutlich
mit Stationen des Menschenlebens. Schon die Anfangszeile »Der
Garten trauert« gibt die Grundstimmung vor. Wenn der Sommer
»still seinem Ende entgegen [schauert]« und sich »nach Ruhe
[sehnt]«, wird die Analogie zu den Lebensphasen klar erkennbar.
Eine weitere Schnittstelle zwischen Naturereignis und Seelenland-
schaft, zwischen Meteorologie und Gefühlsleben, wie sie uns im
dramaturgischen Bogen von Brittens Oper begegnen, ist der Sinn-
bezirk von Gewitter und Sturm. »La tempesta del mio cor« nennt
Graf Luna in Verdis Trovatore die Turbulenzen seines Seelenlebens.
In der Nummer 18 von Franz Schuberts Winterreise mit dem Titel
Der stürmische Morgen verweist das lyrische Ich – alias der Textdichter
Wilhelm Müller – ausdrücklich auf die Entsprechung von Außen-
und Innenwelt.
Mein Herz sieht an dem Himmel
Gemalt sein eig’nes Bild –
Es ist nichts als der Winter
Der Winter kalt und wild!
Über und vor allem aber mögen als Programm und Leitformel die
beiden Schlussverse von Goethes Gedicht Gesang der Geister über
den Wassern stehen:
PETER GRIMES 35
Seele des Menschen,
Wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
Wie gleichst du dem Wind!
III. Individuen und Typen
Von Landschaft und Lebensraum geprägt, von Merkmalen der
Natur und Eigenschaften der Gesellschaft ›gezeichnet‹ ist auch das
Figurenarsenal in Peter Grimes«. Die archetypische – und stereotype!
– englische Kleinstadt am Meer wird von bestimmten und bestim-
menden Personen und Chargen verkörpert. Zum Apotheker Ned
Keene gesellt sich der Pfarrer Reverend Horace Adams. Zu den
Honoratoren zählen auch zwei Protagonisten – die angesehene,
menschenliebende und verständnisvolle Lehrerin Ellen Orford,
eine Lichtgestalt im kleinbürgerlichen Dunstkreis, und Captain
Balstrode, ein Handelskapitän im Ruhestand, ein Ehrenmann mit
ausgeprägtem Pflichtgefühl, das allerdings mit Herzlosigkeit einher-
geht, wenn er dem Titelhelden in seiner Lebenskrise zum Selbst-
mord rät. Dass der Captain keinen Vornamen hat, verbindet ihn mit
dem Kronrichter und Bürgermeister Swallow und dem Fuhrmann
Hobson. Die Betreiberin des Pubs und ihre beiden jungen Gehilfin-
nen lernen wir nur unter ihren Spitznamen als Tantchen (Auntie)
und Nichten (Nieces) kennen.
Weniger Respektsperson als vielmehr Klatschbase mit ausgepräg-
tem Spürsinn für alles Kriminelle ist die skurrile Mrs. Sedley, deren
wichtigtuerische Tratschsucht letztlich die Menschenjagd auf Peter
Grimes auslöst. Dieser weicht als der Eine unter den Vielen in mehr
als einer Hinsicht von seiner Umgebung ab.
Als Fischer fügt er sich schlecht in die Binnenstruktur und das
personelle Ensemble des Borough ein. Von Wind und Wetter und
den Zufällen sowie Risiken des Fischfangs abhängig, gilt er sozial
als Outcast, als mürrischer, verschlossener Einzelgänger mit rauen
Sitten. Seinem wachen Sensorium genügt denn auch der bloße
offizielle richterliche Freispruch vom Vorwurf der (Mit)schuld am
36 PETER GRIMES
Tod seines Lehrjungen nicht, da der stille Verdacht unter den
Mitbürgern bestehen bleibt.
Im engen Mikrokosmos der Gesellschaft wirkt Peter unstet und
unbehaust, dem unwirtlichen Draußen verpflichtet und ausgesetzt,
als ein Wanderer zwischen Land und Meer, ein Fremdkörper, der
sich von den erstarrten und zwanghaften rituellen Abläufen in der
Gemeinde durch spontanes Handeln(müssen) abhebt und gegen-
über dem Erwartbaren das Unverhoffte vertritt.
Das Unbehagen, das ein solcher Störenfried im festen gesellschaft-
lichen Gefüge auslöst und mit unterschwelliger, gleichwohl unver-
hohlener Feindseligkeit geahndet wird, endet mit seinem Suizid auf
offener See. Ruhe und Ordnung sind damit im Städtchen wiederher-
gestellt. Die Nachricht vom Untergang eines Fischerbootes ficht
keinen an. Der Alltag bewegt sich wie immer in seinen bewährten
ereignislosen Bahnen.
