deutschen Kirchen“ und „Kommunistenschweine“ und verletzen mehrere Konzertbesucher*innen beim Überfall. Die Volkspolizei lässt die Neonazis gewähren. Schon tags darauf – am 18. Oktober 1987 – berichteten der RIAS und andere Westmedien über den Überfall und, dass die Polizei dabei untätig geblieben war. Die DDR geriet unter Zugzwang, die Behörden mussten mit der Untersuchung des Vorfalls beginnen. Die Vorgehensweise wurde von der Stasi diktiert. Auf einer Liste mit 17 Punkten wurde der Ablauf genau festgehalten: Gegen einen Teil der Neonazis gab es Ordnungsstrafverfahren und schriftliche Belehrungen. Fünf Beschuldigten wurde der Prozess gemacht vor geladener Öffentlichkeit. Schon vorher stand fest, sie sollten „Freiheitsstrafen mit Präventivcharakter“ bekommen und verpflichtet werden, sich am Arbeitsplatz zu bewähren. Am 22. Dezember 1987 wurde der Anführer Ronny B. zu vier Jahren Haft verurteilt und drei weitere junge Männer wegen Rowdytums und öffentlicher Herabwürdigung zu Haftstrafen zwischen einem und zwei Jahren.17 ...Susanne Binas hat das in den Linernotes auf der Platte sehr treffend formuliert. Sie hat gesagt: „Wir haben mit Expander des Fortschritts angefangen und sind – was Konzerte anbelangt – von Gelegenheit zu Gelegenheit gestolpert“. Die haben u. a. in irgendeiner Hinterhofwohnung gespielt, vor 20 Leuten. Da war jemand anwesend, der meinte, ob die nicht auf seiner Ausstellung in der Galerie spielen könnten und haben dann da gespielt. Der Gitarrist Mario Persch von Expander hatte zum Ende der DDR ein kurzlebiges Kassetten-Label namens „ZoneTon“, mit dem er über die eigene Bandaktivität hinaus andere experimentelle Sachen rausbrachte. Aber auch hier gilt der eingangs erwähnte Konsens, etwas Kreatives zu tun, um gegen den Stillstand und die kulturelle Langeweile etwas zu tun. Die Verschmelzung von Audio-Samples, Avantgarde und Kleinkunst war absolut einzigartig und eigenständig. Ähnlich wie BAUHAUS oder JOY DIVISON aber hatten EXPANDER DES FORTSCHRITTS ein ganz anderes Referenzsystem und waren für mich absolut singulär. Ich bin auch total stolz, ihr erstes Tape, „Urknall Mensch“, auf tapetopia (tt08) neu aufzulegen. Ich habe denen auch mal erzählt, dass dieses Tape überhaupt erst für die tapetopia-Reihe gemacht worden ist. Oder anders formuliert: Ich habe tapetopia kreiert für Tapes wie diese. Ich will nichts dokumentieren, sondern Tapes veröffentlichen, die vom Verschwinden bedroht sind und die es musikalisch verdient haben, zu überdauern! »Die subversive und subkulturelle Szene West-Berlins hat sich nur für sich selbst interessiert.« Gab es in den 80er Jahren auch ein westdeutsches Interesse an 17 Mehr zum Thema: https://rechtsaussen.berlin/2017/10/ueberfall-auf-zionskirche-zaesur-im-umgang-mit-neonazisin-der-ddr/ Berichterstattung in der westdeutschen Presse. Bildcollage: apabiz 51
subkulturellen Produkten aus der DDR? Ganz begrenzt. Wie wir ja alle wissen, hat die Arroganz des Westens gegenüber des Ostens in alternativen Zirkeln eine wesentliche Rolle gespielt. Es gibt einen wunderschönen kurzen Dokumentarfilm von Michael Biedowicz, der sich als Foto-Radakteur 1990 für seine Dokumentation „Alles anders machen“ auf die Spuren der „Ost-taz“ begeben hatte, die drei Monate existierte. Im Film sagt jemand: „Am Beispiel einer basisdemokratischen, linken Tages-Zeitschrift hat sich 1990 schon abgezeichnet, was der Westen, speziell die Treuhandanstalt18, mit dem Osten gemacht hat.