LA FORZA
DEL DESTINO
Giuseppe Verdi
#48
LA FORZA
DEL DESTINO
DIE MACHT DES SCHICKSALS
Oper in vier Akten
Libretto von Francesco Maria Piave
nach dem Drama »Don Álvaro o La fuerza del sino« von
Ángel de Saavedra, Herzog von Rivas und
»Wallensteins Lager« von Friedrich Schiller in der
Übersetzung von Andrea Maffei
Ergänzungen und Korrekturen der Mailänder Fassung
von Antonio Ghislanzoni (1869)
Musik von Giuseppe Verdi (1813 – 1901)
LA FORZA DEL DESTINO 3
MUSIKALISCHE LEITUNG Will Humburg
INSZENIERUNG Olivier Py
BÜHNE & KOSTÜME Pierre-André Weitz
LICHT Bertrand Killy, Andreas Grüter
CHOR Rustam Samedov
DRAMATURGIE Georg Kehren
Uraufführung: . November , Kaiserliches Theater St. Petersburg
Erstaufführung der Neufassung: . Februar ,
Teatro alla Scala, Mailand
Kölner Erstaufführung: . September ,
Stadttheater Köln, Habsburgerring
Premiere: . September , Oper am Dom
Wiederaufnahme: . Dezember , Oper Köln im Staatenhaus
4 LA FORZA DEL DESTINO
HANDLUNG
ERSTER AKT
Sevilla, im Hause des Marchese di Calatrava. Leonora, die Tochter
des Hausherrn, erwartet ihren Geliebten Alvaro. Sie haben für die
Nacht ihre gemeinsame Flucht geplant, da Leonoras Vater sich ihrer
Verbindung widersetzt. Alvaro entstammt der Verbindung eines
spanischen Würdenträgers in Peru mit der Tochter des dortigen
Inka-Königs und gilt somit als »Halbblut«.
Leonora, von widerstreitenden Gefühlen gepeinigt, zögert den
Aufbruch mit dem Geliebten solange hinaus, bis es zu spät ist:
Der Fluchtversuch wird vom Marchese entdeckt, und es kommt zu
einer Auseinandersetzung.
Alvaro, der keine Gewalt anwenden möchte, entledigt sich seiner
Waffe, wobei sich ein Schuss löst. Tödlich getroffen verflucht der
Marchese seine Tochter.
ZWEITER AKT
Bild 1
Die Liebenden haben sich noch in der Fluchtnacht aus den Augen
verloren. Leonora, die sich mit Männerkleidern tarnt, ist alleine auf
der Suche nach Alvaro. Im Dorf Hornachuelos stößt sie, ohne von
diesem erkannt zu werden, auf ihren Bruder Don Carlo, der sich auf
der Suche nach seiner Schwester und Alvaro befindet, um an ihnen
Rache für den Tod des Vaters zu nehmen.
Als Carlo beim Maultiertreiber Trabuco Genaueres über dessen
jungen Mitreisenden (die verkleidete Leonora) erfahren will, erhält
er nur eine ausweichende Auskunft. Auf seine eigene Identität hin
befragt, antwortet er, da er seinen Namen und seine Absichten nicht
preisgeben will, mit einer Geschichte: Er sei Student, heiße Pereda
und habe einem Freund bei der Verfolgung von dessen Schwester
LA FORZA DEL DESTINO 5
geholfen, die mit ihrem Geliebten nach der Ermordung ihres Vaters
geflüchtet sei. Der Geliebte habe sich mittlerweile nach Amerika
abgesetzt, die Schwester gelte als tot.
Leonora, die unbemerkt zuhört, entnimmt dieser Erzählung, dass
Alvaro sie endgültig verlassen habe.
Die Marketenderin Preziosilla versucht, die Menge für den Krieg zu
gewinnen.
Bild 2
Leonora will ihr weiteres Leben in Einsamkeit und Buße verbringen.
Im Kloster Maria degli Angeli gibt sie Padre Guardiano, dem dortigen
Prior, ihre Identität preis. Sie bittet um die Möglichkeit, unter dem
Schutz des Klosters mit ihrem bisherigen Leben abzuschließen, um
hier ihren inneren Frieden zu suchen.
In einem feierlichen Ritual der Mönche wird sie in eine Einsiedelei
unweit des Klosters überführt, wo sie sich – fernab der äußeren Welt,
von niemandem behelligt – von nun an ausschließlich dem Gespräch
mit Gott widmen soll.
DRITTER AKT
Jahre später, in Italien. Alvaro, der Leonora tot glaubt, ist unter
dem Pseudonym Herreros im spanischen Heer zu Ehren gelangt.
Die Erinnerungen an Leonora und an das verpasste gemeinsame
Glück rufen in ihm die Gedanken an seine Herkunft wach, mit der
sich das Unglück seines Lebens bereits abzuzeichnen begann: Sein
Vater strebte in Peru nach der Krone und vermählte sich mit der
letzten Inka-Prinzessin. Die Machtpläne scheiterten; Alvaro kam im
Kerker zur Welt, kurz bevor seine Eltern hingerichtet wurden. Nun,
im Gedenken an die Geliebte, wünscht auch er sich den Tod herbei.
Als er unversehens Zeuge einer kämpferischen Auseinandersetzung
wird, rettet er einem Fremden das Leben. Bei diesem Fremden handelt
es sich um Don Carlo. Beide, ohne die wahre Identität des jeweils
anderen zu ahnen, schließen einen ewigen Freundschaftsbund.
6 LA FORZA DEL DESTINO
Alvaro wird im Kampf schwer verwundet. Er vertraut Carlo
ein Bündel mit versiegelten Dokumenten an und nimmt ihm den
Schwur ab, diese nicht zu lesen und im Falle seines Todes zu ver-
nichten. Während sich die Ärzte um Alvaros Leben bemühen,
ringt der misstrauisch gewordene Carlo mit der Versuchung, diesen
Schwur zu brechen. Als ihm ein Bildnis Leonoras in die Hände
fällt, wird die Vermutung für ihn zur Gewissheit: Sein Freund
Alvaro ist der lang gesuchte Todfeind.
Soldaten und Kriegsvolk gehen ihren Geschäften und Ablenkungen
nach.
Fra Melitone hält allen eine moralische Standpauke. Preziosilla heizt
mit ihrem »Rataplan« aufs Neue die allgemeine Kriegsbegeisterung an.
Alvaro, wieder auf dem Weg der Besserung, wird von Carlo zum
Duell provoziert. Die beiden werden durch Wachen getrennt.
Alvaro will sein Leben im Kloster beschließen.
VIERTER AKT
Alvaro, der als »Pater Raphael« im Kloster Maria degli Angeli lebt,
wird dort von Don Carlo aufgespürt. Es gelingt Alvaro nicht, Carlo
vom einem Zweikampf abzuhalten.
Leonora hat in den Jahren, die sie in der Einsiedelei verbracht hat,
keine Ruhe gefunden. Noch immer wird sie von den Gedanken an
Alvaro und den toten Vater gequält und sehnt sich nach dem Tod.
Alvaro, der Carlo schwer verwundet hat und nach Hilfe für diesen
sucht, erscheint an der Einsiedelei und erkennt in dem Eremiten
die tot geglaubte Leonora.
Der sterbende Carlo vollzieht an seiner Schwester die Rache.
Die tödlich verletzte Leonora stirbt in der Zuversicht, im Tod
endlich Frieden zu finden.
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»SÁTIRA DEL SUICIDIO ROMÁNTICO« – GEMÄLDE VON LEONARDO ALENZA, 1835
»ICH WIEDERHOLE
IHNEN SCHLIESSLICH,
DASS ICH UNTER
ALLEN KOMPONISTEN
DER VERGANGENHEIT
UND DER GEGENWART
DER AM WENIGSTEN
GEBILDETE BIN.«
Auszug aus einem Brief Giuseppe Verdis
an Filippo Filippi
LA FORZA DEL DESTINO 9
GIUSEPPE VERDI – BRIEFE
Genua, 4. März 1869
Lieber Herr Filippi,
Ich kann den Artikel in der Perseveranza über die Forza del Destino
nicht übelnehmen und habe auch keinen Grund dafür. Wenn Sie
mir inmitten des vielen Lobes manches angekreidet haben, so war
das Ihr volles Recht, und Sie haben gut daran getan. Im übrigen
beklage ich mich, wie Sie wissen, nicht einmal über feindselige
Artikel, wie ich mich (vielleicht habe ich unrecht) auch niemals für
die wohlwollenden bedanke. Ich liebe meine Unabhängigkeit in
allem und achte sie durchaus bei anderen. Und darum bin ich Ihnen
sehr dankbar für Ihre Zurückhaltung während meines Aufenthaltes
in Mailand, denn da Sie einen Artikel über meine Oper schreiben
mußten, war es gut, daß Sie weder durch einen Händedruck noch
durch einen Besuch bei Ihnen oder bei mir beeinflußt waren. Und
was Ihren Artikel betrifft, muß ich Ihnen, da Sie mich darum bitten,
sagen, daß er mir weder mißfallen hat noch mißfallen konnte.
