Impressum UNDERrDOG V.i.S.d.P. Fred Spenner Stolles Weg 1 D-27801 Dötlingen +49(0)4431-72771 [email protected] www.underdog-fanzine.de Verkaufspreis: Innerhalb Deutschlands: €2.50.- + €1,60.- (Porto) Abo für 4 Ausgaben: €10.- (im Voraus) Europa: €2,50.- + 3,70.- (Porto) 4er-Abo: 15.- (im Voraus) https://www.underdog-fanzine.de/ shop/abo/ Danke: Henryk Gericke Bezugsquellen Deutschland: GRANDIOSO-Versand&Mailorder, MAD BUTCHER RECORDS, KINK RECORDS , ROTER SHOP, BLACK MOSQUITO Mailorder, PEST&CHOLERA, RIOT BIKE RECORDS, FLIGHT 13 Records, SN-Rex, INCREDIBLE NOISE RECORDS, RilRec., NO SPIRIT Mailorder, Cheap Trash Records Stuttgart, Black Plastic Bremen, TRUE REBEL RECORDS, Archive: Schikkimikki Zinedistro & Library Berlin, Archiv der Jugendkulturen e. V. Berlin Schweiz: ROMP Info- und Plattenladen Luzern Infoläden: Infoladen Bremen, Archiv für alternatives Schrifttum, Infoladen Frankfurt UNDERDOG #74 Deadline: 01.03.2024 Anzeigenschluss: 15.03.2024 Erscheinungsdatum: 01.04.2024 Hinweis: Die Deutsche Nationalbibliothek stellt diese Publikation in Frankfurt und Leipzig bereit und ist im Internet abrufbar unter: http://d-nb.info/1036440567 Inhalt 3 Punk in den sozialistischen Staaten 4 The history of Punk in Yugoslavia 12 Punk in Ungarn 23 Punk in Bulgarien 36 Henryk Gericke 41 tapetopia 56 Punk in der UDSSR 59 What about tomorrow (Buch) 71 Fanzines, Bücher, Comics 72 Abo 83 Ahoi! Unsere zweiteilige Schwerpunkt-Ausgabe skizziert „(Post)Punk, Goth Rock und Subversion im Sozialismus“. Die subversive Natur von (Post)Punk und Goth Rock im Sozialismus war auch ein Ausdruck des Wunsches nach Freiheit und Selbstbestimmung in einer repressiven Gesellschaft. Musik und Kunstformen boten den Menschen eine Plattform, um ihre Unzufriedenheit und ihren Protest gegen das System auszudrücken. Subversive Musik und Subkultur wurden als Bedrohung für die sozialistische Ideologie angesehen, da sie alternative Vorstellungen von Individualität, Freiheit und Rebellion verkörperten und stellten eine besondere Herausforderung für das herrschende Regime dar. Wir sprachen zunächst sehr ausführlich mit Henryk Gericke über (Post)Punk, die DDR-Subkultur, seine „tapetopia“-Reihe und die DDR-Underground-TapeSzene. Nach einer kurzen Einleitung über (Post)Punkbands und subkulturelle Musik in sozialistischen Ländern mit vielen Bands und Beispielen, tauchen wir ein in die Geschichte des Punk und Goth-Rock in (Ex)- Jugoslawien, die – ähnlich wie in Polen – kurz nach der britischen „Punk-Explosion“ begann und mit PARAF einen frühen Vertreter hatte. Ein weiterer Artikel skizziert „Punk in der UDSSR“. Es werden bestimmte russische Merkmale und Ideen berücksichtigt, die die lokalen Interpretationen und Ansätze des Punk geprägt haben. Der Artikel fokussiert Punk in Sibirien, weil der Einfluss des sibirischen Punks auch heute noch in Szenen wie dem Moskauer musikalischen Untergrund zu spüren ist. Abschließend werden auch zwei weitere Artikel mit Punk in Bulgarien und Ungarn subkulturelle Bands in einem autoritären, repressiven Staat vorgestellt. Viel Spaß beim Lesen! 3
Punk in den sozialistischen Staaten Punk breitete sich Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre allen Vorkehrungen der sozialistischen Staatsmächte zum Trotz in den mittel- und osteuropäischen Ländern aus. Für die im sozialistischen System aufgewachsene Punk-Generation waren die vorgegebenen Strukturen selbstverständlich. Gleichzeitig wurden sie bei Fragen zur Vergangenheit aber mit betretenem Schweigen ihrer Eltern konfrontiert, was ihre Neugier weckte. Der Punk-Virus infizierte nicht nur Musiker*innen, sondern auch Literat*innen und bildende Künstler*innen. Punk war ein wirkungsvolles Mittel, um sich von staatsnaher Kunst abzugrenzen und um Aufsehen zu erregen. Die Machthaber*innen fühlten sich von Anfang an vom „westlichen Hooliganismus“, den sie mit dem Phänomen in Verbindung brachten, bedroht und versuchten ihn durch verschiedene Maßnahmen unter Kontrolle zu bringen. Man stellte Bemühungen an, die Bands und ihre Fans in den Medien zu diskreditieren. Die Polizei hielt Machtdemonstrationen ab und Konzerte wurden von staatlichen Sicherheitsbehörden beobachtet. Die Bands wurden samt ihrem weiteren Umfeld von Spitzel/Informant*innen beschattet. Wenn die Polizei es für nötig hielt, wurden Konzerte abgebrochen, das Publikum bzw. Bandmitglieder festgenommen oder schlimmstenfalls vor Gericht gestellt, was nicht selten eine Inhaftierung der Musiker zur Folge hatte. Die Jugendlichen riskierten mit ihrem provokanten Äußeren Ausbildung und berufliche Zukunft. Sie wurden auf der Straße oder in der Schule permanent 4
schikaniert und auf Schritt und Tritt einer Identitätsprüfung unterzogen. Punk, Post-Punk, Goth in Jugoslawien Buldožer ist die einflussreichste slowenische Band aus der Mitte der 70er Jahre, die einen besonderen Platz in der Geschichte der Ex-Jugoslawien-Rock einnimmt. Buldožer besingt in ihrem Song ‚Novo Vrijeme‘ (dt.: Neue Zeit) die neue Ära jugoslawischer Rockmusik und erstellt eine Blaupause für den neuen Sound der sozialistischen Republik. Ihre archaische Musik reflektiert ungeschönt die Lebensumstände einer neuen Generation von JugoslawInnen. Der lyrische Eskapismus der Hard Rock Bands weicht einem Realismus, dessen Inspiration der Alltag auf der Straße ist. Sie waren die erste Band, die Humor und Spielwitz in die ansonsten uninteressante Musiklandschaft injizierte. Das erwies sich als sehr innovativ und vor allem als sehr wertvoll. Buldožer hatten mit ihrer humorvoll-avantgardistischen Herangehensweise an die Musik ein Alleinstellungsmerkmal und bekamen viel Aufmerksamkeit in den Medien, was aber nicht dazu führte, dass die Band kommerzialisiert wurde. Trotz ihres Erfolges gelang es Buldožer immer, das avantgardistische Element zu bewahren, das sie so außergewöhnlich machte. Buldožers Debütalbum „Spit the truth in the eye“ war sehr wichtig für die Punkszene in Ex-Jugoslawien, da es ihnen gelang, die Rock and Roll-Standards zu durchbrechen. Buldožer werden oft als die Vorläufer des Jugoslawien-Punk und New Wave bezeichnet. Es ist nicht verwunderlich, dass andere Bands sie als ihre Vorbilder und als wichtigen Einfluss bezeichnen, da sie eine wichtige, subversive Kraft im Sozialismus für Punk und der damit verbundenen Sehnsucht nach Freiheit und Authentizität waren. Das Besondere an dieser Band war, dass sie nicht nur brillante Musiker, sondern auch wunderbare Menschen sind, die dich zum Lachen bringen. Ihre Diskografie bietet einiges an der besten Jugoslawien-Rock-Musik. Ihr Mangel an Elitismus und ihr großes Selbstbewusstsein wird von der Band selbst mit diesem selbstironischen Statement ausgedrückt: Fuck Buldožer! Obwohl sich die politische Lage in Mittelund Osteuropa im Laufe der 80er Jahre entspannte, waren die Punkbands aufgrund ihrer rebellischen Art weiterhin ständigen Vergeltungsmaßnahmen ausgesetzt. Es entstanden die ersten jugoslawischen Punkbands in Jugoslawien. PARAF PARAF1 ist eine Punkrock- und spätere Post-Punk-Band aus der Hafenstadt Rijeka, die als einer der Pioniere des Punkrocks im ehemaligen Jugoslawien bekannt wurde. PARAF wurde 1976 von den drei Teenagern Valter Kočijanić (Gesang, Gitarre), Zdravko Čabrijan (Bass) und Dušan Ladavac (Schlagzeug) gegründet. 1 https://www.facebook.com/parafrijeka/ BULDOŽER – NOVO VRIJEME EP 5
In ihrer Anfangszeit orientierten sich Paraf am klassischen englischen Punkrock und schrieben mit ihrer sarkastischen Lobeshymne auf die Polizei jugoslawische Punkgeschichte. Später änderten sie ihren Sound hin zu Post Punk und Avantgarde und orientierten sich an Bands wie GANG OF FOUR und WIRE und schlugen mit der neuen Sängerin Vim Cola eine neue Richtung ein: Ihr Sound wurde zunehmend experimenteller und synth-lastiger. Das ist zu hören in Songs wie „Javna Kupatila“ („Öffentliche Toiletten“) oder „Tužne Uši“ („Traurige Ohren“). Ihre erste Single war „Rijeka/Moj život je novi val“, die 1979 veröffentlicht wurde. Ein Jahr später veröffentlichten sie ihre erste LP „A dan je tako lijepo počeo…“ („Aber der Tag begann so gut…“). Es war ein straightes Punkrock-Album. Die Platte wurde aufgrund provokanter Texte und Haltung einem hohen Steuersatz und Zensur unterworfen. Nach dem ersten Album verließ Sänger Valter Kočijanić die Band. Er wurde durch die Sängerin Pavica Mijatović ersetzt, die unter dem Pseudonym Vim Cola agierte, zudem wurde PARAF mit einem neuen Gitarristen besetzt. Das zweite Album Izleti (übersetzt: „Exkursionen“) wurde 1982 veröffentlicht. Von diesem Album und der vorherigen Single „Fini dečko“ / „Tužne uši“ (1981) begann die Band, mit Keyboards zu experimentieren und wechselte bald vom klassischen Punkrock-Sound zu Post-Punkorientierter Musik. Die dritte LP „Zastave“ (übersetzt: „Fahnen“) wurde 1984 veröffentlicht. Dieses Album folgte dem musikalischen Weg von „Izleti“, aber mit noch mehr Verweisen auf die frühen wegweisenden Gothic-Sounds von Bands wie „Siouxsie & the Banshees“, „Joy Division“, „Bauhaus“ oder „Die Heilung“. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung beging Gitarrist Robert Tičić Selbstmord; Das Album erzielte kaum Aufmerksamkeit in den Medien, die Band tourte und promotete dieses Album nicht. Das konzeptionelle und künstlerische Album erlangte dennoch Kultstatus und wurde mit der Zeit als eine der besten Veröffentlichungen des kroatischen Rocks aller Zeiten gefeiert. PARAF heute Single 1979 auf RTV Ljubljana label PARAF mit Vim Cola (2. v. li.) 6
Nicht zuletzt überraschten Paraf im letzten Jahr mit einem neuen Song ‚Bez Lica‘ (dt.: ‚Ohne Gesicht‘). In Zeiten politischer und sozialer Umbrüche wollen sie „Mut machen, den Kopf zu heben und die Wahrheit zu sagen“, erklärt Bassist Zdravko Čabrijan die Botschaft des Stücks. Weiteres Material warte noch darauf, bearbeitet und veröffentlicht zu werden – denn es sei längst nicht alles gesagt. Und das gilt auch für das Goth Rock-Genre. Während Rock-Größen wie Bijelo Dugme, Azra oder Zabranjeno Pušenje vielleicht hierzulande bekannt sind, bleibt die düstere Seite des Punk-Spektrums jedoch überwiegend in der Nische und somit im Underground verortet. Goth-Rock wurde besonders in Mazedonien kultiviert. Padot Na Vizantija „Padot Na Vizantija“ (mazedonisch: Падот на Византија, englisch: The Fall of the Byzantine Empire) war eine einflussreiche Post-Punk-, Darkwave- und Gothic-Rock-Band der 1980er Jahre mit gelegentlichen byzantinischen Musikelementen und orthodoxem christlichen Glauben aus Skopje, SR Mazedonien, damals eine Teilrepublik der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien. Die Band um Gitarrist Klime Kovaceski und Sänger Goran Trajkoski erlangte internationale Bekanntheit, da Goran auch als Sänger der Band ANASTASIA aktiv war. Anastasia waren auf dem Soundtrack-Album für den Oscarnominierten Film „Before the Rain“ unter der Regie von Milčo Mančevski zu hören. Die bekanntesten Titel von „Padot na Vizantija“ sind „Anfang und Ende“ (Почеток и Крај), „The same situation after all“ (И пак истата состојба), „Eine schöne Nacht über Jugoslawien“ (Прекрасна ноќ над Југославија) und „Horse Riders“ (Коњаници). Der Song „The same situation after all“ ist auf dem Sampler „Macedonian Document“ (Македонски Документ) zusammen mit anderen alternativen mazedonischen Künstler*innen enthalten. Außerhalb der musikalischen Aktivitäten hat der Leadgitarrist, Zoran Dabic, eine Karriere als hochrangiger Diplomat hinter sich. Zuvor arbeitete er als Direktor für kollektive Sicherheitssysteme im Außenministerium der Republik Mazedonien, während er als mazedonischer Botschafter bei den internationalen Organisationen in Wien (Vereinte Nationen, OSZE, IAEO, UNIDO usw.) tätig war. Gegründet 1983 von Goran Trajkoski, wurde die Band nach einigen Touren bereits 1985 wieder aufgelöst. Oberflächlich gehört, wird man bei ihnen alle vertrauten Elemente einflussreicher englischer Bands wie Joy Division oder Bauhaus wiederfinden. Aber wenn man sich näher mit der Band beschäftigt, wird man erkennen, was sie sowohl von alten westeuropäischen als auch heutigen exjugoslawischen Bands unterscheidet: Sie verwendeten Elemente aus der byzantinischen Musik wie Choralgesänge und christlich-orthodoxe Motive. Sie sangen auch nicht auf Serbokroatisch, sondern auf Mazedonisch. Das ist ein kleiner, aber nicht unwesentlicher Unterschied: Andere Bands orientieren sich an westlicher Musik, zeitlosen Themen und affirmieren, wenn überhaupt, jugoslawische Identität. „Padot Na Vizantija“ hingegen schöpften aus der mazedonischen Geschichte, 7