“ Diese Arroganz hat es auch in den West-Linken gegeben. Nicht wenige West-Linke kennen sich eben, wie der Redakteur der „Ost-taz“ Dirk Branke sagt, bis heute in Kathmandu besser aus als in Dresden. Blixa Bargeld wurde mal in dem „BMovie – Lust & Sound in West-Berlin“19 gefragt, ob er sich für den Ost-Teil der Stadt interessieren würde und daraufhin antwortete: „Ich mochte es schon immer, in einer Stadt zu leben, deren einen Teil ich nicht kenne.“20 Aber es gab auch Leute wie Marc Reeder von „Die Unbekannten“, der sich nicht nur für den subkulturellen Ost-Teil von Berlin interessierte, sondern auch das legendäre, ‚illegale‘ Ostberliner Konzert der „Die Toten Hosen“ in der Erlöserkirche in Berlin-Rummelsburg organisierte. Dann gab es noch Olaf Leitner, der beim RIAS Berlin als Redakteur arbeitete, sich sehr für kommerziellen Ost-Rock wie „Karat“ interessierte und in dem Zusammenhang 1983 das Buch „Rockszene DDR“ veröffentlichte. Es gab aber wenig verstreute Leute, die Interesse hatten, was ebenfalls auf die Ost-Untergrund-Literatur-Szene zutraf. Die subversive und subkulturelle Szene West-Berlins hat sich nur für sich selbst interessiert. Wenn man deine Veröffentlichungen der tapetopia-Reihe anschaut, ist festzuhalten, dass es eine insgesamt sehr überschaubare Community war, aus denen immer wieder neue Bands mit personellen Überschneidungen hervorgegangen sind. Ja, es war eine überschaubare Community. Aber was innerhalb dieser entstanden ist, war doch sehr produktiv. Ich habe z.b. eine Platte und ein Tape von Frank Bretschneider (AG GEIGE) rausgebracht, der mit ‚Heinz‘ Havemeister ein Projekt namens „Heinz & Franz“ hatte. HEINZ & FRANZ Heinz & Franz war ein klassisches Homerecording-Projekt, das nie live auftrat. Havemeister und Bretschneider fanden den Projektnamen passend, plakative Punk-Gesten hielten sie für eine Attitüde der Vergangenheit. Doch beim gemeinsamen Musizieren und Experimentieren galt: Gezielte Energie war wichtiger als die virtuose 18 Die Umgestaltung der ostdeutschen Wirtschaft nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen liegt zwischen 1990 und 1994 in den Händen der Treuhandanstalt. Sie übernimmt die Verantwortung für die Volkseigenen Betriebe mit fast vier Millionen Beschäftigten. Die Treuhand spaltet die großen Industriekombinate der DDR auf, privatisiert, saniert und legt Betriebe still. Folgen sind eine weitgehende Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland. 19 In ihrer Dokumentation widmen sich die Regisseure Jörg A. Hoppe, Heiko Lange und Klaus Maeck dem Berlin der 1980er Jahr, als Collage der West-Berliner Musik- und Kunstszene. Im Fokus: Marc Reeder, den es Ende der 70er Jahre in die „Mauerstadt“ verschlagen hat, wo er sich mitten in das damalige, auf das Hier und Jetzt fokussierte Lebensgefühl stürzte und auf illustre Persönlichkeiten wie Nick Cave, Blixa Bargeld und Christiane F. traf, aber auch DIE ÄRZTE in ihrer frühen Phase interviewt und gezeigt werden, wie sie 1983 „Eva Braun“ performen. https://youtu.be/Wi26_c0Y9Do 20 In einem Interview äußerte sich Blixa Bargeld ähnlich: „Ich war nie in Ostberlin. Das Interesse war einfach nicht da.“; Quelle: https://www.rollingstone.de/blixa-bargeld-ich-war-nie-in-ostberlin-2343663/ 52
