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Published by uwefahrenholz, 2023-03-16 12:52:52

Die Kunst des Urteils

Die Kunst des Urteils

„Die Kunst des Urteils“ Eine Analyse und Interpretation zu Ferdinand von Schirachs Gerichtsdrama Terror (2015) Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra der Philosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz vorgelegt von Julia Sophia Maria SCHÜTZ am Institut für Germanistik Begutachterin: Univ.-Prof. Dr. phil. Anne-Kathrin Reulecke Graz, 2021


Für Rudi In liebevoller Erinnerung


Danksagung An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen, um mich bei den Menschen zu bedanken, die mich durch meine Studienzeit begleitet haben und mir insbesondere während der Erstellung meiner Diplomarbeit eine besondere Stütze waren. Besonderer Dank gilt meiner Betreuerin Univ.-Prof. Dr. phil. Anne-Kathrin Reulecke, die für mein Diplomarbeitsthema von Beginn an Begeisterung zeigte und mich stets mit ihrem Fachwissen unterstützte. Ich möchte mich zum einen für die konstruktive Kritik und zum anderen für den nötigen Freiraum, den ich für die Umsetzung meiner eigenen Ideen nutzen durfte, bedanken. Der größte Dank geht an meine Mama, die mich vom ersten bis zum letzten Tag meines Studiums bestärkt und mir mit aufheiternden Worten Mut gemacht hat. Ich danke ihr dafür, dass sie mir das Erreichen meiner Ziele immer ermöglicht hat, stets an mich und die Erfüllung meiner Träume glaubt und jeden meiner kleinen wie auch großen Erfolge mit mir feiert. Ein liebevoller Dank gilt meiner Tauf- und Firmpatin Renate, die mir seit meinen Kindertagen bei all meinen Entscheidungen Selbstvertrauen schenkt und mir auch im Erwachsenenalter eine Schulter zum Anlehnen ist. Danke an Anna, Lisa, Steffi und Verena, die für mich immer ein offenes Ohr haben und mit denen ich viele schöne Erinnerungen teile. Danke an Vicky, mit der ich eine unvergessliche Zeit an der Karl-Franzens-Universität in Graz erleben durfte und die mir stets mit Rat und Tat zur Seite steht. Ein herzlicher Dank geht an Kathi für ihre Hilfe beim Übersetzen des Abstracts. Besonders bedanken möchte ich mich bei Matthias, der mich so nimmt wie ich bin, mit all meinen Stärken und Schwächen. Die vielen Ratschläge und Aufmunterungen sowie die anregenden Gespräche über deutsche Literatur und Philosophie waren mir eine große Hilfe während dieser nicht immer einfachen Zeit. Danke, dass ihr mich auf diesem Weg begleitet habt. „Dankbarkeit ist das Gedächtnis des Herzens.“ Jean-Baptiste Massillon


Kurzfassung Die vorliegende Diplomarbeit widmet sich dem Thema ‚Recht und Literatur‘ und beleuchtet die interdisziplinäre Verschmelzung beider Felder zu einem Fachgebiet. Die wohl prominentesten Beispiele für die Überschneidung von juristischen und literarischen Texten in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur stellen die Werke des ‚Dichterjuristen‘ Ferdinand von Schirach dar. Der Strafverteidiger und Schriftsteller konnte sich in den letzten Jahren sowohl national als auch international als Erfolgsautor etablieren. Der Fokus dieser Arbeit liegt auf Schirachs erstem Theaterstück Terror, das 2015 veröffentlicht wurde und Themen wie den angemessenen Umgang mit Terrorismus sowie das Verhältnis von persönlichem Gewissen und geltendem Recht behandelt. Die zentralen Forschungsfragen lauten: Was ist für Ferdinand von Schirach das ästhetische und rechtsethische Surplus eines Dramas gegenüber anderen literarischen Gattungen? Welcher dramaturgische Effekt wird durch den Schluss des Dramas erzielt? Der erste Teil dient der allgemeinen Einführung in das interdisziplinäre Forschungsfeld ‚Recht und Literatur‘ sowie der Definition des damit eng verbundenen Berufs des ‚Dichterjuristen‘. Der zweite Teil ist das Kernstück dieser Arbeit und widmet sich der umfassenden Analyse und Interpretation des Stücks. Hier werden die zentralen Forschungsfragen aufgegriffen, näher erläutert und detailliert beantwortet. An diese literaturwissenschaftliche Annäherung knüpft der letzte Schwerpunkt im dritten Teil an, der die moralphilosophischen Inhalte des Dramas untersucht, die schließlich die Basis für die kontroverse Diskussion in Terror um Recht und Gerechtigkeitsempfinden bilden. Die philosophischen Inhalte referieren auf Immanuel Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und John Stuart Mills Der Utilitarismus. Ferner werden Paratexte, etwa Interviewaussagen des Autors, in die Arbeit miteinfließen, um einen besseren Einblick in die Gestaltung der untersuchten Projekte zu erhalten.


1 Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung..................................................................................................................................................3 2 Recht und Literatur – interdisziplinäre Begegnungen............................................................5 2.1 Der ‚Dichterjurist‘: Versuch einer Begriffsbestimmung..................................................7 2.2 Kriminal- und Verbrechensliteratur.......................................................................................8 3 Ferdinand von Schirach – Leben und Werk..............................................................................11 3.1 Biografie .........................................................................................................................................11 3.2 Werkübersicht und Durchbruch als Schriftsteller .........................................................14 3.3 Rezeption und Resonanz..........................................................................................................17 4 Analyse und Interpretation von Terror......................................................................................25 4.1 Entstehungsgeschichte und Hintergrund..........................................................................25 4.2 Inhalt und Thema........................................................................................................................31 4.3 Aufbau und Gliederung.............................................................................................................33 4.3.1 Der Schluss: Held oder Mörder?...................................................................................35 4.3.2 Freispruch des Angeklagten...........................................................................................36 4.3.3 Verurteilung des Angeklagten.......................................................................................37 4.4 Figuren und Personenkonstellation ....................................................................................39 4.4.1 Angeklagter Major Lars Koch ........................................................................................40 4.4.2 Vorsitzender.........................................................................................................................41 4.4.3 Staatsanwältin Nelson......................................................................................................41 4.4.4 Verteidiger Biegler.............................................................................................................42 4.4.5 Oberstleutnant Christian Lauterbach.........................................................................42 4.4.6 Nebenklägerin Franziska Meiser..................................................................................43 4.4.7 Personenkonstellation .....................................................................................................44 4.5 Sprache und Stil...........................................................................................................................45 4.6 Raum und räumliche Inszenierung......................................................................................49 4.7 Die Dramatik: Gattung und Funktion..................................................................................52


2 4.7.1 Bestimmung des Subgenres ...........................................................................................54 4.7.2 Das Drama als ästhetisches und rechtsethisches Surplus..................................56 4.8 Filmische Adaption.....................................................................................................................58 4.9 Rezeption und Resonanz..........................................................................................................60 4.10 Die geplante Dramentrilogie – Teil 2: Gott ...................................................................63 4.10.1 Inhalt...................................................................................................................................65 4.10.2 Rezeption und Resonanz.............................................................................................66 4.10.3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Terror und Gott............................67 5 Moralphilosophische Momente in Terror..................................................................................70 5.1 Die Kardinalsysteme der Ethik – eine moralische Sackgasse?..................................71 5.1.1 Der deontologische Ansatz.............................................................................................71 5.1.2 Der teleologische Ansatz .................................................................................................72 5.2 Das philosophische Gedankenexperiment........................................................................73 5.2.1 Das Trolley-Problem.........................................................................................................74 5.2.2 Der Axtmörder ....................................................................................................................77 5.2.3 Der Transplantationsfall..................................................................................................78 5.3 Die rechtsethische Diskussion in Terror............................................................................78 6 Fazit..........................................................................................................................................................83 7 Literarturverzeichnis ........................................................................................................................86 7.1 Primärliteratur.............................................................................................................................86 7.1.1 Gebundene Ausgabe..........................................................................................................86 7.1.2 Zitierte Ausgaben ...............................................................................................................86 7.2 Sekundärliteratur .......................................................................................................................86 7.3 Weblinks.........................................................................................................................................89 8 Abbildungsverzeichnis......................................................................................................................96 9 Tabellenverzeichnis...........................................................................................................................98


3 1 Einleitung „Wer seinem Urteil immer traut, muß [sic!] nicht immer recht haben, wer aber seinem Urteil nicht traut, hat wohl immer recht.“1 Franz Kafka Die vorliegende Diplomarbeit widmet sich dem Thema ‚Recht und Literatur‘ und beleuchtet die interdisziplinäre Verschmelzung beider Felder zu einem Fachgebiet. Die wohl prominentesten Beispiele für die Überschneidung von juristischen und literarischen Texten in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur stellen die Werke des ‚Dichterjuristen‘ Ferdinand von Schirach dar. Der deutsche Strafverteidiger, Schriftsteller und Dramatiker, dessen Werke binnen kürzester Zeit auf die Bestsellerlisten schnellten, überzeugte mit seinem literarischen Debüt sowohl das nationale als auch internationale Publikum. Seit der Veröffentlichung seines ersten Kurzgeschichtenbandes Verbrechen im Jahr 2009 konnte sich Schirach vor allem im deutschsprachigen Raum als erfolgreicher Autor etablieren. Von der Leserschaft gefeiert, äußern sich Kritikerstimmen ambivalent über den rasanten Erfolg des Schriftstellers, der vor seiner Karriere als Krimiautor hauptberuflich als Jurist tätig war. Die größte Ablehnung findet Schirach jedoch in juristischen Fachkreisen, die ihm mit Abstand die härteste Kritik aussprechen. Demgegenüber stehen wiederum Vergleiche durch Literaturkritiker mit literarischen Größen wie Kleist oder Kafka und letztendlich die Verkaufszahlen seiner Werke, die jegliche Kritik in den Schatten stellen und als unberechtigt erscheinen lassen. Der Fokus dieser Diplomarbeit liegt auf Ferdinand von Schirachs erstem Theaterstück Terror2, das 2015 veröffentlicht sowie in Berlin und Frankfurt a. M. uraufgeführt wurde. Schirach, der seit dem Beginn seiner schriftstellerischen Karriere stets Kurzgeschichten, Romane und Essays verfasste, inszenierte mit Terror erstmals ein Drama. Die zentralen Forschungsfragen für die Analyse lauten daher: Was ist für Ferdinand von Schirach das ästhetische und rechtsethische Surplus eines Dramas gegenüber anderen literarischen Gattungen? Welcher dramaturgische Effekt wird durch den Schluss des Dramas erzielt? 1 Janko Ferk: Notiz zum Buch. In: Luft aus der Handtasche. Rezensionen zur deutschsprachigen Literatur 2005-2012. von A bis Zeh. Hrsg. von Janko Ferk. Wien: Lit 2014. (= Im Spiegel der Literatur. 9.) S. 0. 2 Ferdinand von Schirach: Terror. Ein Theaterstück und eine Rede. 2. Aufl. München: btb 2016. Im Folgenden zitiert als: Schirach, Terror. Textintern mit den Siglen TE I, TE II oder TE III (= Urteil) für die Aktanzahl + Seitenzahl zitiert.


4 Ferdinand von Schirach wagt mit Terror ein spannendes literarisches Experiment und macht die Leser und Zuschauer3 zu aktiv Mitbestimmenden an der Handlungsentwicklung. Dem Publikum wird als Schöffengericht das Recht zuteil, über den Ausgang des Theaterstücks und somit über das Schicksal des Protagonisten Lars Koch zu entscheiden. Schirach konfrontiert seine Leser und Zuschauer mit einem ethischen Dilemma, das sie in eine moralische Zwickmühle bringt, um eine rechtsethische Grundfragendiskussion über die Moralvorstellungen unserer Gesellschaft zu entfachen. Ein Urteil „ist (im Zivil- oder Strafprozess) eine richterliche Entscheidung, die einen Rechtsstreit in einer Instanz ganz oder teilweise abschließt“ und abseits der Rechtssprache eine „prüfende, kritische Beurteilung [durch einen Sachverständigen], abwägende Stellungnahme“.4 Der wachsende Terrorismus und der angemessene Umgang damit sowie das Verhältnis von persönlichem Gewissen und geltendem Recht sind die zentralen Themen, die Ferdinand von Schirach in seinem Drama behandelt. Am Schluss des Theaterstücks steht das Urteil des Publikums, das zwischen zwei Extremen liegt. Während ein Freispruch den Angeklagten zum Helden erhebt, verdammt ihn eine Verurteilung zum Mörder. Schirach legt das Schicksal eines Menschen in die Hände der Leser und Zuschauer, wodurch er dem Urteil eines jeden einzelnen eine gewichtige Stimme gibt. Der erste Teil der Arbeit dient der allgemeinen Einführung in das interdisziplinäre Forschungsfeld ‚Recht und Literatur‘ sowie der Definition des damit eng verbundenen Berufs des Dichterjuristen. Der zweite Teil ist das Kernstück der Diplomarbeit und widmet sich der umfassenden Analyse und Interpretation des Theaterstücks. Hier werden die zentralen Forschungsfragen aufgegriffen, näher erläutert und detailliert beantwortet. An diese literaturwissenschaftliche Annäherung knüpft der letzte Schwerpunkt im dritten Teil der Arbeit an, der die moralphilosophischen Inhalte des Dramas untersucht, die schließlich die Basis für die kontroverse Diskussion in Terror um Recht und Gerechtigkeitsempfinden bilden. Die philosophischen Inhalte referieren auf Immanuel Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und John Stuart Mills Der Utilitarismus. Ferner werden Paratexte, etwa Interviewaussagen des Autors, in die Arbeit miteinfließen, um einen besseren Einblick in die Gestaltung der untersuchten Projekte zu erhalten. 3 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Diplomarbeit die Sprachform des generischen Maskulinums angewendet. Hiermit wird darauf hingewiesen, dass die ausschließliche Verwendung der maskulinen Form geschlechtsunabhängig verstanden werden soll. 4 Duden Online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Urteil [07.02.2021]. Stichwort: Urteil.


5 2 Recht und Literatur – interdisziplinäre Begegnungen Die Felder Recht und Literatur miteinander zu verbinden, hat eine lange Tradition. Da Recht eines der grundlegenden Ordnungssysteme des menschlichen Lebens ist, wird es in der Literatur zum Thema gemacht, seit es Literatur gibt.5 ‚Recht und Literatur‘ ist nicht nur ein eigenständiges, sondern auch ein interdisziplinäres Forschungsfeld. Es verbindet, wie die Bezeichnung bereits vorwegnimmt, die beiden Disziplinen Recht und Literatur und vereint sie in einem Fachgebiet. Auffallend ist, dass in der deutschsprachigen Literatur- und Kulturwissenschaft eine systematische Abhandlung über das Verhältnis von Recht und Literatur gänzlich fehlt. Eine derartige Debatte beschränkt sich lediglich auf den angloamerikanischen Raum, wo die Wurzeln dieser Forschung zu finden sind. Hier etablierten sich auch die beiden Begriffe ‚law in literature‘ und ‚law as literature‘. 6 Während ‚law in literature‘ rechtliche Motive in Dichtungen und in der Literatur verarbeitete Rechtsfälle untersucht, analysiert ‚law as literature‘ juristische Texte aus literaturwissenschaftlicher Perspektive.7 Bereits in der Antike beschäftigten sich Dichter mit den Besonderheiten des Rechts, sodass juristische Themen in der Literatur verarbeitet wurden. Großes Interesse wurde vor allem den Verstößen gegen gesellschaftliche und rechtliche Vorgaben entgegengebracht und der damit verbundenen Reaktion der Gesellschaft und des Staats. Belege dafür finden sich laut Heinz Müller-Dietz etwa in den Dramen des Aischylos, den Tragödien des Euripides und den Komödien des Aristophanes. Abermals wurden diese Texte überarbeitet oder neugestaltet. Sie bilden den Grundstein für eine Tradition, die bis in die Gegenwart reicht. Der Verstoß gegen geltende Normen und die gesellschaftliche Reaktion darauf wurden sowohl in dramatischen wie auch epischen und lyrischen Werken vielfach thematisiert. Einige deutschsprachige Autoren, die dieses Motiv literarisch verarbeiteten, sind etwa Johann W. von Goethe, Bertolt Brecht oder Friedrich Dürrenmatt. 8 5 Bernhard Greiner: Das Forschungsfeld ‚Recht und Literatur‘. In: Recht und Literatur. Interdisziplinäre Bezüge. 1. Aufl. Hrsg. von Bernhard Greiner, Barbara Thums und Wolfgang Graf Vitzthum. Heidelberg: Winter 2010. (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. 270.) S. 7. Im Folgenden zitiert als: Greiner, Forschungsfeld. 6 Vgl. Roland Borgards [u. a.] (Hrsg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler 2013, S. 142. 7 Vgl. Yvonne Nilges (Hrsg.): Einleitung. In: Dichterjuristen. Studien zur Poesie des Rechts vom 16. bis 21. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 9. Im Folgenden zitiert als: Nilges, Einleitung. 8 Vgl. Heinz Müller-Dietz: Grenzüberschreitungen. Beiträge zur Beziehung zwischen Literatur und Recht. 1. Aufl. Baden-Baden: Nomos 1990, S. 15. Im Folgenden zitiert als: Müller-Dietz, Grenzüberschreitungen.