Ich weiß nichts von dem Vorfall zwischen Ihnen und Ricordi,
aber es kann sein, daß Giulio, der dieses Cantabile der Eleonora,
wenn ich nicht irre, vielen anderen Stücken vorzieht, ein bißchen
verstimmt war, es als eine Nachahmung Schuberts bezeichnet
zu sehen. Wenn es das ist, bin ich ebenso überrascht wie Giulio,
weil ich in meiner sehr großen musikalischen Ignoranz nicht wüßte,
seit wie vielen Jahren ich das Ave von Schubert nicht gehört
habe, und es mir deshalb recht schwer gefallen wäre, es nach-
zumachen. Glauben Sie nicht, daß ich scherze, wenn ich von sehr
großer musikalischer Ignoranz spreche. Nein, das ist die reine
Wahrheit. In meinem Haus gibt es fast keine Noten, ich bin nie in
eine Musikbibliothek gegangen, nie zu einem Verleger, um ein
Stück anzusehen. Über einige der besten zeitgenössischen Opern
10 LA FORZA DEL DESTINO
bin ich gut unterrichtet, aber ich studiere sie nie, sondern höre
sie ab und zu im Theater: für all das gibt es einen Grund, den Sie
verstehen werden. Ich wiederhole Ihnen schließlich, daß ich
unter allen Komponisten der Vergangenheit und der Gegenwart der
am wenigsten gebildete bin. Verstehen wir uns recht, und wiederum
ohne zu scherzen: ich spreche von Bildung und nicht von musika-
lischem Wissen. Bezüglich des letzteren würde ich lügen, wenn ich
sagte, ich hätte in meiner Jugend keine langen und strengen Studien
gemacht. denn eben das macht meine Hand stark genug, um die
Musik zu formen, wie ich will, und meistens die Wirkungen zu
erzielen, die ich mir denke. Und wenn ich etwas wider die Regel
schreibe, so tue ich es, weil die strenge Regel mir nicht gibt, was ich
will und weil ich nicht einmal alle bisher anerkannten Regeln für gut
halte. Die Schriften über den Kontrapunkt bedürfen einer Reform.
Wie viele Worte und, was noch schlimmer ist, viele unnötige.
Verzeihen Sie mir und nehmen Sie meine aufrichtige Hochschätzung
entgegen.
Giuseppe Verdi an Filippo Filippi, den Herausgeber des Musikmagazins »Gazzetta musicale di
Milano«
»GLAUBEN SIE NICHT,
DASS ICH SCHERZE,
WENN ICH VON SEHR
GROSSER
MUSIKALISCHER
IGNORANZ SPRECHE.
NEIN,
DAS IST DIE REINE
WAHRHEIT.«
Giuseppe Verdi an Filippo Filippi
12 LA FORZA DEL DESTINO
Sant’ Agata, den 24. Mai 1867
Meine liebe Clarina!
Wie beneide ich meine Frau, daß sie diesem höchsten aller Geister
hat begegnen dürfen.* Ich weiß nicht, ob ich überhaupt den Mut
hätte, zu ihm zu gehen, auch wenn ich in Mailand wäre. Sie wissen
ja, wie groß meine Verehrung für diesen Menschen ist. Meines
Erachtens hat er das gewaltigste Werk unserer Zeit geschrieben,
nein, nicht nur unserer Zeit, aller Zeiten! Nie zuvor hat ein
Mensch dergleichen vollbracht. Es ist eben nicht nur ein Buch,
sondern ein Trost für die Menschen. Ich war sechzehn Jahre alt, als
ich es zum ersten Male las. Viele andere Bücher – darunter auch
einige sehr berühmte – habe ich später ganz anders beurteilt als in
jungen Jahren. Aber für dieses Buch begeistere ich mich noch
heute. Ich möchte sogar sagen, meine Achtung davor ist heute, wo
ich die Menschen kenne, noch gestiegen. Er und sein Buch sind
wahr, so wahr wie die Wahrheit. Ach, wenn doch die Künstler
dieses »wahr« nur begreifen wollten, dann gäbe es keine Zukunfts-
und Vergangenheitsmusiker mehr, keine puristischen, realistischen,
idealistischen Maler, keine Dichter der Klassik und Romantik.
Sondern wahre Dichter, wahre Maler und wahre Musiker!
Ich schicke Ihnen eine Fotografie von mir mit der Bitte, sie ihm zu
geben. Ich wollte zuerst ein paar Zeilen dazu schreiben, aber es
fehlte mir der Mut – es erschien mir wie eine Anmaßung. Wenn Sie
ihn sehen, sagen Sie ihm bitte meinen Dank für sein Bildchen mit
Widmung, das für mich das Kostbarste aller Dinge auf der Welt ist.
Sagen Sie ihm, daß ich ihn schätze und verehre, wie man auf Erden
nur einen Menschen schätzen und verehren kann …
Auf die Rückseite der Fotografie schrieb Verdi:
. Mai
*Giuseppe Verdi äußert sich in einem Brief an Clarina Maffei über den Dichter Alessandro Manzoni
(1785 – 1873).
»ICH SCHÄTZE UND VEREHRE
SIE, WIE MAN AUF ERDEN
NUR JEMANDEN
SCHÄTZEN UND VEREHREN
KANN, SOWOHL ALS
MENSCHEN ALS AUCH ALS
KÜNSTLER, DER UNSEREM
GEPLAGTEN VATERLAND
ZUR WAHREN EHRE
GEREICHT. --- SIE SIND
EIN HEILIGER,
DON ALESSANDRO.«
Alessandro Manzoni, den Verdi als geistige Persönlich-
keit und als Dichter hoch verehrte. Manzonis
»I promessi sposi« plante Verdi lange Jahre zu vertonen.
14 LA FORZA DEL DESTINO
Genua, den 1. März 1869,
…
Gestern abend gegen Mitternacht bin ich nach Mailand zurück-
gekommen. Um diese Zeit werden Sie schon wissen, daß die
»Macht des Schicksals« erfolgreich über die Bühne gegangen ist.
Die Aufführung war wunderbar. Tiberini und die Stolz haben ihre
Sache glänzend gemacht; die anderen waren auch ganz gut. Das
Orchester und die Chöre spielten und sangen einfach hinreißend.
Welches Feuer, welche Begeisterung in diesen Massen! Schade,
schade, daß die Regierung diese Kunst und dieses Theater, das
noch soviel leisten könnte, so schändlich im Stich läßt. Sie werden
fragen, ob denn das Theater nicht ohne die Unterstützung durch
den Staat bestehen kann?! Nein, das ist unmöglich! Die Scala ist
noch nie so besucht und so aktiv wie in diesem Jahr gewesen; und
trotzdem: wenn es nicht gelingt, bei fünfzehn Vorstellungen der
»Macht des Schicksals« abendlich mehr als Lire zu kassieren,
ist alles verloren. Meines Erachtens ist es völlig unmöglich, eine
solche Summe zu erreichen, und so müßte das Theater noch vor
Beendigung der Spielzeit wegen Bankerott geschlossen werden.
Schade, schade!
Addio, denken Sie an mich …
Giuseppe Verdi an den Abgeordneten Giuseppe Piroli
LA FORZA DEL DESTINO 15
DIESES ALLEGORISCHE GEMÄLDE (FRÜHE 1860ER JAHRE) ZEIGT DEN ITALIENISCHEN
FREIHEITSKÄMPFER GARIBALDI MIT ROM UND VENEDIG, DEN BEIDEN GRÖSSTEN
STÄDTEN, DIE BEI DER KONSTITUIERUNG DES VEREINIGTEN KÖNIGREICHS 1861 FEHLTEN.