PETER GRIMES 37
BENJAMIN BRITTEN
PETER GRIMES 39
Humphrey Carpenter
VON DER ENTSTEHUNG DER
OPER »PETER GRIMES«
Forster (Anm.: E. M. Forster), der zunächst 1932, in der Einleitung
der World’s Classic Ausgabe seines Gedichtes, über Crabbe ge-
schrieben hatte, gab im »Listener« Teil einen kurzen Bericht über
das Leben und die Arbeit des Dichters. Crabbe wurde 1754 in
Aldeburgh geboren und viele von seinen erzählerischen Gedichten
beschreiben die örtliche Landschaft sowie die Charaktere und das
Leben der Dorfbewohner. Aus »The Borough« (1810) zitiert Fors-
ter Crabbes Darstellung der Alde-Mündung mit ihrem melancholi-
schen Vogelgezwitscher, zudem erwähnt er eine der Episoden aus
dem Gedicht: »Eine berühmte ist ›Peter Grimes‹: er war ein grausa-
mer Fischer, der seinen Lehrling ermordete und von dessen Geist
heimgesucht wurde; es gab eine wahre Vorlage für Grimes.« All das
scheint für Britten neu gewesen zu sein. Aus seinem Brief an Eliz-
abeth Mayer ging hervor, dass er und Pears Crabbe gerade erst
›wiederentdeckt‹ hätten, doch 1945 stellte er es anders dar: »Ich
kannte zu jener Zeit (1941) keines der Gedichte von Crabbe, doch als
ich über ihn gelesen habe [im »Listener«]‹ entstand in mir ein Gefühl
von Nostalgie für Suffolk … dass ich nach einer Ausgabe seines
Werks suchte.« Am 5. Juli 1941 erwähnte Pears gegenüber Elizabeth
Mayer, dass er ›einen fabelhaften seltenen Buchladen‹ in Los Angeles
gefunden habe, und es scheint, als habe er dort »The Poetical Works
of the Rev. George Crabbe edited, with a life, by his son« (1851)
gekauft. Dreiundzwanzig Jahre später erinnert sich Britten:
»Es war in Kalifornien im unglücklichen Sommer 1941, dass ich in einem
Buchladen in Los Angeles auf eine Ausgabe der Poetic Works von George
Crabbe stieß und zum ersten Mal sein Gedicht ›Peter Grimes‹ las; zur
selben Zeit las ich von E. M. Forster außerdem einen äußerst scharfsinnigen
und aufschlussreichen Artikel darüber, und mir wurde dabei plötzlich
klar, wo ich eigentlich hingehörte und was mir fehlte.«
40 PETER GRIMES
Anderswo sagte er, er habe, als er das Gedicht las, »in einem
Geistesblitz zwei Dinge realisiert: dass ich eine Oper schreiben
musste und wo ich hingehörte«.
Die Ausgabe von Crabbe befand sich unter Brittens und Pears,
Büchern im Roten Haus in Aldeburgh. In ihm notierte Pears 1981:
»Ich kaufte dieses Buch 1941 bei einem Buchverkäufer in Los Ange-
les, und so entstand der Plan, aus ›Peter Grimes‹ eine Oper zu
machen.«
Crabbe war ein protestantischer Schreiber, der bis in das romanti-
sche Zeitalter überlebt hat. Der ›Peter Grimes‹-Abschnitt aus »The
Borough« ist, im Umriss, eine moralische Geschichte im Stil der
Gegenwartsliteratur eines Samuel Johnson. Peter, der Sohn eines
gottesfürchtigen Fischers, wendet sich nach dem Tod seines Vaters
zum Schlechten, stiehlt ebenso wie er fischt, um das Trinken zu
bezahlen. Aus reiner Grausamkeit entscheidet er sich, einen Bettel-
jungen aufzunehmen, den er schikanieren und schlagen kann, und
die Dorfbewohner dulden diesen Missbrauch stillschweigend:
Some few in town observed in Peter’s trap
A boy, with jacket blue and woollen cap;
But none enquired how Peter used the rope,
Or what bruise, that made the stripling stoop …
None reason’d thus – and some, on hearing cries,
Said calmly, ›Grimes is at his exercise.‹
//
Ein paar im Dorf beobachteten in Peters Karren
Einen Jungen, mit blauer Jacke und wollener Mütze;
Doch niemand fragt nach, wie Peter das Seil nutzte,
Oder welche Verletzungen dies dem gebeugten Bürschchen tat …
Demnach würde keiner überlegen – und einige, wenn sie Schreie
hörten,
Sagten ruhig ›Grimes ist wieder dabei.‹
PETER GRIMES 41
Nachdem er drei Jahre so behandelt worden ist, stirbt der Junge
Sam. Grimes nimmt einen weiteren Jungen auf, der nun vom
Bootsmast zu Tode stürzt, ein dritter Junge stirbt auf See. Grimes
wird vor ein Dorfgericht geführt, wo ihm untersagt wird,
weitere Lehrlinge aufzunehmen. Am Ende verfällt er dem
Wahnsinn – er wird von den Geistern der Jungen und dem seines
Vaters heimgesucht und stirbt vor den Augen der Dorfbewohner.