6 Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Gegenstand ‚Recht und Literatur‘ hatte ab den 1970er-Jahren in den USA begonnen, wo man sich verstärkt für das ‚law and literature movement‘ zu interessieren anfing. Das aufstrebende Fachgebiet ‚Recht und Literatur‘ entwickelte sich insbesondere in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum zu einem der vielversprechendsten Forschungsfelder. In den USA ist die Teilnahme an Lawand-literature-Seminaren an bestimmten Law-Colleges mittlerweile ein verpflichtender Bestandteil der juristischen Ausbildung. Im Vordergrund steht dabei die wechselseitige Erschließung beider Disziplinen.9 Den Feldern Recht und Literatur ist gemein, dass sie sich durch Sprache auszeichnen, da sie mit Texten arbeiten und es sich zur Aufgabe machen deren Sinn zu erfassen. Sie unterscheiden sich aber in einem wesentlichen Punkt voneinander: Während das Recht stark normativ orientiert ist, versucht die Literatur Grenzen zu überwinden und den regelkonformen Bereich zu übertreten.10 Für viele juristische Fachgebiete bildet die Literatur allerdings die Basis für Einsichten und Erkenntnisse, die sich kaum oder gar nicht durch andere Quellen ersetzen ließe.11 Überdies erfüllt die Literatur für die Rechtswissenschaften noch andere wichtige Funktionen: die Erkenntnis-, die Legitimations- und die Kritikfunktion. Als Erkenntnisfunktion liefert sie Bausteine für das Verständnis von Recht und Rechtserleben. In der Funktion der Legitimation gibt die Literatur Hinweise auf die gesellschaftliche Akzeptanz des Rechtssystems und dessen Strukturen. Im Rahmen der Kritikfunktion werden Verfehlungen des Rechtsapparats in der Literatur thematisiert, die somit als Anstoß für Reformforderungen dienen. 12 Für diese Arbeit ist vordergründig der Teilbereich ‚law in literature' von Bedeutung, da er sich mit rechtlichen Motiven in der Literatur beschäftigt und in der Literatur verarbeitete Rechtsfälle aufgreift. Dabei wird u. a. auch das Verhältnis von realen rechtlichen Ereignissen und deren literarischer Verarbeitung untersucht. Die Recherche und Analyse von rechtlichen Bezügen in der Literatur scheinen grundsätzlich grenzenlos. Der aktuelle Forschungsstand beschränkt sich jedoch auf einen bestimmten Autorenkreis, der im deutschsprachigen Raum Schriftsteller wie Johann W. von Goethe, Heinrich von Kleist, Franz Kafka, Friedrich Dürrenmatt sowie in neuerer Zeit Bernhard Schlink, Janko Ferk, Juli Zeh und Ferdinand von Schirach umfasst. 9 Vgl. Greiner, Forschungsfeld, S. 13. 10 Vgl. Nilges, Einleitung, S. 9. 11 Vgl. Müller-Dietz, Grenzüberschreitungen, S. 143. 12 Vgl. ebda, S. 144.


7 2.1 Der ‚Dichterjurist‘: Versuch einer Begriffsbestimmung Die wohl bekannteste Abhandlung über Dichterjuristen stammt von Eugen Wohlhaupter, der diesem Thema drei umfangreiche Bände widmete. Sein Gesamtwerk beinhaltet Kapitel zu namhaften Autoren wie Johann W. von Goethe, E. T. A. Hoffmann, Heinrich von Kleist, Franz Grillparzer, Heinrich Heine, Friedrich Hebbel, Theodor Storm oder Gottfried Keller.13 An Eugen Wohlhaupters Bände knüpft die Monografie von Lovis Maxim Wambach Die Dichterjuristen des Expressionismus an, die 2002 im Nomos Verlag erschienen ist.14 Mit den Dichterjuristen der Gegenwart setzt sich Yvonne Nilges eingehend auseinander und stimmt der allgemeinen Auffassung zu, dass sich der Gegenstand ‚Recht und Literatur‘ in den vergangenen Jahren zu einem der innovativsten Forschungsfelder der Literaturwissenschaft entwickelt hat. Nilges veröffentlichte daraufhin ein Werk über die Dichterjuristen des 16. bis 21. Jahrhunderts und steuerte somit einen wichtigen Beitrag zum aktuellen Forschungsstand dieses Themas bei. Der Sammelband schließt somit an die Abhandlungen von Wohlhaupter und Wambach an und erweitert die Literaturgeschichte um etwa 70 Jahre von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis ins Jahr 2014. Dieser ist mit Beiträgen über Dichterjuristen aus weit zurückliegenden Epochen wie Johann W. von Goethe oder E.T.A. Hoffmann sowie Aufsätzen über Schriftsteller wie Johann Nestroy und Franz Kafka oder Autoren der Gegenwart wie Bernhard Schlink und Ferdinand von Schirach breit aufgefächert. 15 Der Begriff ‚Dichterjurist‘ ist ein Kompositum der Substantive ‚Dichter‘ und ‚Jurist‘, wobei der Jurist dem Dichter nachgestellt ist. Ein ‚Dichter‘ ist laut Duden der „Verfasser eines sprachlichen Kunstwerks“. 16 Ein ‚Jurist‘ ist hingegen „jemand, der Rechtswissenschaften studiert hat bzw. auf diesem Gebiet arbeitet“. 17 Die Definition „sprachliches Kunstwerk“ ist jedoch als allgemeiner Begriff zu verstehen, der sämtliche Gattungen umfasst bzw. keinen Text per se ausschließt. Dieses Definitionsverständnis beschränkt das Spektrum an Text- und Gattungsformen somit nicht auf einen bestimmten Textkorpus. Die Bezeichnung ‚Jurist‘ reglementiert das Personenprofil des Dichterjuristen hingegen 13 Eugen Wohlhaupter: Dichterjuristen. Bde. 1-3. Hrsg. von H.G. Seifert. Tübingen: Mohr Siebeck 1953-1957. 14 Lovis Maxim Wambach: Die Dichter des Expressionismus. 1. Aufl. Baden-Baden: Nomos 2002. 15 Vgl. Nilges, Einleitung, S. 10-11. 16 Duden Online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Dichter [10.10.2020]. Stichwort: Dichter. 17 Duden Online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Jurist [10.10.2020]. Stichwort: Jurist.


8 auf eine bestimmte Personengruppe der Gesellschaft und bezieht sich auf einen klar definierten Berufsstand. Dennoch scheint es beim Versuch der Begriffsbestimmung etwas Spielraum zu geben: Die Definition des ‚Dichterjuristen‘ wird vorsätzlich so weit gefasst, dass darunter nicht nur Autoren fallen, die tatsächlich als Juristen tätig waren oder sind, sondern auch solche, die überhaupt eine universitäre juristische Ausbildung (begonnen) hatten, so dass sich ihre rechtliche (Vor-)Kenntnis in erhellende Beziehung zu ihren Werken setzen lässt: vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein – und auch über die deutsche Literatur hinaus.18 Demnach lässt sich der Kriterienkatalog für die Definition des ‚Dichterjuristen‘ unterschiedlich auslegen – je nachdem, ob man den Begriff weiter oder enger fasst. Im Laufe der deutschsprachigen Literaturgeschichte konnte sich das striktere Definitionsverständnis allerdings nicht mit absoluter Uneingeschränktheit durchsetzen. So wurden etwa Heinrich von Kleist oder Franz Kafka von Literaturwissenschaftlern wie Eugen Wohlhaupter und Lovis Maxim Wambach in den Kreis der Dichterjuristen aufgenommen, obwohl sie keine (abgeschlossene) juristische Universitätsausbildung vorweisen können. Gemein ist dem Dichterjuristen-Kreis zweifelsfrei der thematische Hintergrund ihrer Werke, der sich rund um Themen wie Verbrechen und Gerichtsverfahren, Recht und Gerechtigkeit, das Rechtssystem oder den Widerstand gegen den Rechtsapparat bewegt. Musterwerke für das literarische Schaffen von Dichterjuristen sind etwa Michael Kohlhaas (1808/1809) und Der zerbrochene Krug (1811) von Heinrich von Kleist, Der Process (1914/1915) und In der Strafkolonie (1915) von Franz Kafka, Der Vorleser (1955) von Bernhard Schlink, Spieltrieb (2004) von Juli Zeh, Verbrechen (2009) von Ferdinand von Schirach sowie Eine forensische Trilogie. Drei Novellen (2010) von Janko Ferk. Die Auflistung ist eine exemplarische Auswahl und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da sie lediglich einen Einblick in das Themengebiet geben soll. 2.2 Kriminal- und Verbrechensliteratur Das Morphem ›Kriminal-‹ und die Kurzform ›Krimi‹ lassen sich etymologisch zurückführen auf lat. crimen (Verbrechen, Anklage). In einer ersten, vorläufigen Definition ließe sich Kriminalliteratur folglich bestimmen als Gruppe von Texten, die Kriminalität als dominantes literarisches Sujet entfalten und verhandeln.19 18 Nilges, Einleitung, S. 10. 19 Susanne Düwell (Hrsg.) [u. a.]: Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichten – Medien. Stuttgart: Metzler 2018, S. 3. Im Folgenden zitiert als: Düwell, Kriminalliteratur.


9 Die Kriminalliteratur, landläufig unter dem Begriff ‚Krimi‘ bekannt, umfasst also jene Texte, deren primäres Merkmal in der Thematisierung von Verbrechen liegt. Als Verbrechen wird eine „schwere Straftat“ oder eine „verabscheuenswürdige Untat bzw. eine verwerfliche, verantwortungslose Handlung“ bezeichnet.20 Verbrechensliteratur und juristische Fallgeschichten erleben im europäischen Raum seit dem späten 17. Jahrhundert einen Aufschwung und erfreuen sich großer Beliebtheit bei den Lesern. Der Begriff Verbrechen wird in der deutschen Literatur bereits seit Friedrich Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) 21 bis in die Gegenwart, etwa von Ferdinand von Schirach für seinen Erzählband Verbrechen. Stories (2009), auch in Werktiteln verwendet. Etymologisch betrachtet bedeutet das Substantiv Verbrechen dem ursprünglichen Sinn nach „Zerbrechen“. Unter einem Verbrechen versteht man daher „einen Bruch mit einer rechtlichen Ordnung, während ein Vergehen, eine Übertretung oder eine Ordnungswidrigkeit minder schwere Verstöße innerhalb dieser Ordnung darstellen“. 22 Für das 19. Jahrhundert gilt Der neue Pitaval (1842–1890), der 60 Bände umfasst, als die Fortsetzung der von François Gayot de Pitaval begründeten Form der juristischen Fallsammlung. Julius Eduard Hitzig und Willibald Alexis schufen damit eine enzyklopädische Sammlung von Verbrechen, die für eine Vielzahl von Schriftstellern eine regelrechte Inspirationsquelle für kriminalliterarische Stoffe bot. Im Jahr 1924 veröffentlichte der Berliner Verlag Die Schmiede dieser Tradition folgend den Sammelband Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart. Dieser widmet sich zeitaktuellen Verbrechen, die in Buchlänge dargestellt werden, beispielsweise Alfred Döblins Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord (1924).23 Döblin zufolge soll der Autor im Gegensatz zum einfühlsamen, psychologischen Stil nur noch die distanzierte, ›steinerne‹ Perspektive der Psychiatrie zur Geltung bringen, die wie eine unbeteiligte Kamera bloße Abläufe protokolliert (›Kinostil‹). Ähnlich kühl verfährt neuerdings der Dichterjurist Ferdinand von Schirach in seinen ›Stories‹, gesammelt unter den Titeln Verbrechen (2009) und Schuld (2010).24 Die literarisch neue Gattungstradition der psychologischen Verbrechenserzählung, die sich zur Schaffenszeit Friedrich Schillers im Übergang vom Tat- zum Täterstrafrecht befand, erlebt durch Ferdinand von Schirachs juristische Fallgeschichten eine beispielhafte 20 Duden Online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Verbrechen [10.01.2021]. Stichwort: Verbrechen. 21 Zunächst unter dem Titel Verbrecher aus Infamie veröffentlicht. 22 Vgl. Düwell, Kriminalliteratur, S. 206. 23 Vgl. ebda, S. 210. 24 Vgl. ebda, S. 210.


10 Fortsetzung in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart. 25 Als ‚Fallgeschichte‘ werden jene Erzähltexte bezeichnet, die den Ablauf eines Gerichtsverfahrens und die damit verbundene Rekonstruktion des Tathergangs darstellen.26 Es handelt sich dabei, auch in ihrer vormodernen Erscheinungsform, um eine mitunter überraschend avancierte Textsorte, die Raum für die Hinterfragung von Rechtsnormen, die Ergründung gesellschaftlicher Ursachen kriminellen Verhaltens sowie Einblicke in die Täterpsyche gibt – lange bevor entsprechende rechtsphilosophische, soziologische oder psychologische Reflexionen wissenschaftlich etabliert worden wären.27 Fall- bzw. Kriminalgeschichten, vorausgesetzt sie schildern die Entstehung, den Ablauf oder die Aufklärung eines Verbrechens und gegebenenfalls auch die Verurteilung eines Verbrechers, können durch die Gattungsbezeichnung ‚Fall‘ beschrieben werden. Für die Herleitung des Begriffs ‚Fall‘ und dem damit zugrundeliegenden Verständnis gibt es drei unterschiedliche Ansätze: 1. Die deutsche Übersetzung von lat. ‚casus‘ (cadere: fallen) bezieht sich in einem allgemeinen ontologischen Sinn auf jeden einzelnen ‚Vorfall‘ in seiner Relation zu generellen Gesetzmäßigkeiten. 28 2. Die deutsche Übersetzung von lat. ‚lapsus‘ (lapsus: Das Gleiten, Das Fallen) bezeichnet den ‚Abfall‘ des Menschen von moralischen Normen, wie er bereits im biblischen Sündenfall vorausgewiesen wird. 29 3. Die Schnittmenge beider Definitionen bildet die deutsche Übersetzung von lat. ‚causa‘. Darunter versteht man ein Geschehnis oder ein (Gerichts-)Verfahren, das von juristischer Relevanz ist.30 Die Fallgeschichte eignet sich als Textgattung somit idealerweise für die Schilderung von Verbrechen wie auch Kriminalfällen und den daraus resultierenden Gerichtsverfahren. Das Potenzial von Fallgeschichten ist daher nicht auf die „bloße Dokumentation der juristischen Praxis“ beschränkt, sondern lässt sich aufgrund ihres hohen Unterhaltungsfaktors und seriellen Charakters vor allem am Literaturmarkt ausschöpfen.31 25 Vgl. ebda, S. 210. 26 Vgl. ebda, S. 43. 27 Ebda, S. 43. 28 Vgl. ebda, S. 43. 29 Vgl. ebda, S. 43. 30 Vgl. ebda, S. 43. 31 Vgl. ebda, S. 43.