16 LA FORZA DEL DESTINO
LA FORZA DEL DESTINO 17
Ángel de Saavedra
AUTOR DES DRAMAS, DAS DER
OPER »LA FORZA DEL DESTINO«
ZUGRUNDE LIEGT
Geboren am . März in Córdoba, erhielt der junge Aristokrat
früh eine militärische Ausbildung. Bereits im Alter von Jahren war
er als Unterleutnant Mitglied der Königlichen Garde und nahm am
Spanischen Unabhängigkeitskrieg gegen die napoleonischen Truppen
teil. wurde er Abgeordneter des Parlaments, musste jedoch
nach der Thronübernahme durch König Ferdinand VII. ins Exil
zunächst nach England, dann nach Malta und schließlich nach
Frankreich gehen. Nach einer durch die Regentin María Cristina
von Sizilien verfügten Amnestie kehrte er in sein Heimatland zurück
und erhielt sein Eigentum zurück. Außerdem trug er ab ,
nach dem Tod seines Bruders, den Titel eines Herzogs von Rivas.
Zeitweise war er als Vertreter der minderjährigen Königin Isabella
II. Senatsmitglied, kurzzeitig auch Innenminister und als Vertreter
der Provinz Cádiz Senatsmitglied. Wegen seiner politischen Ver-
dienste wurde er Senator auf Lebenszeit, schließlich von bis
Bevollmächtigter Gesandter im Königreich Neapel, ab für
die Dauer eines Jahres Gesandter in Paris.
Von seinen Theaterstücken sind insbesondere das in Madrid
uraufgeführte Drama »Don Álvaro o La fuerza del sino«, das in
Spanien mit dem Beginn der Romantik in Verbindung gesetzt wird,
und »El desengaño en un sueño« bekannt geworden. Auch mit Lyrik
und Prosawerken ist der Diplomat und Schriftsteller in Erscheinung
getreten.
Aufgrund seiner Verdienste auf literarischem Gebiet wurde er
Ehrenmitglied der Real Academia de Bellas Artes de San Fernando,
im Jahr deren Präsident. Ángel de Saavedra Herzog von Rivas
starb am . Juni in Madrid.
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Georg Kehren
SCHICKSAL – ZUFALL
– BESTIMMUNG
ZU GIUSEPPE VERDIS OPER »LA FORZA DEL DESTINO« (»DIE MACHT DES
SCHICKSALS«) ANLÄSSLICH DER KÖLNER PRODUKTION VON OLIVIER PY UND
PIERRE-ANDRÉ WEITZ
VOM »AUGENÖFFNEN IN EINEM TRAUM« – ÁNGEL PÉREZ DE SAAVEDRAS
ANDERES DRAMA
Der spanische Dichter und Staatsmann Ángel Pérez de Saavedra
( – ), Herzog von Rivas, hat neben seinem »Don Álvaro
o La fuerza del sino« () unter anderem das erschienene
Drama »El desengaño en un sueño« (»Die Belehrung im Traum«,
wörtlich: »Das Augenöffnen im Traum« im Sinne von Desillusio-
nierung) geschrieben. Dieses Spätwerk, das sich thematisch an
Calderóns »Das Leben ein Traum« und Shakespeares »Der Sturm«
anlehnt, erzählt die Geschichte des jungen Lisardo, der mit seinem
Vater auf einer einsamen Insel wohnt und sich nach der weiten
Welt sehnt. Um ihn von dieser Sehnsucht zu befreien, versetzt ihn
der Vater durch Zauber in einen Schlaf. So erlebt der junge Mann
als ein romantischer Held wie aus dem Bilderbuch alle Verlockungen
und Täuschungen des Lebens, ver- und entliebt sich, strebt nach
der Macht im Staate, landet schließlich im Kerker und wird zum
Tode verurteilt.
Die zerstörerischste Kraft dieses von ihm geträumt-erlebten Lebens
liegt, so wird klar, in ihm selbst – in seinem Wollen und Willen –
begründet.
Wieder erwacht, wird der Träumer von seinem Vater gefragt, ob er
immer noch in dieser weiten Welt leben wolle. »Niemals!« lautet
seine Antwort.
20 LA FORZA DEL DESTINO
ANGST UND UNENTSCHIEDENHEIT
Der knapp und effektvoll ablaufende . Akt von »La forza del destino«,
einer der geschlossensten Opernanfänge Verdis überhaupt, ist
vergleichbar mit einem filmischen Prolog. Ein Vater wünscht seiner
Tochter eine gute Nacht, doch dieses Kinderstuben-Idyll trügt:
Noch in dieser Nacht will Leonora mit ihrem Geliebten fliehen, das
Weite suchen. »Angoscia« (Angst) ist das erste Wort, das wir aus
ihrem Mund hören … doch Angst verleiht der Seele keine Flügel.
Leonora zerquält sich in der Spannung zwischen ihrer Rolle als pie-
tätvoller Tochter und der Liebe zu Alvaro, dem Mann aus der
Ferne. Sie will hinaus – und will es andererseits auch wieder nicht.
»Me, pellegrina ed orfana (…) un fato inesorabile sospinge a stranio
lido (…) dannato a eterno pianto« (»Mich Heimatlose und Verwaiste
(…) treibt ein unerbittliches Schicksal fort (…) zu ewiger Trauer
verdammt«): So beschreibt sie ihre Seelenlage angesichts der bevor-
stehenden Flucht – und dies, bevor sich auf der Szene irgendetwas
ereignet hat. Mit einer solch unentschiedenen Grundhaltung lassen
sich keine Lebensentscheidungen fällen, und den Einwirkungen
von außen sind Tür und Tor geöffnet.
Entschiedener agiert da schon die Zofe Curra – als Vertreterin eines
Rollenfaches, dessen Existenzberechtigung sich sonst vorzugsweise
daraus ableitet, der von Leidenschaft umgetriebenen Hauptdarstellerin
beschwichtigend oder stumm das Ohr zu leihen. Curra mahnt zur
Eile, vertritt im hektischen Zwiegespräch mit der zaudernden
Leonora die Position Alvaros und scheint letztlich am Gelingen der
Flucht interessierter zu sein als Leonora selbst. Als der Geliebte
schließlich erscheint, zögert Leonora den Aufbruch so lange hinaus,
bis der Vater plötzlich im Raum steht und sich die Dinge in einer
ganz eigenen Dynamik entfalten.
Giuseppe Verdi sieht für die Partie der Leonora eine dramatische
Sopranstimme vor, kräftiger als die stimmlich eher agilen Heroinen
seiner frühen Opern. Die Stimme der Leonora-Darstellerin soll sich
weit verströmen, unter Verzicht auf Koloraturen, unter Betonung
des Deklamatorischen. Aus dem Gegensatz dieser »starken«
Disposition zum vermittelten Ausdruck von Leiden und Zartheit des
LA FORZA DEL DESTINO 21
Gefühls ergibt sich beim Zuhörer im Idealfall die bewegteste Anteil-
nahme. Nur wenige Minuten bekommt Leonora ihren Geliebten in
der fatalen Fluchtnacht zu sehen, bevor sich ihre Wege für lange
Zeit trennen, denn erst Jahre später (Ende . Akt) – sie hat in der
Einsiedelei vergeblich ihren Seelenfrieden gesucht – wird sie ihn
wiedertreffen, wieder nur wenige Minuten, an deren Ende ihr Tod
steht. Eine ihrer letzten Äußerungen, wenn nach der überlangen
Trennungsphase ihr Geliebter das Glöckchen ihrer Einsiedler-Klause
läutet, wird lauten: »Nol posso« (»Ich kann nicht«). Soll man das,
was in diesem unerfüllten, mit sich und der Welt überworfenen
Frauenleben den Ablauf bestimmt, wirklich »Schicksal« nennen?
SCHICKSAL ODER ZUFALL?
In nahezu allen Opern Verdis bildet entweder ein Eigenname
(Rigoletto, Aida, Otello, Falstaff u. a.) oder zumindest die mehr
oder weniger literarische Umschreibung einer Einzelperson
(»Il trovatore«, dt.: »Der Troubadour«; »La Traviata«, dt.: »Die
vom Weg Abgekommene«) den Titel. »La forza del destino« (dt.:
»Die Macht des Schicksals«), ursprünglich der Untertitel des dem
Libretto zugrunde liegenden spanischen Dramas, suggeriert schon
von Anfang an eine aus der Geschichte zu ziehende gedanklich-
philosophische Schlussfolgerung. Aber als was und in welchen
Augenblicken zeigt sich hier das Schicksal? Als eine bloße Anein-
anderreihung von Zufällen, denen sich die Protagonisten – wie
passive Marionetten – nicht entziehen können?