Kultur und Folklore und wenden sich religiösen Themen zu. Zusammen mit Bands wie „Anastasia“, „Kismet“ und „Arhangel“ traten sie die musikalische Bewegung „Makedonska Streljba“ los, die für mazedonisches Selbstbewusstsein stand. Eine ähnliche Strömung gab es auch in Slowenien mit der „Neuen Slowenischen Kunst“ von LAIBACH, die sie 1984 gemeinsam mit der Malergruppe IRWIN und der Theatergruppe „Gledališče Sester Scipion Nasice“ begründete. Makedonska Streljba Makedonska Streljba (mazedonisch kyrillisch: Македонска стрељба, d.h. auf Englisch: Makedonian Barrage) ist ein politisches Künstlerkollektiv, das 1985 in Skopje in der SR Mazedonien (der heutigen Republik Mazedonien) gegründet wurde. Einer der wichtigsten Aspekte von „Makedonska Streljba“ war die Verherrlichung der antiken Kultur von Byzanz, die vor mehr als 600 Jahren auf mazedonischem Territorium vorhanden war, vor allem durch liturgische Gesänge und Obertöne (wobei sich auch die traditionelle mazedonische Volksmusik als wichtiges Bindeglied erwies), aber auch durch die Betonung der gemeinsamen religiösen und kulturellen Identität, durch die Werte und das Erbe der östlichen Orthodoxie, die sie von den Byzantinern übernommen hatten. Mit anderen Worten: Es handelte sich um eine mazedonisch geprägte Bewegung, die in erster Linie die Emotionen der mazedonischen Bevölkerung wecken wollte. „Mizar“ aus Skopje und „Telonauka Sovršena“ aus Struga gehörten beispielsweise zu den ersten Bands, die ein Album ausschließlich in mazedonischer Sprache veröffentlichten). Die „Makedonska Streljba“-Bewegung hatte einen starken politischen und ideologischen Hintergrund, da die Betonung der eigenen nationalen Werte und Identität von der bürokratischen kommunistischen Regierung, die keine Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung im politisch korrekten, multiethnischen und multikulturellen Jugoslawien kannte, als sezessionistische Provokation angesehen wurde. Daher waren viele Mitglieder der „Makedonska Streljb“a in Jugoslawien (und insbesondere in Mazedonien) wegen ihrer Ansichten offenem Boykott und Verfolgung ausgesetzt. Die sogenannte „Neue Slowenische Kunst“ war ein vollständiger ethischer, ästhetischer und philosophischer Gegenpol zu ihrem mazedonischen Gegenstück, da sie eine spezifische postmoderne, futuristische Weltanschauung vertrat, die fest in der westlichen Zivilisation verwurzelt war. Mit dem Austritt Mazedoniens aus Jugoslawien im Jahr 1992 befanden sich die Mitglieder der Bewegung in der unangenehmen Situation, die Günstlinge der neu etablierten herrschenden Klasse zu sein. In diesem neuen Klima passten sich einige von ihnen an und schafften mit dem anhaltenden Folk-Revivalismus der 90er Jahre den kommerziellen Durchbruch, während andere im Untergrund blieben. In Mazedonien ist es heute allgemein anerkannt, dass die „Makedonska Streljba“-Bewegung der Grundstein für jede moderne Kultur ist. Und dann gibt es noch eine weitere wichtige Band des mazedonischen GothRocks: MIZAR aus Skopje, 1981 von Gorazd Čapovski gegründet. Auch sie schöpften aus der mazedonischen und byzantinischen Geschichte. Einige Stücke sind sogar auf Altkirchenslawisch, zum Beispiel „Svjat Dreams“, eine folklastige Coverversion des Klassikers „Sweet Dreams“ von den Eurythmics. Makedonska Streljba wurde oft für die rückwärtsgewandten und nationalistischen Implikationen kritisiert, ist aber ästhetisch die wichtigste 8
musikalische New-Wave-Bewegung Mazedoniens, deren Einfluss weit über die 80er Jahre hinaus reicht. In vielen großen Städten Ex-Jugoslawiens entstanden Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre regionale Punk- und NewWave-Szenen. In Zagreb gründeten sich „Pingvinovo Potpalublje“, eine der ältesten Post-Punk-Bands der Region, die bis 1984 aktiv waren. Ihr Stil ist introvertiert und verträumt, gelegentlich kommen Trompete und Saxofon zum Einsatz. In diese Richtung wirkt auch VAJA ORLIĆ, die man auch den „weiblichen Ian Curtis“ nannte. Sie sang bei KARLOWY VARY zu sphärischen Synthie-Sounds und psychedelischen Gitarrenklängen. Doch die mit Abstand wichtigste Goth-Band aus Zagreb ist die 1998 in Zagreb gegründete und bis heute aktive Band PHANTASMAGORIA2 , benannt nach dem legendären Album von The Damned, das 1985 erschienen war. PHANTASMAGORIA Gegründet wurden Phantasmagoria 1988 in Zagreb und landeten mit ihrer Single „Alex“ direkt auf Platz 1 der IndieCharts. Damals gab es in Zagreb eine „Satanic Panic“, einen „Dark-Hype“, wie sich Tomi E. Šega, Sänger der Band, erinnert: „In fast allen Clubs gab es so viele Gruppen von schwarz gekleideten Teenagern, dass bei den Eltern Panik ausbrach, sie bekamen Angst vor satanistischen Vereinigungen.“ Phantasmagoria entsprechen allem, was man sich unter klassischem Goth-Rock im Stil von „The Sisters of Mercy“ oder „Fields of The Nephilim“ vorstellt: tief gesungene Vocals, dominant-groovende Basslines, verzerrte Gitarren und hämmernde Rhythmen. Obendrauf ein Pentagramm als Bandlogo, das Vertreter der katholischen Kirche ohne Mühe für ihre Moralpanik instrumentalisieren konnten: „Wir wurden in den Medien als Satanisten beschimpft, und unsere Plakate wurden wegen des Pentagramms abgerissen“, erzählt Tomi. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass Phantasmagoria ihren Kultstatus insbesondere durch die negative Berichterstattung in den Medien zu verdanken haben. Sie sind bis heute aktiv und tourten 2019 mit „She Past Away“ und die legendären „Christian Death“. Auch die Hafenstadt Rijeka ist für ihre Post-Punk-Szene berühmt und berüchtigt. Von hier stammen neben Bands wie PARAF auch Grč und KAOS. Doch ihr wichtigster Vertreter bleibt Paraf. Auch Ekatarina Velika (EKV) aus Belgrad haben mehrfach die Grenzen der Genres durchbrochen. Gegründet 1982 sind sie eine der bekanntesten ex-jugoslawischen New-Wave-Bands überhaupt. Sie sind so goth wie etwa THE CURE goth sind: Formal ja, aber nicht puristisch, eben Pop von zeitloser Schönheit, was sich auch in ihren Texten ausdrückt, etwa wenn sie singen: „Du hast meinen Weltschmerz geliebt.“ Dobri Isak aus Niš dagegen nannten ihr einziges jemals erschienenes Album „Mi plačemo iza 2 https://www.facebook.com/phantasmagoria93/ PHANTASMAGORIA heute 9
tamnih naočara“ („Wir weinen hinter dunklen Brillen“). Mit seinen unnahbaren Vocals, rituell anmutenden Rhythmen und hypnotischen Bassläufen geht es unter die Haut – ein Klassiker. Ex-jugoslawischer Goth rückt heutzutage immer wieder in den Fokus, weil Goth/Wave sich weltweit wieder im Aufbruch befindet. Zwar wird dieser Subkultur immer noch Eskapismus, politisches Desinteresse und musikalische Stagnation vorgeworfen, aber inhaltlich tut sich etwas. Bekannte Szene-Podcasts wie „Cemetery Confessions“3 oder Künstler*innen-Seiten wie „Art by Andi“ regen immer häufiger zum Dialog über Rassismus oder LGBTIQ-Rechte an. Auch musikalisch erlebt die Subkultur seit einigen Jahren eine Renaissance. Bands wie „She Past Away“, „Lebanon Hanover“ oder „Whispering Sons“ haben der Szene weltweit neues Leben eingehaucht und klassischen Goth-Rock und Dark Wave in eine neue Form gebracht. Auch SIXTH JUNE aus Belgrad sind eine von diesen Revival-Bands. Gegründet wurde sie 2007 von Laslo Antal und der Sängerin Lidija Andonov. Später nahmen sie in Berlin ihr Debütalbum „Everytime“ auf. Synth-Klanglandschaften, SaxofonPassagen und Andonovs sanfte Stimme zeichnen ihren Stil aus. Auf der anderen Seite des Goth-Spektrums befinden sich die 2016 gegründeten, deutschkroatischen KADEADKAS – mit energiegeladenem Post-Punk und Lyrics über „Diktaturen, Selbstzerstörung und persönliche Alpträume, generiert durch eine kalte, kapitalistisch-dekadente Gesellschaft, die in ihren letzten Atemzügen liegt“, wie man auf ihrer Bandcamp-Seite (https://kadeadkas.bandcamp.com) lesen kann. Einige Bands aus den 80ern wie PSIHOKRATIJA sind ebenfalls dem Zeitgeist gefolgt. Früher machten sich die Belgrader mit ihrem minimalistischen, neoklassischen Dark Wave einen Namen. 29 Jahre später klingen sie auf dem Album „Eight Wanderings Of The Soul“ so zeitgenössisch, wie Dark Wave 2020 nur klingen kann. 3 https://www.facebook.com/cemeteryconfessions/ Ekatarina Velika (EKV) 10
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The history of Goth Rock und (Post)Punk in Yugoslavia Zensur, unterbrochene Konzerte, „Müllsteuer“, Rebellion und ein bisschen Freiheit: Die Geschichte des Punk im ehemaligen Jugoslawien war ein turbulentes Abenteuer. Ein Beitrag von Jelena Prtorić und Fred Spenner Die hier vorgestellten Artikel und Beispiele behandeln verschiedene Aspekte der jugoslawischen Punkszene wie Politik, Jugendkultur, Mode, staatliche Zensur und Einflüsse von außen. In dieser Einleitung skizzieren wir kurz die Ursprünge Jugoslawiens und verfolgen die Geschichte bis zum Aufkommen des Punk in Jugoslawien in den 1970er und 80er Jahren. Der Zweck dieses historischen Überblicks ist es, den Leser*innen einen kurzen Eindruck von der jugoslawischen Geschichte und Kultur zu vermitteln, damit er die spezifischen Themen, die wir behandeln, besser verstehen kann. Bevor wir in die Materie eintauchen, möchten wir darauf hinweisen, dass es sich nicht um eine umfassende Geschichte Jugoslawiens oder der jugoslawischen Punkmusik handelt, da sich unsere Recherchen auf die uns zur Verfügung stehenden englischsprachigen Quellen beschränkten. Es gab eine Vielzahl von Einflüssen von außen, die zur Entstehung des jugoslawischen Punk führten. Besonders einflussreich war die britische Punkszene. Der Sound, die Kleidung und die Einstellung des britischen Punk wurden in Jugoslawien schnell übernommen. Ein Großteil des Stils konzentrierte sich auf die Ablehnung gesellschaftlicher und kultureller Normen sowie von Geschlechterstereotypen. Zdravko Čabrijan (PARAF) 12
Dies äußerte sich darin, dass Männer "traditionelle" Frauenkleidung trugen, Stile aus verschiedenen Epochen mischten und kombinierten und Accessoires wie Sicherheitsnadeln, Leder und Ketten zu ihren Outfits hinzufügten. All diese Faktoren führten zum Anwachsen der jugoslawischen Punkszene, deren Werte darin bestanden, sich gegen das Establishment zu stellen, den Mainstream durch häufig ausgefallene Mode und Verhaltensweisen zu untergraben und jugendliche Identitäten außerhalb des herrschenden Rahmens des Staates und seiner Ideologie zu schaffen. Es wird leider allzu leicht vergessen, dass es beim Punk in Jugoslawien nicht ausschließlich um Politik ging. Ähnlich wie andere Punk-Subkulturen in Europa und den USA förderte die Bewegung alternative kulturelle Praktiken, das Streben nach individuellem Selbstausdruck und spontane subkulturelle Sozialisation. Die Werte der Nicht-Kooperation und des Selbermachens, die integraler Bestandteil der Punk-Bewegung waren, ermöglichten es der jugoslawischen Jugend, sich alternative Räume für die Identitätskonstruktion vorzustellen und zu schaffen, die sich der elterlichen und parteilichen Kontrolle entzogen, auch wenn sie für die Finanzierung und andere Ressourcen auf den sozialistischen Staat angewiesen waren. Indem sie internationale und lokale Einflüsse mischten, schufen jugoslawische Punkbands ihren eigenen spezifischen Sound und Look und passten so ein westliches Genre kreativ an den lokalen, sozialistischen und jugoslawischen Kontext an. So eigneten sich beispielsweise Bands wie „Idoli“ und „Pankrti“ die Symbole und die Sprache des sozialistischen Staates auf ironische und spielerische Weise an, indem sie ihre Texte mit energiegeladenen Dub- und Ska-Beats oder dem schroffen, harten Dröhnen der E-Gitarre unterlegten. Die aus Sarajevo stammenden Bewegungen „New Primitives“ und „New Partisans“ versuchten, die jugoslawische multikulturelle Gemeinschaft zu erneuern und machten sich gleichzeitig über die offizielle Ideologie lustig, die sich immer mehr von den Problemen und Realitäten des Landes entfernte. Mitte der 1980er Jahre entwickelte ein Teil der Punkszene in der Republik Slowenien einen äußerst experimentellen, avantgardistischen Stil, der von der radikalen Queer-Ästhetik von Bands wie „Borghesia“ bis zur subversiven Umarmung der totalitären Kunst in den Kollektiven „Laibach“ und „Neu Slowenische Kunst“ reichte. Diese Gruppen, die in der Zeit nach dem Tod Titos und dem allmählichen Zerfall des Staatssozialismus aktiv waren, schlossen sich mit Künstler*innen und Philosoph*innen zusammen, die an einem sozialen und politischen Wandel jenseits des ethnischen Nationalismus interessiert waren. Es gab im jugoslawischen Punk auch prominente frau*liche Bands und Sängerinnen, die zur Entwicklung feministischer Ideen beitrugen und das Bild der jugoslawischen Frau für das postmoderne Zeitalter neu gestalteten. Bands wie „Boye“ und „Tožibabe“ und Künstlerinnen wie „Slađana Milošević“, „Xenia“ und „Denis“ verstanden Punk als eine Form der subkulturellen Ermächtigung und des Selbstausdrucks und erzeugten einen einzigartigen „weiblichen Sound“, der in einer größtenteils von Männern dominierten Szene umso deutlicher und trotziger klang. Als stilistisch und musikalisch innovative globale Jugendkultur definierte Punk die Empfindungen und den Geschmack der letzten Generation urbaner Jugoslawen und hinterließ ein bleibendes Erbe. In 13
diesem Sinne diente Punk auch als Kanal für die jugoslawische Jugend der 1980er Jahre, um ihrer Rebellion Ausdruck zu verleihen, an einer zunehmend kosmopolitischen Kultur teilzuhaben und ihre spezifische Modernität und Urbanität zu behaupten. Punk- und Rockmusiker*innen arbeiteten mit Künstler*innen und Grafikdesigner*innen zusammen; Jugendzeitschriften förderten Punk-Musiker*innen (sowohl einheimische als auch ausländische) und diskutierten die kulturelle und politische Bedeutung des Punk als lokale und internationale Bewegung. All dies machte den jugoslawischen Punk und New Wave zu einer sehr sichtbaren und selbstbewussten subkulturellen Szene in den großen urbanen Zentren Jugoslawiens. Die Ideologie des jugoslawischen Punks lief auf Antikommunismus hinaus, bewusst oder unbewusst. Und hier ist wieder das faszinierende Paradoxon: Warum ließen die kommunistischen Behörden zu, dass eine antikommunistische Jugendsubkultur gedeihen konnte? Klar, sie war ein nützliches Ventil für die Rebellion der Jugend. Aber eine weitere Antwort auf diese Frage wurde ein Jahrzehnt später geklärt: In den Jahren 1990 und '91 brach Jugoslawien zusammen und der Kommunismus wurde durch den EthnoNationalismus ersetzt. Zu diesem Zeitpunkt zerstörte sich die alte Welt von innen heraus, und die Kommunist*innen von gestern, die Leiter der Geheimdienste und Zentralkomitees, übernahmen in Windeseile die Macht in den jugoslawischen Republiken und verwandelten sich in Nationalisten und Rechtsradikale. Die Personen, die Anfang Pankrti 14