11 3 Ferdinand von Schirach – Leben und Werk Also ich glaube, wenn man ehrlich ist, ist es so, dass man als Schriftsteller Erfolg haben will. Man will gelesen werden, sonst würde man nicht schreiben. Alle Leute, die immer erzählen, sie schreiben nur für sich und nur für die Schublade und es ist ihnen völlig egal, was das Publikum denkt, das glaub‘ ich nicht. Wenn das erste Buch überhaupt kein Erfolg geworden wäre […], hätte ich nicht weitergeschrieben. Das ist ganz einfach: Wenn es niemanden interessiert, was man erzählt, dann schweigt man besser!32 3.1 Biografie Ferdinand von Schirach wurde am 12. Mai 1964 als Sohn des Kaufmanns Robert von Schirach und dessen Frau Elke von Schirach (geb. Fähndrich) in München geboren, wo er seine ersten vier Lebensjahre verbrachte, bis die Familie in die Nähe von Stuttgart zog. Schirach wuchs in gut situierten Verhältnissen in einem großbürgerlichen Elternhaus auf. Nach der Trennung der Eltern hatte Schirach jedoch kaum noch Kontakt zu seinem Vater. Während seiner Schulzeit von 1974 bis 1984 besuchte Schirach das JesuitenKolleg St. Blasien im Schwarzwald. Nach seinem Abitur 1984 leistete Ferdinand von Schirach bis 1986 seinen Bundeswehrdienst und entschied sich anschließend für das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Bonn. Damit folgte er der Tradition der Familie Schirach – Die Schirachs waren u. a. Historiker, Wissenschaftler, Verleger und Richter. 33 Für größeres Aufsehen sorgte mit wachsendem Erfolg Ferdinand von Schirachs der historisch belastete Familienname Schirach, der für viele Menschen seit dem Zweiten Weltkrieg negativ behaftet ist. Schirachs Großmutter Henriette von Schirach (geb. Hoffmann) 32 Goethe-Institut Barcelona: 3 Fragen an Ferdinand von Schirach. Erstellt am 22.09.2019. URL: https://www.youtube.com/watch?v=jPnMCJFN2UU [04.09.2020]. 33 Vgl. Munzinger Personen. Ferdinand von Schirach. Erstellt am 21.05.2019. URL: https://www-1munzinger-1de-1s43e7kba0989.han.landesbibliothek.at/search/document?id=00000028301&type=text/html&template=/publikationen/personen/document.jsp [26.04.2020]. Im Folgenden zitiert als: Munzinger, Ferdinand. Vgl. Jürgen Nelles: Ferdinand von Schirach. URL: http://www.nachschlage.net/search/klg/Ferdinand+von+Schirach/764.html [25.04.2020]. Im Folgenden zitiert als: Nelles, Ferdinand. Abbildung 1: Ferdinand von Schirach


12 wurde als Tochter von Heinrich Hoffmann geboren, der als Adolf Hitlers Leibfotograf Bekanntheit erlangte und zu dessen engerem Freundeskreis zählte. 1931 machte Henriette Hoffmann erstmals Bekanntschaft mit Baldur von Schirach. Die beiden heirateten 1932 in München, Trauzeugen waren Adolf Hitler und der langjährige Führer der Sturmabteilung Ernst Röhm.34 Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor, darunter der Sohn Robert, Ferdinand von Schirachs Vater.35 Ferdinand von Schirach ist der Enkelsohn des NS-Jugendreichsführers Baldur von Schirach, der im Dritten Reich für die Leitung der Hitlerjugend zuständig war und später die Funktion des Gauleiters und Reichsstatthalters in Wien innehatte. 36 Baldur von Schirach war während des Zweiten Weltkriegs in seinem Amt für die Deportation von 185.000 Juden verantwortlich, wofür er in den Nürnberger Prozessen zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde.37 Aufgrund der Mitgliedschaft seines Großvaters in der NSDAP und des verächtlichen NS-Kunstraubs zu dieser Zeit finanzierte Ferdinand von Schirach eine Studie, die u. a. untersuchte, inwieweit seine Großeltern am Kunstraub von jüdischem Eigentum beteiligt waren. Schirach bezeichnet das Ergebnis der Untersuchung als „niederschmetternd“.38 Über seinen Großvater und dessen nationalsozialistische Vergangenheit spricht Schirach in Interviews nur ungern und höchst selten. In dem von Ferdinand von Schirach veröffentlichten Essay Du bist, wer du bist. Warum ich keine Antworten auf die Fragen nach meinem Großvater geben kann äußert er sich zu seinem familiären Hintergrund und greift die Frage nach seinem Großvater Baldur von Schirach auf. Dazu einige sehr persönliche Ausschnitte aus Schirachs Essay: Mit zwölf Jahren begriff ich das erste Mal, wer er war. In unserem Geschichtsbuch war ein Foto von ihm: ‚Reichsjugendführer Baldur von Schirach‘. Ich sehe es noch vor mir: Mein Name stand tatsächlich in unserem Schulbuch. Später, während des Studiums, habe ich alles über die Nürnberger Prozesse gelesen. Ich habe versucht, die Mechanismen dieser Zeit zu verstehen. Aber die Erklärungsversuche der Historiker taugen nichts, wenn es der eigene Großvater ist. Er ging in seine Loge in der Wiener Oper, ganz der sogenannte Kulturmensch, und ließ gleichzeitig den Hauptbahnhof zum Abtransport der Juden sperren. 34 Vgl. Der Spiegel: Raubkunst. Schirach kündigt Aufarbeitung an. Erstellt am 09.07.2016. URL: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-145742906.html [01.09.2020]. 35 Vgl. Nelles, Ferdinand. 36 Vgl. Munzinger, Ferdinand. Vgl. Nelles, Ferdinand. 37 Vgl. ORF: Von Schirachs Abgrenzung zum Großvater. URL: https://orf.at/v2/stories/2197347/2197838/ [05.11.2020]. 38 Vgl. FAZ: Von Schirach stellt Studie über NS-Raubkunst in seiner Familie vor. Akt. am 12.04.2019. URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/von-schirachstellt-studie-ueber-ns-raubkunst-in-seiner-familie-vor-16138295.html [25.12.2020].


13 Unzählige Male wurde ich auf ihn angesprochen. In jeder nur denkbaren Form: offen, unverschämt, wütend, bewundernd, mitleidig, aufgeregt. […] Jetzt werde ich in den Interviews zu meinem neuen Buch wieder nach ihm gefragt. Man will wissen, ob mein Leben ohne diesen Namen anders verlaufen wäre, ob ich einen anderen Beruf gewählt hätte, ob ich mich seinetwegen mit Schuld beschäftige. Solche Fragen müssen wohl sein. Die Journalisten bleiben höflich, aber sie finden es auch ein wenig seltsam, wie ich mich verhalte: Ich sage Termine ab, wenn ich glaube, es gehe zu sehr um ihn. Sie denken, ich wiche aus – und sie haben damit recht. Ich kann keine Antworten geben: Ich kannte ihn nicht, ich konnte ihn nichts fragen, und ich verstehe ihn nicht. Deshalb dieser Text. Es ist das erste Mal, dass ich über ihn schreibe, und es wird das letzte Mal sein. […] ‚Du bist, wer du bist.‘ Das ist meine einzige Antwort auf die Fragen nach meinem Großvater. Ich habe lange für sie gebraucht.39 Ferdinand von Schirach findet deutliche Worte, um das (Nicht-)Verhältnis zu seinem Großvater zu beschreiben und weist entschieden darauf hin, dass er selbst keine Antworten auf die Kriegsverbrechen Baldur von Schirachs geben kann und sich in Zukunft nicht mehr dazu äußern möchte. Er grenzt seine eigene Biografie dezidiert von der seines Großvaters ab. Baldur von Schirachs Verbrechen sind nicht die von Ferdinand von Schirach, weshalb man hier auch eine klare Trennlinie ziehen sollte – Schuld ist nicht vererbbar. Ferdinand von Schirach ist überdies mit der Schriftstellerin und Philosophin Ariadne von Schirach verwandt. Sein Cousin Benedict Wells, der gleichfalls als Schriftsteller tätig ist, versuchte sich durch das Ablegen seines Familiennamens von der Vergangenheit seines Großvaters zu distanzieren und unabhängig von der Familie Schirach aufzutreten. Wells ist vor allem für seinen Roman Das Ende der Einsamkeit (2016) bekannt.40 Das Wissen um Ferdinand von Schirachs familiäres Umfeld ist insofern von Interesse, als Schirach etwa in seinem Roman Der Fall Collini (2011) ein nationalsozialistisches Kriegsverbrechen thematisiert und die Missstände in der Justiz der Nachkriegszeit aufzeigt. Schirach scheint sich also weniger mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen als mit der Nachkriegsjustiz und den damit einhergehenden Verfehlungen der Gerichte – etwa die fatale Einführung des höchst umstrittenen Dreher-Gesetzes – in diesem Zusammenhang.41 Die thematische Aufarbeitung des Holocausts spielt daher keine zentrale Rolle in Schirachs Roman Der Fall Collini und wurde bis dato auch in keinem seiner anderen Werke aufgegriffen oder näher behandelt. 39 Ferdinand von Schirach: Die Würde ist antastbar. Essays. 5. Aufl. München: btb 2017, S. 41- 46. Im Folgenden zitiert als: Schirach, Würde. 40 Vgl. Munzinger, Ferdinand. 41 Siehe dazu: Ferdinand von Schirach: Der Fall Collini. 1. Aufl. btb: München 2017.


14 Wie eingangs erwähnt entschied sich Ferdinand von Schirach für ein Studium der Rechtswissenschaften, um sich im Rahmen seiner Ausbildung auf das Strafrecht zu spezialisieren. Schirach ließ sich nach seinem Referendariat am Oberlandesgericht Köln bzw. am Kammergericht Berlin 1994 und dem Assessorexamen ebenda als Strafverteidiger nieder. Dort erlangte er nicht nur wegen seines Namens Bekanntheit, sondern sorgte durch seinen Ruf als Prominentenanwalt für Aufsehen. Schirach vertrat u. a. den DDR-Politiker Günter Schabowski, den BND-Spion Norbert Juretzko sowie die Familie des Schauspielers Klaus Kinski vor Gericht. Nach seinen ersten Erfolgen als Autor verließ Ferdinand von Schirach seine Kanzlei in Berlin, um sich vollständig dem Dasein als Schriftsteller zuzuwenden. 42 Seinen Beruf bezeichnete Schirach in einem Interview mit der Zeit als „eine Art Rettung“. Er habe sich bereits als Kind immer fremd gefühlt, egal ob Zuhause oder außerhalb. Erst die Geschichten seiner Mandanten haben ihn zu der Einsicht gebracht, dass er mit diesem Gefühl nicht allein sei und dass habe ihn irgendwie beruhigt. 43 3.2 Werkübersicht und Durchbruch als Schriftsteller In der Verfilmung SCHULD nach Ferdinand von Schirach des gleichnamigen Erzählbandes Schuld (2010) erscheint Ferdinand von Schirach in einem Cameo-Auftritt in der Rolle des Strafverteidigers Friedrich Kronberg – der als Junganwalt von Moritz Bleibtreu dargestellt wird – in der letzten Folge der dritten Staffel. Ferdinand von Schirach steht als der mittlerweile gealterte Friedrich Kronberg am Grab seines verstorbenen Freundes Richard. Dabei wendet sich Ferdinand von Schirach direkt der Kamera zu und erzählt dem Publikum, dass er exakt 20 Jahre nach dem Tod seines Jugendfreundes mit dem Schreiben begonnen hat.44 Schirach entdeckte bereits in jungen Jahren seine Begeisterung für das Lesen, die sich später zu einer Freude am Schreiben und zu einer regelrechten Schreiblust entwickeln sollte. Zum Schreiben kam Schirach über seinen erlernten Beruf als Anwalt bzw. Strafverteidiger, indem er in einem Internet-Blog tagesaktuelle juristische Fragen beantwortete.45 42 Vgl. Munzinger, Schirach. Vgl. Nelles, Schirach. 43 Vgl. Ijoma Mangold: „Mein Beruf war eine Art Rettung“. In: Die Zeit. Erstellt am 25.03.2010. URL: https://www.zeit.de/2010/13/Rettung-Ferdinand-von-Schirach/komplettansicht [03.12.2020]. 44 Siehe dazu: ZDF-Mediathek: Ferdinand von Schirach – Schuld. URL: https://www.zdf.de/serien/schuld [19.11.2020]. 45 Vgl. Munzinger, Schirach.


15 Erst im Alter von 45 Jahren veröffentlichte Schirach mit dem Erzählband Verbrechen (2009) seine ersten Kurzgeschichten und wurde einem breiten Publikum als Autor bekannt. Mit dem zweiten Erzählband Schuld (2010) und den Romanen Der Fall Collini (2011) und Tabu (2013) gelangen Ferdinand von Schirach weitere Bestseller. Innerhalb kürzester Zeit etablierte er sich zum erfolgreichen Schriftsteller im literarischen Genre Verbrechen. 46 Insbesondere Schirachs Kurzgeschichten erinnern an die im 18. Jahrhundert bekannt gewordenen Berühmten und interessanten Rechtsfälle des Pariser Rechtsanwalts François Gayot de Pitaval. Diese Art der Darstellung und literarischen Verarbeitung von Rechtsfällen erfreute sich großer Beliebtheit und resultierte in vielen Nachahmungen. Im deutschsprachigen Raum fand Friedrich Schiller Gefallen an dieser Gattung und veröffentlichte die Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786), die als Vorläufer der Kriminalgeschichte gilt. Ferdinand von Schirachs Stories folgen dieser Tradition und erzählen ebenso wie Friedrich Schillers Geschichten nicht von gewöhnlichen Verstößen gegen das Recht, sondern von außergewöhnlichen Verbrechen.47 Nicht außer Acht gelassen werden sollte der Umstand, dass Schirach auf 20 Jahre Berufserfahrung im Rechtswesen zurückblicken kann und während seiner Tätigkeit als Strafverteidiger tagtäglich mit Verbrechen konfrontiert war. Das damit verbundene Fachwissen, die jahrelange Erfahrung sowie die zahlreichen Geschichten bilden eine gute Basis, um authentisch über Verbrechen erzählen zu können. An seine ersten Erfolge knüpfte Schirach mit weiteren Werken an, so folgten 2014 sein Essayband Die Würde ist antastbar und 2015 sein erstes Theaterstück Terror. 2017 erschien in Zusammenarbeit mit Alexander Kluge der Gesprächsband Die Herzlichkeit der Vernunft, der fünf Gespräche über Personen wie Sokrates, Voltaire und Heinrich von Kleist und Themen wie Terror und Politik enthält. Mit Strafe wurde 2018 nach Verbrechen und Schuld die als Trilogie angelegte Story-Reihe über sonderbare, teils verstörende und auch tragische Verbrechen vollendet. Schirachs vermutlich persönlichstes Buch trägt den Titel Kaffee und Zigaretten und ist 2019 im Luchterhand Verlag erschienen. 2020 folgte mit Trotzdem, das er erneut in Zusammenarbeit mit Alexander Kluge veröffentlichte, eine brandaktuelle Reflexion zur Corona-Pandemie.Schirach und Kluge stellen darin die Frage, welche Bedeutung das Corona-Virus für unsere Gesellschaftsordnung und unsere Freiheit als Bürger hat. Im September 2020 feierte Schirachs neuestes Werk, das den markanten 46 Vgl. ebda. 47 Vgl. Nelles, Schirach.


16 Titel Gott trägt, Premiere. Es handelt sich dabei um sein zweites Theaterstück nach Terror, das Teil einer geplanten Dramentrilogie ist. Erneut obliegt auch in diesem Theaterstück das Urteil dem Publikum, das nach der Tagung eines fiktiven Ethikrats über richtig oder falsch entscheiden soll. Die Verfilmung von Gott wurde am 23.11.2020 in der ARD und im SRF ausgestrahlt und im Anschluss in Frank Plasbergs Polit-Talkmagazin Hart aber fair unter dem Titel Gottes Wille oder des Menschen Freiheit: Was zählt beim Wunsch zu sterben? diskutiert. Die Ausstrahlung im österreichischen ORF wurde aufgrund der Terroranschläge am 02.11.2020 in Wien verschoben.48 Am 03.01.2021 wurde das Kooperationsprojekt Der Feind – Recht oder Gerechtigkeit nach Ferdinand von Schirach in der ARD ausgestrahlt, das von MOOVIE im Auftrag der ARD Degeto nach einer Vorlage von Ferdinand von Schirach unter dem Titel Feinde verfilmt wurde. Thema des Filmprojekts ist die Entführung eines zwölfjährigen Mädchens, die zeitgleich in zwei Filmen aus zwei unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird. Während einer der beiden Filme Kommissar Peter Nadler bei seinem Versuch, das Kind zu retten, begleitet, zeigt der andere Film den Strafverteidiger des Angeklagten Konrad Biegler und geht mit ihm der Frage nach Recht und Gerechtigkeit auf den Grund.49 Die Geschichte weist Parallelen zur Entführung des damals elfjährigen Bankierssohns Jakob Metzler im September 2002 in Frankfurt auf. Der zuständige Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner lässt dem Entführer Magnus Gäfgen körperliche Gewalt androhen, um den Aufenthaltsort des Jungen zu erpressen. Magnus Gäfgen gestand daraufhin den Ort, das entführte Kind konnte jedoch nur noch tot aufgefunden werden. Im darauffolgenden Daschner-Prozess wurde gegen Wolfgang Daschner und dem ihm unterstellten Kriminalhauptkommissar Ortwin Ennigkeit wegen Verleitung eines Untergebenen zur Straftat und wegen Verdachts der Nötigung im Amt ermittelt. Der Prozess sorgte für landesweites Aufsehen und führte zu einer öffentlichen Debatte, ob die sogenannte Rettungsfolter, also in diesem Fall staatliche Gewaltandrohung zur Erzwingung einer Aussage im Zuge eines Strafverfahrens, zulässig ist.50 48 Siehe dazu: Penguin Random House: Ferdinand von Schirach URL: https://www.randomhouse.de/Autor/Ferdinand-von-Schirach/p608089.rhd [15.11.2020]. Im Folgenden zitiert als: Penguin Random House, Schirach. 49 Vgl. Das Erste: ‚Der Feind – Recht oder Gerechtigkeit nach Ferdinand von Schirach‘ (AT) – das Fernsehevent der ARD. URL: https://www.daserste.de/specials/ueber-uns/tv-event-derfeind-recht-oder-gerechtigkeit100.html [19.11.2020]. 50 Vgl. Matthias Gebauer: Der Fall Daschner. Anklage macht der Folter den Prozess. In: Der Spiegel. Erstellt am 20.04.2004. URL: https://www.spiegel.de/panorama/der-fall-daschner-anklage-macht-der-folter-den-prozess-a-287371.html [19.11.2020].