Daran, dass sich – zu Beginn, beim Fluchtversuch Leonoras und
ihres Geliebten – »zufällig« aus einer weggeworfenen Pistole
unversehens ein Schuss löst, der den Vater tötet?
Oder dass später Don Carlo, Leonoras Bruder – der Vertreter der
Standesehre, wie sie in fast allen spanischen Dramen dieser Zeit
eine beherrschende Rolle spielt – ausgerechnet und »zufällig« von
jenem Mann vor dem Tode gerettet wird, der nach seiner Ansicht
die Ehre seiner Familie beschmutzt hat, und den er zur Erfüllung
seiner Racheabsichten über Monate und Landesgrenzen hinweg
vergeblich gesucht hat?
22 LA FORZA DEL DESTINO
Ist es Schicksal, dass sich alle drei – Leonora, Alvaro und Carlo –
nach Jahren der Suche, des Getriebenseins und des vergeblichen
Vergessen-Wollens (Leonora) am Ende vor einer Einsiedelei
wiederfinden, wo es zum tödlichen Finale kommt?
MUSIKALISCHES SCHICKSALS-MOTIV
Zumindest scheint das Schicksal hörbar zu sein: Die Ouvertüre wird
mit drei lauten unisono-Akkorden der Blechbläser auf e eröffnet,
anschließend übernommen von einem leisen Streichermotiv. Diese
oft auch als »Schicksalsmotiv« bezeichneten Akkorde begleiten die
Geschichte Leonoras (das Scheitern der Flucht im . Akt, Leonoras
Erscheinen vor dem Kloster im . Akt, ihre ängstlichen Zweifel)
ebenso wie das Herannahen der Todfeinde im . Akt.
EINE OPER DES EINZELNEN UND DES »GROSSEN GANZEN«
In Giuseppe Verdis . Oper, »La forza del destino«, uraufgeführt
in St. Petersburg und später, in revidierter Fassung in Mailand
(), steht die Geschichte der drei Hauptfiguren – der von tragi-
scher Zerrissenheit umflorten Aristokratentochter Leonora, ihres
standesbewussten Bruders Don Carlo und des von beiden geliebten
»Fremden« Don Alvaro – neben der Schilderung des (all)gemeinen
Daseins, in dem Krieg und Armut, aber auch Szenen des klösterlichen
Verschworenseins den äußeren Rahmen bilden. Der Weg, den
die Handlung nimmt, führt von Sevilla (. Akt) über das Dorf
Hornachuelos in der Sierra von Córdoba (. Akt, . Bild) zum in der
Nähe gelegenen Franziskanerkloster (. Akt, . Bild), weiter nach
Italien, in die Gegend um das Feldlager von Velletri (. Akt) und
zuletzt wieder zurück nach Spanien, zum Kloster des . Akts.
Ein Unikum in Verdis Schaffen bedeuten die Momentaufnahmen des
Menschlich-Allzumenschlichen: Zu Beginn des . Akts etwa zeigen
der Schankwirtssohn Giuseppe Verdi und sein Librettist Piave, wie
sich Menschen zu einem Abendessen versammeln, bei dem der
verbohrte »Bösewicht« der Geschichte, Don Carlo, das Tischgebet
spricht und sich anschließend ebenso als gewitzt-gewiefter Plauderer
wie auch als manipulierend-geschickter Geschichtenerzähler erweist.
LA FORZA DEL DESTINO 23
PREZIOSILLA UND FRA MELITONE – DIE BEDEUTENDSTEN (NEBEN-)PARTIEN
Mit der Marketenderin Preziosilla und dem Geistlichen Fra Melitone
treten Rollentypen in Erscheinung, wie sie bisher in keiner anderen
Verdi-Oper vorgekommen waren. »Die Rolle der Preziosilla kann
und darf man nicht ändern; also, Preziosilla und Melitone, die habt
Ihr nicht und merkt Euch, dass diese Partien … in gewisser Beziehung
die bedeutendsten der Oper sind«, schrieb Verdi anlässlich einer
am Teatro San Carlo geplanten Aufführung, bei der man Besetzungs-
schwierigkeiten mit diesen beiden Rollen hatte.
Die Marketenderin mit ihrem »Rataplan«, in vielen Inszenierungen
allzu billig als korrupte Kriegshetzerin verkauft, ist – neudeutsch
gesprochen – so etwas wie ein »Voll-Profi« in Sachen PR, ein Show-
talent mit Glamour und Verstand … Nur eine sehr starke Frau wie
sie kann als Geschäftsfrau inmitten dieser männerbestimmten
Kriegswirklichkeit bestehen. Und als Einzige lässt sie sich dann auch
nicht von der halbwahren Geschichte des Studenten Pereda alias
Don Carlo täuschen. Eine Überlebens-Künstlerin in der direkten
Bedeutung des Wortes, die innerhalb des Verdischen Figurenpano-
ramas eine Sonderposition für sich beanspruchen darf.
Die Kapuzinerpredigt, mit der Fra Melitone der Menge »die morali-
sche Keule überzieht«, hat Verdi sich aus Schillers Drama »Wallen-
steins Lager« in das Libretto implementieren lassen. Verdi, der dem
Vatikan ablehnend gegenüberstand, zeigt hier Doppelmoral auf
humoristische Art und Weise. Die charismatische Marketenderin
und der unwirsche Klosterbruder repräsentieren in dieser Oper zwei
Bereiche, die mit dem Begriff »Schicksal« maßgeblich verknüpft
sind: Zum einen den Krieg als unausweichliche Erscheinung, zum
anderen die Kirche als eine Institution, die unausweichlich Einfluss
auf den persönlichen Lebensbereich von Menschen nimmt.
DER BLICK IN EIN KALEIDOSKOP
Immer wieder ist im Zusammenhang mit Verdis Schicksals-Oper
das Wort »Kaleidoskop« gefallen. Jedes Bild vermittelt für sich
genommen zwar ein Ganzes, doch seine wahre und vollständige
Bedeutung erschließt sich nur im Weiterdenken der Gesamtschau
24 LA FORZA DEL DESTINO
aller vorstellbaren Bilder. Mit dem Wissen um diese Sicht auf die
Welt als einem »geschlossenem System« verändert sich der Blick auf
jede einzelne, scheinbar zufällige Situation. Für Giuseppe Verdi ging
es erklärtermaßen um das, was er »Wahrheit« nannte – etwas, das
sich ihm im Roman »I promessi sposi« (»Die Verlobten«) von
Alessandro Manzoni ( – ) offenbart hatte. Manzonis Roman
hatte er im Alter von Jahren erstmals gelesen hatte und bezeichnet
ihn fast zwanzig Jahre später, , in einem Brief als »das gewaltigs-
te Werk unserer Zeit (…) nein, nicht nur unserer Zeit, aller Zeiten«.
In seiner Struktur – und auch hinsichtlich einzelner Handlungsmotive
– ließen sich Verdi und sein Librettist Piave bei »La forza del destino«
merklich von diesem so bilderreichen wie detailliert ausgemalten
Historien-Romans inspirieren, sichtbar besonders in den – im
Vergleich zu Saavedras Dramenvorlage – erhöhten Bedeutung der
Wirtshaus- und Feldlagerszenen, aber auch in der bereits erwähnten
Figuren-Aufwertung Preziosillas und des Fra Melitone.
Den roten Faden dieses als »Mailänder Geschichte aus dem
. Jahrhundert« untertitelten Schlüsselwerks der italienischen
(Literatur-)Geschichte bildet die Geschichte des jungen Paars
Renzo und Lucia, dessen Verehelichung aufgrund korrupter gesetz-
licher und kirchlicher Verhältnisse zunächst verhindert wird, die
dann auf getrennten Wegen vor den Schergen eines ihnen feindlich
gesinnten Landedelmanns fliehen müssen, bis beide sich fast zwei
Jahre später – nach einer wahren Odyssee vor dem Hintergrund des
Einfallens plündernder Söldnerheere, von Hungersnot und Seuchen
– glücklich in einem Pestlazarett wiederfinden und ihren Weg in eine
gemeinsame Zukunft lenken dürfen.