der 80er Jahre Parteitage einberiefen, um über antikommunistische Exzesse zu diskutieren, und in den 1990er Jahren die Kontrolle über die neu gegründeten Länder übernahmen, interessierten sich nicht für den Antikommunismus, sondern strebten nach Mach(erhalt). Die Punk- und New-Wave-Musik im Jugoslawien der frühen 80er Jahre war ein einzigartiges Phänomen in der kommunistischen Welt. In den anderen osteuropäischen Ländern – mit der teilweisen Ausnahme Polens – trat der Punk erst richtig in Erscheinung, nachdem der Kommunismus praktisch abgeschafft worden war. Im September 2016 hat die Stadtverwaltung von Rijeka, einer Stadt im Nordwesten Kroatiens, beschlossen, ein Graffiti zum Kulturerbe zu erklären. Das auf Asphalt geschriebene Graffiti aus dem Jahr 1976 ist inzwischen schon verblasst, nur noch „Paraf Punk“ ist zu lesen. Doch diese beiden mit weißer Ölfarbe geschriebenen Worte sind mehr als nur Graffiti – sie markieren den Beginn der jugoslawischen Punk-Ära, denn Paraf ist der Name einer der ersten Punk-Bands in diesem Teil der Welt. Die Sex Pistols veröffentlichten ihre erste Single „Anarchy in the UK“ im November 1976; Paraf gaben ihr erstes Konzert nur wenige Monate später in einem Park in der Nähe des Stadtzentrums (und in der Nähe des oben erwähnten Graffiti). Spricht mensch von Goth-Rock, Postpunk oder Dark Wave ist der Balkan nicht die erste Assoziation, die einem einfällt, wenn es um alternative Musik geht, »Balkan Beats« mal ausgenommen. Westeuropa erschafft, Südosteuropa kopiert – dieser Glaube ist immer noch vorherrschend, doch das entspricht nicht der Wahrheit. Goth-Rock wurde besonders in Mazedonien kultiviert, wobei insbesondere „Padot Na Vizantija“ zu erwähnen ist. „Padot Na Vizantija“ war eine einflussreiche Post-Punk-, Darkwave- und Gothic-Rock-Band mit gelegentlichen byzantinischen Musikelementen aus Skopje, SR Mazedonien, und wurde als jugoslawische „Bauhaus“ bezeichnet. Die Band wurde 1983 von Goran Trajkoski gegründet, und löste sich (c) HR-Radio Rijeka 15
nach einigen Konzerten bereits 1985 wieder auf. Wenn es im ehemaligen Jugoslawien an etwas nicht mangelte, war es Musik! Die 70er und 80er Jahre waren eine Blütezeit der Pop- und Rock-Szenen. Vim Cola, ab 1980 Sängerin der kroatischen PostPunk-Band Paraf, erinnert sich: »Die 80er waren Jahre kreativer Expansion! Die städtische Szene explodierte einfach in der grauen Umgebung des sterbenden Sozialismus.« Reisefreiheit, große urbane Zentren und – verglichen mit anderen staatssozialistischen Ländern – wenig Repression, begünstigten den kreativen Aufbruch. Und so blühte subversive, subkulturell Musik wie Goth Rock, Dark Wave und (Post)Punk in Jugoslawien auf und ist in den Nachfolgestaaten sehr lebendig. „Es war im Dezember 1976, glaube ich“, sagt Valter Kocijančić, bis 1980 Sänger und Gitarrist von PARAF, der damals noch ein Teenager war. Dieses DIYKonzert überraschte das Publikum, das größtenteils aus Zuschauer*innen bestand, die nicht wussten, dass sie gerade dabei waren, Geschichte zu schreiben. Am 22. März 1978 starteten PARAF ihre Karriere bei einem Konzert mit mehreren jungen Rockbands aus Rijeka. Dieses gilt als das erste offizielle Punk-Konzert im ehemaligen Jugoslawien. „Wir spielten einfach, weil wir gerne spielten“, erinnert sich Valter an die Anfänge der Band. Damals bei der Bandgründung 1976 hatten sie keine Ahnung, wie sie die Musik, die sie machten, nennen sollten – sie wussten nur, dass sie energiegeladene Musik spielen, sich ausdrücken und über alles singen wollten, was ihnen durch den Kopf ging. Anarchie unter kommunistischer Flagge Westliche Bewegungen wie Punk hatten es nicht leicht, in das sozialistische Jugoslawien der späten 1970er und frühen 1980er Jahre einzudringen. Zu dieser Zeit hatte sich das Land zu einem relativ offenen Land entwickelt – die Zeiten, in denen der ehemalige jugoslawische Staatspräsident Josip Broz Tito Bündnisse mit Stalins Sowjetunion einging, waren längst vorbei. Die jugoslawischen Bürger*innen konnten ins Ausland reisen, genossen die Vorteile einer gesicherten Beschäftigung, einer Krankenversicherung und eines höheren Lebensstandards, als viele von ihnen heute, und ihre Freiheiten waren denen der westlichen Bürger*innen näher, als denen unter sowjetischer Herrschaft. PARAF Padot Na Vizantija 16
Dennoch war es nicht ratsam, sich gegen Tito aufzulehnen. Das Land wurde auf einem Einparteiensystem gegründet, und dieses System war nicht gerade erpicht darauf, Punks und eine widerständige, subversive Subkultur zu tolerieren. Das Jahr 1978 wird zum Schlüsselmoment in der Entwicklung der noch jungen Szene. Während bis dahin punktuell, in verschiedensten Städten, mit den Klängen des Punk experimentiert wurde, ziert im Herbst 1978 erstmals eine Punkband, „Prijava Kazalište“, das Cover des ‚Polet‘, der Zeitung der Kommunistischen Jugendorganisation. Zukünftig wird die Zeitung als Sprachrohr der Bewegung fungieren. Die Musiker*innen, die sich bis dahin lokal in den wenigen Bars und Cafes austauschten, erfahren von der Existenz von Gesinnungsgenoss*innen im ganzen Land und erste Festivals werden organisiert. Nicht nur die Musik, auch die bildende Kunst erlebt im Jugoslawien der späten 1970er Jahre eine Renaissance. So ist es nicht verwunderlich, dass ein reger Austausch zwischen den beiden Milieus entstand. Fotograf*innen dokumentierten die aufkeimende Punkszene und fanden im Polet einen dankbaren Abnehmer für ihre Bilder. Punkbands waren auch gerngesehene Gäste an Vernissagen der jungen Künstler*innen. Die Band „Pankrti“ (dt.: Punker) beispielsweise spielte ein Set zur Eröffnung einer Ausstellung des Künstlerkollektivs „Novi Kvadrat“ (dt.: Neues Quadrat) rund um „Mirko hic. Hic“. Dessen Gruppe verschrieb sich der Weiterentwicklung des Mediums Comic, gestaltete im Gegenzug Plattencover für diverse Bands und schrieb den Text zu einem ‚Prijava Kazalište‘-Song. Diese Verbindung in der jungen Kulturszene Jugoslawiens brachte etliche einflussreiche Werke in verschiedensten Bereichen hervor. Valter Kocijančić von PARAF wusste natürlich nicht, dass er im Begriff war, eine neue Gegenkultur aufzubauen. Sein damaliger Musikgeschmack umfasste SLADE und Alice Cooper. „Ich hatte Glück, dass ich Zugang zu internationalen Medien hatte“, erinnert er sich. Sein Vater verkaufte im Sommer überall an der kroatischen Küste internationale Zeitschriften, und auf den Hochglanzseiten der Magazine, von denen er kein Wort verstand, entdeckte Valter langhaarige Rocker mit einer Ausstrahlung, die er nachahmen wollte. „Ich wusste nur, dass ich Musik machen wollte. Was Punk ist, entdeckte ich erst viel später, als ein Typ aus meiner Heimatstadt mit einer LP von den Sex Pistols aus London zurückkam“, beschreibt er die ersten Berührungspunkte mit Punk. Valter Kocijančić 17
Andere Bands folgten PARAFs Stil, und schon bald boomte die Punk- und NewWave-Szene in Jugoslawien. In Kroatien konzentrierten sich die meisten Punk-/New-Wave-Bands auf die Städte Rijeka mit Bands wie Termiti, Mrtvi Kanal, Grč und Prljavo Kazalište aus Zagreb. In Slowenien begann alles mit der Band Buldožer, gefolgt von Pankrti, während die neuen musikalischen Trends in Serbien Bands wie Pekinška Patka, Električni Orgazam, Idoli, Šarlo Akrobata und Ekaterina Velika hervorbrachten. Es gab natürlich noch viele andere; einige spielten auf Punk-/New Wave-Gigs, bevorzugten aber traditionellere, gemächlichere Rockmusik. Einige schafften es, nur ein paar Monate zusammenzubleiben, was nicht genügte, um etwas aufzunehmen, nennenswerte Konzerte zu geben oder ein Publikum außerhalb ihrer Heimatstädte anzulocken. Unterbrochene Konzerte, steuerpflichtige LPs Da Musik nicht nur die musikalischen Vorlieben einer Band widerspiegelt, sondern auch Ausdruck eines bestimmten Zeitgeistes ist, ist es von Bedeutung, das Leben im Jugoslawien der 1980er Jahre zu erkunden. Damals hatte der sozialistische Staat mit einer hohen Staatsverschuldung zu kämpfen. Die hohe Inflation schlug durch, die Arbeitslosenzahlen stiegen, und die Bevölkerung sah sich mit allen möglichen Engpässen konfrontiert, angefangen beim Benzin bis hin zu alltäglichen Dingen wie Kaffee, Schokolade und Zahnpasta. „Die 1980er Jahre waren eine sehr turbulente Zeit, die eine sehr bewegende Musik erforderte, die zum Ausdruck bringen konnte, was die jungen Menschen durchmachten“, sagt Martin Pogačar, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kultur- und Erinnerungsstudien in Slowenien, der mehrere Publikationen über die Entwicklung der jugoslawischen Geschichte und das Vermächtnis der jugoslawischen Popmusik verfasst hat. „Die westliche Welt stellte natürlich einen Bezugspunkt dar. Aber die jugoslawische Realität hatte ihre Eigenheiten, die sich in der Musik widerspiegelten. Diese Bands mussten sich gleichzeitig mit existenzieller Sicherheit und existenzieller Unsicherheit auseinandersetzen, so paradox dies auch erscheinen mag“, analysiert Martin Pogačar. Auch wenn sie nicht mit den prekären Lebenssituationen der heutigen Jugend konfrontiert waren – ein fester Job und ein festes Einkommen waren damals eher die Regel als die Ausnahme – so hatten Mrtvi Kanal aus Rijeka Termiti 18
sie doch Lieder über die Ungewissheit. „Termiti“ aus Rijeka sangen in ihrem Lied ‚Redukcija’ (dt.: ‚Kürzungen‘) über Stromknappheit: „Mach das Licht nicht an / wir leben im Dunkeln / wir müssen Strom sparen / elektrische Energie / Nun, diese Kürzungen sind voll für'n Arsch“. Ihr Lied ‚Ujo gastarbajter‘ (dt.: ‚Onkel Gastarbeiter‘) beschreibt einen wichtigen Aspekt der jugoslawischen Gesellschaft jener Zeit: die Auswanderung. Zahlreiche jugoslawische Bürger*innen gingen in westliche Länder, insbesondere nach Deutschland, um Arbeit zu finden. Die Belgrader Band „Električni Orgazam“ wies darauf hin, dass es selbst in einem System, das die Klassen abschaffen wollte, immer noch reale Klassenunterschiede gab. In ihrem Lied ‚Zlatni papagaj‘ (‚Goldener Papagei‘) kritisierten sie die verwöhnte, „reiche Jugend“: „Papa zahlt alle Rechnungen (...) wir sind angewidert von den öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem Auto geht es doch viel schneller“. Doch als sie sich gegen das bestehende System auflehnten, ging es auch nicht unbedingt darum, das System zu zerschlagen. Anfang der 1980er Jahre war der jugoslawische Staat noch stabil, gefestigt in seiner Macht, so dass er in der Lage war, "kleine Unruhen" zuzulassen, ohne sich bedroht zu fühlen. "Ich habe das Gefühl, dass die jugoslawischen Bands nicht viel außerhalb der jugoslawischen Grenzen gedacht haben. Sie wollten das System nicht zerstören, sie wollten innerhalb der jugoslawischen Grenzen agieren. Sie waren sich aber bewusst, dass es Probleme gab, und wollten eine Veränderung", sagt Martin Pogačar. Und das System hatte weitaus subtilere Methoden, um gegen diese Bands vorzugehen, als pure Repression. Eine der am weitesten verbreiteten Taktiken war eine sogenannte „Müllsteuer“, die für Werke von „zweifelhaftem kulturellem Wert“ erhoben wurde. „Das bedeutete, dass sich der Preis einer CD nach Erhebung der Steuer fast verdoppelte“, erinnert sich Valter Kocijančić. Eine weitere erfolgreiche Repressionsmaßnahme war die Unterbrechung von Konzerten durch die Polizei und die Zensur. Das Cover der ersten LP von PARAF („A Dan Je Tako Lijepo Počeo“; 1980) musste mehrmals geändert werden. Auch mussten sie alle ihre Texte zensieren – doch gerade hier zeigte sich ein kreativer Ermessungsspielraum. Ironie war ein Muss. Für ein unerfahrenes Ohr könnte einer der größten Songs von Paraf, „Narodna pjesma“, als Hommage an die Polizei verstanden werden. Doch das Lied, in dem es heißt „Es gibt keine bessere Polizei als unsere Polizei“, ist in Wirklichkeit ein Lied über polizeiliche Unterdrückung, eine Kritik an der offenkundigsten Facette staatlicher Unterdrückung. Valter erinnert sich sogar daran, wie sein Freund während eines Konzerts der Band eine Diskussion zwischen mehreren Polizisten belauscht hat. „Das ist die beste Band, wenigstens haben sie ein Lied über uns gemacht“, sollen sie gesagt haben. Električni Orgazam 19
Das Erbe des Punk Die Punk-Phase von Valter dauerte nicht lange. Paraf brachte 1980 ihr Debüt auf RTV Ljubljana heraus, sie tourten durch Jugoslawien und wurden zur Legende, aber er beschloss nach der Veröffentlichung, die Band zu verlassen. Paraf machten unter demselben Namen weiter, allerdings mit einer anderen Besetzung, mit einer Sängerin (Vim Cola) und bewegten sich weg vom rohen Punk hin zu einem mit Synthesizern angereicherten New-Wave-Musikstil. Heute sagt Valter, dass er von keiner der nachfolgenden Bands wirklich begeistert war. Musikkritiker und Fans sind da anderer Meinung. Jugoslawischer Punk und New Wave wurden zum Thema vieler Sampler, Dokumentarfilme, Diplomarbeiten und Konzert-/FestivalReunions. „Unsere Vergangenheit wird durch unsere persönlichen Erfahrungen und unsere Wahrnehmung der Vergangenheit definiert. Wie bei jeder Aufarbeitung der Vergangenheit ist das Element der Nostalgie sehr präsent. Wenn wir also auf die Vergangenheit zurückblicken und versuchen, ihr einen Sinn zu geben, tun wir genau das – wir erzählen eine Geschichte und suchen nach Kausalitäten zwischen den Elementen der Geschichte. Aber das ist nicht unbedingt der Fall – in den Momenten, in denen diese Dinge passierten, waren sie nicht unbedingt miteinander verbunden“, stellt Pogačar fest. Obwohl Punk und New Wave in der jugoslawischen Vergangenheit zu keinem Zeitpunkt Mainstream waren, haben sie sich Jahrzehnte nach ihrem Verschwinden und dem Zerfall Jugoslawiens als Inspiration für jüngere Bands erwiesen. Ihre Texte und die Botschaft, die sie zu vermitteln versuchten, sind auch fast 40 Jahre später noch wichtig. Andrea Žiković, ehemaliger Gitarrist der inzwischen aufgelösten Band „Diskurz“, sagt, dass diese Bands, als er in Rijeka aufwuchs, seinen Musikgeschmack stark beeinflusst haben. „Wenn man 15 ist und etwas auf der Gitarre spielen lernen will, ist es ganz natürlich, sich an lokale Bands zu wenden, und für uns waren diese lokalen Bands auch Bands, die die Punkmusik ins Land brachten“, sagt er. Dabei ging es nicht um die Musik, die in der Regel aus drei Akkorden besteht und recht einfach zu erlernen ist, sondern um die Texte. „Zuerst wird man von ihrer Bühnenshow angezogen, zum Beispiel als ‚Termiti‘ mit Toilettensitzen auf dem Kopf spielten und Federn ins Publikum warfen. Dann fängt man an, den Texten zuzuhören und merkt, dass mehr dahintersteckt, dass sie so ihre Rebellion ausdrücken.“ DISKURZ waren von 2006 bis 2012 aktiv, mit Žiković an der Gitarre (von 2007 bis 2011). Die Band erhielt in Kroatien großen Zuspruch von den Kritiker*innen, da die Journalist*innen sie als die authentischen Nachfahren der jugoslawischen Punk- und New-WaveBands wahrnahmen. »Wir hatten unsere Fangemeinde, und ja, die Journalisten mochten uns, denn es war schön für sie, eine kraftvolle Band zu hören, einen Sound, der sie an ihre Jugend erinnerte, denke ich. Aber das junge Publikum besuchte die Konzerte nicht so oft. Wenn sie die Wahl hätten zwischen dem Eintritt zu unseren Konzerten und dem Kauf einer Flasche Wein, würden sie letzteres tun.« Oder mit anderen Worten: Punk ist tot, es lebe der Punk! 20