17 In diesem spektakulären Filmevent widmet sich Ferdinand von Schirach, ebenso wie in den Theaterstücken Terror und Gott, der Frage nach Recht und Gerechtigkeit. Das persönliche Verständnis von Recht und das eigene Empfinden von Gerechtigkeit gehen nicht immer mit den staatlichen Gesetzen einher. Schirach bohrt dort nach, wo es anfängt, unangenehm zu werden, indem er die Leser und Zuschauer mit moralischen Dilemmata und ethischen Grundfragen konfrontiert. Er beleuchtet die Spielräume zwischen Recht und Gesetz, Gerechtigkeit und Urteil, Schuld und Sühne.51 3.3 Rezeption und Resonanz Ferdinand von Schirachs schriftstellerischer Werdegang ist, wie eben vorweggenommen, von Erfolgen geprägt. Ein Bestseller folgt dem nächsten, diverse Preise ließen nicht lange auf sich warten wie etwa 2010 der renommierte Kleist-Preis. Mit wachsendem Erfolg stiegen aber auch die Erwartungen an den Newcomer in der Literaturszene. Vertraut man den Verkaufszahlen, hat Ferdinand von Schirach diese Erwartungen nicht nur erfüllt, sondern sogar übertroffen. Schirachs bisherige Veröffentlichungen konnten bereits nennenswerte nationale wie internationale Erfolge verzeichnen. Seine Werke schnellten auf die Bestsellerlisten und wurden millionenfach in mehr als 40 Länder verkauft. Das Theaterstück Terror zählt zu den bedeutendsten wie auch erfolgreichsten Dramen der Gegenwart.52 Bereits die Rechte seines ersten Erzählbandes Verbrechen (2009) wurden in über 30 Länder verkauft. Auch seine weiteren Werke landen regelmäßig auf der Spiegel-Bestseller-Liste. Verbrechen hielt sich 54 Wochen in der Rangliste, der Nachfolger Schuld schoss direkt auf Platz eins der Bestseller-Liste des Spiegel. 53 Der Spiegel nannte Ferdinand von Schirach einen ‚großartigen Erzähler‘, die New York Times einen ‚außergewöhnlichen Stilisten‘, der Independent verglich ihn mit Kafka und Kleist, der Daily Telegraph schrieb, er sei ‚eine der markantesten Stimmen der europäischen Literatur‘.54 51 Vgl. Bernd Eilert: Rede auf Ferdinand von Schirach zur Verleihung des Kleist-Preises 2010. In: Kleist-Jahrbuch 2011. Hrsg. von Günter Blamberger, Ingo Breuer und Klaus Müller-Salget. Stuttgart, Weimar: Metzler 2011, S. 23-24. Im Folgenden zitiert als: Eilert, Rede. 52 Vgl. Penguin Random House, Schirach. 53 Vgl. Christine Künzel: Pimp my Krimi. Anmerkungen zu den etwas zu perfekten Erzählungen Ferdinand von Schirachs. In: Recht populär. Populärkulturelle Rechtsdarstellungen in aktuellen Texten und Medien. 1. Aufl. Hrsg. von Patrick Meier und Franziska Stürmer. Baden-Baden: Nomos 2016. (= Recht und Literatur. 2.) S. 60. Im Folgenden zitiert als: Künzel, Krimi. 54 Penguin Random House, Schirach.


18 Abseits der Lobeshymnen für den ehemaligen Strafverteidiger, der sich mit seinem glücklichen Händchen für packende Stories auf die deutschen Bestsellerlisten katapultierte, wurde aber auch die eine oder andere Kritikerstimme laut. Literaturkritiker bemängelten Schirachs einfachen und lakonischen Stil, Juristen kritisierten seine Entscheidung, reale Fälle als Vorlage für seine Geschichten zu verwenden. Christine Künzel fasst in ihrem Beitrag Pimp my Krimi. Anmerkungen zu den etwas zu perfekten Erzählungen Ferdinand von Schirachs vier wesentliche Aspekte zusammen, die ihrer Meinung nach die Texte Ferdinand von Schirachs kennzeichnen und zugleich „Unmut“ und „Unbehagen“ auslösen.55 Diese vier Aspekte sind als die folgenden Punkte definiert: 1. Alle Stories sind nach demselben Erzählmuster gestrickt. 2. Manipulative Erzählstrategien 3. Fallgeschichten, Kriminalgeschichten oder Stories? 4. Vom Anwalt zum Autor zur Marke56 Im ersten Punkt stellt Künzel die These auf, dass Ferdinand von Schirach für seine Stories stets auf dasselbe Erzählmuster zurückgreift. Sie spricht von einem immer gleichen Einstieg, der durch „die Darstellung von Ordnung bzw. Normalität, die jäh zerstört wird“, charakterisiert ist. Die begangene Straftat und das durch sie ausgelöste Ungleichgewicht werden durch bestimmte Formulierungen angedeutet. Auf diese Einführung folge die eigentliche Darstellung der Straftat, die über eine längere Textpassage hinweg beschrieben wird. Im Anschluss daran komme es zum Auftritt des Strafverteidigers und zur Verhandlung, die meistens zu Gunsten des Anwalts und dessen Mandanten ausgeht. Dieses „wiederkehrende Erzählmuster“ wurde auch von Literaturkritikern wahrgenommen, aber keineswegs als Manko bewertet. Ein bestimmtes Muster kann man aber nicht nur der Textgliederung ablesen, auch die Erzählperspektive scheint einem gewissen Schema zu folgen. Die Erzählungen gliedern sich grundsätzlich in drei Teile: Im ersten Teil werden die Tatumstände, das Tätermotiv, der Tathergang und die involvierten Personen durch einen personalen Erzählstil, der in Summe aber wie ein auktorialer Erzählstil wirkt, beschrieben. Im zweiten Teil tritt der Strafverteidiger in Form eines Ich-Erzählers in Erscheinung. Im dritten Teil wird der Ausgang des Gerichtsverfahrens geschildert. Hierfür wird wieder zur auktorialen Erzählperspektive zurückgewechselt. Die Kritik bestehe laut Künzel und Heribert Prantl, Autor, Jurist und Journalist der Süddeutschen Zeitung, vor 55 Vgl. Künzel, Krimi, S. 60-61. 56 Ebda, S. 61-71.


19 allem im „abrupten Wechsel vom personalen Erzähler zur Ich-Erzählung“. Dieser wird als eine Art „Bruch“ im Lesefluss empfunden, der „das durchaus positive Leseerlebnis der vorhergehenden Teile nachhaltig stört und überschattet“. Gleichzeitig relativiert Künzel diesen plumpen Wechsel zum Ich-Erzähler durch den damit verbundenen Authentizitätsgewinn, der den Erzählungen Schirachs zugesprochen wird. Erst durch die Ich-Perspektive des Strafverteidigers gewinnt der Leser den Eindruck, dass es sich hier um einen Autor handeln muss, der mit dem Rechtssystem und den Abläufen vor Gericht vertraut ist und die Gesichter zu den Geschichten, die er erzählt, kennt.57 Die Annahme, die damit einhergeht und von Künzel nahegelegt wird, dass man die Figur des Strafverteidigers mit der Person Ferdinand von Schirach gleichsetzen könne, Friedrich Kronberg als ein fiktionales Alter Ego zu betrachten, ist jedoch nicht zweifelsfrei belegbar.58 In einem Interview mit dem Tagesspiegel hat Schirach darauf hingewiesen, dass der Anwalt nichts mit ihm zu tun habe und nur die Geschichte erzähle. Der Anwalt sei kein Held, sondern mache nur seine Arbeit. 59 Dennoch lassen einige Hinweise darauf schließen, dass der adrette, smarte und zuvorkommende Strafverteidiger Kronberg mehr mit Schirach gemeinsam hat, als dieser vielleicht einräumen möchte. Derartige Hinweise sind etwa die Kanzlei in Berlin, die Zigarette, die stets im Mundwinkel des Anwalts steckt, und schließlich Schirachs CameoAuftritt in der Folge Der Freund. 60 Das Spiel rund um die Frage nach Schirachs Alter Ego, und dass die Antwort darauf vermutlich nur Ferdinand von Schirach selbst kennt, macht seine Geschichten umso spannender. Zusätzlich verleiht es den Fällen eine persönliche Note und lässt sie authentischer wirken. Die Auftritte der Figur des Strafverteidigers sind nicht selten an Erläuterungen zum Rechtswesen und Erklärungen gängiger Rechtsbegriffe gekoppelt. Dem Vorwurf, dass diese informativen Einschübe penetrant belehrend wirken, wollen sich Literaturkritiker nicht anschließen. Im Allgemeinen werden die erklärenden Beiträge als „pädagogisch wertvolle Hinweise“ dankend angenommen und nicht als didaktisierend empfunden, da sie hilfreich für das Verständnis der Geschichte sind.61 57 Vgl. ebda, S. 61-63. 58 Vgl. ebda, S. 64. 59 Vgl. Sven Goldmann: Man stirbt schnell. In: Der Tagesspiegel. Erstellt am 19.02.2015. URL: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/zdf-reihe-schuld-man-stirbtschnell/11397348.html [19.11.2020]. Im Folgenden zitiert als: Goldmann, schnell. 60 Siehe dazu: ZDF-Mediathek: Ferdinand von Schirach – Schuld. URL: https://www.zdf.de/serien/schuld [19.11.2020]. 61 Vgl. Künzel, Krimi, S. 64-65.


20 Im zweiten Punkt weist Künzel auf die manipulativen Erzählstrategien hin, die Schirach durch einen „wiederkehrenden Wechsel der Erzählperspektive“ zu tarnen versuche. „Die subjektive Sicht auf einen Tathergang“ werde durch eine überwiegend personale Erzählweise verdeckt. Künzel vergleicht Schirachs Erzählweise mit der eines Strafverteidigers, der „das Gericht oder die Leser von seiner Version eines Tathergangs überzeugen will“. Die Kunst bestehe darin, trotz größter Parteilichkeit, den Glauben zu erwecken, dass hier eine unvoreingenommene Person belegte Tatsachen präsentiere. Diese Darstellung werde untermauert, indem darauf verzichtet wird, die Ereignisse aus einer anderen Perspektive als der des Strafverteidigers zu schildern oder diese Ausführungen zu kritisieren.62 Im dritten Punkt stellt Künzel die Behauptung auf, dass Ferdinand von Schirach seine Texte mit der geschickt gewählten Bezeichnung ‚Story‘ betitelt, um davon abzulenken, dass es sich im Grunde um ganz gewöhnliche Kriminalerzählungen handelt. Die Literaturkritik ist sich jedoch uneinig darüber, ob Schirachs Erzählungen nun der Gattung ‚Fallgeschichte‘ oder ‚Kriminalgeschichte‘ zugeordnet werden können oder ob es sich um eine Mischform handelt, die sich aus beiden Gattungen das Beste herausnimmt. Schirachs eigenen Aussagen zufolge stehe der Plot der Geschichte im Vordergrund: „Wenn der Plot stimme, werde die Geschichte gut.“ Durch die gezielte Betonung des Inhalts (engl. ‚plot‘) scheint eine Klassifizierung als sogenannte ‚plot story‘ plausibel. Dabei handelt es sich um eine Gattung, die sich bei Lesern einer großen Beliebtheit erfreut und als deren bekanntester Vertreter Jurist und Autor Bernhard Schlink zu nennen ist.63 Im vierten und letzten Punkt ihres Beitrags versucht Künzel den unaufhaltsamen Erfolg Ferdinand von Schirachs zu dämpfen und fasst die ihm entgegengebrachte Kritik noch einmal zusammen. Ferner stößt sich Künzel an der „naiven Bewunderung der Literaturkritik für von Schirachs vermeintliche Doppelbegabung“. Schirach sei nicht nur ein angesehener Berliner Prominenten-Anwalt, sondern zudem ein herausragender Autor. Schirachs Erfolge scheinen nicht zuletzt seiner vormaligen Tätigkeit als Strafverteidiger geschuldet, die ihm die nötige Menge an Authentizität einbrachte, die seine Erzählungen auszeichnet. Mit der Veröffentlichung des zweiten Erzählbandes Schuld, der formal wie auch inhaltlich an seinen Vorgänger Verbrechen erinnert, erreichte Schirach nicht nur „eine Steigerung seines Prestiges sowohl als Anwalt als auch als Autor – und damit eine 62 Vgl. ebda, S. 65-67. 63 Vgl. ebda, S. 68-71.


21 Wertsteigerung der Marke von Schirach“. Abschließend merkt Künzel fast beiläufig an, dass sie trotz aller Kritik an Schirachs Erzählungen mit ihrem Aufsatz, wenn auch ungewollt, zur Aufwertung von Ferdinand von Schirachs Erzählbänden beiträgt.64 An dieser Stelle soll auch die andere Seite der Kritikerstimmen, die Schirach durchwegs positive Kritik ausspricht, zu Wort kommen. Bernd Eilert, der die Rede auf Ferdinand von Schirach zur Verleihung des Kleist-Preises 2010 hielt, hebt vor allem Schirachs hervorragende Erzählkunst als Strafverteidiger hervor: Zunächst erscheinen seine Erzählungen in ein geradezu homerisch helles Licht getaucht: scharf die Konturen, glänzend die Oberflächen, stringent die Handlungsstränge. Irgendwann jedoch sollte man bemerken, dass die Gegenstände von nur einer Seite beleuchtet sind, die Figuren auch nur von einem Standpunkt aus betrachtet werden und ihre Schattenseiten nach Bedarf ausgeblendet werden. Das ist das Dubiose an dieser Erzählweise: Sie schafft die Illusion, Opfer wären selbst schuld, Täter vollzögen den Willen des Lesers und im Namen dieses Völkchens werde Recht gesprochen. Und das eben ist die Kunst der Verteidigung: keine andere Version einer Geschichte zuzulassen und trotz größter Parteilichkeit den Eindruck zu erwecken, ein Unparteiischer stelle nur erwiesene Tatsachen dar.65 Während Künzel eben diese manipulative Art zu erzählen scharf kritisiert, erkennt Eilert darin die Fähigkeit eines brillanten Strafverteidigers, der sein Publikum zu lenken weiß. Darin liege die Kunst der Verteidigung: „keine andere Version einer Geschichte zuzulassen und trotz größter Parteilichkeit den Eindruck zu erwecken, ein Unparteiischer stelle nur erwiesene Tatsachen dar“. Diese Fähigkeit macht sich Schirach zum Vorteil und nützt sein Können als Erzählinstrument, um seine Leser von der Version des Strafverteidigers zu überzeugen.66 Des Weiteren lobt Eilert Schirachs Textaufbau, da er den entscheidenden Wendepunkt stets ans Ende seiner Stories platziert und so für einen unvorhersehbaren Ausgang der Geschichte sorgt. Eilert vergleicht diese Strategie mit der Pointe eines Witzes: Die Pointe muss sitzen und sie sitzt am besten da, wo sie zwar überraschend kommt, aber gerade so, dass das Publikum eine Sekunde später selbst darauf gekommen wäre – oder sich dessen zumindest schmeicheln darf. Überraschung verpufft oft als Knalleffekt, erst zum richtigen Zeitpunkt gezündet entwickelt sie Sprengkraft.67 Dieses Überraschungsmoment ist charakteristisch für Schirachs Geschichten. Ganz im Stil des Anwalts hält er das Highlight, wie im Plädoyer, bis zum Finale zurück. 68 64 Vgl. ebda, S. 71-78. 65 Eilert, Rede, S. 23-24. 66 Vgl. ebda, S. 24. 67 Ebda, S. 27. 68 Vgl. ebda, S. 27.


22 Im vorangegangenen Kapitel wurden bereits die beiden Dichterjuristen Heinrich von Kleist und Franz Kafka erwähnt. Sowohl Kleist als auch Kafka werden in Rezensionen mit Ferdinand von Schirach in Verbindung gebracht. Neben dem Independent sehen auch Günter Blamberger und Bernd Eilert Parallelen zwischen den beiden Schriftstellergrößen und dem Bestsellerautor Schirach, wie sie anlässlich der Verleihung des Kleist-Preises 2010 an Ferdinand von Schirach in ihren Reden darlegten. Blamberger spricht im Zusammenhang mit Kleists Texten von sogenannten ‚sleepern‘, die das Potenzial in sich tragen, plötzlich das Böse in ihnen ausbrechen zu lassen, das vorher unentdeckt dahinschlummerte. Jede Person, so unscheinbar sie noch wirken mag, kann zum Straftäter, Verbrecher und im schlimmsten Fall sogar zum Mörder werden.69 Ein Merkmal, das auch für Schirachs Stories charakteristisch ist, wenn man beispielsweise an den Fall des Arztes Friedhelm Fähner denkt, der seine Gattin nach 48 gemeinsamen Ehejahren völlig unerwartet auf grausame Weise ermordet.70 Kennzeichnend für Kleist wie auch Kafka sind ihre wirkungsreichen Einstiege in eine Geschichte. Schirach wendet diese Methode im umgekehrten Stil an: Der Anfang erscheint zunächst betont harmlos, wohingegen das Ende umso eindrucksvoller ist, und mit einer plötzlichen Wendung überrascht. 71 Die wohl größte Verbindung zwischen Kleist, Kafka und Schirach liegt in der Klarheit ihrer Sprache. Sie bevorzugen es auf „Sprachschnörkel“, d. h. überflüssige Floskeln, zu verzichten.72 Ferdinand von Schirachs „karger, lakonischer und schmuckfreier“ Stil ist mittlerweile zu seinem Markenzeichen geworden. 73 Für seinen reduzierten Stil bevorzugt Schirach eine sparsame und zurückhaltende Sprache, indem er Metaphern weglässt, und die Dinge beim Namen nennt. Ferdinand von Schirach bezeichnet sich selbst als Geschichtenerzähler, für den ausschließlich die Geschichte im Mittelpunkt der Erzählung steht. Er hege nicht die Absicht, die besten Metaphern zu verwenden, weshalb er derartige Stilmittel ausspart. Er möchte das Leben so darstellen, wie es nun einmal ist: ohne Metaphern. 74 69 Vgl. Günter Blamberger: Unberechenbare Seelen. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises an Ferdinand von Schirach am 21. November 2010. In: Kleist-Jahrbuch 2011. Hrsg. von Günter Blamberger, Ingo Breuer und Klaus Müller-Salget. Stuttgart, Weimar: Metzler 2011, S. 18-19. Im Folgenden zitiert als: Blamberger, Seelen. 70 Vgl. Eilert, Rede, S. 26. 71 Vgl. ebda, S. 26. 72 Vgl. ebda, S. 23. 73 Vgl. Adam Soboczynski: Täter wie wir. In: Die Zeit. Erstellt am 29.07.2010. URL: https://www.zeit.de/2010/31/L-B-Schirach/komplettansicht [10.12.2020]. 74 Vgl. Willkommen Österreich: Ferdinand von Schirach & Clemens Doppler und Alexander Horst | E395. Erstellt am 25.09.2020. URL: https://www.youtube.com/watch?v=BPdfsVGAH7M [06.12.2020]. Im Folgenden zitiert als: Willkommen Österreich, Schirach.