Manzonis Werk trug wesentlich zur kulturellen Selbstfindung des
italienischen Volkes bei, nicht zuletzt weil hier erstmals ein Beitrag
zur Verschriftlichung einer gemeinsamen Hochsprache geleistet
wurde. Die Sichtweise des Autors Manzoni auf die Welt ist realis-
tisch und ohne Beschönigung, zugleich humorvoll und voll Nach-
sicht für die allgemeinen menschlichen Schwächen. Verdis Vereh-
rung für Manzoni war schier grenzenlos.
LA FORZA DEL DESTINO 25
Eine der Hauptfiguren des Romans, der in seiner Unbestechlich-
keit und Humanität unverrückbare Kapuzinerpater Cristoforo,
gilt gemeinhin als ein geistiger Vorfahr des Padre Guardiano in
der Verdi-Oper, dem sich Leonora vorbehaltlos anvertraut.
HERAUSTRETEN AUS DER WELT
In »La forza del destino« stehen Szenen des profanen Lebens neben
Momenten des Erhabenen, wie etwa dem Gebet im . Bild des
. Akts: Kaum sind die solistischen Figuren – Carlo, Preziosilla,
Trabuco – eingeführt worden und die martialischen Klänge des
»Viva la guerra!« (»Es lebe der Krieg!«) verklungen, bewegt ein
vorüberziehender Pilgerchor die Anwesenden zum Innehalten.
Dieses feierliche Preghiera, bei dem alles für einen Moment still zu
stehen scheint, mündet in die allgemeine Bitte um »Erbarmen«
(»Pietà«). Auch der Sopran Leonoras stimmt – alle anderen über-
strahlend – in dieses Ensemble ein und fleht um Erlösung von
ihrem Bruder (»Ah, dal fratello salvami«). So vermischen sich auf
der Szene die Stimmen der beiden Geschwister, ohne dass der
Bruder die Anwesenheit der Schwester erahnt.
Im Vergleich zu der Dramenvorlage Saavedras nimmt das Ritual
der Überführung Leonoras in die Einsiedelei einen breiten Raum
ein, wobei ausgerechnet hier die musikalisch »kriegerischsten«
Takte der gesamten Oper zu vernehmen sind: Padre Guardiano und
die Mönche verfluchen »prophylaktisch« denjenigen, der es wagen
sollte, Namen und Geheimnis der Einsiedlerin zu enthüllen. Dabei
greifen sie zum äußersten Mittel: »Maledizione! Il cielo fulmini,
incenerisca, l’empio mortale se tanto ardisca; su lui scatenisi ogni
elemento, l’immonda cenere ne sperda il vento« (»Er sei verflucht!
Die Blitze des Himmels sollen den schändlichen Sterblichen ver-
nichten, wenn er solches wagt; über ihn sollen alle Elemente her-
einbrechen … die unreine Asche zerstreue der Wind.«)
Das, was hier derart kämpferisch verteidigt wird, ist eigentlich
das, was man als das Gegenteil von »Schicksal« mit all seinen
Wirrungen bezeichnen könnte: die Unantastbarkeit der menschli-
chen Seele – der »Seelenfrieden«.
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VIVA LA GUERRA! – V.E.R.D.I. UND DIE POLITIK
Unmittelbar vor Verdis Beschäftigung mit der Schicksals-Oper
hatten sich in Italien tiefgreifende politische Umwälzungen vollzo-
gen, an denen der Musiker seinen Anteil gehabt hatte: mit seinem
politischen Mandat, denn er war für Parma Abgeordneter im Turiner
Parlament, insbesondere aber mit seiner Popularität, die er für das
Risorgimento, die politische Bewegung für ein Vereinigtes Italien, in
die Waagschale geworfen hatte. Der Schlachtruf der Einigungsbe-
fürworter, »Viva V.E.R.D.I.!«, rekurrierte auf seinen berühmten
Namen, aus dessen fünf Buchstaben sich die Abkürzung der Forderung
»Viva Vittorio Emanuele Re d’Italia« (»Es lebe Vittorio Emanuele,
König von Italien!«) zusammensetzte. Verdi hatte als Abgeordneter
seine Stimme für die Wahl des Savoyers zum König von Italien
abgegeben und damit an der Erfüllung des Traums von einem
geeinten Italien, einem italienischen Nationalstaat, mitgewirkt.
Die gänzliche Erfüllung dieses Traums ließ auf sich warten, denn
zwei wichtige Städte standen zunächst noch unter österreichischer
Bevormundung: Venedig (bis ) und Rom (bis ).
Der Schlachtruf im . Akt von Verdis Oper, »Morte ai tedeschi«
(»Tod den Deutschen«), war zwar laut geschichtlichem Handlungs-
zusammenhang auf die Kämpfe im Rahmen des österreichischen
Erbfolgekriegs (. Hälfte des . Jahrhunderts) zu beziehen, bei denen
spanische und neapolitanische Truppen in Mittel- und Süditalien den
österreichischen Habsburgern gegenüberstanden, doch zu Beginn
der er Jahre war der Bezug zur aktuellen historischen Situation
mehr als greifbar, wenn auch im Falle einer Aufführung im fernen
St. Petersburg nicht ganz so brisant, wie er es zu diesem Zeitpunkt
auf italienischem Terrain gewesen wäre.
Russland hatte zur Zeit der »Forza«-Uraufführung auch nicht
geringe Probleme: In der von Korruption und Zensur geprägten
Gesellschaft brodelte es mächtig. Zar Alexander II., der die
Aufführung im Kaiserlichen Opernhaus mit seiner Anwesenheit
beehrte und Verdi sein Kompliment aussprach, ging später seiner
eigenen Schicksalbestimmung entgegen: Nachdem er die gegen ihn
gerichteten Attentatsversuche und noch durch Zufall
LA FORZA DEL DESTINO 29
überlebt hatte, fiel er ein Jahr später schließlich doch einem Bomben-
attentat zum Opfer. Der Name der für diese Tat verantwortlichen
Organisation lautete »Volkswille«.
GELIEBTE ALS »ENGEL«
Mit dem Paar Leonora-Alvaro stehen zwei Menschen im Zentrum
der Oper, die uneins mit ihrer Position in der Welt sind, die ins
Gespräch mit Gott, der Madonna oder mit Engeln treten, und deren
Seelenschmerz und psychische Befindlichkeit ihnen keine Kapazität
für weltlichen Ehrgeiz oder für ein Interesse am Fortgang der Welt
und Geschichte lässt. Alvaro, so erfährt man, ist im spanischen Heer
zu Ehren gekommen; ein Interesse an dem, was er da tut, ist jedoch
nicht ersichtlich. Viel mehr wendet sich der Inka-Nachfahr – maßgeb-
lich begleitet vom Klang der Klarinette – im Gebet an die totgeglaubte
Geliebte, spricht dabei – katholisch missioniert – zu ihr als einem
»Engel« (»O tu che seno agli angeli«) und führt sich sein Leben als ein
unter einem dunklen Schatten stehendes vor Augen – postum bis
zurück in die Kindheit, als seine Eltern bei ihren politischen Bestre-
bungen ums Leben kamen. Später, wenn er aus dem Munde Carlos
erfahren wird, dass Leonora lebt, kommt ihm nur im ersten Moment
die Idee, sie aufsuchen zu wollen; letztlich – nach der Auseinanderset-
zung mit Carlo – zieht er es vor, ins Kloster einzutreten, sich von der
Welt zu verabschieden und sich in »Padre Raffael« zu verwandeln.
Damit gibt er seine Möglichkeit, selbst zu entscheiden und zu han-
deln, auf und überlässt es dem Zufall, ob er der von ihm als »Engel«
Angebeteten noch einmal real begegnen wird.
SCHICKSALSWENDUNGEN VERDI UND PIAVE
Mit dem Entschluss, nach einer langen Pause von drei Jahren
wieder einen Kompositionsauftrag anzunehmen und – vermittelt
durch den Star-Tenor Enrico Tamberlick – für das Kaiserliche
Opernhaus in St. Petersburg eine neue Oper zu schaffen, fällte der
damals -jährige Verdi faktisch die Entscheidung, sich zukünftig
wieder der Kunst und nicht der praktischen politischen Arbeit zu
30 LA FORZA DEL DESTINO
widmen, wenn er auch vorläufig – noch bis – sein Abgeordneten-
mandat beibehielt. Seine kompositorische Arbeit führte ihn noch im
Alter von annähernd Jahren mit den Opern »Otello« und »Falstaff«
zu Höhepunkten seines Schaffens.