Ex-Yugoslavia Avantgarde- und Punkplatten 21
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Punk in Ungarn Jeder Versuch, die Ursprünge, Transformationen und späteren Erinnerungen an Punk in Ungarn zu verstehen, erfordert eine theoretische und konzeptionelle Auseinandersetzung. Die PunkGeschichtsschreibung muss berücksichtigen, dass sich Punk an vielen Orten und zu vielen Zeiten gegen die Kategorisierung als solche gewehrt hat, sei es aufgrund von künstlerischen Haltungen, politischen Performances, persönlichen Äußerungen oder textlichen Inhalten. Punk kann eine kulturelle Performance sein, etwas, das als bewusste Strategie sorgfältig ausgearbeitet und effektiv durchgeführt wird, aber Punk kann auch ein Ausdruck sein, der jedes Etikett ablehnt. Bei der Skizzierung einer soziokulturell und politisch verorteten Diskussion über die Geschichte des Punk in Ungarn bieten sich drei strukturelle, sich teilweise überschneidende Kontexte oder Szenen an: • Die urbanen Ränder • Der Antikommunismus • Und die Anti-Gesellschaft. Die von Zoltan Benko gegründete Punkband CPg 23
Gegen den Strom schwimmen: Nonkonformistische Lebenseinstellungen Die ungarische subkulturelle Kunst- und Musik-Szene hatte vielleicht die größte Ähnlichkeit mit den urbanen Subkulturen der Bohème in vielen westlich orientierten Kulturzentren, die Künstler*innen, Lifestyle-Performer, Intellektuelle und dergleichen umfasste. Die gesellschaftspolitische Situation des Kalten Krieges in Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg akzentuierte zwei Merkmale dieses globalen kulturellen Phänomens, die sich als prägend für den Punk in Ungarn erwiesen. Erstens diente der DIY-Charakter der städtischen künstlerischen Szenen in den 1950er bis 1960er Jahren in Ungarn als Modell für jede Art von Aktivität oder kreativer Initiative außerhalb der übergreifenden staatlichen Kontrolle der Kultur. Nach diesem Muster organisierten vorstädtische Intellektuelle eigenständige Vortragsreihen zu politischen Tabuthemen oder gaben Samisdat-Zeitschriften heraus, und eine große Community mit privat organisierten Partys gedieh als populäre öffentliche Gegenkultur in Ungarn. In den späten 1970er Jahren tauchte in der neu entstandenen Clubszene eine neue Strömung von nonkonformistischen Rockgruppen auf. Sie verzichteten auf die konventionellen Mittel zur Erlangung von Popularität und kamen ohne die Hilfe der vom Parteistaat kontrollierten kulturellen Institutionen und Medien aus. Zweitens knüpften die Auftritte dieser Gruppen mit provokanten, dadaistischen Anspielungen an die Traditionen der Neo-Avantgarde an und stellten einen Kontrast zu den konventionellen, kommerziellen Bands dar. Die Symbole und Werte von Subkulturen neigen dazu, oft unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, in die intellektuelle Lebens- und Denkweise integriert zu werden. Dies war bei Punk der Fall, insbesondere in der Zeit, als der Punk in Mode kam und sich der sogenannte ArtPunk verbreitete. Dies ist nicht nur auf den äußeren Einfluss der Mode zurückzuführen, sondern auch auf die Einfachheit, mit der Symbole und Werte des Punk mobilisiert und in kritische intellektuelle Haltungen integriert werden können, nicht zuletzt wegen der bemerkenswerten Ähnlichkeiten zwischen den subversiven Stilmerkmalen dieser Subkultur und den Signifikanten der Avantgardekunst. Unter den ersten Vertretern der ungarischen Art-Punk-Bewegung waren „Spions“, „URH“ und „Bizottság“ die Bands, die am engsten mit avantgardistischen Experimenten verbunden waren. Diese Bands waren auch die Begründer des Stils, aus dem eine Reihe von Bands hervorgingen, die stark politisiert waren, auf musikalischer Radikalität basierten, sowie Bands, die in der Hippie-Gegenkultur verwurzelt waren und dadaistische und surrealistische Elemente enthielten. SPIONS Die Band „Spions“ kann vielleicht als die früheste Manifestation des Punk in Ungarn angesehen werden, während sie gleichzeitig einen Übergangsstatus zwischen urbaner Kunstsubkultur und einer bewussten provokativen Haltung 24
gegen alles, was 1978 in Ungarn akzeptiert war, verkörperte. „Spions“ waren direkt und metaphorisch, intellektuell und primitiv, grob und sensibel, nachdenklich und ungeschliffen, lebten nur für den Moment. Die Band gehörte zu der intellektuellkünstlerischen Neo-AvantgardeUntergrundströmung, die die ungarische Kulturpolitik der 1970er Jahre nur widerwillig duldete. Auf die Wirtschaftsreformen von 1968 folgte 1973 eine Art ideologische Gegenreformation: Philosoph*innen, Künstler*innen und Freidenker*innen wurden zum Schweigen oder in die Emigration gezwungen. Die kurzlebige Art-Punk-Gruppe wurde 1977 in Budapest gegründet. Gergely Molnár hatte dabei einen Mitstreiter, auch wenn dessen Status innerhalb der Band nie ganz geklärt wurde: László Najmányi, der 1975 den Avantgardefilm »Die Nachricht des Imperators« gedreht hatte. Die beiden hatten sich über das experimentelle Theater kennengelernt und 1977 den Plan gefasst, von nun an Musik zu machen, Musik als Provokationsmodell weiterzuentwickeln. Die Gründung von Spions wurde durch mehrere Umstände ausgelöst. Molnár und Najmányi hatten sich schon früher für die Rockkultur interessiert und mehrere Versuche unternommen, die Einflüsse der Rockmusik, vor allem von Lou Reed und David Bowie, in ihre eigene Arbeit einfließen zu lassen. Und sie entwarfen eines der radikalsten Punkkonzepte jener Zeit. Aus dem Blickwinkel der Stilistik des Punk waren Spions nicht von der englischen Punkszene wie den Sex Pistols oder The Clash inspiriert, sondern von der exzentrischen, künstlerischen Musik des Velvet Underground, die in der New Yorker Kunstszene aufkam, oder (auf der anderen Seite) von David Bowie. Die Aktivitäten von Spions umfassten zum Teil pädagogische Vorträge über die Werke von David Bowie und Velvet Underground, gemischt mit HappeningElementen und Live-Musik. Der Ost-Punk-Experte Alexander Pehlemann schreibt über die Band: „Sie galten als Spione des Rock ’n’ Roll, der als einzige Bindung über Nation, Rasse, Religion oder Ideologie hinweg Geltung hatte, sie waren Verräter jedes Systems.“ Der Bandname sollte bereits den antinationalen Gestus der Band unterstreichen, der es, wie Najmányi einmal zusammengefasst hat, darum ging, ihrer „Nationalität, der Abstammung zu entkommen, sie zu verleugnen und zu negieren, was in unseren Köpfen war“. László Najmányi kam in diesem Konzept die Rolle zu, den ungarischen Staat gegen die Band aufzubringen, was ihm problemlos gelang. In einem Bericht des Geheimdienstes über ein Konzert der Band heißt es: „Im ersten Teil zeigte László Najmányi eine sogenannte „Pere Lachaise show“ vor einem Publikum von ca. 400 Menschen. Mithilfe eines Overhead-Projektors und eines Glasrahmens führte er Szenen vor, mit 25
der Absicht, Ekel und Abneigung zu erregen. Die Performance der Band war skandalös und brachte mit ambivalenten NaziAnspielungen Veranstalter wie auch Publikum gegen sich auf. Es gab drei skandalumwitterte Auftritte, die allesamt abgebrochen wurden. Die Gründungsmitglieder Gergely Molnár, Péter Hegedűs und Najmányi emigrierten nach Paris und lernten dort Malcolm McLaren kennen, der ihnen einen Deal für die erste Single vermittelte: „The Russian Way of Life“. Mittlerweile gaben sie sich als KGB-Agenten aus und erprobten ihr Provokationskonzept vor einem westlichen Publikum. Nach den Aufnahmen zerfiel die Band allerdings, vielleicht hatte sie ihr 1978 veröffentlichtes Bandmanifest zu wörtlich genommen: „Spions schaffen sich selber ab, weil sie ihre Umgebung hassen. Sie haben mit niemandem zu tun. Sie haben keine Rasse und kein Land.“ Über Kanada, New York, Indonesien und die Karibik und zahlreiche Namenswechsel (WordCitizen, NoMore, Karl-Heinz Wienerblut…) zog Najmányi 1997 wieder zurück nach Budapest, wo er mit dem „Kosher Kabarett“ und dem „Jehuda Löw Social Club“ nach Abstechern zum Buddhismus und zu den Rastafaris auf seinen jüdischen Background zurückkam und vor allem das Erbe der „Spions“ weiterführte, als grafisches Projekt und nicht abgeschlossene Autobiografie. Am 28. Juni 2020 starb László Najmányi im Alter von 74 Jahren. VHK/Die Rasenden Leichenbeschauer VHK, d. h. Vágtázó Halottkémek, die in den 2010er Jahren unter dem Namen Vágtázó Csodaszarvas, Galloping Wonder Stag spielen), ist in vielerlei Hinsicht eine einzigartige Band. Wegen ihrer außergewöhnlichen Energie und der Inspiration durch die Volksmusik werden sie oft als Ethno-Punk-Band bezeichnet. Ihr Name heißt ins Deutsche übersetzt „Rasende Leichenbeschauer“ und sind unter diesem Namen besser bekannt. VHK wurde 1975 von einer Gruppe von Freunden von Sänger Attila Grandpierre in Budapest gegründet und waren bis 1986 verboten, traten aber dennoch auf. Obwohl es sich nicht um Punk im herkömmlichen Sinne handelt, erlangte die Band mit ihren schamanistischen, ekstatischen Auftritten ab 1978 internationale Anerkennung. Diejenigen, die die Band live erleben durften, beschrieben die Auftritte der Band als ein unglaubliches Ereignis, mit dem sie vorher nicht gerechnet hatten. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die die Band noch nie zuvor gesehen haben. Vágtázó Halottkémek László Najmányi 26
Sie begeisterten den Untergrund ihres Landes von Beginn an mit einem exzessiven Rock-Entwurf, den Fans als „Schamanen-Punk“ oder „psychedelischen Hardcore“ bezeichnen. In den Achtzigern gingen sie mit einer Setlist von drei Songs in ihre Konzerte, da sie wussten, dass man ihren Auftritt nach drei Liedern abbrechen würde. Und dabei waren die „Rasenden Leichenbeschauer“ nie explizit politisch; vielmehr verstand einfach niemand, was die Musiker da auf der Bühne treiben. Charakteristisch für die Musik der Band ist ihr Ansatz der absolut freien Musikschöpfung. Musik, die spontan entsteht. VHK gelten in Ungarn, und auch in Deutschland, als eine einflussreiche, kultische Band. Der Wirkung ihrer Musik kann mensch sich nur schwer entziehen. Ein Journalist der New York Times nannte ihre Musik „von urwüchsiger Kraft, elementar, von beherrschender, aufblitzender Leidenschaft“. Jello Biafra beschrieb VHK und ihre Musik als „ursprüngliches Gotteserlebnis“ und veröffentlichte drei ihrer Platten auf Alternative Tentacles. Ihre Stücke platzierten sich auf den Playlists mehrerer europäischer und amerikanischer Radiosender. Musiker wie Iggy Pop, Lemmy (Motörhead), Henry Rollins und Jello Biafra zählen VHK zu ihren Lieblingsbands. 1986 reiste die Gruppe auf ausdrücklichen Wunsch von Königin Beatrix nach Holland. VHK/Die Rasenden Leichenbeschauer spielten zudem in dem berühmten Film „Nachtlied eines Hundes“ von Gábor Bódy eine tragende Rolle. Sänger Attila Grandpierre spielte sich selbst: Einen Astronomen und Musiker. Eine ähnlich tragende Rolle spielten sie 1990 in der britischen Produktion des Regisseurs Michael Winterbottom: „Forget About Me“. 1992 spielten VHK/Die Rasenden Leichenbeschauer auf der größten internationalen Musikmesse in Deutschland, der Pop Komm! in Köln. Der Melody Maker widmete damals der Band gleich zwei wohlwollende Artikel. In Ungarn wurde die wiederhergestellte Kunstgalerie (Mücsarnok) mit der musikalischen Unterstützung dieser Gruppe eröffnet. Die westliche, und bisweilen auch die ungarische Presse, hält die Band seit Jahren für eine der interessantesten Gruppen überhaupt. Iggy Pop ließ in einer holländischen Zeitschrift (Oor Magazin) sogar verlauten, dass er VHK für die am bemerkenswerteste Band hält. 1995 war ihr Auftritt auf dem einwöchigem Island-Festival in Budapest, dem Europa weit größtem Sommerfestival, der Höhepunkt der Veranstaltung, sowohl von der Stimmung als auch von den Besucher*innenzahlen Foto: Attila Grandpierre im Tempodrom, Berlin, auf dem "Mythen Monster Mutationen (Loft-Festival)"-Festival; 29.06.1987 27
her: 30.000 bis 40.000 tobten allein vor ihrer Bühne und verwiesen den internationalen Top-Act des Abends (Chumbawamba) in die Schranken. 1994 erschien eine Live-Aufnahme bei einem Kleinstlabel: „Giant Space!“ Auf ein reguläres Album mussten die Fans lange warten. Das Musiker-Kollektiv arbeitete an dem Konzept eines Doppelalbums. Und ein weiteres Mal gelang der Band eine Produktion von durchschlagender Kraft. Insgesamt nahm die VHK 35 Titel auf. Musikalisch umfasste „Hammering at the Gates of Nothingness“ (A Semmi Kapuin Dörömbölve) einen weitaus breiteren stilistischen Rahmen. Die Welt, der sich VHK bis dorthin genähert hat, zeigt sich noch offener, das Klangbild zeigt sich in einer noch umfassenderer Dimension. Zu der Musik bringen VHK Texte von ungewöhnlichem Inhalt, denn sie verkünden von der unbändigen Kraft von Seele und Verstand. Zum einen eröffnen sich den Zuhörer*innen psychedelische, visionäre Reisen, zum anderen werden diese Zeuge von Energie explodierenden HardcoreAttacken. Dann wieder besinnen sich VHK auf die ursprüngliche SchamanenMusik. Die CD „Reconquering Eden 1“ landete 1997 auf Anhieb auf der Verkaufsliste von Mahasz von 0 auf den 35. Platz. Das Folgealbum „Reconquering Eden 2“ von 1998 platzierte sich mühelos in den Top40. Gleichzeitig wurden die älteren Alben neu aufgelegt. Zwischen 2001 und 2009 gab VHK keine Konzerte. Ab 2005 setzte Bandleader Attila Grandpierre das musikalische Konzept von VHK in neotraditioneller Spielweise fort, indem er elektronische Instrumente gegen traditionelle ungarische akustische Folkinstrumente austauschte und einen klaren, zeitgemäßen und dennoch alten Stil entwickelte. Im Jahr 2009 erneuerte Grandpierre VHK und veröffentlichte die Platte „Forgószél!“ („Tornado!“) LP, unter dem Bandnamen „Galloping Life Power“. Die Bezeichnung „Leichenbeschauer“ wurde in „Life Power“ geändert, um Grandpierres positive Lebenseinstellung direkter auszudrücken, wie er sagte. Später begannen sie, den Bandnamen „Rasende Leichenbeschauer“ wieder zu verwenden und veröffentlichten 2012 die „Bite the Stars!“-LP. Attila Grandpierre ist auch heute noch aktiv und geht gelegentlich mit „Galloping Wonder Stag“ auf Tour, wo er ein akustisches Repertoire spielt, aber auch mit „Die Rasenden Leichenbeschauer“, wo er die rockiginstrumentale Seite zeigt. Gegen den Staat: AntiKommunistischer Rock Die Ausübung der politischen Kontrolle über die Kultur im sozialistischen Ungarn beruhte nicht auf rein politischen Prinzipien, die von der kommunistischen Ideologie und dem Einfluss der Sowjetunion im Ostblock geprägt waren. Die Geheimpolizei des ungarischen kommunistischen Staates schenkte in den 1970er Jahren den neoavantgardistischenPerformanceKünstler*innen besondere Aufmerksamkeit, da mensch in den polizeilichen Analysen dieser Performances allgemein davon ausging, dass die Infragestellung der Normen des Gemeinschaftssinns in irgendeiner Weise der sozialistischen Ordnung feindlich gegenüberstand – auch wenn nicht genau klar war, inwiefern. Der Maler und Musiker István ef Zámbó verbrachte mehrere Monate in polizeilicher Untersuchungshaft; später wurde nach einer Performance Anfang der 1970er Jahre sein psychiatrischer Zustand in der Haft untersucht. Auf diese Weise konnten Künstler*innen und Gruppen, die in ihrer Kunst 28