23 Im Rahmen von Interviews und Rezensionen brennt den Journalisten, Lesern und Kritikern vor allem eine Frage unter den Fingernägeln: Wie viel Wahrheit steckt in Ferdinand von Schirachs Geschichten? Daraus ergeben sich weitere Fragen: Sind die geschilderten Rechtsfälle tatsächlich so passiert? Hat Ferdinand von Schirach diese Menschen im wahren Leben vor Gericht verteidigt? Die Antwort darauf gibt Schirach in einem Interview mit dem Tagesspiegel: Keine der Geschichten ist so passiert, wie ich sie geschrieben habe – das ginge schon deshalb nicht, weil ich das Anwaltsgeheimnis achten und meine Mandanten schützen muss. Aber die einzelnen Teile der Geschichten sind wahr, sie sind nur neu zusammengesetzt. Und schließlich: Was eigentlich ist Wahrheit? Eine 2.000 Seiten umfassende Akte oder eine Kurzgeschichte auf zwölf Seiten? Wichtig ist nur, dass man über das schreibt, was man wirklich kennt. Geschichten werden genau dadurch lebendig und damit werden sie wahr. Truman Capote schrieb den Roman Kaltblütig: Alles darin ist so passiert, ja, aber es ist kein 1:1-Abbild der Wirklichkeit, es ist Literatur.75 Manuel Bauer untersucht in seinem Aufsatz Der geschundene Mensch. Ferdinand von Schirach oder Der Anwalt als Erzähler u. a. diese Frage. Er geht davon aus, dass anstelle der Faktualität die Literarizität zum Kriterium für Wahrheit wird.76 Schirach merkt dazu in seiner Rede zur Verleihung des Kleist-Preises 2010 Folgendes an: Wahrheit entsteht eben nicht durch vollständige Abbildung, sie entsteht durch Formalisierung. Das ist in der Literatur so und das ist im Strafprozess so. […] Eine Geschichte kann nie Abbildung der Wirklichkeit sein. Sie ist – analog zur strafprozessualen Wahrheit – literarische Wahrheit.77 Eine weitere Frage, die Ferdinand von Schirach nicht selten gestellt wird, lautet: Kann jeder zum Mörder werden? Diese bejaht der ehemalige Strafverteidiger mit beinahe besorgniserregender Deutlichkeit. Schirach interessiert sich für Morde, die letztendlich jeder von uns begehen könnte. Er hat kein Interesse an Serienmördern, Psychopathen oder Sexualstraftätern, deren Taten in den meisten Fällen auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen sind. 78 Ferdinand von Schirach hinterfragt mit anthropologischem Interesse die „sozialen, lebensweltlichen und psychologischen Umstände“, die einen 75 Goldmann, schnell. 76 Vgl. Manuel Bauer: Der geschundene Mensch. Ferdinand von Schirach oder Der Anwalt als Erzähler. In: Dichterjuristen. Studien zur Poesie des Rechts vom 16. bis 21. Jahrhundert. Hrsg. von Yvonne Nilges. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 282. Im Folgenden zitiert als: Bauer, Mensch. 77 Ferdinand von Schirach: Rede zur Verleihung des Kleist-Preises 2010. In: Kleist-Jahrbuch 2011. Hrsg. von Günter Blamberger, Ingo Breuer und Klaus Müller-Salget. Stuttgart, Weimar: Metzler 2011, S. 31. 78 Vgl. Willkommen Österreich, Schirach.


24 gewöhnlichen Menschen zum Täter machen können. Er beschreibt in seinen Geschichten „wie durch Missverständnisse aus einem eigentlich gelungenen Leben ein verfehltes werden kann und wie schmal der Grat vom zufriedenen Menschen zum Mörder ist“. 79 Schirachs Verständnis nach ist die Ursache für solche Taten auf die Situation zurückzuführen, die den Menschen furchtbare Entscheidungen treffen lässt. Die wesentliche Erkenntnis liegt für ihn darin, dass jeder Mensch in eine derartige Ausnahmesituation geraten kann. Doch es sind genau diese Abgründe, die die Gesellschaft gleichzeitig abschrecken und faszinieren.80 In diesem Zusammenhang wird immer öfter vom sogenannten „Tatort-Syndrom“ gesprochen, das dieses Phänomen der Faszination für Verbrechen beschreibt. Millionen von Zuschauern in Deutschland, Österreich und der Schweiz sitzen am Sonntagabend pünktlich um Viertel nach acht vor ihren Fernsehgeräten und verfolgen gespannt den Tatort. Die Menschen dürften Gefallen daran gefunden haben, Verbrechen aus sicherer Distanz zu beobachten. Das Erfolgsrezept des Formats liegt vermutlich darin, dass sich das Publikum von den Abgründen des Menschen angezogen fühlt, gleichzeitig aber erleichtert ist, von diesen Gewalttaten nicht persönlich betroffen zu sein. Vielmehr vertraut die Gesellschaft auf den Polizeiapparat und die Gerichte. In die Arbeit der Exekutive und Judikative legen die Menschen ihr Vertrauen, indem sie für Ordnung und Gerechtigkeit in unserem System sorgen.81 79 Bauer, Mensch, S. 288. 80 Vgl. Gero von Boehm: Nahaufnahmen. Fünfzig Gespräche mit dem Leben. Berlin: Propyläen 2016, S. 250-254. 81 Vgl. Ulrich Greiner: Der Mord, der keiner war. In: Die Zeit. Erstellt am: 05.09.2013. URL: https://www.zeit.de/2013/37/roman-ferdinand-von-schirach-tabu/komplettansicht [08.12.2020].


25 4 Analyse und Interpretation von Terror Das folgende Kapitel widmet sich der umfassenden Analyse und Interpretation von Terror und bildet das Kernstück der Diplomarbeit. Der Fokus wird dabei auf die nachfolgenden zwei Forschungsfragen gelegt: 1.Was ist für Ferdinand von Schirach das ästhetische und rechtsethische Surplus eines Dramas gegenüber anderen literarischen Gattungen? 2. Welcher dramaturgische Effekt wird durch den Schluss des Dramas erzielt? 4.1 Entstehungsgeschichte und Hintergrund Ferdinand von Schirachs siebtes Werk und zugleich erstes Theaterstück ist in seiner ersten Auflage 2015 im Piper Verlag erschienen und ordnet sich thematisch in die Reihe seiner bisher veröffentlichten Kurzgeschichten, Romane und Essays ein. Dennoch unterscheidet sich Terror von Schirachs Vorgängerwerken, da es gattungstheoretisch dem Drama und nicht der Epik zuzuordnen ist. Des Weiteren beschreibt Ferdinand von Schirach in Terror nicht verschiedene Straftaten wie etwa in den Kurzgeschichten Verbrechen, Schuld und Strafe, sondern stellt die Geschichte eines Mannes in den Mittelpunkt, dessen Fall vor Gericht verhandelt wird. Sein Schicksal liegt in den Händen eines Schöffengerichts, das durch das Publikum repräsentiert wird. Diese Besonderheit unterscheidet Terror wiederum von den Romanen Tabu und Der Fall Collini. Hier wird das Urteil über Freispruch oder Verurteilung vom Richter getroffen und ist daher unabhängig vom Publikum. Das Ende der Romane ist somit von Beginn an festgelegt und unbeeinflussbar. Erste Ansätze dafür, dass sich Ferdinand von Schirach dem brisanten Thema Terrorismus und dessen Herausforderungen sowie Folgen zuwendet, finden sich in seinem erstmals 2013 in der Zeit veröffentlichten Essay Die Würde ist antastbar. Warum der Terrorismus über die Demokratie entscheidet. Schirach wirft darin die Frage auf, wie der Staat angemessen auf die Bedrohung durch den wachsenden Terrorismus reagieren kann. Abbildung 2: Terror - Buchcover


26 Ferdinand von Schirach beschreibt in seinem Essay eine Flugzeugentführung, die in leicht abgewandelter Form die Grundlage für die Gerichtsverhandlung in Terror bildet: Stellen Sie sich vor, auf dem Flughafen Köln/Bonn ist eine Maschine gestartet. Ein Mann verschafft sich Zugang zum Cockpit, er tötet Pilot und Co-Pilot. Der Mann erklärt über Funk, er fliege die vollgetankte Maschine nach Berlin und lasse sie auf den Potsdamer Platz abstürzen. Vier Abfangjäger der Bundeswehr sind aufgestiegen. Sie fliegen dicht neben der entführten Maschine. Die Bundeskanzlerin ist evakuiert worden. Lässt die Bundesregierung die Maschine abschießen, rettet sie Tausende unschuldige Menschen. Sie hat sich die Passagierliste geben lassen. 164 Reisende, Geschäftsleute auf dem Weg nach Berlin, zwei schwangere Frauen, sechs Kinder, ein Hund. Die Regierung muss entscheiden: Was sind 164 gegen Tausende? Und wenn das Flugzeug abstürzt, würden den Reisenden doch sowieso nur wenige Minuten bis zum sicheren Tod bleiben. Was würden Sie selbst tun?82 Auslöser für eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Problematik Terrorismus dürften die sich häufenden islamistischen Angriffe in der Vergangenheit gewesen sein wie der Anschlag auf das World Trade Center in New York und das Pentagon am 11.09.2001. In der dem Theaterstück angefügten Rede Machen Sie unbedingt weiter. Rede zur Verleihung des M100-Sanssouci Medien Preises an Charlie Hebdo verweist Ferdinand von Schirach explizit auf den am 02.11.2011 verübten Brandanschlag in Paris. Der Verlag der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo wurde dabei niedergebrannt und mutwillig zerstört, es gab mehrere Tote. Die Website der Zeitschrift wurde gehackt, um die Worte „Der Fluch Gottes soll euch treffen“ neben der Abbildung einer Moschee in Mekka zu platzieren. Einige Tage zuvor veröffentlichte das Satireblatt eine Karikatur des Propheten Mohammed auf der Titelseite der Zeitschrift. Vier Jahre später dringen am 07.01.2015 zwei maskierte Männer in das Verlagsgebäude ein und töten elf Menschen. Auf ihrer Flucht durch Paris töten sie weitere Menschen, darunter ein Polizist und Kunden eines jüdischen Supermarktes. Die Attentäter sind ausgebildete Anhänger der Terrororganisation al-Qaida im Jemen, die sich ein paar Tage später zu dem Anschlag, bei dem insgesamt 17 unschuldige Menschen getötet worden sind, bekennt.83 Durch den Terroranschlag am 02.11.2020 in der österreichischen Hauptstadt Wien wird auf schmerzliche Weise deutlich, wie aktuell das Thema Terrorismus ist. Die sich häufenden Terroranschläge sind nicht das alleinige Problem des Auslands. Die Gefahren durch den wachsenden islamistischen Terror haben längst auch europäische Länder wie Frankreich, Belgien oder Österreich erreicht und bedrohen die Sicherheit der freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft. 82 Schirach, Würde, S. 9. 83 Vgl. Schirach, Terror, S. 149-150.


27 Schirach äußert sich in seiner Rede anlässlich der Verleihung des M110-Sanssouci Medien Preises an Charlie Hebdo wie folgt: Ich bin noch immer davon überzeugt, dass die aufgeklärte Demokratie auch Terroristen, auch Menschen, die unsere Gesellschaft zerstören wollen, nur mit den Mitteln des Rechts begegnen darf. Nur dadurch erweist sich die Wehr- und Wahrhaftigkeit des Rechtsstaates. In unserem Zorn, in unserem Wunsch nach Rache, sind wir immer gefährdet, das zu vergessen. Guantánamo ist dafür nur eines der fürchterlichen Beispiele.84 Ferdinand von Schirach bezieht in diesem Diskurs eine klare Stellung und sieht die Lösung für die Bedrohung durch den Terrorismus in der Wahrung der Grund- und Menschenrechte, wie sie in der deutschen Verfassung verankert sind. Drei Jahre nach den Terroranschlägen am 11.09.2001 in New York wurde in Deutschland das Luftsicherheitsgesetz erlassen, das der deutschen Bundeswehr im Fall eines übergesetzlichen Notstands gestattete, den Abschuss eines Flugzeugs freizugeben und durchzuführen. Diese Befugnis galt selbst dann, wenn durch einen Abschuss Menschen getötet worden wären. Im Jahr 2006 wurde dieser Erlass allerdings durch das Bundesverfassungsgericht aufgehoben und das Gesetz aufgrund seines Widerspruchs zum geltenden Grundgesetz für nichtig erklärt. Das Bundesverfassungsgericht begründete seine Entscheidung damit, dass der Staat die Tötung Unschuldiger nicht zulassen könne, da dies ein Verstoß gegen die deutsche Verfassung und das darin „verbriefte Recht auf Leben und die Würde des Menschen“ darstellen würde und daher nicht mit dem Grundgesetz vereinbar wäre. Menschen dürften nicht als bloße Objekte zur Rettung anderer instrumentalisiert werden.85 84 Schirach, Terror, S. 159. 85 Vgl. Marie Schmidt: ‚Terror‘. Das Volk richtet. In: Die Zeit. Erstellt am 13.10.2016. URL: https://www.zeit.de/2016/43/terror-film-ard-urteil-prozess-publikum-abstimmung/komplettansicht [20.02.2021]. Abbildung 3: Befehlskette bei Bedrohung im Luftraum


28 Abbildung 3 veranschaulicht die Befehlskette, die es im Fall einer Bedrohung im Luftraum zu befolgen gilt. Die Befehlskette umfasst acht Punkte, die mit der Überwachung des Luftraums beginnt und im schlimmsten Fall mit der Erteilung eines Abschussbefehls endet. Punkt acht ist nach der Novellierung des Luftsicherheitsgesetzes im Jahr 2006 nicht mehr zulässig. Ein Passagierflugzeug darf auch als letzte Möglichkeit zur Abwehr einer Terrorgefahr nicht zum Abschuss freigegeben werden. Die Darstellung der Befehlskette soll in weiterer Folge beim Verständnis des Tathergangs in Terror eine Hilfe sein. Aufsehen erregte in diesem Zusammenhang in Deutschland der Irrflug eines geistig verwirrten Mannes, der am 05.01.2003 mit einem entführten Sportflugzeug über der Frankfurter Innenstadt und dem Bankenviertel kreiste. Der Motorsegler wurde zunächst durch einen Hubschrauber der Polizei verfolgt, später versuchten zwei Phantom-Jäger der Bundeswehr das Kleinflugzeug aus dem Frankfurter Luftraum abzudrängen. Mehrere Gebäude, darunter der Hauptbahnhof, die Oper, das Schauspielhaus sowie die Bank-Hochhäuser wurden aus Sicherheitsgründen evakuiert. Der Entführer drohte die Maschine in den Wolkenkratzer der Europäischen Zentralbank zu stürzen, verlangte aber diesen räumen zu lassen, da er niemanden verletzen wollte. Die gesamte Innenstadt wurde für den Verkehr gesperrt und der Flugverkehr über der Stadt Frankfurt a. M. eingestellt. Das Sportflugzeug wurde vom Entführer trotz seiner ursprünglichen Absichten sicher gelandet, sodass niemand durch den Vorfall zu Schaden kam. Der geistig verwirrte Mann hegte die Absicht einer jüdischen Astronautin zu mehr Bekanntheit zu verhelfen.86 Der Irrflug über Frankfurt rief auch ohne islamistischen Hintergrund Erinnerungen an Nine-Eleven wach und versetzte die deutschen Sicherheitsbehörden in Alarmbereitschaft. Die Bundesregierung sah sich durch diesen übergesetzlichen Notfall mit einem Dilemma konfrontiert: „Wie reagieren in einem Fall, der als übergesetzlicher Notstand anzusehen ist? Konkret: Darf die Luftwaffe ein zur Bedrohung gewordenes Flugzeug abschießen, selbst wenn das den Tod vielleicht Hunderter Unbeteiligter zur Folge hat?“ 87 Die Antwort darauf ist bereits bekannt. Mit der Einführung des Luftsicherheitsgesetzes glaubte man dieses Problem gelöst zu haben. Eine Lösung, die jedoch von kurzer Dauer war: Das Gesetz wurde aufgehoben, das Dilemma bleibt bis heute bestehen. 86 Vgl. FAZ: Irrflug versetzte Frankfurt in Angst und Schrecken. Akt. am 05.01.2003. URL: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/flugzeug-entfuehrung-irrflug-versetzt-frankfurtin-angst-und-schrecken-189977.html [23.02.2021]. 87 Vgl. WDR: 5. Januar 2003 – Entführtes Kleinflugzeug kreist über Frankfurt/Main. URL: https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-entfuehrtes-kleinflugzeug-100.html [23.02.2021].