Beherrschung eines Instruments oder die Kultivierung einer ausgebildeten Stimme. Die Technik stand im Vordergrund ihres Denkens, sie sahen sich als geschlossenes Produktionssystem. Die Klangtüftler diskutierten viel und machten, begleitet von Sequenzergeräten, viele Schritte abseits ausgetretener Pfade. Bei aller Improvisation blieben sie aber eher Navigatoren und Supervisoren als frei agierende Musiker. Das Duo behandelte alles, was zur Entstehung ihrer Produktion beitrug, als Projektmitglieder, um durch ihre Produktionsästhetik eine eigene Produkt- oder Klangästhetik zu erreichen. Bretschneider erwarb später auch einen Casio SK1 Sampler, ein Yamaha-Keyboard mit Rhythmuspatterns und ein digitales Delay. Grundlegende Bänder mit Schlagzeugrhythmen, Loops und Bassspuren hatte er bereits zusammengestellt. Die erste gemeinsame Aufnahmesession der Band fand im März 1987 im Heimstudio Sonnenklang von Frank Bretschneider statt. Die Stimmen wurden im Ping-Pong-Verfahren aufgenommen, dann kamen Gitarren und eine Gesangsspur hinzu. Das Ganze wurde durch ein Mischpult gejagt, das Bretschneider selbst gebaut hatte. Das Original-Tape von Heinz & Franz wurde Ende 1988 auf Bretschneiders Label klangFarBe in einer Auflage von 50 Stück veröffentlicht. Für das Cover griffen die Tonkünstler auf die gegensätzlichen und zugleich verbindenden Merkmale des Analogen und Digitalen zurück. Bretschneider hatte eine Zeichnung mit den Köpfen des Projekts im Doppelporträt angefertigt, während Havemeister für das Textlayout das Zeichenprogramm Hi-Eddi auf seinem Commodore 64 verwendete. Die Montage wurde in einem privaten CopyShop in Berlin-Mitte erstellt und gedruckt. Für die Kopien des Bandes wurden ORWO-Kassetten aus der DDR, aber auch westdeutsche Kassetten verwendet. Die meisten Kopien wurden verteilt oder verschenkt, ein gutes Drittel wurde für 20 Mark pro Kassette verkauft. War Ost-Berlin der Hopstpot für subkulturelle Musik und Avantgarde? Ost-Berlin war definitiv einer der größten Hotspots. Es gab aber auch Kooperationen von Leuten aus Berlin und Halle, Berlin und Erfurt, Berlin und KarlMarx-Stadt. Des Weiteren gab es eben auch ein breites Spektrum an musikalischen Experimenten, die weit vom 3-Akkorde-Punk hinauswuchsen. Bands wie HAPPY STRAPS mit Dark 53
Wave/Post Punk hin zu EXPANDER DES FORTSCHRITTS oder ORNAMENT DES VERBRECHENS gab es eine musikalisch sehr, sehr vielseitige, subkulturelle Szene. Die Linernotes zu FO 32 sind auffällig länger, als bei deinen anderen Veröffentlichungen. Zur FO 32-Veröffentlichung gab es ein kleines Beiheft, weil es sehr viel grafisches Material gibt und eine total irre Geschichte, die das konspirative Vorgehen skizziert. Die 4 Musiker haben sich 1987 während der NVA-Zeit in der Propagandaeinheit PrK-18 der 4. Flottille der DDR-Volksmarine kennengelernt. Die war mit der Kampfzentrale HGS-18 verbunden und in denen waren eine Satzund Reprostation, eine Offsetdruckstation und eine Buchbinderstation untergebracht sowie in einer anderen Halle zwei mit Kino- und Tontechnik ausgestattete W50-LKWs untergebracht. Dort haben sie illegal gedruckt und Musik aufgenommen. Es kam sogar zu einem illegalen nächtlichen Auftritt. Die sind nachts raus aus der Kaserne, haben sich in einer besetzten Wohnung in Rostock umgezogen und sind für einen Auftritt nach Jena und danach wieder zurück in die Kaserne gefahren und keiner hat’s mitbekommen. Das konnten sie auch nur machen, weil sie sich illegale Landgangs-Scheine gedruckt, im Büro des Flottillen-Kapitäns abgestempelt und selbst ausgestellt haben. Wie waren die technischen Bedingungen und Möglichkeiten, um