Trotz seines moralischen Charakters ist das Gedicht in mehreren
Aspekten sehr unkonventionell. Grimes ist nicht einfach ein
stereotyper Trinker und Tyrann, sondern psychologisch komplex
beschrieben. Seine Misshandlung der Jungen ist als das darge-
stellt, was das 20. Jahrhundert als Sadismus bezeichnen würde
– ›seine grausame Seele … wünschte sich jemanden zum Ärgern
und Kontrollieren‹ – und sein Hass auf seinem Vater hat, für
moderne Ohren, Freud’sche Anklänge; Grimes nennt ihn ›diesen
Vater-Feind‹. Peter Pears schrieb dazu: »Crabbes Grimes ist
›nichts weiter als ein schurkischer Fischer … Keine glamouröse
Figur für die Opernbühne«, aber man kann sich gut vorstellen,
wie Britten durch Crabbes Skizze dazu angeregt wurde, der
Geschichte eine weitere Ebene hinzuzufügen.
Nach Brittens Aufzeichnungen aus dem Jahr 1945 hatten er und
Pears unmittelbar, nachdem sie Forsters Artikel und Crabbes
Gedicht gelesen hatten, begonnen, »das Scenario einer Oper zu
konstruieren«. Für den Moment jedoch musste das Projekt im
Reich der Tagträume bleiben, da, wie Britten in demselben
Artikel schreibt, »Diskussionen mit einem Librettisten, Planung
der musikalischen Architektur, Komponieren von vorläufigen
Konzepten und das Schreiben von knapp tausend Seiten Orches-
terpartitur eine Freiheit von anderer Arbeit verlangten, wie sie
aus ökonomischen Gründen in dieser Zeit zunächst unmöglich
war«. Seine Entscheidung, nach England zurückzukehren,
könnte von der Lektüre Forsters und Crabbes bedingt worden
sein, aber es gibt keine zeitgenössischen Beweise dafür. (…)
42 PETER GRIMES
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Einige Tage nach dem Vortrag in der Wigmore Hall, der von vielen
Leuten gleichbedeutend mit einer öffentlichen Bekanntmachung
seiner Beziehung zu Peter Pears aufgenommen worden war, erkrankte
Britten an einer Grippe, an der er zwei Monate später immer noch
litt. Ein Spezialist konnte nichts Wesentliches bei ihm finden, kam
aber zu dem Schluss, dass er ›praktisch keine Abwehr‹ hatte.
(…)
Früh im Jahre 1943 fanden er und Pears Zimmer, die ihnen beiden
zusagten – drei Stockwerke über dem Home & Colonial Geschäft
in der St John’s Wood High Street 45a. Sie zogen zusammen. »Es
war sehr aufregend, umherzulaufen und Gardinenmaterialien
auszusuchen,« berichtete Pears Elizabeth Mayer. »Du kannst Dir
vorstellen, wie sehr ich es genossen habe, und wie sehr Ben es
gehasst hat!« Gerade als sie eingezogen waren, erkrankte Britten
erneut, diesmal überraschend an der Kinderkrankheit Masern –
»ein sehr schlimmer Ausbruch«, berichtete Pears. Er wurde in ein
Krankenhaus im Süden Londons eingewiesen, und bekam für zwei
Monate untersagt zu arbeiten.