29 Von besonderer Bedeutung ist neben dem oben beschriebenen Luftsicherheitsgesetz Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Das Grundgesetz bildet die rechtliche Basis für alle deutschen Gerichte und ist das zentrale Rechtsdokument (Verfassung) der deutschen Bundesrepublik. Die folgenden Auszüge aus dem Grundgesetz sind für das Verständnis des Theaterstücks Terror unverzichtbar, da das Gerichtsverfahren gegen den Angeklagten Lars Koch und die Argumentation von Staatsanwältin Nelson auf diesen Artikeln aufbauen. Im Folgenden werden Artikel eins bis drei der deutschen Verfassung im originalen Wortlaut zitiert: Artikel 1: „(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“88 Artikel 2: „(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ 89 Artikel 3: „(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. (3) Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“90 88 Deutscher Bundestag: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. URL: https://www.bundestag.de/gg [24.02.2021]. 89 Ebda. 90 Ebda.


30 Da der Abschuss der Passagiermaschine im Theaterstück Terror am 26.05.2013 stattfand, ist das Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG) zu diesem Zeitpunkt (seit dem 15.02.2006) nicht mehr gültig. Dieser Beschluss ist entscheidend für die rechtliche Grundlage der fiktiven Gerichtsverhandlung. Nachfolgend ein Auszug aus dem Luftsicherheitsgesetz § 14 Einsatzmaßnahmen, Anordnungsbefugnis vom 11.01.2005 im originalen Wortlaut: „(1) Zur Verhinderung des Eintritts eines besonders schweren Unglücksfalles dürfen die Streitkräfte im Luftraum Luftfahrzeuge abdrängen, zur Landung zwingen, den Einsatz von Waffengewalt androhen oder Warnschüsse abgeben. (2) Von mehreren möglichen Maßnahmen ist diejenige auszuwählen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Die Maßnahme darf nur so lange und so weit durchgeführt werden, wie ihr Zweck es erfordert. Sie darf nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht. (3) Die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ist nur zulässig, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist. (4) Die Maßnahme nach Absatz 3 kann nur der Bundesminister der Verteidigung oder im Vertretungsfall das zu seiner Vertretung berechtigte Mitglied der Bundesregierung anordnen. Im Übrigen kann der Bundesminister der Verteidigung den Inspekteur der Luftwaffe generell ermächtigen, Maßnahmen nach Absatz 1 anzuordnen.“ 91 In der Pressemitteilung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu der vorgebrachten Verfassungsbeschwerde zu § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes, die von vier Rechtsanwälten, einem Patentanwalt und einem Flugkapitän vorgebracht wurde, heißt es: § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG), der die Streitkräfte ermächtigt, Luftfahrzeuge, die als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollen, abzuschießen, ist mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig. Dies entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 15. Februar 2006.92 91 Bundesverfassungsgericht: Informationen zur mündlichen Verhandlung am 09. November 2005 in Sachen Luftsicherheitsgesetz. URL: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2005/bvg05-101.html;jsessionid=D96D9D71DED68BA78E6CE70D255D1AE1.1_cid386 [06.03.2021]. 92 Bundesverfassungsgericht: Abschussermächtigung im Luftsicherheitsgesetz nichtig. Pressemitteilung Nr. 11/2006 vom 15. Februar 2006. URL: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2006/bvg06-011.html [13.04.2021].


31 4.2 Inhalt und Thema Das Theaterstück spielt in der deutschen Bundeshauptstadt Berlin, Schauplatz ist ein Gerichtssaal während einer Hauptverhandlung. Der Protagonist ist der 31-jährige Kampfjetpilot und Major der Luftwaffe Lars Koch, der wegen 164-fachen Mordes angeklagt ist. Dem Angeklagten wird Folgendes zur Last gelegt: Als eine Passagiermaschine der Lufthansa am Flug von Berlin-Tegel nach München von einem Terroristen einer Splitterorganisation der al-Qaida gekapert wird und droht in der Allianz-Arena in München abzustürzen, handelt Lars Koch entgegen den Anweisungen seiner Vorgesetzten und schießt das Flugzeug mit 164 Passagieren an Bord über der Ortschaft Oberappersdorf am 26.05.2013 befehlswidrig ab. Die 164 Zivilisten, darunter 98 Männer, 64 Frauen und zwei Kinder, kommen dabei ums Leben. Der Amoktäter hatte die Lufthansa-Maschine zuvor in seine Gewalt gebracht und plante einen Anschlag auf die Allianz-Arena in München. Das Passagierflugzeug befand sich im Anflug auf das Gebäude, in dem sich zu diesem Zeitpunkt 70.000 potenzielle Opfer aufhielten, um sich ein Fußballspiel anzusehen. Durch starke Rauchentwicklung konnte nicht festgestellt werden, ob die Passagiere an Bord versuchten, den Terroristen zu überwältigen. Der Ausgang der geschilderten Flugzeugentführung wurde bereits vorweggenommen. Die 164 Passagiere wurden durch den Abschuss getötet, wohingegen die 70.000 Besucher der Allianz-Arena gerettet werden konnten. Wie sich später durch die Auswertung der Black Box herausstellte, versuchten die Passagiere ins Cockpit zu gelangen, um den Entführer zu überwältigen. Der Fall wird vor Gericht verhandelt: Lars Koch wird gemäß § 154 a Absatz I der Strafprozessordnung 164 Menschen mit gemeingefährlichen Mitteln getötet zu haben angeklagt. Ein Schwurgericht soll entscheiden, ob der Angeklagte für den Mord an 164 Menschen verurteilt oder freigesprochen wird. Die Verteidigung argumentiert, dass es sich beim Verhalten des Piloten um eine Abwägungsentscheidung handelte – schließlich hat Lars Koch damit Tausenden von Menschen das Leben gerettet. Demgegenüber steht die Anklage der Staatsanwaltschaft, die dem Piloten Befehlsmissachtung und die Verletzung der Menschenrechte vorwirft. Lars Koch hat durch seine Abwägungsentscheidung ein Menschenleben gegen ein anderes Menschenleben aufgewogen und das Recht der Passagiere auf Leben verwehrt. Am Ende des Theaterstücks obliegt es den Schöffen, also dem Publikum, über Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu urteilen. 93 93 Vgl. Schirach, Terror.


32 Der wachsende islamistische Terrorismus in Europa und der angemessene Umgang damit sowie das Verhältnis von persönlichem Gewissen und geltendem Recht sind die zentralen Themen, die Ferdinand von Schirach in Terror behandelt. Die Gefahr, die von islamistischen Terrorakten ausgeht, wird in Terror zum Hauptthema gemacht. Mit der Erlaubnis Gottes habe ich diese Maschine in meiner Gewalt. Freut euch, Gemeinschaft der Muslime. Die Kreuzfahrerregierungen Deutschlands, Italiens, Dänemarks und Englands haben unsere Brüder getötet, nun töten wir eure Familien. Ihr werdet sterben, wie wir gestorben sind.94 Diesen Text lässt der Entführer des Flugzeugs vom Piloten der Passagiermaschine per Funkspruch vorlesen. Der Terrorist bekennt sich zur Gemeinschaft der Muslime und verspricht unter dem ‚Deckmantel der Familienehre‘ eine Vergeltungsaktion. Er offenbart seine vorsätzliche Tötungsabsicht und lässt keinen Zweifel daran, dass er die Passagiere an Bord aus überzeugter Rache töten wird. Danach teilt der Pilot weiter über Funk mit, dass der Entführer die Lufthansa-Maschine in ein Fußballstadion im Norden Münchens, die Allianz-Arena, stürzen lassen will (TE I,31). Wie soll eine freiheitliche demokratische Gesellschaft auf die Bedrohung durch den Terrorismus reagieren und mit welchen Fragen muss sie sich angesichts dieser Bedrohung beschäftigen? Was ist wichtiger: Freiheit oder Sicherheit? „Gibt es Situationen in unserem Leben, in denen es richtig, vernünftig und klug ist, Menschen zu töten?“ (TE I,19) Diese Fragen und die kontroverse Diskussion, die daraus resultiert, stehen im Mittelpunkt des Dramas. Die Antwort auf diese Frage liegt zwischen zwei Extremen. Grundsätzlich muss für die Beantwortung dieser Frage zwischen persönlichem Gewissen und geltendem Recht unterschieden werden. Das persönliche Gewissen spiegelt das Empfinden von Gut und Böse einer bestimmten Person wider. Das Gewissen stellt demnach ein sehr individuelles Konzept dar, das von Person zu Person variiert. Das geltende Recht umfasst hingegen Gesetze, die das Zusammenleben in einer Gesellschaft regeln, unabhängig von persönlichen Empfindungen. Das individuelle Gerechtigkeitsempfinden, das dem eigenen Gewissen entspricht, muss nicht zwangsläufig mit den Gesetzen eines Staats übereinstimmen. Diese Diskrepanz zwischen individuellem Gerechtigkeitsempfinden und geltendem Recht versucht Ferdinand von Schirach in seinem Theaterstück Terror aufzuzeigen.95 94 Ebda, S. 31. 95 Vgl. Duden Online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Gewissen [07.03.2021]. Stichwort: Gewissen. Vgl. Duden Online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Recht [07.03.2021]. Stichwort: Recht.


33 4.3 Aufbau und Gliederung Das Theaterstück trägt den prägnanten Titel Terror, der unmittelbar in das Thema des Dramas einführt und den Inhalt bereits ein stückweit vorwegnimmt. Der Titel stellt das Stück vor. Aber er soll nicht zuletzt auch neugierig darauf machen. […] Viele Dramen haben neben ihrem Titel auch einen Untertitel. Es ist der bevorzugte Ort, um die Art des Dramas näher zu bezeichnen.96 Ferdinand von Schirach, der auch bei seinen bisherigen Kurzgeschichten auf ausschweifende Titel verzichtete, wählt mit Terror einen simplen, aber wirkungsvollen Titel. Durch die Reduktion auf ein Substantiv, das für sich alleinsteht, legt Schirach einen bewussten Fokus. Der Titel verrät jedoch nicht zu viel. Es bleibt zunächst offen, auf welche Art und Weise das Thema ‚Terror‘ zum Gegenstand des Werks gemacht wird. Durch den Untertitel Ein Theaterstück und eine Rede gewinnt das Publikum die Erkenntnis, dass dem Drama eine für das Stück relevante Rede angefügt ist, die das Werk ergänzt. Der Begriff ‚Terror‘ leitet sich laut Duden vom lateinischen Wort ‚terror‘ für „Schrecken (bereitendes Geschehen)“ bzw. ‚terrere‘ für „in Schrecken setzen“ ab. Darunter versteht man die „[systematische] Verbreitung von Angst und Schrecken durch Gewaltaktionen (besonders zur Erreichung politischer Ziele)“.97 Im Duden kann man die Definition des Wortes ‚Terror‘ auf Seite 1.055 in Spalte 2 nachschlagen, ohne dass man sich einer Gefahr aussetzt. Die reale Bedrohung, dass der Ernstfall eines terroristischen Aktes eintreten könnte, ist mittlerweile Bestandteil des täglichen Lebens. Die Möglichkeit, dasselbe Schicksal zu erfahren, das die Passagiere in Terror ereilte, ist eine Gefahr, mit der die Menschen heutzutage leben müssen. Terroristische Akte sind zu beständigen Begleitern unserer Zeit geworden. Die Bedrohung durch den Terror besteht am Land, im Wasser oder in der Luft. Das Wort ‚Terror‘ steht in Nachschlagewerken unscheinbar in schwarzen Buchstaben auf weißem Papier zwischen abertausenden anderen aufschlussreichen Erklärungen. Ein ironisches und groteskes Bild zugleich: Lassen uns doch gerade terroristische Akte sprachlos zurück, indem sie uns die Worte rauben, um die Taten von Terroristen begreifen zu können. Die Grausamkeit des Terrors entzieht sich der Vorstellung jener, die von ihm verschont geblieben sind. Mit Worten kann über den Umgang mit dieser wachsenden Gefahr diskutiert und ein Bewusstsein dafür geschaffen werden. 96 Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse. 8. akt. und erw. Aufl. Metzler: Stuttgart 2016. (= Sammlung Metzler. 188.) S. 21-22. 97 Duden Online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Terror [02.02.2021]. Stichwort: Terror.


34 Das Drama ist in drei Akten aufgebaut, wobei der dritte Akt als ‚Urteil‘ bezeichnet wird. Der erste Akt umfasst Seite eins bis Seite 112, der zweite Akt reicht von Seite 113 bis Seite 132 und der der dritte Akt bzw. das Urteil erstreckt sich von Seite 133 bis Seite 146. Auf eine Einteilung in Szenen wird gänzlich verzichtet, sodass das Theaterstück in drei größere Abschnitte gegliedert ist. Der Aufbau des Dramas erinnert an den Ablauf einer Gerichtsverhandlung und kann daher noch exakter unterteilt werden: • Begrüßung und Eröffnung der Gerichtsverhandlung (TE I,7-14) • Verlesung der Anklageschrift, Erwiderung des Angeklagten Lars Koch (TE I,15-21) • Beweisaufnahme, Vernehmung des Zeugen Oberstleutnant Lauterbach, des Angeklagten Major Koch und der Zeugin Frau Meiser (TE I,22-112) • Plädoyer von Staatsanwältin Nelson und Verteidiger Biegler, Schlusswort des Vorsitzenden (TE II,113-132) • Urteilsfindung, Abstimmung des Schöffengerichts (TE III,132-133) • Urteilsverkündung: Freispruch oder Verurteilung, Begründung des Urteils (TE III,134-145) Der erste Akt ist der umfangreichste Abschnitt des Theaterstücks und umfasst den Hauptteil der Gerichtsverhandlung. Er kennzeichnet sich im Wesentlichen durch die Befragungen des Angeklagten und der Zeugen aus. Der zweite Akt widmet sich beinahe ausschließlich den Schlussplädoyers von Staatsanwältin Nelson und Verteidiger Biegler. Das Publikum erhält dadurch zum einen eine Zusammenfassung des Prozesses, zum anderen eine direkte Gegenüberstellung der Standpunkte beider Parteien. Der zweite Akt endet mit der Urteilsfindung und der Abstimmung durch das Schöffengericht. Im dritten und letzten Akt verkündet der Vorsitzende das Urteil der Schöffen, das bereits mit Spannung erwartet wird. Hier wurde zwischen zweitem und drittem Akt der größte Spannungsbogen erzeugt, da hier die Peripetie, also der (plötzliche) Wendepunkt, stattfindet. Der dritte Akt schließt mit Urteilsbegründung, sodass sowohl einem Freispruch als auch einer Verurteilung eine rechtlich fundierte Erläuterung zugrunde liegt. Abbildung 4: Dramenaufbau in drei Akten


35 Das Theaterstück spielt in der Gegenwart, Schauplatz ist die deutsche Bundeshauptstadt Berlin. Das Datum der Gerichtsverhandlung ist nicht näher datiert, kann aber auf Dezember 2013 bis Jänner 2014 eingegrenzt werden, da die Verhandlung etwa sieben Monate nach dem Abschuss der Passagiermaschine stattfindet. In dieser Zeit befand sich der Angeklagte Lars Koch in Untersuchungshaft (TE I,19). Der Tathergang vom 26.05.2013 (TE I,15) wird durch die Vernehmungen des Angeklagten Lars Koch und der Zeugen Lauterbach und Meiser versucht zu rekonstruieren. Das Theaterstück hat eine einheitliche geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende, spielt an einem einzigen überschaubaren Ort und erstreckt sich über eine zeitliche Ausdehnung von ein paar Stunden. Durch die Erfüllung der Einhaltung der Einheiten Handlung, Ort und Zeit handelt es sich um ein geschlossenes Drama im Sinne der Aristotelischen Poetik. Nebenhandlungen, Ortswechsel und Zeitsprünge sind ausgeschlossen.98 4.3.1 Der Schluss: Held oder Mörder? Terror hebt sich insbesondere durch seinen Schluss von anderen Dramen ab, da das Publikum entscheidet, ob der Angeklagte als Held gefeiert oder als Mörder verurteilt wird. Die Leser und Zuschauer wählen zwischen Freispruch oder Verurteilung, wenngleich sie keine vollkommene Entscheidungsfreiheit über den Ausgang haben. Dieses Format erinnert an die populäre deutschen Gerichtsshow Wie würden Sie entscheiden?, die von 1974 bis 2000 ausgestrahlt und bis 1990 von Gerd Jauch und später von Bernhard Töpper moderiert wurde. In der 45-minütigen Show wurden reale Gerichtsverhandlungen nachgestellt, Kläger und Beklagte wurden von Schauspielern dargestellt, die Rollen von Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern wurden von Juristen übernommen. Das Studiopublikum durfte nach der simulierten Gerichtsverhandlung per Knopfdruck über Freispruch oder Verurteilung des Angeklagten entscheiden. Danach wurde das Abstimmungsergebnis des Publikums mit dem Urteilsspruch der realen Verhandlung verglichen, in der Runde diskutiert und vom Zivilrechtswissenschaftler und Richter Hans Brox kommentiert. Die langjährige TV-Show des ZDF lieferte einen wichtigen Beitrag zum Rechtsverständnis in der Bundesrepublik Deutschland und sorgte für Interesse am deutschen Rechtsgeschehen und an den Abläufen vor Gericht.99 98 Vgl. Franziska Schößler: Einführung in die Dramenanalyse. 2. akt. und überarb. Aufl. Stuttgart: Metzler 2017, S. 22-23. Im Folgenden zitiert als: Schößler, Einführung. 99 Vgl. Wikipedia: Wie würden Sie entscheiden? URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Wie_w%C3%BCrden_Sie_entscheiden%3F [22.03.2021].