nonkonformistische Ansätze und Methoden wählten, ihre Außenseiter*innen-Rolle betonen, wenn sie Themen wählten, die für die Normen des kommunistischen Regimes politisch brisant waren. Viele Punks waren antikommunistisch eingestellt. Subkulturelle Musik(inhalte) spielte oft auf politische Konflikte und Ereignisse an, wie zum Beispiel die Einführung des Kriegsrechts 1981 in Polen zur Unterdrückung der antikommunistischen SolidarnoscBewegung in den Liedern von URH, Kontroll Csoport und Trabant. Jüngere Punks, die eher aus den Außenbezirken der Stadt oder vom Land, als von den Unis der Hauptstadt stammten, begannen, radikalere Verhaltensweisen zu verwenden, um das politische Regime anzugreifen. Vor dem Auftauchen von CPg, ETA, Qss oder Mos-oi in den frühen 1980er Jahren war das letzte Mal, dass die Sowjetunion oder die Kommunistische Partei in Ungarn öffentlich kritisiert wurde, in den zwei Wochen des Aufstands von 1956 gegen die Sowjetherrschaft gewesen. Texte dieser Bands wie „Sowjetische Atomwaffen sind auch Atomwaffen“, „Bloody, stinking communist gang“, „I wonder why they still haven't been hung“ (CPg) oder rassistische Ausdrücke wie ein Liedtitel („Gypsy-free Zone“) oder eine Liedzeile („I was born as white“), von der RAC-Skin-Band „Mos-Oi“ waren radikal. Die Bedeutung dieser Äußerungen lässt sich daran ermessen, dass in den trostlosen Tagen nach der Niederschlagung der polnischen Solidarnosc-Bewegung Anfang der 1980er Jahre das Ende der Weltordnung des Kalten Krieges und der Fall der Berliner Mauer nicht absehbar waren. Polizei und die staatlichen Geheimdienste waren bemüht, gegen diese subversive Künstler*innen/Musiker*innen vorzugehen. CPg CPg ist eine kontroverse Punkrock-Band, die 1979 von Gitarrist Zoltán Benkő und Bassist Antal Kis in Szeged, gegründet wurde. Zoltán Nagy, der Sänger Béla Haska und der Bassist Zoltán Varga kamen 1981 hinzu. Die Gruppe tritt auch heute noch auf. Das ehemalige Bandmitglied Antal Kis erklärte, dass der Name der Band direkt von der wiederholt gesungenen Phrase „Come on“ aus „Please Please Me“ von den Beatles inspiriert war. Obwohl sie damals kein Englisch sprachen, buchstabierten sie das Wort stattdessen als „Common“ und wurden so zur „Common Group“. Kurz nachdem sie beschlossen hatten, Punk zu speilen, wurde der Name in „Come on Punk Group“ korrigiert. Benkő änderte den Namen später scherzhaft in „Coitus Punk Group“. 29
CPg sind eine Punk-Band, die für ihre kontroversen Bühnenauftritte, ihre AntiEstablishment-Songs und ihre Texte bekannt waren, in denen sie die sozialistische Staatsmacht des damals sowjetisch besetzten Ungarns offen verurteilten. CPg erlangte eine beachtliche Underground-Popularität, dadurch gerieten die Bandmitglieder auch ins Visier von Polizei und Geheimdienst und wurden häufig von der Polizei schikaniert. Unbeirrt trat die Band weiter auf und schrieb neue Songs. Vor allem ein ironischer Song über den ungarischen staatlichen Plattenproduzenten Péter Erdős veranlasste diesen eine Verleumdungskampagne gegen die Band zu starten, in der er der Band fälschlicherweise vorwarf, extremistische Ideologien zu vertreten und Hass gegen die ungarische Roma-Minderheit zu schüren; außerdem verbreitete er die falsche Behauptung, das Akronym C.P.G. stünde in Wirklichkeit für Cigány Pusztitó Gárda (Sinti und Roma Zerstörungswächter) Die letzte Show im sozialistischen Ungarn fand am 5. März 1983 statt. Der Sänger Béla Haska präsentierte auf der Bühne ein Huhn, das von den Fans schnell in Stücke gerissen wurde. Die Band-Musiker wurden daraufhin wegen politischer Agitation verhaftet. Eine Untersuchung ergab, dass die Band keine faschistischen Ideologien vertreten würden, sondern in Wirklichkeit Antikommunisten wären. Der anschließende Prozess dauerte sechs Monate, mit zahlreichen Zeug*innen und zusätzlichen belastenden Beweisen in Form von beschlagnahmten Tonbändern und Zeitschriften, die die Anklage stützten. In einem Fall ging die Staatsanwaltschaft sogar so weit, falsche Beweise in Form von hasserfüllten, rassistischen Texten vorzulegen, die angeblich mit CPg in Verbindung gebracht wurden, in Wirklichkeit aber von einer anderen Musikgruppe geschrieben und aufgenommen worden waren. Alle vier Bandmitglieder wurden verurteilt. Benkő, Haska und Nagy erhielten jeweils zweijährige Haftstrafen. 30
Varga wurde als jugendlicher Straftäter zu einer vierjährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Kurz nach seiner Entlassung floh Benkő nach Amerika, um der Einberufung zum Wehrdienst zu entgehen. Nach sieben Jahren in den USA kehrte er schließlich 1993 nach Ungarn zurück. In den späten 1990er Jahren kam es zur Wiedervereinigung von Cpg mit allen vier ursprünglichen Bandmitgliedern. Während der kommunistischen Ära bestand die einzige dokumentierte Quelle für CPg-Musik aus minderwertigen Kassetten-Raubkopien. 1993 wurde jedoch eine offizielle Live-CD von Trottel Records mit dem Titel „Mindent Megeszünk“ veröffentlicht. 1999 drehte der Produzent Róbert Kövessy einen 63-minütigen Dokumentarfilm über die Anfänge der CPg mit dem Titel „Pol Pot Megye Punkjai“ (Die Punks von Pol Pot County). 2003 veröffentlichte Auróra Records die erste Studioaufnahme der CPg mit dem Titel „Embör vigyázz!“, die hauptsächlich Lieder enthält, die 20 Jahre zuvor geschrieben und aufgeführt wurden. URH/Európa Kiadó Jenö Menyhart war vor über 30 Jahren eine schillernde Persönlichkeit in der ungarischen Underground Szene. Mit schmaler Krawatte und dandyhaftem Aufzug hat er gegen das politische System angesungen. Zuerst in der 1980 und 1981verbotenen Band "URH" (das doppeldeutige Kürzel steht für Ultrakurzwelle und die Polizei, die diese verwendete), ab 1981 dann bei „Európa Kiadó“, die Musik im Stile der Sex Pistols und The Clash spielten, mit ungarischen Texten und Themen. „Eine alternative Rockband wie ‚Európa Kiadó‘ zu gründen, war sozusagen schon in sich ein politisches Statement“, sagt Jenö Menyhart im ORF. „Um irgendwo auftreten zu dürfen, brauchte man eine offizielle Genehmigung, und diese hatten wir klarerweise nicht“. Aber es gab Schlupflöcher im System. Freigeistige, Jugendzentrenartige Clubs an den Universitäten, die den Undergroundbands Auftrittsmöglichkeiten verschafften. Trotzdem kam es immer wieder vor, dass Konzerte aus fadenscheinigen Gründen abgesagt wurden. „Die Willkür zu der Zeit war sehr groß. Einmal wurde etwas toleriert, am nächsten Tag wieder nicht“, meint Anna Szemere, die in den 80ern in Budapest studiert hat. Als Fan und später im Rahmen ihrer Dissertation hat sie sich eingehend mit der Musik von damals beschäftigt. 1997 ist ihr Buch „Up from the Underground“ erschienen, das einen guten Einblick in die inoffizielle ungarische Rockszene gibt. Eine Szene, die es nicht leicht hatte Gehör zu finden. Zwar gab es offiziell keine Zensur, doch jeder wusste, dass sie praktisch existierte – vor allem in den Köpfen der Masse. „Das Absurde war, dass sich die Menschen meist schon selbst zensurierten, bevor es überhaupt die Polizei tun konnte. Selbstzensur war wie eine Volkskrankheit“, sagt der Musikjournalist Tamás Szönyei und verweist auf den „Európa Kiadó“-Song „Szabadits meg“ (Befreie mich). Darin singt Jenö Menyhart von einem glatzköpfigen Zensor, der in seinem Kopf sitzt, und von 1000 Ohren, die jedes Wort UHR 31
hören, das er ausspricht. So offen über Zensur zu sprechen, erforderte damals eine Menge Mut. Denn es traf den Nagel auf den Kopf. Musiker wurden bespitzelt und Informanten ins Publikum, Bandcrews und teilweise auch in die Bands selbst eingepflanzt. Seit dem Volksaufstand von 1956 war in Ungarn quasi jeder gesellschaftliche Bereich von Spitzeln durchwachsen. Der kommunistische Geheimdienst wollte alles wissen, ging aber nur in seltenen Fällen hart gegen Regimekritiker*innen vor. Die kommunistische Partei fand andere Wege alternativen Bands das Leben schwer zu machen. „Wir wurden komplett marginalisiert, sodass die meisten Leute damals gar keine Ahnung hatten, wer oder was ‚Európa Kiadó‘ war“, erzählt Jenö Menyhart. Die staatlich-monopolisierte Plattenfirma wollte die neue Musik nicht veröffentlichen, und im Radio oder Fernsehen wurde sie ebenfalls nicht gespielt. So war es gang und gäbe, dass Jugendliche bei Konzerten mit unprofessionellen Aufnahmegeräten mitschnitten und die dilettantischen Aufnahmen und Tapes unter der Hand verteilten. Viele Lieder von „Európa Kiadó“ und Bands wie „Kontroll Csoport“ und „Bizottság“ erschienen legal erst nach der Wende in Form von Archivmaterial. Gegen die Gesellschaft: Schock und Erschütterung Punk im Kommunismus befand sich in einem Dilemma. Es war nicht möglich, die Punk-Designs auf westlichen Plattenhüllen zu reproduzieren oder gar das, wofür Punk offensichtlich stand, zu kopieren, denn Kapitalismus, Konsum und westliche Regierungen anzugreifen, hätte bedeutet, sich ganz auf die kommunistische Politik einzulassen, während einige der politischen Tabuthemen des Staatssozialismus, wie Nationalismus, Rassismus oder Antisemitismus, für die meisten ungarischen Punks ebenfalls nicht infrage kamen. Eine andere Möglichkeit blieb jedoch: die Moral der Gesellschaft selbst anzugreifen. Das Jahr 1984 brachte nicht nur einige bemerkenswerte Prozesse gegen Punks, sondern auch eine sichtbare Vermehrung der Szene. Laut dem Journalisten Ádám Pozsonyi (2003) gab es zwischen 1978 und 1990 etwa 120 ungarische Punkbands. Obwohl die wachsende Popularität des Punk im ganzen Land zur Entstehung verschiedener Subgenres führte (Punkrock, Hardcore, Stoner Rock, Ska, RAC), war die gesamte Szene ziemlich homogen, wenn auch mit wichtigen Unterschieden in Bezug auf Textualität, musikalischer Ausrichtung, Produktdesign und politische Botschaften. Was die Themen anbelangt, so waren die häufigsten Themen Ausdrücke von Depression, Wut und Verfall. Zielscheibe des Zorns war oft nicht der repressive Staat und sein Machtapparat, sondern die schweigende Masse, die angepasst in den alltäglichen Genüssen der Banalität versinkt. Die Gruppe „Qss“, die sich durch ihre subtilen, soziografisch orientierten Texte auszeichnet, griff 1984 in ihrem Lied „Kézigránát“ (Handgranate) die Gesellschaft selbst an: „Eine Handgranate wird gebraucht, ich brauche sie jetzt, um sie wegzuwerfen, um sie zu werfen, egal in was!“ QSS ist eine Punkband, die vor allem zwischen 1983 und 1985 aktiv war und dank der außerordentlich anspruchsvollen ungarischen Texte von Sänger Zoltán ‚Barangó‘ Bajtai Kultstatus genoss. Im Allgemeinen bediente die aufkeimende Punkszene ihr treues Publikum unter den überwiegend lo-fi technischen Bedingungen, ohne große Medienberichterstattung und ohne eine starke und engagierte Infrastruktur für unabhängige Musikproduktion. Diese 32
Bands bedienten meist ein lokales Publikum, vertrieben ihre Musik über selbstgemachte Demo-Kassetten, sangen ihre Texte auf Ungarisch und waren von den transnationalen Produktionskanälen der alternativen Musik isoliert. In den 1980er Jahren hatte sich diese Szene mithilfe von Flugblättern, Plakaten und von Hörensagen, mithilfe einiger weniger Underground-Clubs, an Universitäten (wie dem Bercsényi Klub), in Kulturhäusern (wie dem Ikarusz oder Kassák Klub) organisiert, unabhängigen Clubs wie Fekete Lyuk oder Tilos az Á, Fanzines (wie Genyó Szívó Disztroly oder Polifon), informellen Festivals (wie TOTAL 85) oder unabhängigen Labels wie Trottel Records ein Netzwerk geschaffen. Es gab ein paar ungarische Bands, die auf internationalen Compilations enthalten waren, wie VHK 1981 auf „Fix Planet!“ von Ata Tak. Aber auch TROTTEL, zum Beispiel auf „1984 The Third“ von 1987 auf New Wave Records. Aber ansonsten gab es erst wieder Ende der Achtziger Veröffentlichungen, als die erste VHK-LP in Deutschland erschien. 1989 kam die „Trottel“-12“ „Borderline Syndrôme“ in Frankreich und die erste „Aurora“-EP, ebenfalls in Westdeutschland, wie auch ihre erste LP „Viszlát Iván“ raus. Nach dem Regimewechsel 1989/90 erlebte die Alternativ- und Punkszene einen Wandel. Obwohl es seit Ende der 1980er Jahre immer mehr Möglichkeiten für Punkbands gab, ihre Werke zu veröffentlichen und Konzerte zu veranstalten, war die gesamte Szene in eine spürbare Krise geraten, d. h. Nonkonformismus und politische Opposition hatten in dem neuen demokratischen und kapitalistischen Umfeld viel von ihrer Anziehungskraft verloren. Die Punkszene verlor als solche viel von ihrer transformativen und subversiven, provokativen Charakter. Mitte der 2000er Jahre erlebten einige dieser Bands ein Revival, um ihr Publikum in der aufkeimenden Clubkonzertszene zu bedienen, wobei sie ihrem immer älter werdenden Publikum hauptsächlich ihre klassische Setlist vorspielten. 33