Der Librettist Francesco Maria Piave, von Verdi häufig wegen seiner
Dickleibigkeit gehänselt, erlitt einen Schlaganfall, von dem er
sich nie mehr ganz erholte, und stand somit eineinhalb Jahre später
für die Überarbeitung des »Forza«-Librettos anlässlich der Mailänder
Erstaufführung nicht mehr zur Verfügung.
DIE »URNA FATALE« DES MANNES VON EHRE – SCHICKSAL AM SCHEIDEWEG
»Morir – tremenda cosa« (»Sterben – eine schreckliche Sache«), mit
diesen Worten beginnt Szene und Arie des Don Carlo di Vargas im
. Akt der Schicksals-Oper. Alvaro wird im Lazarett notoperiert,
und Don Carlo befindet sich am Scheideweg seines Lebens: Soll er
das Siegel brechen, um Gewissheit über die wahre Herkunft des
emphatisch geliebten Freundes zu erhalten? Wenn es in dieser
Oper überhaupt einen Moment gibt, der die Möglichkeit eines
Handlungsumschwungs – und damit eines Sieges über das nur
scheinbar unausweichliche »Schicksal« – in sich trägt, dann ist es
dieser: »Urna fatale, va t'allontana« (»Verhängnisvolle Urne meines
Schicksals, weg, entferne dich!«). Die Standesehre, so macht Carlo
sich glauben, sei es, die ihn zögern lässt, die Dokumente Alvaros
einzusehen, und so mächtig wie pathetisch schwillt sein Gesang an
zum »Un giuro è sacro per l'uom d'onore« (»Ein Eid ist dem Mann
von Ehre heilig«).
Tragik der uneingestandenen Motive! … Hier stellt sich nicht allein
die Frage, ob sich der ansonsten so wendige »Ehrenmann« den
Vertrauensbruch am Freund gestatten darf; näherliegend wäre es,
sich darüber Aufschluss zu geben, ob er sich wirklich Bestätigung
über das verschaffen möchte, was er bereits schmerzlich ahnt:
Der Traum von der ach so heiligen Männerfreundschaft – einer
Liebe im Gewande dessen, was sich ziemt – könnte zuende sein …
Und da ist es auch schon: das Bildnis einer Frau – seiner Schwester
LA FORZA DEL DESTINO 31
Leonora! Der geliebte Mann ist der Mörder des Vaters, Entführer
der Schwester, aber auch: ein Verräter der Freundschaft – und
Don Carlo, der hier eine letzte Chance hatte, seine Rolle als
»Schicksals-Vollstrecker« abzulegen und die Geschichte zum Besseren
zu wenden, hält an seinem strikten Ehrenkodex fest, geht damit der
Welt endgültig verloren und seinem Untergang entgegen.
Auf das Fatum bezogen könnte man hier folgendes Resümee ziehen:
Unser , das sind ausschließlich wir selbst, bis zum Ende.
Und die ? Vielleicht ein wirres Spektakel – vor den Augen
einer höheren Instanz.
LA FORZA DEL DESTINO 35
Zum letzten Mal holte sich Verdi Piave als Librettisten. Er hatte
den Venezianer, der dem Junggesellendasein Valet gesagt und sich
eine Familie zugelegt hatte, an der Scala di Milano untergebracht.
Piave schrieb ihm ein insgesamt gutes Buch – »La forza del destino«
ist die Oper, in der Verdi formal seinen Vorbildern Shakespeare
und Manzoni am nächsten kommt, auch schon in der ersten, heute
nicht mehr gespielten Petersburger Fassung. Der vergleichsweise
schlechte Ruf des (dennoch vielgespielten) Werkes rührt haupt-
sächlich daher, dass die Oper wegen angeblicher Überlänge in der
Regel so gekürzt wird, dass sie streckenweise als zusammenhang-
loser Torso erscheinen muss. Zum Beispiel wird nach schlechter
Theatertradition stets die auch musikalisch interessante erste
Duellszene zwischen Alvaro und Don Carlo di Vargas in der
. Szene des . Aktes weggelassen, so dass in diesem ganzen Auf-
tritt (der außerdem noch die Bußpredigt des Fra Melitone und den
Rataplan-Chor enthält) die beiden männlichen Hauptfiguren
überhaupt nicht vorkommen. Außer dem schwer verdaulichen
Zufallstod des Marchese di Calatrava (er wird durch eine wegge-
worfene Pistole erschossen!) gibt es nichts Unlogisches in der
ganzen Oper.
WAS VERDI WOLLTE, HATTE PIAVE
GELIEFERT: BUNTE GENREBILDER,
DIE SICH GEMEINSAM MIT DEN
GROSSEN SZENEN DER HAUPTFIGUREN
ZU EINEM GLÄNZENDEN MELODRAMA-
TISCHEN BILD EINER SICH
SELBST ZERSTÖRENDEN WELT FÜGEN.
Verdi borgte sich – mit Erlaubnis des Freundes und Übersetzers
Andrea Maffei – einige Verse aus »Wallensteins Lager« aus,
nahm Einflüsse aus Meyerbeers »Étoile du Nord« auf und schuf
36 LA FORZA DEL DESTINO
gemeinsam mit Piave vor allem in den Nebenrollen ein paar Cha-
raktere, die so scharf gezeichnet waren, wie ihm das bislang kaum
noch gelungen war. Fra Melitone, der großmäulig-tölpelhafte, aber
auch sehr menschlich manchmal den gesunden Menschenverstand
verkörpernde Klosterpförtner; Mastro Trabuco, der jüdische
Händler und Trödler, der ein wenig am Krieg mitverdienen will;
Preziosilla, die Zigeunerin und Marketenderin, das heitere, den
Krieg als Spiel betrachtende Gegenbild zu den düsteren Haupt-
figuren – das sind für comprimarii ungewöhnliche Partien.
DIE WICHTIGSTE DAVON SOLLTE DER
FRA MELITONE SEIN. ES WAR DIE
ERSTE KOMISCHE ROLLE, DIE VERDI
SEIT »UN GIORNO DI REGNO«
GESCHRIEBEN HATTE, VERDI ERKANNTE
SEHR FRÜH, DASS IN IHR DER KEIM
GELEGT WAR FÜR VIELLEICHT NOCH
ETWAS ANDERES, BESSERES IN DER
ZUKUNFT … DESHALB FORDERTE
ER VON ANFANG AN EINEN GUTEN
SÄNGER FÜR DIESE ROLLE.
Achille De Bassini war der Mann seiner Wahl. Der napoletanische
Bariton hatte schon den Seid in »Il corsaro«, den Dogen in »I due
foscari« und den alten Miller auf die Premierenbretter gebracht,
war also ein »ernster« Sänger. Und für den hatte Verdi eine Buffo-
rolle geschrieben? Er habe ihn persönlich damit identifiziert,
schrieb der Komponist an De Bassini, und da konnte der nicht mehr
nein sagen. Der Fra Melitone wurde dann auch ein ganz großer
persönlicher Erfolg für ihn. Eine komische Rolle für einen ernsten
LA FORZA DEL DESTINO 37
Sänger – diesen Weg beschreiten dann ja auch Falstaff und Jago,
dessen buffoneske, komische Seiten leider meist übersehen werden
(obwohl sie musikalisch nicht zu überhören sind). (…)
Tito Ricordi wollte »La forza del destino« in der Scala di Milano
geben (Anm. der Red.: ) und bei dieser Gelegenheit den
Komponisten mit dem Haus aussöhnen. Verdi trank damals gerade
in Tabbiano sein Wässerchen gegen seine eingebildeten Leiden
und war zu aller Überraschung ohne Widerrede zu jeder Schand-
tat bereit.
Zunächst galt es, einen Bearbeiter zu suchen. Piave stand nach
seinem Schlaganfall nicht mehr zur Verfügung. Durch Vermittlung
der Gräfin Maffei geriet er an einen Autor, der wie Boito zu den
»scapigliati« gehörte, an Antonio Ghislanzoni. in Lucca gebo-
ren, ehemals Bariton, dann verbitterter Anhänger der Avantgarde,
löste er sich nach etlichen misslichen Vorfällen von dieser Gruppe,
weil er sie doch als im wesentlichen unfähige Wichtigtuer erkannte.
Zwischen ihm und Verdi entwickelte sich nun eine tiefe Freund-
schaft während der gemeinsamen Arbeit an »La forza del destino«.