36 Im deutschsprachigen Raum wagt Ferdinand von Schirach als erster Dramatiker eine derartige Inszenierung eines Theaterstücks. Der aktive Miteinbezug des Publikums in die Handlungsentwicklung der Geschichte erzielt einen besonderen dramaturgischen Effekt. Zum einen erhöht sich die Aufmerksamkeit des Publikums, da es anhand der präsentierten Informationen eine Entscheidung treffen muss, zum anderen wird durch den ungewissen Ausgang zusätzlich Spannung erzeugt, die bis zum Ende hin aufgebaut wird. 4.3.2 Freispruch des Angeklagten Der Freispruch des Angeklagten Lars Koch wird mit dem übergesetzlichen Notstand begründet. Unter einem ‚übergesetzlichen Notstand‘ versteht man ein unvorhersehbares Ereignis, das zu einem außergewöhnlichen Gewissenskonflikt führt. Übergesetzliche Ereignisse sind nicht durch Gesetze geregelt, d. h. nicht in der Rechtsordnung verankert. Über die rechtlichen Folgen im Fall eines übergesetzlichen Notstands herrscht daher Uneinigkeit in der Rechtswissenschaft. Lars Koch habe sich im Rahmen seiner Möglichkeiten für das objektiv kleinere Übel entschieden. Aus diesem Grund treffe ihn keine strafrechtliche Schuld. Das angeführte Argument der Staatsanwältin, wonach die Passagiere versuchten ins Cockpit zu gelangen, reiche als Anklagepunkt nicht aus. Ebenso wenig sei das potenzielle Szenario, dass der Pilot die Passagiermaschine in letzter Sekunde noch hochziehen könnte, möglich, aber unrealistisch. Das Gericht dürfe hier nicht auf Wahrscheinlichkeiten, sondern ausschließlich auf Tatsachen stützen. Das Gedankenexperiment Transplantationsfall und dessen Kernaussage, dass es moralisch verwerflich sei, das Leben eines gesunden Mannes für fünf andere Leben zu opfern, werden vom Gericht zwar als richtig, aber als irrelevant für den Fall erachtet. (TE III, 142-144) Verteidiger Biegler beruft sich bereits während seines Schlussplädoyers auf eine Art Präzedenzfall, der belegt, dass das Recht bereits in früherer Zeit zu Gunsten des kleineren Übels entschieden hat. Im Jahr 1841 rammte das Schiff William Brown einen Eisberg und drohte zu sinken. Da nicht genügend Rettungsboote zur Verfügung standen, entschied der Matrose Alexander Holmes 16 Menschen über Bord zu werfen, um die restlichen Passagiere vor dem Ertrinken zu retten. Alexander Holmes wurde zwar vor Gericht gestellt und musste sich für seine Taten verantworten, erhielt aber eine vergleichsweise milde Strafe. Das Gericht erkannte die Notwendigkeit seiner Entscheidung und begründete dies damit, dass dadurch der größte Teil der Passagiere gerettet werden konnte. Verteidiger Biegler konnte somit zeigen, dass in der Rechtsgeschichte Abwägungsentscheidungen mit Todesfolge in Ausnahmen toleriert werden. (TE II,127)


37 Der Vorsitzende beendet den Freispruch mit folgenden Worten: Auch wenn es schwer zu ertragen ist, müssen wir doch akzeptieren, dass unser Recht offenbar nicht in der Lage ist, jedes moralische Problem widerspruchsfrei zu lösen. Lars Koch wurde zum Richter über Leben und Tod. Wir besitzen keine rechtlichen Kriterien, um seine Gewissensentscheidung letztgültig zu überprüfen. Das Gesetz, die Verfassung und die Gerichte ließen ihn damit allein. Es ist daher unsere feste Überzeugung, dass es falsch wäre, ihn jetzt dafür zu verurteilen. Der Angeklagte war somit freizusprechen. Die Verhandlung ist geschlossen, die Schöffen sind mit Dank aus ihrer Pflicht entlassen.100 4.3.3 Verurteilung des Angeklagten Die Verurteilung des Angeklagten Lars Koch wird mit einem Verstoß gegen die Verfassung und der damit einhergehenden Verletzung der Menschenwürde begründet. Die deutsche Verfassung untersagt, ein Leben gegen ein anderes Leben abzuwägen, unabhängig in welcher Größenordnung. Überdies habe auch kein übergesetzlicher Notstand vorgelegen. Dieser sei ohnehin nicht durch Gesetzte geregelt, also weder im Grundgesetz noch im Strafgesetzbuch verankert. Das oberste Prinzip für das Gelingen eines zivilisierten Zusammenlebens sei die Achtung der Würde des Menschen. (TE III,136) Im Rahmen der Verurteilung betont der Vorsitzende wie auch schon Staatsanwältin Nelson, dass die Verfassung auch in extremen Situationen Bestand haben muss und die Würde des Menschen zu schützen ist. Dies erläutert der Vorsitzende am Beispiel des Mignonette-Falls. Am 05.07.1884 geriet der englische Frachter Mignonette in einen Sturm und kenterte etwa 1600 Meilen vor der afrikanischen Küste am Kap der Guten Hoffnung. Nachdem das Schiff untergangen war, konnte sich die vierköpfige Mannschaft, bestehend aus Kapitän Dudley, den zwei Matrosen Stephens und Brooks und dem 17-jährigen Schiffsjungen Parker, auf ein Beiboot retten. Da sie nichts außer zwei Dosen Rüben an Bord hatten, hielten sich ihre Überlebenschancen in Grenzen. Von den Rüben konnte sich die Mannschaft drei Tage ernähren. Am vierten Tag gelang es den Männern eine Schildkröte aus dem Wasser zu fangen, von der sie bis zum zwölften Tag satt wurden. Am 18. Tag unterbreitete der Kapitän den Vorschlag, einen aus ihrer Runde zu töten, da sie bereits sieben Tage nichts gegessen und fünf Tage nichts getrunken hatten. Als weitere Tage verstrichen, fasste der Kapitän den Entschluss, den 17-jährigen Schiffsjungen zu töten und begründete seine Wahl zum einen dadurch, dass der Junge eine Waise war, und zum anderen dadurch, dass er durch das getrunkene Meerwasser ohnehin sterben würde. Da keine Hoffnung mehr auf Rettung bestand und der Kapitän keinen anderen Ausweg 100 Schirach, Terror, S.144.


38 wusste, tötete er den Schiffsjungen mit einem Messerstich in den Hals. In den darauffolgenden Tagen konnten sich der Kapitän und die beiden Matrosen vom Fleisch und Blut des Jungen ernähren und somit überleben. Vier Tage nach der Tat wurden die Seeleute von Passagieren eines vorbeifahrenden Schiffes entdeckt, gerettet und zurück nach London gebracht. Die drei Männer wurden daraufhin verhaftet und angeklagt. Der Matrose Brooks, der sich bereit erklärte als Zeuge vor Gericht auszusagen, wurde von der Anklage freigesprochen. Die Anklage gegen Kapitän Dudley und Matrose Stephens blieb bestehen – der Fall ging unter dem Titel Die Königin gegen Dudley und Stephens in die Rechtsgeschichte ein. Durften die Seeleute das Leben des Schiffsjungen opfern, um dadurch ihr eigenes Leben zu retten? Das englische Gericht verurteilte Kapitän Dudley und Matrose Stephens wegen Mordes zum Tode. Der Richter sprach aber eine Empfehlung zur Begnadigung der beiden aus, sodass das Urteil in eine sechsmonatige Haftstrafe umgewandelt wurde. (TE III,136-138) Der Vorsitzende beendet den Urteilsspruch mit folgenden Worten: Die Passagiere der Lufthansa-Maschine waren nicht nur dem Terroristen, sondern auch Lars Koch hilflos und wehrlos ausgeliefert. Sie wurden getötet, ihre Würde, ihre unveräußerlichen Rechte, ihr ganze Menschsein missachtet. Menschen sind keine Gegenstände, ihr Leben ist nicht in Zahlen zu messen, sie unterliegen nicht den Gesetzen eines Marktes. Das heutige Urteil dieses Gerichts soll also auch als erneute Warnung vor den schrecklichen Gefahren verstanden werden, die es bedeutet, die Grundwerte der Verfassung zu verletzen. Der Angeklagte war daher zu verurteilen. Die Verhandlung ist geschlossen, die Schöffen sind aus ihrer Pflicht mit Dank entlassen.101 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die ‚Verurteilung‘ – entgegen der alphabetischen Reihenfolge – dem ‚Freispruch‘ in der Buchausgabe vorgereiht ist. Über die Beweggründe für diese Entscheidung kann nur gemutmaßt werden. Ferdinand von Schirach äußert sich zu dieser Problematik in seinem Essay Die Würde ist antastbar und macht deutlich, dass er in diesem Fall eine Verurteilung befürwortet: Bei Kant können nur vernünftige Menschen Personen sein – ein Kind oder ein geistig Behinderter fällt nicht darunter. Der Verfassung reicht es hingegen, wenn der Mensch ein Mensch ist. Schon dadurch ist er Subjekt und besitzt Würde. Wenn nun über einen Menschen bestimmt wird, ohne dass er darauf Einfluss nehmen kann, wenn also über seinen Kopf hinweg entschieden wird, wird er zum Objekt. Und damit ist klar: Der Staat kann ein Leben niemals gegen ein anderes Leben aufwiegen. Keiner kann wertvoller sein als ein anderer, eben weil Menschen keine Gegenstände sind. Und das gilt auch für große Zahlen.102 101 Ebda, S. 139. 102 Schirach, Würde, S. 11.


39 4.4 Figuren und Personenkonstellation Im Theaterstück treten sechs Figuren auf, die für die Entwicklung der Handlung von zentraler Bedeutung sind. Der Protagonist des Stücks ist der Angeklagte Major der Luftwaffe Lars Koch, der von seinem Verteidiger Biegler vor Gericht vertreten wird. Den Vorsitz während der Gerichtsverhandlung übernimmt der Richter, der eine neutrale Position einnimmt. Der Staat und dessen Interessen werden durch Staatsanwältin Nelson vertreten, die als Hauptklägerin auftritt. In den Zeugenstand werden zum einen Oberstleutnant Christian Lauterbach, zum anderen die Nebenklägerin Franziska Meiser aufgerufen. Oberstleutnant Lauterbach soll als Zeuge zum Tathergang befragt werden und den Ablauf der Geschehnisse aus seiner Sicht schildern. Die Nebenklägerin Meiser hat ihren Mann durch den Abschuss der Passagiermaschine verloren, da er beim Absturz des Flugzeugs wie die anderen 163 Passagiere getötet wurde. Neben den sechs Einzelfiguren tritt das Schöffengericht als wichtige Instanz auf. Die Schöffen haben als Schwurgericht die Aufgabe über das weitere Schicksal von Lars Koch zu entscheiden, indem sie über Freispruch oder Verurteilung des Angeklagten abstimmen. Sie erfüllen die Funktion des antiken Chors und repräsentieren die öffentliche Meinung zur verhandelnden Sache. 103 Als Randfiguren, die nicht näher charakterisiert werden, treten der Wachtmeister und die Protokollführerin auf. Das Drama muss auf eine wichtige Ausdrucksform weitgehend verzichten, über die ein Prosatext verfügt. Die Innenschau, also der Blick auf seelische Vorgänge, ist lediglich in begrenztem Maße möglich. […] Das Drama kann den Verzicht auf Introspektion jedoch dadurch kompensieren, dass es die Figuren in der Konstellation und Auseinandersetzung mit Anderen, also über ihre Interaktion bestimmt.104 Das Drama besteht zum überwiegenden Teil aus Dialogen, stellenweise fließen Monologe in die Gerichtsverhandlung mit ein, beispielsweise während der Verlesung der Anklageschrift (TE I,15) und der Erwiderung des Verteidigers (TE I,17-20) oder im Zuge der Schlussplädoyers von Staatsanwältin Nelson (TE II,114-124) und Verteidiger Biegler (TE II,124-130). Die Interaktionen zwischen den einzelnen Figuren sind phasenweise sehr hitzig, vor allem während der Vernehmungen durch die Staatsanwältin, da sie ihr Gegenüber stets aus der Reserve zu locken versucht. Großteils herrscht unter den Figuren aber eine respektvolle Gesprächskultur. Die Dialoge werden durch ein Frage-Antwort-Schema dominiert (siehe Abschnitt 4.5). 103 Schößler, Einführung, S. 20-21. 104 Ebda, S. 77.


40 4.4.1 Angeklagter Major Lars Koch Der Protagonist des Theaterstücks ist der 31-jährige Major der Luftwaffe Lars Koch (TE I,12), der als ältester Sohn eines Stabsoffiziers der Presseabteilung des Verteidigungsministeriums und einer gelernten Buchhändlerin in Freiburg im Breisgau geboren wurde, wo er eine glückliche Kindheit und Jugend verbrachte. Während seiner Schulzeit interessierte sich Lars Koch vor allem für Physik und Sport wie Fußball und Leichtathletik. Das Abitur absolvierte er mit einem Notendurchschnitt von 1,0 und hatte zugleich das beste Mathematik-Abitur seines Jahrgangs in Baden-Württemberg. Lars Koch wollte seit Kindertagen Kampfpilot werden, da ihn das Fliegen und die Schnelligkeit und Präzision der Maschinen faszinierte. Während seiner Ausbildung zum Kampfpilot, für die sich Lars Koch zuvor in medizinischen, psychologischen und psychomotorischen Tests qualifiziert hatte, erhielt er die besten Beurteilungen und wurde stets für eine sofortige Beförderung empfohlen. Er absolvierte sowohl in Deutschland als auch in den USA Lehrgänge und beendete seine Berufsausbildung mit dem Führerschein für Militärflugzeuge. Lars Koch zählt zu den wenigen, die nach dieser umfangreichen Ausbildung auch tatsächlich einen Eurofighter fliegen dürfen (TE I,63-69). Der Protagonist ist zur Zeit der Gerichtsverhandlung im Dienstrang eines Majors der Luftwaffe. Er ist verheiratet, hat einen zweijährigen Sohn namens Boris und wohnt in Berlin-Steglitz (TE I,12). Vor Gericht erscheint er in Luftwaffenuniform (TE I,10). Im Rahmen der Gerichtsverhandlung gibt sich Lars Koch durchwegs professionell und um eine umfassende Aussage bemüht. Er macht zunächst einen ruhigen Eindruck, lediglich die Fragen der Staatsanwältin während des Kreuzverhörs bringen den konzentrierten Kampfpiloten aus der Fassung. Durch seine nüchternen Schilderungen wirkt Major Koch phasenweise beinahe unberührt vom Schicksal der Passagiere. Die emotionale Seite des Angeklagten kommt erst zum Vorschein, als die Staatsanwältin seine Ehefrau und seinen Sohn in das Verhör miteinbezieht und sie zu potenziellen Opfern macht. Aufgrund der Hintergrundinformation zu Herrn Kochs schulischem und beruflichem Werdegang gewinnt das Publikum den Eindruck, dass es sich um einen besonders intelligenten, zielstrebigen und pflichtbewussten Mann handeln muss. Lars Koch wirkt keineswegs wie ein kaltblütiger Mörder oder desozialisierter Psychopath, der das Ziel verfolgt, vorsätzlich Menschen zu töten. An mehreren Stellen des Dramas wird deutlich, dass der Protagonist mit dieser Abwägungsentscheidung gerungen hat (TE I,97). Letztendlich hat er keinen anderen Ausweg gesehen, als die Passagiermaschine abzuschießen, um das Leben vieler zu retten.