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Punk in Bulgarien Punk hatte es im sozialistischen Bulgarien nicht leicht, denn in diesem Land war progressive Rockmusik verpönt. Das hielt Novi Cvetya („Neue Blumen“) jedoch nicht davon ab, bereits 1979 Punkmusik zu präsentieren. Die in Kyustendi, einer Stadt nahe der serbischen Grenze, ansässigen Musiker profitierten von der Möglichkeit, Punkrock im jugoslawischen Radio zu hören. Vielleicht ist das der Grund, warum ihr Sound näher an jugoslawischen Punkbands der späten 70er Jahre wie PARAF und PANKRTI als an britischen oder amerikanischen Bands orientiert war. Die Songs von Novi Cvetya sind einfach, frech und haben einen typisch balkanesischen Witz und Sinn für das Absurde. Während Jugoslawien kulturell weitaus liberaler war als Bulgarien und einheimischen Punk-Bands erlaubte, Platten auf dem staatlichen Label Yugoton zu veröffentlichen, gab es für Novi Cvetya keine solche Möglichkeit. Selbst Kassettenrekorder waren unerschwinglich. Aber der Band gelang es dennoch, ein Demotape aufzunehmen, von dem 10–15 Kopien in Umlauf gebracht wurden. Diese Lieder und alle späteren Aufnahmen wurden 2004 auf einer CD mit dem Titel „Radiacija 1979– 1995“ in einer limitierten Auflage von 1000 Exemplaren wiederveröffentlicht und sind heute ein echtes Sammlerstück. D.D.T. wurde 1981 mit Dani am Bass, Bobi an der Gitarre und am Gesang und Adama am Schlagzeug gegründet. Leider war es D.D.T. zu ihrer Hochphase aufgrund des kommunistischen Regimes nicht möglich, in einem Studio Aufnahmen zu machen. Alle ihre Songs, die über die Jahre erhalten blieben, kamen 1999 auf einer CD heraus, die von Novi Cvetya D.D.T. 36
einigen Underground-Labels veröffentlicht wurde. Die CD enthält 8 Tracks, die 1985 aufgenommen wurden, 5, die 1987 aufgenommen wurden, und 7, die 1989– 1990 aufgenommen wurden. Tracks von D.D.T. sind auch auf dem CompilationTape „Greetings from Bulgaria“ und der 7" Compilation „Bulgarian Archives“ zu finden. Im Februar 1984 erklärte der Vizepräsident des Staatsrats, Georgi Dzhagarov, dass „das ganze Land durch den verworrenen Strom musikalischer Trends beunruhigt wird, der alle wahren Werte der Kultur hinwegfegt“. Die bulgarischen Kulturbeamten starteten eine Kampagne zur Beseitigung der Rock- und insbesondere der Punk-Kultur: Wer in der Öffentlichkeit Punk- oder Heavy-Metal-Kleidung trug, musste damit rechnen, dass sie/er von der Polizei angehalten und ihre/seine subkulturellen Insignien entfernt wurden. Aufgrund der unwilligen Umsetzung der Kulturpolitik durch die Regierung und der Gleichgültigkeit der Punks gegenüber den offiziellen Verordnungen existierte Punk jedoch weiterhin im ganzen Land. Im Januar 1986 skandalisierten Punks eine offizielle Silvesterfeier im Zentrum Sofias, indem sie in Scharen mit hochgesteckten Haaren, Irokesen und zerrissener Kleidung auftauchten. Die bulgarische Presse räumte schließlich ihre Existenz ein und beklagte gleichzeitig „schwere ästhetische Entgleisungen“ in der Musikszene. 1987 kam es zu einer taktischen Liberalisierung, als die Intellektuellen der Kommunistischen Partei erkannten, dass sich unterdrückte Jugendsubkulturen zu einer politischen Opposition entfalten könnten. Parteizeitungen wie „Narodna Kultura“ und „Rabotnichesko Delo“ veröffentlichten Artikel, in denen sie dazu aufriefen, die bulgarische Punkrockund Heavy-Metal-Szene offiziell zu akzeptieren und zu unterstützen. Im Zuge dieser Veränderungen bot Balkanton einigen ausgewählten „Punk“- Bands Veröffentlichungen auf dem staatlichen Label an. Einige von ihnen waren „Reviu“, eine am New Waveorientierte Band aus Sofia, deren Sängerin die extravagante und talentierte Milena Slavova war, die oft als „bulgarische Nina Hagen“ bezeichnet wurde. Milena Slavova machte ihre ersten Schritte in der professionellen Rockmusik im Jahr 1985. Ein Jahr später gründete sie zusammen mit den Musikern Vasil Gyurov, Valko Andreev und Kiril Manchev eine Rockgruppe namens „Milena“, aus der später die Rockband „Reviu“ hervorging. Die jungen Musiker*innen wandten sich offen gegen das totalitäre System und wurden als „Außenseiter*innen“ eingestuft. 1989 veröffentlichte die Band ihr Debütalbum mit dem Titel „Milena + Reviu“. Zwischen 1986 und 1990 unternahm Milena 7 Konzertreisen in die ehemalige UdSSR. 1993 ging die Sängerin auf der Suche nach einem anderen Lebensstil und neuen beruflichen Horizonten nach 37
London. Dort trat sie in verschiedenen Nachtclubs auf und veröffentlichte das Album „Sold“, das ein großer Erfolg wurde. Milena war die erste bulgarische Musikerin, die im exklusiven „Marquee Club“ in London auftrat. Auf dem ersten Sofia Rock Festival 1987 traten „Reviu“ und andere New Wave/Cold Wave-Bands wie „Kontrol“ und „New Generation“ auf, die beide einen Plattenvertrag mit Balkanton abschließen konnten. Der erste bulgarische Rockfilm, „Direktor na vodopad“ (1989), konzentrierte sich auf „Reviu“, den Fans und die Reaktionen der Öffentlichkeit auf das neue Phänomen . Vielleicht ermutigt durch diese Liberalisierungen, vielleicht aber auch in Opposition zu den offiziell sanktionierten „Punk“ -Bands, entwickelte sich in den späten 80er Jahren auch ein HardcorePunk-Untergrund. Kokosha Glava aus Kurdziali, einer kleinen Stadt nahe der türkischen Grenze, spielte ab 1988 einen schnellen und rauen UK/Exploited-Punk-Style. Songtitel wie „Kill, kill Police“ sorgten für klare Verhältnisse. Eine Retrospektive mit dem Titel „Punk, Anarchy, Nihilism 1989-95“ enthält alle ihre frühen Aufnahmen. Mithilfe des Schlagzeugers Martin Nedkov nahmen sie den Song „Anarchy“ auf, der 1997 auf der Compilation „Punk Rock Makes The World Go Round“ vom Label „Teenage Rebel Records“ veröffentlicht wurde. Ein weiteres Geschwür des Liberalismus folgte: Unmengen von Nazi-Skinheads begannen, die bulgarischen Straßen zu terrorisieren, und setzten damit ein bis heute andauerndes Problem der rassistischen Gewalt in Gang. Jedes Jahr im Februar trifft sich in Sofia die extreme rechte Szene Europas, um eines Mannes zu gedenken, der von Robert Singer, dem ehemaligen Vorsitzenden des „Jewish World Congress“, einmal als „der wichtigste bulgarische Förderer des Holocausts“ beschrieben worden ist: General Hristo Lukov wurde 1935 bulgarischer Kriegsminister, war gleichzeitig Vorsitzender des faschistischen „Bundes der Bulgarischen Nationalen Legionen“ und pflegte schon vor Beginn des Zweiten Weltkriegs gute Kontakte zu den deutschen Nationalsozialisten. Organisiert wird der Aufmarsch von der „Bulgarian National Union“, einer ultraradikalen Kleinstpartei aus dem rechten Lager, die zwar keinen Kokosha Glava 38
parlamentarischen Einfluss im Schwarzmeer-Staat besitzt, dennoch europaweit bestens vernetzt ist. Die bereits erwähnte Band „Kontrol“ ist eine legendäre bulgarische Punkband. Die 1988 in Bulgarien gegründete Band schaffte ihren Durchbruch 1991 mit ihrem Album „Bumm“, das sich hauptsächlich mit der kommunistischen Herrschaft in Bulgarien und anderen politischen und sozialen Themen befasste, die zu dieser Zeit im Land aktuell waren. Der Erfolg der Band setzte sich mit ihrem nächsten Album „Lele kako“ fort, das ihre bekanntesten Hits enthielt: den Titelsong und „Nayshtastlivia den“. Nach vier Alben verließ der Leadsänger Kolyo Gilana die Band und wurde durch einen neuen Sänger ersetzt, der auf dem Album – dem 2000 erschienenen „Pazete si decata“ – sang. Im Jahr 2014 reformierte sich die Band mit dem neuen Sänger Ivan Gatev. Das letzte und aktuelle Album „Червената Книга“ (Red Book) erschein im Juli 2021. Viele alteingesessene Punks rutschten in die Heroinsucht ab, andere hatten größere Sorgen, als die Musikszene am Leben zu erhalten. Balkanton ging in Konkurs, was praktisch den Tod der bulgarischen Plattenindustrie bedeutete. Die wenigen Punkbands der 90er Jahre spielten entweder New-School-Hardcore (z. B. BROTHERS IN BLOOD) oder ließen sich vom US-Punk der Sorte Green Day und The Offspring beeinflussen. In Bulgarien sind Last Hope immer noch der bekannteste Name im Hardcore. Im Gegensatz zu allen anderen Bands, die während der Pandemie gegründet wurden, sind „Bitov Terror“ (Битов терор) echte Veteranen der bulgarischen Punkszene. Sie haben sich schon immer mehr für die Politik interessiert haben, während die Musik eher zweitrangig ist. Das ist wahrscheinlich der Hauptgrund, warum ihr Debütalbum „Disobedient“ (Непокорни) erst im November 2022 erschienen ist, obwohl die Band die meisten dieser Songs schon seit Jahren spielt. Das Album enthält zehn knallharte Streetpunk-Songs, die den rauen und hymnischen Charakter der Oi!-Musik mit einigen melodischeren PunkrockEinflüssen kombinieren, die in den Mix geworfen wurden. Angefangen mit dem Titeltrack und der Leadsingle „Непокорни“ (Disobedient), zu dem sie ein großartiges DIY-Video gedreht haben, setzt sich das Album mit neun weiteren Tracks fort, die die Botschaft der anarchistischen, antikapitalistischen und antifaschistischen Organisierung verbreiten. Der interessanteste Song dürfte „Пари и власт“ (Geld und Gier) sein, der auf einem Gedicht des bulgarischen Anarchisten Krastyo Hadjiivanov basiert, der 1952 von den Behörden getötet wurde. Das letzte Lied, „Контра Култура“ (Kontra Kultura) ist Bitov Terrors eigene Interpretation des PENNYWISE-Klassikers „Bro Hymn“ auf Bulgarisch. Es wurde in Gedenken für einen engen Freund der Band geschrieben, der sich vor ein paar Jahren umgebracht hat, aber der Song feiert auch all die Freundschaften, die im Laufe der Jahre entstanden sind. KONTROL heute 39
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Henryk Gericke Henryk, geboren 1964 in Ostberlin, arbeitete nach einer Lehre als Buchbinder als Drucker im Progress Filmverleih und ist seit 1986 freischaffender Schriftsteller. 1982 gründete er die Punkband „The Leistungsgleichen“ und war ab 1985 in der politischen Opposition Ostberlins aktiv. Nach dem Erscheinen eines ersten Gedichtbandes 1996 schrieb Gericke bis 2004 fast ausschließlich Lyrik, vereinzelt auch Essays, Artikel und Rezensionen. Im selben Jahr erhielt er das Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste in Berlin und begann, sich intensiver mit dem Thema Subkultur und Gegenkultur in der DDR zu beschäftigen. Es entstanden Ausstellungen (u. a. mit Michael Boehlke: ostPUNK! - too much future; 2005), ein Dokumentarfilm, Rundfunksendungen, Artikel und Bücher. Seit 2019 gibt Henryk die Schallplatten- und Kassetten-Serie „tapetopia – GDR Undergroundtapes“ heraus (s. nachfolgenden Artikel). www.tapetopia.de Henryk, warum gibt es die tapetopiaReihe? Henryk Gericke: Die Serie habe ich ins Leben gerufen, um ausschließlich Musik zu verlegen, um diese vor dem Vergessen zu retten und die es in meinen Ohren wert ist, gehört zu werden. Es gab auch viele Tapes, die gar nicht dafür gedacht waren, für eine größere Klientel gehört zu werden und die es meiner Meinung nach auch nicht wert sind. Es gibt auch Labels, die meinen, alles veröffentlichen zu müssen, was in der DDR produziert worden ist. Das halte ich für Quatsch. Ich veröffentliche Tapes und Vinyl von Bands, die für mich Qualität und Substanz haben. Es gibt eben auch eine Menge Dutzendware von einer Menge austauschbarer Bands, wo ich mich frage, warum wird dafür Vinyl vergeudet. Ich weiß, es gibt Sammler*innen, die wirklich alles kaufen und haben wollen. Ich finde das für mich vergeudete Lebenszeit, Sachen zu veröffentlichen, die nichts Neues beizutragen haben. Deswegen bringe ich auch Sachen raus, die weg vom DeutschPunk hin im (experimentellen) Post-PunkBildquelle: Julia Schmitz 41
Sektor angesiedelt waren. Ich bin mit Punk wie SCHLEIM-KEIM, PLANLOS, NAMENLOS, WUTANFALL in Berührung gekommen und aufgewachsen und bin Teil dieser Szene. Aber musikalisch interessanter finde ich Post-Punk und Artverwandtes. Welchen Bezug hattest du denn zum Medium Kassette? Als ich mit 12/13 Jahren anfing, mich bewusst mit Musik zu beschäftigen, habe ich Tonbänder gehört. Kassetten waren da noch nicht so verbreitet. Ich habe dazu auf der tapetopia-Seite einen Text verfasst.1 Es gab ORWO-Kassetten mit billiger Qualität aus der VEB Filmfabrik Wolfen, die sich immer wieder zu einem unbrauchbaren Bandwirrwarr auflöste. Und zum Verständnis: Bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen eines jungen Berufsanfängers von etwa 250 DDR-Mark waren 20 Mark pro Kassette nicht gerade verlockend, zumal die Monatsmiete für eine ältere 1- Zimmer-Wohnung nur etwa 25 Mark betrug. Für diejenigen, die keine WestVerbindungen hatten, um an Tapes zu kommen, waren Tapes ein wertvoller Rohstoff. Um an Musik zu gelangen, musstest du entweder Leute kennen, die Musik vom Radio aufgenommen und dann weiterkopiert haben oder von Bands, die ihre Musik in Kleinstauflagen veröffentlicht haben. Die Kassette wurde dann immer wieder auch überspielt. Da hast du überlegt, was nimmst du auf, wann überspielt man. Die Kassette war für mich das allererste Musik-Medium neben dem Radio. Aufgenommen habe ich oft Musik von John Peel auf BFBS. »Ich will nichts dokumentieren, sondern Tapes veröffentlichen, die vom Verschwinden bedroht sind und die es musikalisch verdient haben, zu überdauern!« Ich habe ja auch in den 80er Jahren Punk-Musik aus dem Radio aufgenommen, die in einigen Sparten der Sender lief. Es gab aber auch sogenannte Überspiel-Listen, wo du dir Musik auf Kassetten zusammenstellen konntest. Kanntest du das auch? Was sehr verbreitet war, waren Kassetten-Bücher. Also Hefte mit LeerSeiten, wo du ganz akribisch die Musik von Bands eingetragen hast. Vorausgesetzt du hast die Namen auch vom Hörensagen richtig versanden. Da kam es mitunter zu witzigen Verwechslungen. Also da tauchten Namen von Bands auf, deren Musik im Umlauf waren, die es gar nicht gab. Eine schöne Geschichte: Da hatte jemand Musik auf Tape, die er vom Namen her geil fand, die hieß PUDDING, wo sich später herausstellte, dass das in Wahrheit Musik von Chris Spedding war. Es kam zu unglaublichen Verwechslungen, weil man die Namen falsch verstanden hatte. Ich habe zu Hause noch zwei von diesen Büchern. Wenn man die durchblättert, mit dieser Kinderschrift...absolut herrlich! Bist du denn selber auch ein MusikSammler? Meine Wohnung ist voller Platten und Singles, bin aber kein Sammler. Mich ängstigt der Begriff der Sammelei, obwohl ich mit tapetopia auch für Sammler produziere. Alles, was in an Original-Fotos und Tapes zum Bearbeiten bekomme, versuche ich so schnell wie möglich wieder an die Urheber*innen zu schicken, weil mich das belastet. War die DDR-Post-Punk- und Avantgarde-Szene ähnlich von 1 https://www.tapetopia.de/#home 42