An Heirat und ein gutes Ende dachte keiner der beiden. Verdi
wollte Don Carlos hinter der Bühne, Leonora auf ihr sterben und
Alvaro am Leben lassen.
»ES IST ZIEMLICH GLEICHGÜLTIG,
OB ES DA EIN DUETT, EIN TRIO ODER
EINEN CHOR GIBT; MAN MUSS NUR
DARAUF ACHTEN, DASS ES EIN
DRAMATISCHES SPEKTAKEL WIRD!«
SCHRIEB ER AN GIULIO RICORDI.
Ghislanzoni wollte die Zigeuner nochmals auftreten lassen, um
»nicht nur Mönche auf der Bühne« zu haben, aber Verdi überzeugte
38 LA FORZA DEL DESTINO
DIE MITWIRKENDEN VON »LA FORZA DEL DESTINO« AN DER MAILÄNDER SCALA, BEI DER
ERSTAUFFÜHRUNG DER NEUFASSUNG, 27. 2. 1869
DIE PARTIE DER LEONORA SANG TERESA STOLZ (OBEN LINKS), MIT DER GIUSEPPE VERDI
BIS ZUM ENDE SEINES LEBENS FREUNDSCHAFTLICH VERBUNDEN BLIEB.
LA FORZA DEL DESTINO 39
ihn von seinen Vorstellungen. So wurde das eigenartig verzweifelt–
religiöse Finale gefunden – Alvaro bleibt am Leben, verzweifelnd am
Schicksal der Welt, aber mit einem Restchen Hoffnung.
DIESER SCHLUSS MACHT NICHT NUR
EINEN DER GROSSEN REIZE DIESER
OPER AUS (SEIN VERKLINGEN GEHÖRT
ZU DEN SCHÖNSTEN OPERNSCHLÜSSEN,
DIE VERDI JE GESCHRIEBEN HAT),
SONDERN NUTZT AUCH DER TEKTONIK
DES WERKES AUSSERORDENTLICH.
Die Klosterszenen des zweiten Aktes bleiben nicht isoliert,
sondern finden am Ende ihre Entsprechung, was die ganze
etwas auseinanderdriftende Handlung fester zusammenbindet.
DAS ENDE WIRFT ABER AUCH FRAGEN
AUF. DER AGNOSTIKER UND KIRCHEN-
HASSER VERDI SCHREIBT PLÖTZLICH
EIN »FROMMES« FINALE – WIE DAS?
Manche Biographen meinen, es könne mit dem Besuch beim
verehrten Alessandro Manzoni zusammenhängen, dessen tiefe und
einfache Frömmigkeit auf Verdi abgefärbt habe. Das scheint
allerdings doch eher zweifelhaft. Was Verdi immer an der christli-
chen Religion hasste, war ja nie die Religion an sich, die ließ ihn
eher kalt, es waren stets ihre Würdenträger und deren Verlogenheit.
Figuren wie der einfache und schlicht fromme Padre Guardian
waren ihm nie fremd. Außerdem darf man nicht vergessen, dass
auch dieses »fromme« Ende eher resignativ als hoffnungsvoll ist.
40 LA FORZA DEL DESTINO
Manzoni ist aber auf andere Art für diese Oper von Bedeutung.
Einige seiner novellistischen Techniken sind unzweifelhaft vor
allem in die Zweitfassung eingeflossen. Das Werk verdankt ihm
mindestens so viel wie Shakespeare und Schiller.
WIE »I PROMESSI SPOSI«
MIT SEINEM REICHEN ARSENAL VON
FIGUREN AUS DER LOMBARDISCHEN
RENAISSANCE BIETET AUCH
»LA FORZA DEL DESTINO« EINEN
GEWALTIGEN BILDERBOGEN,
EINE FÜLLE INTERESSANTER,
CHARAKTERISTISCHER UND
HÖCHST LEBENDIGER FIGUREN.
Verdi liebte diese Oper zeitlebens, und er war stolz auf den unge-
heuren Erfolg, den die revidierte Fassung am . Februar in
Mailand hatte. Sie ist seither auch nur noch in dieser Fassung aufge-
führt worden.
»LA FORZA DEL DESTINO« IST ABER
AUCH EINE UMSTRITTENE OPER
GEBLIEBEN; HOCHGELOBT AUF DER
EINEN, ALS UNSINNIG UND
UNDURCHSICHTIG VERDAMMT
AUF DER ANDEREN SEITE.
LA FORZA DEL DESTINO 41
Gerade das Bilderbogenhafte, Holzschnittartige, die vielen ver-
schiedenen Welten, die auch musikalisch eingefangen werden,
vom Kriegslager über das stille Kloster bis in die elegante Welt der
Adelspaläste ist ja alles vertreten, all das hat viele verstört.
Dabei muss man nur an »Il trovatore« erinnern.
DER »LEIERKASTENMANN« ERZÄHLT
EBEN WIEDER SEIN ALTES LIED VON
DEN MENSCHEN …
42 LA FORZA DEL DESTINO
PLAKAT DER URAUFFÜHRUNG VON »LA FORZA DEL DESTINO« IN ST. PETERSBURG 1862
LA FORZA DEL DESTINO 43
WOLFGANG MARGGRAF
aus: Giuseppe Verdi – Leben und Werk
Bis heute ist die »Macht des Schicksals« ein umstrittenes Werk
Verdis geblieben.
IST EINERSEITS DIE REIFE DES
MUSIKALISCHEN AUSDRUCKS IN
VIELEN WICHTIGEN SZENEN DER
OPER UNBESTREITBAR,
SO ERHEBT SICH ANDERERSEITS
DOCH IMMER WIEDER DER VORWURF
SOWOHL EINER GEWISSEN
VERWORRENHEIT UND UNLOGIK DER
HANDLUNGSFÜHRUNG ALS AUCH
DER MYSTIFIZIERUNG DES
SCHICKSALS GEGEN DAS IN DER
TAT AUFFALLEND BUNTE, AUS SCHARF
GEGENEINANDER KONTRASTIERENDEN
SZENEN SICH AUFBAUENDE WERK.
Solche Vorwürfe entbehren hier gewiss ebenso wenig wie in dem
ähnlich gelagerten Fall des »Troubadour« völlig eines Wahrheitsker-
nes, doch schieben sie mit leichter Hand die Frage nach der Bedeu-
tung und den Absichten des Komponisten von vornherein beiseite.
Beide Werke sind verworren nur für den, der schon die geringste
Mühe scheut, hinter der Fabel nach den Aussageabsichten des Schöp-
fers zu suchen, die sich, lässt man sich durch jene Vorurteile nicht
zurückhalten, sehr bald in ihrem vollen Umfange erschließen.
44 LA FORZA DEL DESTINO
Dann aber erscheint diese oft geschmähte oder zumindest nur mit
Einschränkungen akzeptierte Oper in einem überraschend bedeu-
tungsvollen Licht. Wie immer in Verdis Reifezeit entsprang die
Wahl der literarischen Vorlage weder dem Zufall noch einer
momentanen Laune, sondern bedeutete innerliche Identifikation
des Maestro mit ihr. Das Drama »Don Alvar oder Die Macht des
Schicksals« des in Cordoba geborenen und nach einem aben-
teuerlichen Leben als Direktor der Akademie in Madrid
gestorbenen Ángel Pérez de Saavedra stellt insofern einen Mark-
stein in der spanischen Literaturgeschichte dar, als mit seiner
Uraufführung im Jahre sich in Spanien eine am Vorbild Victor
Hugos inspirierte romantische Strömung Bahn brach, die ebenso
wie die französische mit der Darstellung grell beleuchtete, exzessiver
menschlicher Leidenschaften und Schicksale eine scharfe Gesell-
schaftskritik verband. Und im Falle des »Don Alvar« rüttelt diese
Kritik an nichts geringerem als den Grundlagen dessen, worin die
herrschende Schicht Spaniens seit Jahrhunderten ihr Wesen verkörpert
sah: an einem erstarrten, maßlos übersteigerten Ehrbegriff, der
Standesdünkel und Rassenhass in sich einschloss. Nicht aus einer
numinosen Fügung des Schicksals, das über die Menschen verhängt
ist, erwächst das Drama, sondern aus dem durch nichts zu bezäh-
menden Hass, mit dem Don Carlos aus der hochadligen Familie
Vargas den Indianer Alvaro* verfolgt, der gemäß dem Ehrenkodex der
spanischen Aristokratie durch seine Liebe zu Leonora, der Schwester
Don Carlos’, die Ehre der Familie besudelte und obendrein, wenn
auch unbeabsichtigt und durch unglücklichen Zufall, zum Mörder
des alten Marchese di Vargas wurde.