Seit seiner Rückkehr aus Amerika elf Monate zuvor hatte er keine
Musik geschrieben, außer der BBC ephemera und Überarbeitungen
von »A Ceremony of Carols«. Er war den Masern nun dankbar, da
sie ihn vor weiteren »langweiligen Jobs« bewahrten, wie etwa dem
Schreiben der Filmmusik für George Bernard Shaws »Caesar and
Cleopatra«. Laut einer internen Notiz von Boosey & Hawkes
äußerte er, dass dieser Film nichts »zu einer Lösung seines eigenen
Problems als Komponist« beitragen könne, und aus dem Kranken-
haus schrieb er: »Die größte Schwierigkeit ist die Depression.«
In einem weiteren Brief von seinem Krankenbett aus, der an Ralph
Hawkes gerichtet war, bittet er um die Partitur des Strauss,schen
»Rosenkavalier«. Britten sagte, er wolle »das Hirn des alten Man-
nes für meine Oper aufgreifen«. So gibt es Anklänge von Strauss im
Ensemble der Frauenstimmen im zweiten Akt von »Peter Grimes«.
Seinen nächsten Brief an Pears unterzeichnete er in Deutsch mit
»Immer dein«.
PETER GRIMES 45
Nicht eine Note von »Peter Grimes« war bisher geschrieben. In
dem Brief an Hawkes bekannte Britten, dass er froh sei, von dem
Shaw-Film befreit zu sein, denn dieser »hätte das Ballett & die
Oper zu lange aufgehalten – Geschweige denn die Sonate!« Dies
legt nahe, dass die Oper nicht unbedingt dringender war als ein
geplantes Ballett für Sadler’s Wells und eine Sonate für Orchester,
über die er für eine Weile nachgedacht hatte. Tatsächlich hatte er
ernsthafte Zweifel an der Umsetzbarkeit der Oper, nicht musika-
lisch, aber szenisch. Würde jemand, so fragte er Enid Slater,
»fähig sein, dies auf der Bühne auszuhalten?«
Bislang schien er dem Libretto, das Montagu Slater ein paar
Monate zuvor fertig gestellt hatte, zufrieden gewesen zu sein,
doch vom Krankenhaus aus schrieb er an Pears, ob nicht doch ein
weiterer Schriftsteller hinzugezogen werden solle. W. H. Auden
war eine Möglichkeit, aber »es gibt die alten Einwände, & außer-
dem ist er nicht nahe dran«. (Die Einwände bezogen sich vermut-
lich auf Audens beherrschende Persönlichkeit.) Da kein anderer
passend schien, begann Britten selbst, die Handlung der Oper zu
überdenken.
Er konzentrierte sich auf »den Charakter des Grimes selbst,
welcher, wie ich finde, bei weitem nicht klar genug rüber kommt.
Im Moment ist er nur ein pathologischer Fall – keine Ursachen &
kaum Symptome! Er bedarf starker Veränderungen.« Dennoch
war er noch immer überzeugt, dass »es für mich richtig ist, diese
Oper zu machen. Ich bin zu interessiert daran, als dass ich es
jetzt fallen lassen kann.« Er spürte, dass sich eine ganze Reihe
von Opern anschließen könnte, wenn dieser einen Erfolg be-
schieden wäre – »Ich habe vor, einige zu schreiben in meiner
Zeit!«
Grimes stellte sich in dieser Bearbeitungsphase tatsächlich
zunächst als ein eher unmotivierter Psychopath dar. In der
allerersten Phase der Planung war er mit stärkerer Motivlage
ausgestattet gewesen, doch diese war ihm wieder entzogen
worden. Die frühesten Skizzen einer von Britten und Pears
verfassten Synopsis – geschrieben während sie auf das Boot von
46 PETER GRIMES
Amerika heimwärts warteten – beinhalten eine Passage in Pears,
Handschrift, in der sich Grimes an seinen Lehrling richtet:
»Gibt zu, seine [des Jungen] Jugend tut ihm weh, seine Unschuld ärgert
ihn, seine Unbrauchbarkeit macht ihn wahnsinnig. Er [Grimes] hatte
keinen Vater ihn zu lieben, warum sollte er [freundlich mit dem Jungen
umgehen]? Sein Vater hat ihn nur geschlagen, warum sollte er nicht [den
Jungen schlagen]? Beweise deinen Nutzen, nicht nur hübsch – arbeite –
sei nicht nur unschuldig – arbeite starre nicht; Hättest du es lieber, ich
würde dich lieben? Du bist süß, jung etc. – aber du musst mich lieben,
warum liebst du mich nicht? Liebe mich, verdammt!«
In den folgenden Notizen, die sie dann während der Überfahrt
anfertigten, ließen Britten und Pears jegliche homoerotische Moti-
vation fallen. (Pears hat gesagt, er habe sich zu Beginn der Arbeit
an »Peter Grimes«, als verschiedene Leute als Librettisten überlegt
wurden, ›gewundert, ob ich das nicht selbst tun könnte, aber …
Ich hatte weder die Fertigkeit noch die Zeit.‹)
In Slaters Händen wurde aus Peter Grimes eine Geschichte über
eine Gemeinschaft, ähnlich wie in Slaters eigenen linkspolitischen
Stücken aus den 1930er-Jahren: hier mit Grimes, dem armen Fischer
aus der Arbeiterklasse, der von einem ausbeuterischen Klassen
modell zur Gewalt getrieben wird – seine Quälerei gegenüber dem
Lehrjungen wurde als Konsequenz seiner Bemühung gezeigt,
Wohlstand zu erlangen und sich der Bourgeoisie anzuschließen.