staatlichen Repressionen ausgesetzt wie die Punk-Szene? Die Punk-Szene im Allgemeinen war am stärksten von Repressionen betroffen. Die Post Punk-Szene war nicht so politisch und hat sich nicht mit breiter Brust gegen den Start gestellt wie so viele Punkbands in der DDR, sondern sind sehr viel subtiler vorgegangen. Das hat vor allem auch den Hintergrund, dass die Post-Punk-Szene inhaltlich verknüpft war mit Kunst, literarischen Texten, Dadaismus, und weniger parolenhaftes Gebrülle wie im Punk. Hinzu kommt, dass der Staat auch überfordert war und zum Teil gar nicht mehr wusste was jetzt Punk ist, was Metal, was Postpunk. Und dann waren da Bands am Start wie ORNAMENT & VERBRECHEN2 . Da wusste die Stasi doch nichts mit anzufangen. Ein weiterer Beleg für die Überforderung, aber auch für die Inkompetenz der Stasi bzw. die staatliche Kulturbehörde, waren die englischen Texte der Postpunk-Bands. In der DDR gab es ja nur rudimentäres Schulenglisch, was das Verständnis noch mal erschwert hatte. So gab es auch ein großes Misstrauen bei der Einstufung gegen Bands mit englischen Texten. Es gab natürlich auch Bespitzelungen von der Stasi in der Kunst- und Post-PunkSzene. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist sicherlich Sascha Anderson3 . Es gab aber auch bei einigen Bands in der PostpunkSzene Situationen, wo Konzerte verhindert worden sind. Ein weiterer Grund, warum das nicht mit der PunkSzene so zu vergleichen ist, dass die Idioten bei der Staatssicherheit irgendwann begriffen haben, dass sie dem Phänomen nicht mehr beikommen, und das nicht mehr gehandelt bekommen. Und was haben die gemacht? Sie haben das Konstrukt „die anderen Bands“4 gepflegt und haben denen Auftrittsmöglichkeiten und Aufnahmemöglichkeiten gegeben. Und wer da zugegriffen hat... das ist eine verständliche Versuchung, sich vor der Kommission zu stellen, vor Funktionären, irgendwelchen idiotischen Musiklehrer*innen und alten Ostrockern. So oder so ähnlich war die Kommission im zuständigen „Kreiskabinett für Kulturarbeit des Rats des Kreises“ zusammengestellt. Dafür haben die Bands einen hohen Preis bezahlt. Aber mit der Einstufung und der sogenannten ‚Pappe‘ haben die Bands dann ihre eigenen Texte singen können, sind durch Clubs getingelt und konnten einigermaßen von ihrer Musik leben. Für meine Begriffe ging es da zu weit, an dem Punkt, wo sich Bands mit der FDJ zusammengetan und Verträge geschlossen haben. 2 Offenes Band-Projekt aus Berlin, 1983 bis ca. 1994. Initiiert vom Brüder-Paar Ronald Lippok. Die Band wurde nach dem Titel eines Ästhetik-Aufsatzes des Wiener Architekten Adolf Loos (1911) benannt. O&V verstanden die „Fratelli Lippok“ die gesamte Zeit seiner Existenz nicht als konventionelle Band, sondern als künstlerische „Plattform“ auf der die Brüder wechselnde Konzepte in ganz unterschiedlichen Stilistiken (Jazz, Industrial, Electronics) und häufig auch multimedial umsetzten. Beim ersten „offiziellen“ Konzertauftritt im August 1986 (beim X-Mal Open Air auf der Insel der Jugend) benutzte die Band mangels Auftrittsgenehmigung das Pseudonym VVV. 3 Er galt als der Szeneguru vom Prenzlauer Berg, der es bis zu seiner Ausreise aus der DDR 1986 verstanden hatte, die vielfältigsten subversiv-künstlerischen Aktionen oppositioneller Künstler in der DDR zu organisieren. Seine Aktivitäten in der Literaturszene, als Sänger der Band „Fabrik“, seine vielfältigen Beziehungen zu Malern, Musikern und Schriftstellern hatten ihm einen Nimbus in der Oppositionsbewegung der DDR eingebracht. Wie kein zweiter verstand er sich als Organisator, unermüdlicher Motor der Szene. 15 Jahre lang hatte er in den Wohnzimmergalerien und an den Kneipentresen am Prenzlauer Berg alle belauscht und unter verschiedenen IMIdentitäten an die Stasi verraten. Sascha Anderson wurde 1991 u.a. von Wolf Biermann öffentlich entlarvt. 4 „Die anderen Bands“ ist eine begriffliche Zusammenfassung für alternative Musikbands in den letzten Jahren der DDR. Zahlreiche Gruppen wie Sandow, Hard Pop, AG Geige, Der Expander des Fortschritts oder auch Feeling B entwickelten in jener Zeit einen Musikstil mit dadaistischen Tendenzen. Die anderen Bands zeichneten sich zum Teil auch durch häufigeres Verwenden offener oder versteckter systemkritischer Texte aus. 43
Ronald Galenza5 hat für dieses staatliche Konstrukt „die anderen Bands“ mal den Begriff „Musik aus kontrolliertem Anbau“ geprägt. Das war ein wenig polemisch, und vielleicht auch ein bisschen überspitzt, aber zutreffend. Kurzer Einschub Die FDJ und die Rockkultur-Szene in der DDR Es war ein Teil einer Strategie der politischen Kontrolle. Während der 80er Jahre entwickelte die Führung der Freien Deutschen Jugend (FDJ) die Haltung, dass es besser gewesen wäre, wenn statt Repression die FDJ die westliche Musik und Konzerte benutzen würde, um ihre eigene Organisation zu stärken. Aus diesem Grund waren die FDJorganisierten Konzerte wie das am 19. Juli 1988 mit Bruce Springsteen nicht nur Spaß, sondern auch ein Versuch, die Gunst der DDR-Jugend für die Diktatur der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zu gewinnen. Mit solchen Veranstaltungen versuchte die Jungendorganisation in der Spätzeit der Deutschen Demokratischen Republik ihre gesellschaftliche Relevanz gegen den Einfluss des Westens zu bewahren und das Interesse der Jugend in die Richtung des Sozialismus durch die Rockmusik zu kanalisieren. Bereits zuvor, im Jahre 1987, musste die SED ihre Unterhaltungsmusikpolitik verändern. Am Pfingsten fand das dreitägige Festival „Concert for Berlin“ auf dem ‚Platz der Reichstags‘ in Westberlin neben der Berliner Mauer statt. An drei Abenden spielten neben Bowie noch New Model Army, die Eurythmics, Bruce Hornsby, Paul Young und Genesis. Und sie sind sogar fast DDR-weit zu hören. Mithilfe von RIAS2. Live vor Ort waren rund 3.000 Ostdeutsche, die sich bei der Mauer versammelt haben, um das Konzert westlicher Musiker zu hören. Als die Grenzpolizei und Sicherheitskräfte versuchte, sie zu zerstreuen, rief die Menge Slogans wie „Die Mauer muss weg“ und liefen sich Auseinandersetzungen mit der Polizei. „Das waren Auseinandersetzungen, wie sie Ostberlin bislang nicht gewohnt war. Polizei ging mit Schlagstöcken gegen Tausende Jugendliche vor, die in Sprechchören den Abriss der Mauer forderten. Vor der Sowjetbotschaft riefen sie Gorbatschow! Gorbatschow! Und stimmten ironisch die Internationale an, denn die erkämpft das Menschenrecht.“6 Nach diesem Zusammenstoß wurden 178 Rockmusikfans ins Gefängnis gesteckt. Das Zentralkomitee der FDJ legte die Schuld in den Westmedien, die „nationalistische Tendenzen“ in der Jugend entfacht hatten, besonders durch Rockmusik. Aber die SED verstand die westlichen Rockkonzerte als ein neues Bedürfnis, mit denen solche Leute beruhigt und mit denen solche Demonstrationen verhindert werden konnte. Der FDJ und SED-Politbüro suchten schnell nach internationale Rockbands, ihre Regierung in der Augen der Jugend zu verbessern. Bereits am 14. Juli 1987 spielte Barclay James Harvest für 45.000 Zuschauer in Ost-Berlin auf der „Treptower Festweise.“ Am 17. September 1987 hielt die FDJ das „Friedenskonzert der FDJ“ mit Bob Dylan und Tom Petty & the Heartbreakers für 70.000 Zuschauer*innen. Am 7. Juni 1988 spielten Depeche Mode für den „Geburtstag der FDJ“ in Berlin. 5 1986 Mitbegründer der ersten Independent-Diskothek „X-Mal!“ in Berlin (Ost), Autor und Herausgeber diverser Bücher zur DDR-Subkultur und Jugendkulturen wie „Wir wollen immer artig sein Punk, New Wave, Hip Hop, Independent-Szene der DDR 1980–1990“, „Mix mir einen Drink – Feeling B“, „Spannung. Leistung. Widerstand – Magnetbanduntergrund der DDR“. 6 Zitat: https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-musik-ueberwindet-die-mauer-vor-25-jahren-fuehrte-ein-100.html 44
Partei- und FDJ-Spitzenfunktionären dachten, dass die FDJ Anstrengungen unternehmen sollten, um für die Jugend angemessenen „materiellen Wohlstand“ zu schaffen. Die Jugendlichen sollten mit „Jugendmode, Mopeds, Unterhaltungselektronik“ und „Schallplatten (vor allem internationale Musik)“ und „Kassetten (auch internationale Musik)“ befriedigt werden7 . Wie erreichten denn subkulturelle Undergroundbands abseits der institutionalisierten Kulturöffentlichkeit Aufmerksamkeit? Ging das tatsächlich nur über die Tape-Szene oder gab es auch Magazine, Clubs etc., um diese Szene zu supporten? Es gab eine Magnetbandkultur und illegale Tonstudios, in denen Postpunkund Avantgardebands ihre Musik aufnehmen konnten. Gunther Krex war ein Musiker und spielte u. a. im MusikProjekt Fabrik, der Nachfolge der legendären Dresden/Berliner Art-PunkFormation Zwitschermaschine. Er war aber auch zugleich Produzent und Studio-Betreiber in Ostberlin, der sein privat aufgebautes Heimstudio auch für unkonventionellere Bands aus Avantgarde, Underground und Heavy Metal öffneten und ihr Know How für Produktionen beisteuerte. Bekannte Dokumente dieser Phase sind die von Olaf Tost (Die Anderen) als Talentscout für den Rundfunk der DDR betreuten Sessions der Jahre 1989/1990, die später auf der Compilation „Sentimentaler Rückblick“ veröffentlicht wurden. Ganz wichtig: Bo Kondren, Heim-SoundTüftler, später in ersten Bandstrukturen bei „Die Schönste Muziek“ und „Ornament & Verbrechen“, der nach der Wende übrigens mit Bernd Jestram zusammen das Bleibeil-Studio aufbaute, wo beide als Produzenten/TechnikerTeam bis 1996 zahlreiche Aufnahmen eigener aber auch fremder Bands und Projekte bis hin zu den „Einstürzenden Neubauten“ betreuten. Ganz wichtig in diesem Zusammenhang zu erwähnen ist auch Taymur Streng, der hauptsächlich im Rahmen der Neuen und zeitgenössischen Musik sowie der Elektronischen Musik, Computermusik und des Deep Listening arbeitete. Taymur war 1988 Mitbegründer der KultDark-Wave-Band Neun Tage in der DDR, Musiker in diversen Bands des DDRMagnettonband-Undergrounds der Achtziger Jahre und spielte in seinem Mahlsdorfer Studio mit Ornament & Verbrechen. In diesem Studio gab es mit dem sogenannten „Mahlsdorfer Wohnstuben Orchester“ eine SessionFormation. Was waren denn die Bedingungen für (Post)Punk-Bands, ihre Musik auf Kassette aufzunehmen? Ich nenne jetzt mal eine Osterberliner Punkband, die heute kaum von Bedeutung ist, weil es damals keine Aufnahmen gab. Das waren PLANLOS. Die sind jetzt wieder medial aufgetaucht, in Verbindung mit der DIE TOTEN HOSEN-Doku „Auswärtsspiel“, in der es um die Umstände des am 27. März 1983 7 zitiert in Rauhut, Schalmei und Lederjacke, S. 263/264 45
konspirativ organisierten Konzerts in der Erlöserkirche in Berlin-Rummelsburg mit der DDR-Punkband Planlos, sowie eine Neuauflage dieser Begegnung, 40 Jahre später, geht. Letztes Jahr im Sommer haben DIE TOTEN HOSEN zusammen mit PLANLOS im Tempelhof vor 70.000 Leuten 2 Songs live gespielt. Ich war dabei, das war grandios. PLANLOS haben damals Punk nicht neu erfunden, waren aber – was die Melodien anbelangt – sehr nuancenreich, haben teilweise hochlyrische und unfassbar schöne Texte geschrieben. Das waren keine Gedichte, sondern politisch, brisant und metaphernreich, ohne pathetisch zu sein. Im Gegensatz zu Bands wie SCHLEIMKEIM sind PLANLOS so gut wie verschwunden aus dem Bewusstsein. Andere Bands wie DIE SKEPTIKER haben durch einen FDJ-Fördervertrag die Möglichkeit erhalten, in ein AMIGAStudio zu gehen und professionelle Aufnahmen zu machen. Von PLANLOS sind lediglich vier Songs, („Überall wohin es dich führt“, „Planlos“, „Ich steh an der Schlange zum Currystand“, „Smog und Ruß“) dokumentiert und auf diversen Samplern veröffentlicht, die in einem Proberaum – ein Schlachtraum in einer ehemaligen Schlachterei – entstanden sind. Dieser Raum war komplett gekachelt. Da haben die einen SternRecorder8 inmitten des Raumes gestellt und alles aufgenommen. PLANLOS „Ich steh’ in der Schlange am Currystand. Ich dreh’ mich nicht um, ich hab’ dich erkannt. Du bist mein Schatten, wohin ich komme. Ein schwarzer Fleck in der Sonne. Wenn ich laut denke, dann bist du da. Wo ist der Monitor hinter der Kamera? Du steigst in meinen Freund und horchst mich aus. Berichtest die Lügen wie du sie brauchst. Hyäne bedroht, bedroht durch ‘ne Maus, Maus hinter Gittern, Hyäne kommt raus.“ PLANLOS entstand 1980 im „Schatten der Mauer“ als eine der ersten Punkbands in der DDR. Die Gründung der Ostberliner Band mit Sänger Michael ‚Pankow‘ Boehlke, Michael Kobs, Gitarre, Daniel ‚Kaisa‘ Kaiser, Bass und Bernd Michael Lade am Schlagzeug, war das Resultat des subversiven Untergrunds von Punk in der DDR. Die Songs zählen zu den Klassikern des DDR-Punkrocks. Aufgrund ihrer strikten Verweigerungshaltung trat sie nie legal in Erscheinung und absolvierte beinahe ausschließlich Auftritte in Kirchen. Begleitet von massiven staatlichen Repressionen löste sich die Band 1983 auf. Seit Juli 2022 ist PLANLOS mit Sänger Michael „Pankow“ Boehlke und dem ursprünglichen Texter und Gitarristen Michael Kobs sporadisch wieder live präsent. Als Bassist ist Maik Reichenbach, Gründungsmitglied der legendären Leipziger Punkband L’Attentat, Teil der Band9 . 8 Der STERN-RECORDER R 160 wurde von 1972 bis 1980 als erster Radiorecorder der DDR im VEB Stern-Radio Berlin produziert. Der Recorder hatte einen externen Mikrofonanschluss, einen eingebauter 8Ω/2VA-Lautsprecher LP 553, getrennte Höhen- und Tiefenregelung, einen elektronischen Umschalter und ein Kassettenlaufwerk mit automatischer Aussteuerung. 9 Interview mit Michael Boehlke von PLANLOS: https://www.underdog-fanzine.de/2016/07/13/planlos-subkultur-inder-ddr/ Bildquelle: Archiv SUBstitut 46