DER »ZUSAMMENSTOSS ZWISCHEN
MENSCHLICHEM EMPFINDEN UND
UNMENSCHLICHEM GEBOT, ZWISCHEN
* Im Drama des Ángel Pérez de Saavedra ist Alvaro Stierkämpfer.
LA FORZA DEL DESTINO 45
VORURTEIL UND LIEBE«* – DAS IST ES,
WOFÜR IN DIESEM DRAMA DER
BEGRIFF DES SCHICKSALS STEHT.
DASS ABER VERDI GERADE EIN
SOLCHES SUJET REIZEN MUSSTE,
BEDARF KAUM EINER BEGRÜNDUNG,
DENN DER KONFLIKT ZWISCHEN
PERSÖNLICH-MENSCHLICHEM FÜHLEN
UND STARRER KONVENTION IST
EIN THEMA, DAS SEIT DER
»TRAVIATA« IN FAST ALLE SEINE
WERKE MEHR ODER MINDER STARK
HINEINSPIELT UND DAS IHN DESHALB
SO STARK INTERESSIERTE,
WEIL AN IHM DIE GESELLSCHAFT-
LICHE DETERMINIERUNG DES
MENSCHEN BESONDERS EINDRUCKS-
VOLL ZU DEMONSTRIEREN WAR.
Dieser das Stück bestimmende Konflikt wird nun bereits im Schau-
spiel des spanischen Dichters, noch deutlicher aber in Verdis Oper,
hineingestellt in ein ungemein farbig gezeichnetes, breites Panora-
ma des spanischen Lebens um die Mitte des . Jahrhunderts, in
eine Zeit, in der das einst so mächtige spanische Weltreich längst
* J. Herz, Schicksal oder Zufall. In: W. Felsenstein, G. Friedrich, J. Herz, Musiktheater.
Leipzig. (RUB) 1970, S. 241
46 LA FORZA DEL DESTINO
zerfallen war und fortgesetzte kriegerische Unternehmungen gegen
das habsburgische Österreich um den Besitz italienischer Gebiete
auch in Spanien Not und Unsicherheit über die Bevölkerung brach-
ten und eine erschreckende Verwilderung der Sitten hervorriefen.
Diese Szenen des spanischen Volkslebens, die Verdi mit sichtlicher
Freude am realistisch-genrehaften Detail ausgemalt und in der Mai-
länder Neubearbeitung des Werkes von sogar noch erweitert
hat, sind das eigentlich Charakteristische dieser Oper, zugleich
aber auch dasjenige, woran sich die Kritik vor allem entzündete.
Gewiss ist nicht zu leugnen, dass sich einige dieser Szenen durch
ihre Turbulenz und Drastik stark in den Vordergrund drängen und
die eigentliche Handlung zu verdecken drohen; aber diese Gefahr,
der eine geschickte Inszenierung noch immer auszuweichen ver-
mag, wiegt leicht gegenüber dem Gewinn, den die Oper aus dieser
Szenenfülle zieht. Denn indem Verdi das Handeln seiner Helden so
betont und durchgängig in das Leben des Volkes einbettet, erhält
der in dem Werk gestaltete Konflikt eine höhere geschichtliche
Konkretheit und eine stärkere realistische Dimension, als wenn das
historische Milieu weniger akzentuiert worden wäre.
BESONDERS BREITEN RAUM NEHMEN
IN »DIE MACHT DES SCHICKSALS«
SCHILDERUNGEN DES KRIEGES
UND SEINER DEMORALISIERENDEN
FOLGEN EIN.
ES IST KEINE ÜBERTREIBUNG, WENN
MAN FESTSTELLT, DASS DER KRIEG
NOCH NIEMALS AUF DER OPERNBÜHNE
SO REALISTISCH ALS EIN UNGLÜCK
FÜR DAS VOLK GEZEICHNET WORDEN
IST WIE IN DIESEM WERK.
LA FORZA DEL DESTINO 47
Mit einer Eindringlichkeit, die an die Kupferstichfolgen des Franzosen
Jacques Callot erinnert, lässt Verdi diese Bilder des Krieges vor dem
Zuschauer erstehen. Zeigt er im zweiten Akt zunächst, wie mit
Hilfe der temperamentvollen Zigeunerin Preziosilla auf primitive
Weise die Kriegsbegeisterung geweckt wird, gibt er im dritten ein
farbiges Gemälde vom Treiben einer verrohten Soldateska, die
nicht weiß, wofür sie das Leben aufs Spiel setzt, und die sich durch
Glücksspiel, Raub, käufliche Liebe und krampfhafte Fröhlichkeit
über die Leere ihres Daseins hinwegzutäuschen sucht, so entsteht
im letzten Akt mit dem Zug der Bettler, die sich um einen Löffel
Suppe aus der Küche des Klosters raufen, ein Bild des Elends und
des Jammers, der äußersten menschlichen Entwürdigung. Sieht
man diese drei Szenen als Stationen auf dem Leidensweg eines
Volkes, auf den das Schicksal der Hauptpersonen sich gleichsam
projiziert, so wird man nicht mehr von der Überwucherung der
Haupthandlung durch nicht dazugehörige Genreszenen sprechen,
sondern die künstlerische Absicht erkennen, die sich hinter dieser
Verkettung des Individuellen mit dem Allgemeinen abzeichnet.
Die Einbeziehung solch ungewöhnlich ausgedehnter Volksszenen
in der »Macht des Schicksals« muss freilich auch im Lichte von
Verdis Auseinandersetzung mit der französischen Großen Oper
gesehen werden, die mehr oder weniger stark das gesamte Schaffen
des Maestro in diesem Lebensabschnitt mitbestimmt.
WAR ES ABSICHT VERDIS, DIE
ÄUSSERLICH-THEATRALISCHEN
MOMENTE DIESER OPERNGATTUNG
MIT SEINEM AUF PSYCHOLOGISCHE
DURCHDRINGUNG DER CHARAKTERE
ABZIELENDEN REALISMUS ZU
VERQUICKEN, SO IST »DIE MACHT
DES SCHICKSALS« AUF DEM WEGE
48 LA FORZA DEL DESTINO
ZUR IDEALEN VERWIRKLICHUNG
DIESER ABSICHT EIN WICHTIGER
MARKSTEIN.
Dass das Libretto zur »Macht des Schicksals« wenn auch nicht im
Ganzen, so doch in einem wichtigen Detail zugleich Zeugnis für
Verdis stets waches Interesse an der Dramatik Friedrich Schillers
ist, bedarf schließlich besonderer Erwähnung: die Predigt des Fra
Melitone im dritten Akt ist bis in Einzelheiten der sprachlichen
Formulierung hinein der Kapuzinerpredigt aus »Wallensteins
Lager« nachgebildet, die ihrerseits auf das Vorbild der drastisch-
volkstümlichen Predigten des deutschen Augustinermönchs Abraham
a Santa Clara zurückgeht. Obwohl darüber nichts Genaues bekannt
ist, darf vermutet werden, dass die Einfügung dieser Gestalt auf
Verdis ausdrücklichen Wunsch hin geschah, denn der Maestro hat
sie auch musikalisch mit sichtlicher Liebe ausgeformt. Damit hat er,
offenbar nach dem Vorbild Shakespeares, zum ersten Male in eines
seiner Werke eine Kontrastfigur mit eindeutig komischen Zügen
aufgenommen, wobei es sich freilich um eine Komik von der tief
menschlichen Art handelt, die auch Shakespeares Gestalten aus-
zeichnet. In der musikalischen Ausformung Fra Melitones bricht
zum ersten Male jener von der Weisheit des beginnenden Alters
verklärte Humor Verdis hervor, der dann sein letztes Bühnenwerk,
den »Falstaff«, in so unnachahmlicher Weise prägt.
DER BUNTHEIT DES LIBRETTOS
ENTSPRICHT EINE BIS
DAHIN IN VERDIS WERK EINMALIGE
VIELFALT DER MUSIKALISCHEN AUS-
DRUCKSBEREICHE, DEREN
JEDER IM WESENTLICHEN AN EINE
GESTALT DER OPER GEBUNDEN IST.