Slater schreibt zu seiner Vorstellung von Grimes: »Früher oder
später wird es vorsätzliche Gewalt [den Jungen gegenüber] geben
… Doch was kann ein Peter Grimes sonst tun?«
Ein Vorzug von Slaters Ansatz war die Erweiterung der Hinter-
grundcharaktere. Die frühen Britten-Pears-Konzepte der Synopsis
hatten noch vage von ›Dorfbewohnern‹ gesprochen, doch Slater
bezog auch aus anderen Kapiteln von Crabbes »The Borough« Stoff
und stattete die Oper auf diese Weise mit einer prägnanten Aus-
wahl von dörflichen Charakteren aus. Im Mai 1942 schrieb Britten
an Elizabeth Mayer: »Es wird mehr und mehr zu einer Oper über
die Gemeinde, deren Leben blitzartig durch die Tragödie der
PETER GRIMES 47
URAUFFÜHRUNG »PETER GRIMES«,
JUNI 1945: PETER PEARS (PETER
GRIMES), OBEN MIT JOAN CROSS
(ELLEN ORFORD), UNTEN MIT LEONARD
THOMPSON (APPRENTICE)
48 PETER GRIMES
Morde ›beleuchtet‹ wird. Ellen [die Lehrerin] wächst an Bedeu-
tung, & es gibt erlesene Nebencharaktere, wie etwa der Parson,
Wirt, »quack«-Apotheker, & Arzt.« Während sich die Geschichte
so in eine gewisse Richtung ausweitete, verengte sich gleichzeitig
GderrimCehsa,rSakchteurldvoanmGTroimd dese.sBLreithtrelninsgpsrwichirtdhhieierrvvoonra›Musogredseentz‹:t.
Slaters Konzentrierung auf die sozio-politische Komponente
beraubte die Hauptfigur ihres psychologischen Interessewerts,
machte sie zu einem bloßen ›pathologischen Fall‹ oder zum Opfer
des sozialen Systems, dessen Tragödie niemand »fähig wäre auszu-
halten … auf der Bühne«. Dies entfernte die Oper auch ein gewisses
Stück von dem Thema der Unschuld und ihres Verlustes, auf das
Britten durch Auden in der »Hymn to St Cecilia« gebracht worden
war. Daher ist es ist verständlich, dass Britten sich zu diesem
Zeitpunkt bezüglich des Projekts unbehaglich fühlte. Wie weit
Pears inzwischen von diesem Opernprojekt weggerückt war, ist an
einer Rollen-Liste erkennbar, die Britten auf der Rückseite eines
Briefs, den er am 1. Juni 1942 – kurz nachdem Slater einbezogen
worden war – notiert hatte: In dieser Liste ist keine Hauptrolle
einem Tenor zugeordnet. Peter Grimes sollte von einem Bariton
gesungen werden.
Dieses Detail, verborgen in Brittens Papieren, fiel später Philip
Brett auf, der dies dann als ein »eher … verheerendes« Detail der
Geschichte dieser Oper beschrieb. Brett legt nahe, dass Britten
nicht glaubte, dass Pears, ein junger Unbekannter in der Opern-
welt, die Möglichkeit erhalten würde, diese Rolle zu singen. Im
Juni 1942 jedoch – zum frühesten Zeitpunkt, an dem die Liste hätte
geschrieben worden sein können – hatte Pears seinen Durchbruch
mit der Titelpartie in »Hoffmanns Erzählungen«, und während der
folgenden neun Monate, in denen es keine Anzeichen gab, dass
Britten ihn Grimes singen lassen wollte, vergrößerte sich seine
Reputation auf dem Feld der Oper in hohem Maße.
(…)