Und was ist mit der aufgenommenen Musik weiter passiert? Na ja, zum Beispiel wurden die inoffiziellen Musikproduktionen und Konzertmitschnitte der 1983 von Robert und Ronald Lippok gegründeten Band „Ornament & Verbrechen“ auf durch West-Kontakte besorgten Kassetten aufgenommen, vervielfältigt und zusammen mit selbst verlegten Zeitschriften verkauft. Wir reden hier aber über bescheidene Auflagen. Die Band „Neuntage“10 hatten bspw. eine Tape-Auflage von 10 Kopien. Die höchste Auflage, von der ich weiß, waren 100 Kopien von „Die Gehirne“11 aus KarlMarx-Stadt. In der Regel gab es aber von den einzelnen Bands Tape-Auflagen von 30 bis 60 Kopien. Wie bist du denn an die Musik rangekommen? Einige Bands hatten das Glück gehabt, dass sie an couragierte Bands geraten sind, die eine Einstufung hatten. Und diese Bands haben andere Bands ohne Einstufung zum Teil unter ihren Namen als Vorband auftreten lassen. Als Beispiel nenne ich mal die Band Neu Rot, die haben sich auch Pffft…! oder Neu Rot II genannt und konnten auftreten. Das war eine Industrialband mit ‚Chaos‘, der früher bei WUTANFALL war. Nach Ausreise von Schulze und Zappa im Jahr 1986 ermöglichte die Einbindung von Musikern mit einer Spielgenehmigung durch Einstufung mit ihrer „Heimatband“ erworben, auch offiziellere Auftritte, die Band wurde in diesen Fällen als Die Art II oder Neu Rot II angemeldet. 1987 entstand ein gemeinsames Demotape mit dem später in Rostock wirkenden Projekt FO 32 Extra hart arbeitendes Rastermaterial für Kontakt. Ein weiteres wichtiges Medium neben Magnetbänder und Kassetten war auch das Radio wie DT 64 oder ‚Parocktikum‘. Ich kann Lutz Schramm mit seiner eigenen Sendung Parocktikum nicht genug loben12. Er war nicht nur Radiomoderator, sondern auch Produzent und Wegbereiter für mehrere DDRGruppen, die unter dem Begriff „Die anderen Bands“ bekannt sind mit Produktionen der Bands „Die Skeptiker“, „AG Geige“, „Herr Blum“, „die anderen“ und „Der Expander des Fortschritts“. Außerdem veröffentlichte Lutz für Interessierte Manuskripte zu Bands (u. a. auch über Einstürzende Neubauten) und Playlists, die man über ihn beziehen konnte. Demgegenüber gab es aber auch Bands und Musik-Kollektive wie auch „Ornament & Verbrechen“, die nicht in einem Staats-Rundfunk gespielt werden wollten, um nicht mal ansatzweise mit diesem Staat in Verbindung gebracht zu werden. Das finde ich aber nicht engstirnig, sondern nur konsequent. Dass andere Bands ihre Tapes zu Lutz geschickt haben, um einen größeren Radius und Aufmerksamkeit zu bekommen, als nur im kleinen Kreis gehört zu werden, ist nachvollziehbar. Und ohne Lutz Schramm und dessen Radiosendung hätten Bands wie AG GEIGE vermutlich nie ihren Status erreicht. Bands wie „Rosengarten“13 aus Salzwedel wurde der Weg erst durch Lutz geebnet, der u. a. mit denen Sessions aufgenommen hat wie bspw. 10 Berliner Band, 1988 (oder schon 1985?) bis 1993. Entstanden aus dem seit Mitte der 80er mit Homerecordings experimentierenden Mahlsdorfer Wohnstuben Orchester von Taymur Streng. 9 Tage (auch Neun Tage Alt oder Neuntage) traten mit eher poppigen, darkwavigen Sounds an die Öffentlichkeit, entzogen sich aber den für Anfang der 90er Jahre typischen Strömungen der Gothic-Szene. Die dafür notwendigen Instrumente und Aufnahmegeräte entstanden in Eigenbau. 11 Offenes Bandprojekt für Experimental-Punk und Improvisationen, gegründet 1983 von den beiden Karl-MarxStädter Künstlern Florian Merkel und Claus Löser. Als Mitbegründer der Grafik-Edition „A DREI“ (zusammen mit Frank Bretschneider) wurde Löser ab 1983 Zielperson der Operativen Personenkontrolle (OPK) ‚Lyra‘ der DDRStaatssicherheit (später als OV weiter geführt). 12 Interview in UNDERDOG #72: https://www.underdog-fanzine.de/2023/07/24/lutz-schramm-parocktikum/ 47
„Rosengarten – Parocktikum Session 20.12.1987“, aufgenommen bei „X-Mal! Musik zur Zeit“ im Kreiskulturhaus Treptow in Ostberlin. Torsten ‚Peggy‘ Füchsel hat für diese Session Urlaub von der NVA bekommen, musste Sonderurlaub nehmen und durfte nach Berlin fahren, um die Aufnahmen zu machen. Ein weiteres Netzwerk war das Samisdat. Diese freien Blätter enthielten nicht nur Informationen, sondern vor allem konkrete Erfahrungsberichte. Ich habe 1985 zusammen mit Ronald Lippok (ROSA EXTRA, ORNAMENT & VERBRECHEN) ein journalistisches ‚Samisdat“-Heft in geringer Auflage publiziert. Ich habe alleine in einer kleinen Druckerei gearbeitet und habe diese Hefte illegal gedruckt. Ronald und ich waren große Fans von Surrealismus und haben angefangen, Hefte in 20er-, 40er-Auflagen kopiert und an Freund*innen und UndergroundKünstler*innen verteilt. Kurzer Einschub Samisdat Im Ursprung ging es dabei um die Verbreitung von bereits existierenden Büchern und Schriften, die im jeweiligen Land unverlegt, unerwünscht oder gänzlich verboten waren. Später wurde es, neben Lesungen im privaten Kreis, die einzige Möglichkeit, auch neue, aktuelle literarische Texte (Gedichte, Songtexte, Prosa) außerhalb des in der Regel strikt staatlich kontrollierten Verlagswesens einem größeren Publikum bekannt zu machen. Im hier gemeinten Sinne und Zeitraum nutzten (verstärkt) in den 1980er Jahren der DDR Literaten und Künstler*innen eine gesetzliche Ausnahme von staatlicher Zensur als PublikationsLücke: bis zu einer Auflage von 99 Exemplaren durften künstlerische Werke auch ohne eine derartige Druckgenehmigung vervielfältigt werden. Dies geschah mangels konventioneller (und streng kontrollierter) Drucktechnik mithilfe von Schreibmaschinendurchschlägen, Fotoabzügen oder verschiedenen grafischen Techniken, weshalb hier synonym von „originalgrafischen“ Mappenwerken und Büchern gesprochen wird. Ab 1982 entstanden auch eine ganze Reihe periodisch erscheinende Literatur- und Kunstzeitschriften nach ähnlichem Schema und mit vielfach gleichem Personal an Fotografen und Grafiker*innen, Dichter*innen, Schriftsteller*innen und Autor*innen wie z. B. Sascha Anderson, Bert Papenfuß, Peter Wawerzinek, Heinz Havemeister, Claus Löser, Florian Merkel und Gabriele Stötzer. Diese Durchmischung resultierte aus den DDR-weiten semi-offiziellen Netzwerken, in denen sich in der Regel alle daran Beteiligten bewegten, und von denen immer die jeweiligen Herausgeber*innen neben dem künstlerisch-intellektuellen Austausch auch einen wirtschaftlichen Vorteil ziehen konnten, denn diese Erzeugnisse wurden als limitierte Kunstobjekte von Sammler*innen sowohl im In- wie im Ausland geschätzt und erworben. Relevant für das ‚Parocktikum‘ ist die Tatsache, dass zu den Beilagen dieser Samisdat-Zeitschriften auch immer wieder Tonträger (in der Regel Tapes, sowie in der „verwendung“ Heft 4 eine Vinyl 7" EP von „The Local Moon“) beigelegt wurden. Es gehörte zum Kontext der medialen Grenzüberschreitungen in der 13 PostPunk-Band aus Salzwedel, 1985 bis ca. 1990. Kurze Neu-Formierung 1992/93. Keimzelle war das MusikProjekt Art Of Steel von Torsten Füchsel und Torsten Fütterer, durch das Hinzukommen von Torsten Thönert, Kirsten Hilke und Alex Carstensson entstand bis Anfang 1985 eine konstante Besetzung, die sich schließlich in Rosengarten umbenannte, nach dem Bauhaus-Song „Rosegarden Funeral Of Sores“, die das Motto ihrerseits vom Velvet Underground Songwriter John Cale entlehnt hatten. Bis 1989 spielten Rosengarten drei ausgesprochen komplexe und legendäre „Tape-Alben“ ein. 48
oppositionellen Kultur der DDR, dass sich bildende Künstler*innen auch mit Musik auszudrücken versuchten, kunstaffine Musiker*innen sich als Maler*innen betätigten, und dissidente Lyrik als Songtexte Verwendung und Verbreitung fand. Aber auch klassische bzw. performative Lesungen wurden als Tonkonserven veröffentlicht. Die systematische Aushebelung des Druck- und Verlagsmonopols der DDR durch die Samisdat-Editionen (z. B. durch die vermehrte Einbeziehung von literarischen und kunstwissenschaftlichen Texten) wurde mit ganz wenigen Ausnahmen (z. B. Verbot der ‚Galeere‘ 1986) staatlich geduldet, ebenso wie die ab 1986 stark anschwellende Tätigkeit von reinen Musik-Tape-Labels, die rechtlich durch keinerlei Ausnahmen vom Zensur gedeckt waren. Dennoch ist anzumerken, dass die Tonträger-Beilagen der originalgrafischen Zeitschriften demgegenüber zumindest formalrechtlich legal waren.14 War dieser Wunsch nach einer Alternative zur westlichen Avantgarde-Szene auch Ausdruck eines Konkurrenzdenkens mit dem Westen, also so das Bestreben, eine eigene Untergrund-Musik zu entwickeln? Ich denke nicht, dass das mit dem Konkurrenzdenken im Westen zu vergleichen war. Ich frage aus dem Grund, weil mich viele der bereits erwähnten Bands wie FO 32 an die „Geniale Dilettanten“-Reihe15 erinnern, also an Bands wie DER PLAN, MALARIA, EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN. FO 32 waren erst in Leipzig, später in Rostock aktiv. Der eigentliche Gründer des Projekts, Axel Holst, kam aus Leipzig. Die haben z. B. viel „Zündfunk“16 gehört, ein wichtiger bayerischer Radiosender, der viel im Süden der DDR frequentiert wurde und war so was wie das Pendant zu John Peel von BFBS. Natürlich kannten Axel und FO 32, DER PLAN und die „Geniale Dilletanten“-Bands. Aber, ich denke nicht, dass sie sich in irgendeiner Art und Weise als Konkurrenz gesehen, sondern sich inspiriert gefühlt haben. Ich selber hatte 1982/83 mit THE LEISTUNGSLEICHEN auch eine Punkband und für mich war Punk zu sein und eine Band zu haben untrennbar miteinander verbunden. Also nicht nur als Punk mit Lederjacke rumlaufen, sondern aktiv Musik zu machen. Erst dann habe ich mich als Punk ganzheitlich empfunden. Ich habe uns aber nicht als Konkurrenz zu Bands wie ABWÄRTS oder SLIME gesehen, sondern, weil ich selber was unternehmen wollte. Man darf ja nicht vergessen. Die DDR war ein nur ein mäßig durchgequirlter Stillstand, wo teilweise auch wenig los war. Gerade Bands wie „Neun Tage“ oder das „Mahlsdorfer Wohnstuben Orchester“ haben ja vor allem aus dem Grund Musik gemacht, um gegen die unglaubliche Langweile anzukämpfen. Beide Tapes von „Neuntage“ (Soldier; WAIF), die ich auf tapetopia rausgebracht habe, sind ausverkauft. Ich habe mich gestern mit Rene Golfke, dem Sänger von Neuntage, getroffen, der ist in meinem Alter, 58, und mit diesem späten Erfolg total fassungslos gegenüber. Gerade, wenn man bedenkt, dass der im Kinderzimmer Aufnahmen gemacht hat, mit selbst gebauten Instrumenten und Tapes in einem Take im rudimentären Homerecording-Verfahren aufgenommen. Das war purer Zeitvertreib, um die Langeweile zu bekämpfen. 14 Mehr zum Thema: https://www.jugendopposition.de/themen/145415/samisdat 15 https://www.underdog-fanzine.de/2016/03/25/geniale-dilletanten-die-kunst-der-selbstaneignung/ 49
FO 32 Laut Parocktikum-Infobrief im Juni 1987 gegründet von Musikern der Bands Zauhaufen (Leipzig) und aus dem Umfeld von Arrest (Rostock). Ein frühes DemoTape enthält sowohl Aufnahmen von FO 32 als auch von Jürgen ‚Chaos‘ Gutjahrs (ex-Wutanfall) Noise-Projekt Pffft...!. „Ich gründete die Band ‚FO 32 extra hart arbeitendes Rastermaterial für Kontakt‘ 1988 mit vier Gleichgesinnten in Rostock. Die Geschichte ist interessant, da wir alle bei der NVA waren und unsere Aufnahmen illegal in der Kaserne durchgezogen haben. Wir haben kein pures Sampling betrieben, sondern Instrumente, Stahl Action und Texte in schweißtreibenden 24 Stunden-Aktionen auf Tonbänder aufgenommen – diese neu zusammengeklebt – richtige Magnetbandschleifen gebastelt etc. Eine völlig absurde Mischung aus Technoidem und handmade. Die Texte waren von mir – einige Songs sind aber Vertonungen von Ernst Jandl-Gedichten.“ (Axel Holst) Ebenso wie FO 32 produzierten auch „Expander des Fortschritts“ eine besondere Form des Hörspiels im Songformat, verknüpften literarische Texte und Klangcollagen. „Das kleinere Übel“ ist meiner Meinung nach ein provokant-politisches Kunstwerk, das so auch im Kleinkunst-Theater aufgeführt werden könnte. Der Expander des Fortschritts greift hier in Eckehard Binas' Text den hausgemachten Rechtsradikalismus in der DDR auf. Avantgarde und Kleinkunst kann also auch sehr politisch sein. Das war eher die Ausnahme, oder? Der Text von Ecke Binas bezog sich auf den Überfall auf die Zionskirche… Hintergrund Rechter Skin-Überfall auf Zionskirche Am Nachmittag des 17. Oktober 1987 versammeln sich ungefähr 100 Hooligans und Skinheads in der Berliner Kneipe „Sputnik“ an der Greifswalder Straße, um einen Geburtstag zu feiern. Zur selben Zeit drängeln sich in der zwei Kilometer entfernten Zionskirche rund 2.000 Menschen bei einem Konzert zweier Bands aus Ost und West: „Element of Crime“ und „Die Firma“. Organisator der Veranstaltung: Silvio Meier, ein Hausbesetzer aus Ostberlin, der zu dieser Zeit in der kirchlichen Opposition ist. Die Volkspolizei ist vor Ort und die Staatssicherheit über das Ereignis informiert. Im „Sputnik“ saufen sich die Neonazis derweil in Stimmung. Rund 30 bis 40 von ihnen brechen wenig später zur Zionskirche auf, um Konzertbesucher anzugreifen. Es ist 22 Uhr, gerade hat die Punkband „Element of Crime“ das letzte Lied gespielt. Die Neonazis stürmen das Gotteshaus und brüllen: „Sieg Heil!“, „Juden raus aus 16 Der Zündfunk ist seit 1974 ein Magazin im Hörfunk des Bayerischen Rundfunks. Es wurde als „Jugendmagazin“ gegründet und gedieh 30 Jahre später zu einem etablierten Magazin. In den ersten 20 Jahren seines Bestehens war der Zündfunk wegen seiner für die damalige Radiolandschaft ungewöhnlich direkten Ansprache, der Vermittlung von Pop-Kultur und alternativer Literatur sowie der kritischen Berichterstattung über politische Missstände richtungsweisend. 50