41 4.4.2 Vorsitzender Der Vorsitzende eröffnet, leitet und schließt die Gerichtsverhandlung und verkündet abschließend das Urteil der Schöffen. Er tritt vor Gericht als Moderator der Verhandlung auf und übernimmt die Leitung des Prozesses. Der Vorsitzende ist darum bemüht, Abläufe zu verstehen und Wissenslücken zu schließen. So bittet er beispielsweise Herrn Lauterbach Begriffe aus der Luftwaffentechnik zu erklären (TE I,26). Bei Bedarf ruft er die Parteien zur Sachlichkeit auf, mahnt sie Ausfälligkeiten zu unterlassen und die Fassung zu bewahren (TE I,23/ TE I,97). Der Richter tritt als neutrale Figur auf und ist durch sein berufliches Amt zur Parteilosigkeit verpflichtet. Sein Äußeres wird wie folgt beschrieben: „Er trägt einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine weiße Krawatte. Die Robe hat er über seinen Arm gelegt.“ (TE I,7) Der Wachtmeister und die Protokollführerin treten lediglich als Randfiguren auf, deren nähere Charakterisierung einerseits nicht möglich und andererseits für die Handlungsentwicklung nicht von Bedeutung ist. 4.4.3 Staatsanwältin Nelson Staatsanwältin Nelson tritt als Klägerin vor Gericht auf und fungiert als Sitzungsvertreterin für die Staatsanwaltschaft, deren Interessen sie bestmöglich zu vertreten versucht. Sie übernimmt einerseits wie der Vorsitzende Vernehmungen, andererseits bezieht sie in der Schuldfrage aber eine klare Position. Während der Gerichtsverhandlung tritt sie äußerst souverän auf und hält entschieden an ihren Überzeugungen fest (TE II,120). Die Staatsanwältin verweist stets auf geltendes Recht und die Grundsätze des Rechtssystems (TE II,122). Im Kreuzverhör von Lars Koch lässt sie sich nicht beirren und geht sehr direkt, beinahe schonungslos vor (TE I,92-93). Durch ihre Verhörtechnik gelingt es der Staatsanwältin, den Angeklagten in eine moralische Sackgasse zu drängen (TE I,96). Rechtfertigungen von Lars Koch und Argumente von Verteidiger Biegler versucht sie geschickt zu entkräften (TE I,88). Herrn Lauterbach spricht sie zumindest eine Teilschuld an der versäumten Räumung des Stadions aus, was ihn in Verlegenheit bringt(TE I,52-57). Während der Gerichtsverhandlung überbieten sich Staatsanwältin Nelson und Verteidiger in einem verbalen Schlagabtausch. Ferner überzeugt die Staatsanwältin durch ihr detailliertes moralphilosophisches Wissen, das sie mehrfach unter Beweis stellt. Sie zitiert beispielsweise den Weichensteller- (TE II,116) und den Transplantationsfall (TE I,83). Ihr Äußeres wird nur sehr spärlich beschrieben: „Die Staatsanwältin und die Protokollführerin tragen schwarze Roben, weiße Blusen und weiße Halstücher.“ (TE I,10)


42 4.4.4 Verteidiger Biegler Verteidiger Biegler ist der ‚natürliche‘ Antagonist von Staatsanwältin Nelson und hat die Aufgabe seinen Mandanten Lars Koch vor Gericht gegen die Anklage der Staatsanwaltschaft strafrechtlich zu verteidigen. Der Verteidiger fällt zu Beginn der Gerichtsverhandlung durch sein legeres Gehabe auf, da er sich beispielsweise neckisch über das Tragen einer Robe bei Gericht äußert (TE I,14). Sein ‚Spitzbuben-Charakter‘ und sarkastisches, teilweise despektierliches Auftreten sorgen für Auflockerung während der eher sachlichnüchternen Gerichtsverhandlung (TE I,22-23/ 96-97). Verteidiger Biegler hält wie Staatsanwältin Nelson am Verhandlungsende ein Schlussplädoyer. Er möchte das Schöffengericht von der Unschuld seines Mandanten überzeugen und einen Freispruch für den Angeklagten erwirken. Zudem entkräftet Verteidiger Biegler die Vorwürfe gegen Oberstleutnant Lauterbach, da Herr Lauterbach eine Räumung des Stadions gar nicht veranlassen hätte können (TE I,61). Im Gegensatz zu Staatsanwältin Nelson sträubt sich Verteidiger Biegler gegen die ausnahmslose Gültigkeit von Prinzipien (TE II,130). Der Verteidiger glänzt durch sein rechtsethisches Wissen und hat Kenntnis von für den Fall relevanten Gedankenexperimenten der Ethik. Die Figur Biegler kann als Alter Ego Ferdinand von Schirachs interpretiert werden, wie bereits in Abschnitt 3.3 angedeutet wurde. Verteidiger Biegler tritt in Schirachs Drama Gott erneut in der Rolle des Anwalts in Erscheinung. Der Verteidiger trägt zu Beginn der Gerichtsverhandlung keine Robe (TE I,10), wird aber kurz darauf vom Vorsitzenden aufgefordert diese anzulegen. (TE I,14) 4.4.5 Oberstleutnant Christian Lauterbach Der 49-jährige Oberstleutnant Lauterbach ist als Zeuge vor Gericht geladen und soll durch seine Aussage bei der Rekonstruktion des Tathergangs sachdienliche Informationen zu Protokoll geben. Herr Lauterbach ist als Berufssoldat im Dienstrang eines Oberstleutnants und steht in der Hierarchiekette über Major Koch. Am Tag des Abschusses geht er seinem Dienst als Duty Controller im Lage- und Führungszentrum für Sicherheit im Luftraum nach. Als Duty Controller ist er für die Überwachung des deutschen Luftraums und die Überprüfung potenzieller Renegades105 zuständig. Am 26.05.2013 erfährt Oberstleutnant Lauterbach per Funk von der Entführung der Passagiermaschine und informiert 105 Renegade = „Fall, dass ein zivilistisches Verkehrsflugzeug von Luftpiraten für einen terroristischen Angriff verwendet wird.“ (TE I,29) Für die detaillierte Befehlskette im Fall einer Bedrohung im Luftraum siehe Abschnitt 4.1, Abb. 3, S. 27.


43 umgehend seinen Vorgesetzten Generalleutnant Radtke, den Inspekteur und höchsten General der Luftwaffe. Danach veranlasst er der Aufstieg der Alarmrotte, um Sichtkontakt zur entführten Lufthansa-Maschine aufzunehmen. Einer der beiden Piloten der Alarmrotte in den Kampfflugzeugen ist Major Koch. Der Befehl von Generalleutnant Radtke lautet, die Passagiermaschine abzudrängen, die darauf aber nicht reagiert. Da das Abdrängen und der abgesetzte Warnschuss keine Wirkung zeigen und ein Abschuss vom Verteidigungsminister abgelehnt wird, verweigert Oberstleutnant Lauterbach einen Abschussbefehl. Während der Vernehmung wirkt Herr Lauterbach besonnen und zeigt sich kooperationsbereit. Da die Staatsanwältin nachhakt, weshalb eine Räumung der Allianz-Arena trotz zeitlicher Kapazitäten nicht veranlasst wurde, gesteht Herr Lauterbach ein, dass er mit einem Abschuss der Passagiermaschine durch Herrn Major Koch gerechnet habe (TE I,55). Das Vokabular des Oberstleutnants ist von Begriffen aus der Luft- und Waffentechnik geprägt, weswegen er vom Vorsitzenden aufgefordert wird, militärische Ausdrücke verständlich zu erklären (TE I,26). Das Aussehen von Herrn Lauterbach wird nicht beschrieben. 4.4.6 Nebenklägerin Franziska Meiser Die 34-jährige Frau Meiser tritt gleichzeitig als Nebenklägerin und Zeugin vor Gericht auf. Sie wird wie Major Koch und Oberstleutnant Lauterbach zum Tatgeschehen befragt. Frau Meiser ist mit einem der Passagiere der Lufthansa-Maschine und späteren Todesopfer verheiratet gewesen, sie haben zusammen eine Tochter. Am Tag des Abschusses will sie ihren Ehemann vom Flughafen abholen, muss aber feststellen, dass sich die Ankunft des Fliegers verzögert. Sie erhält kurz darauf die folgende Nachricht von ihrem Mann: „Terroristen haben uns entführt. Wir versuchen ins Cockpit zu kommen. Habe bitte keine Angst, wir schaffen das. Ich liebe dich.“ (TE I,102) Frau Meiser wird als eher durchschnittlich bis unterdurchschnittlich gebildet dargestellt. Dies wird durch mehrere Antworten während der Befragung angedeutet, da sie beispielsweise über unwichtige Details wie die Hautunreinheiten eines Polizisten berichtet (TE I,104). Ferner versteht sie nicht, was es bedeutet, wenn sich ein Smartphone mit einem europäische Zeitserver synchronisiert (TE I,103). Sie ist zu tief bestürzt, dass ihr Mann durch den Absturz ums Leben gekommen ist, und macht sich vor allem um ihre 7-jährige Tochter Sorgen (TE I,109). Für Frau Meiser ist Lars Koch eindeutig schuldig, da er die Menschen an Bord der Passagiermaschine durch den Abschuss eigenmächtig getötet hat (TE I,100). Das Aussehen von Frau Meiser wird nicht näher beschrieben. Sie arbeitet als Krankenschwester in München (TE I,99).


44 4.4.7 Personenkonstellation Abbildung 5: Personenkonstellation (modifiziertes Modell nach Möbius) Abbildung 5 soll die Personenkonstellation in Terror in Form einer Waage bildlich veranschaulichen. Der gelbe Querbalken, der sich im Gleichgewicht befindet, repräsentiert das anfänglich neutrale Schöffengericht. Im Laufe der Handlung liegt es am Publikum zu entscheiden, auf welche Seite der Balken kippen wird. Das Urteil der Zuschauer ist ausschlaggebend für das Abstimmungsergebnis. Das orangefarbene Rechteck steht für die Parteien, die auf einen Freispruch von Lars Koch hoffen. Diese Position wird von drei Figuren vertreten, die das Verhalten des Angeklagten als gerechtfertigt einstufen. Der Angeklagte Lars Koch vertritt die Meinung, dass er sich im Rahmen seiner Möglichkeiten für das kleinere Übel entschieden hat. Verteidiger Biegler und Oberstleutnant Lauterbach stimmen dieser Ansicht zu. Das grüngefärbte Rechteck steht für die Parteien, die eine Verurteilung von Lars Koch fordern. Diese Position wird von zwei Figuren vertreten, die von der Schuld des Angeklagten überzeugt sind. Staatsanwältin Nelson, die als Hauptklägerin auftritt, sieht im Verhalten von Lars Koch eine Verletzung des Grundgesetzes. Frau Meiser hat durch den Abschuss ihren Ehemann verloren und wünscht sich Gerechtigkeit. Die blaue Ellipse repräsentiert als höchste Instanz den Vorsitzenden, der für keine der beiden Seiten Partei ergreift, sondern als neutrale Figur auftritt. Die Abbildung verdeutlicht das unausgeglichene Personenverhältnis im Drama. Während Lars Koch und sein Verteidiger den Abschuss zugunsten eines Freispruchs rechtfertigen und Oberstleutnant Lauterbach gesteht, dass er damit zumindest gerechnet hat, verurteilt Staatsanwältin Nelson diese Abwägungsentscheidung aus rechtlichen und ethischen Gründen. Für die Nebenklägerin Frau Meiser steht die Tötung ihres Gatten und ihr emotionaler Verlust im Vordergrund.


45 4.5 Sprache und Stil In einem Gerichtsverfahren spielen wir die Tat nach, das Gericht ist eine Bühne. Natürlich führen wir kein Theaterstück auf, wir sind ja schließlich keine Schauspieler. Wir spielen die Tat durch Sprache nach, das ist unsere Art, sie zu erfassen. Sie hat sich seit Langem bewährt.106 Den Feldern Recht und Literatur ist gemeinsam, dass sie sich durch Sprache auszeichnen. Da in Terror ein Gerichtsverfahren inszeniert wird, steht auch hier die Sprache im Fokus. Das Drama ist äußerst dialoglastig und verzichtet auf dynamische Bewegungsabläufe. Das Hauptaugenmerk liegt auf den Dialogen der Figuren. Im Fall von Terror werden aufgrund der Thematik vor allem Begriffe aus der Luft- und Waffentechnik verwendet. Die Sprache der Figuren ist durch das Setting einer Gerichtsverhandlung aber auch stark von Begriffen aus der Rechtswissenschaft geprägt, wie die Tabellen 1 und 2 veranschaulichen. Begriffe aus der Luft- und Waffentechnik Luft-Luft-Lenkkörpergeschoss (TE I,15) Eurofighter (TE I,33) Passagierflugzeug des Flugzeugtyps Airbus Industrie A320-100/200 (TE I,15) Jagdflieger (TE I,34) DC = Duty Controller (TE I,26) Cockpit (TE I,35) Stabsoffizier der Luftwaffe (TE I,27) Intervention = Abdrängung (TE I,36) Luftverteidigungssystem (TE I,27) Fünfkammerrevolverkanone der Firma Mauser (TE I,39) Nationale Lage- und Führungszentrum für Sicherheit im Luftraum (TE I,27) Mündungsgeschwindigkeit (TE I,39) Luftraumüberwachung (TE I,28) Geschossmasse (TE I,40) NATO-Gefechtsstand (TE I,28) Hochexplosivgeschosse (TE I,40) Primär- und Sekundärradar (TE I,29) Mischbeladung: Leuchtspurmunition (TE I,40) Renegade (TE I,29) Rottenführer (TE I,40) Funkkontakt (TE I,30) Pulverdampf (TE I,41) Funkspruch (TE I,32) Leuchtspur (TE I,41) Funksignale (TE I,32) Abschussbefehl ‚engage‘ (TE I,45) Generalleutnant (TE I,33) Sinkflug (TE I,46) Alarmrotte (TE I,33) Sidewinder (TE I,47) Kampfflugzeug (TE I,33) Infrarotsuchkopf der Sidewinder (TE I,48) Tabelle 1: Begriffe aus der Luftwaffentechnik 106 Schirach, Terror, S. 8.


46 Begriffe aus der Rechtswissenschaft Vorsitzende (TE I,7) Schwurgericht (TE I,10) Tatvorwürfe (TE I,22) Robe (TE I,7) Staatsanwaltschaft (TE I,11) Falschaussage (TE I,23) Schöffen (TE I,7) Rechtsanwalt (TE I,11) Bundeskriminalamt (TE I,32) Angeklagte (TE I,7) Untersuchungshaftanstalt (TE I,11) übergesetzlicher Notstand (TE I,57) Gesetz (TE I,7) Zelle (TE I,11) Zeugenentschädigung (TE I,62) Jurist (TE I,8) Mandat (TE I,12) Richterbank (TE I,62) Hauptverhandlung (TE I,8) Prozessbeteiligte (TE I,13) Zeugenstuhl (TE I,63) Zeuge (TE I,8) § 154 a Absatz 1 Strafprozessordnung (TE I,15) Vernehmung (TE I,63) Nebenkläger (TE I,8) §§ 221 Absatz 2, Gruppe 2, Variante 3, 52 Absatz I des Strafgesetzbuches (TE I,15) Strafrecht (TE I,80) Sachverständiger (TE I,8) Strafverfahren (TE I,16) Beweismittel (TE I,110) Verhandlungssaal (TE I,8) Ermittlungsverfahren (TE I,16) Strafregister (TE I,110) Beweise (TE I,8) Wahrheitsfindung (TE I,17) Plädoyer (TE I,111) Urteil (TE I,8) Luftsicherheitsgesetz (TE I,18) Unrecht (TE II,112) Prozess (TE I,8) Täter (TE I,18) Unschuldige (TE II,115) Gerichtsverfahren (TE I,8) Opfer (TE I,18) Grundgesetz (TE II,120) Gericht (TE I,8) Verbrechen (TE I,18) Verfassungsrichter (TE II,121) Recht (TE I,8) Paragrafen (TE I,18) verfassungsgemäß (TE II,126) Freispruch (TE I,9) Bundesverfassungsgericht (TE I,18) verfassungswidrig (TE II,126) Gefängnis (TE I,9) staatliche Gewalt (TE I,18) strafbar (TE II,126) Sicherungsverwahrung (TE I,9) Verfassung (TE I,18) Rechtsthesen (TE II,131) Verteidiger (TE I,9) Anklage (TE I,19) Haft (TE II,132) Wachtmeister (TE I,9) Richter (TE I,20) Verurteilung (TE III,133) Gerichtssaal (TE I,10) Anklageschrift (TE I,20) Haftbefehl (TE III,134) Richtertisch (TE I,10) Mord (TE I,20) Amtsgericht (TE III,134) Staatsanwältin (TE I,10) Tatgeschehen (TE I,20) Instanz (TE III,134) Justizbeamte (TE I,10) Tatablauf (TE I,21) Strafbarkeit (TE III,135) 16. Große Strafkammer (TE I,10) Geständnis (TE I,21) Strafgesetzbuch (TE III,136) Protokoll (TE I,10) Beweisaufnahme (TE I,21) Urteilsbegründung (TE III,138) Tabelle 2: Begriffe aus der Rechtswissenschaft


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