Musik aufzunehmen? Man muss ganz klar unterscheiden: Die Zeit vor und nach 1984. Fast alles, nicht ausschließlich, was vor 1984 erschien, war akustisch von bescheidener Qualität. Nach 1984 gab es Möglichkeiten, Musik in kleinen TonStudios in begrenzter Qualität aufzunehmen. Das unterscheidet die Soundqualität der Produktionen, was man der Musik auch deutlich anhört. Es gibt von vielen Sachen, nicht von allen, erstaunlicherweise noch Masterbänder, auf die ich zum Teil zurückgreifen und hieraus ein professionelles Tape und auch Vinyl reproduzieren konnte. Es gibt wie bei ROSA BETON einen Sound, der wie von gestern wirkt, aber es gibt auch einen natürlichen Verfallsprozess der Bänder. Ich kann nur allen raten, Tapes und/oder Spulentonbändern jetzt zu digitalisieren. Ich habe gerade bei Spulentonbändern einen Ausfall von 20 Prozent, weil viele Bänder reißen oder sich auflösen. Ich arbeite u. a. mit Friedemann Kootz von ‚Black Flag Mastering‘ zusammen, der sich auf alte Tapes spezialisiert hat. Und was der von den alten Dingern bspw. bei EXPANDER DES FORTSCHRITTS rausgeholt hat, ist sensationell. Oder von Neuntage. Da hatte ich keine OriginalBänder zur Verfügung. Da haben wir aus drei, vier Tapes die jeweils qualitativ besten Tracks herausgenommenen und rekonstruiert, teilweise sogar die Tracks zerlegt und wieder neu zusammengefügt. Homepage von Henryk Gericke: https://www.votivsite.de/ 54
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Tapetopia... ...ist eine Reihe von VinylVeröffentlichungen, die auf Kassetten aus dem ostdeutschen Underground der 80er Jahre basieren, insbesondere aus der Ostberliner „Mauerstadt“- Musikszene, mit Original-Layouts und Tracklisten. Über 30 Jahre nach ihrer ersten „Veröffentlichung“ war die Musik auf diesen Kassetten weder auf Vinyl noch auf CD erhältlich, aber sie waren wichtige Aussagen im Kanon der DDR-Subkultur. Trotz der winzigen Anzahl von Original-Kassetten, die damals im Umlauf waren, waren viele der Bands in gegenkulturellen Kreisen beliebt, was sie in den inneren Kreisen der Regierung höchst verdächtig machte. Die Underground-Kassettenszene der 1980er Jahre funktionierte in den beiden „Soundsystemen“ Ost- und Westdeutschland zwar ähnlich, war aber in ihrem Kern grundverschieden. Sowohl in Ost als auch in West nahmen Fans Nicht-Hits für einen gleichgesinnten Freundeskreis auf. Im Westen lehnte man die marktbeherrschende Musik ab, im Osten kannte man den „Markt“ schlichtweg nicht. Es gab zwar Brücken zwischen diesen beiden Klangwelten, aber die Produktionsbedingungen auf beiden Seiten spiegelten zwei sehr unterschiedliche ideologische Weltanschauungen wider. Für die Tape-Szene im Osten ging es nicht nur darum, eine Idee zu haben, sondern auch darum, wie man sie auf Band bringt. Die Ausrüstung, die man für die Produktion eines Liedes brauchte, war nicht ohne weiteres verfügbar, aber das größere Problem war die schiere Unmöglichkeit, genügend Kopien herzustellen, um relevant zu sein. Westliche Kassettendecks waren so selten wie Bronze in der Steinzeit und entsprechend teuer. Ostdeutsche Kassettenrekorder wie Stern, Sonett, Minett, Anett, Babett oder das Kassettendeck der volkseigenen RFT waren exorbitant teuer und – den Launen einer launischen Wirtschaft unterworfen – nur selten im Handel erhältlich. DDR-Tonbandgeräte waren auch berüchtigt unzuverlässig und Reparaturen konnten 4 bis 8 Wochen dauern, oft kamen sie genauso kaputt zurück, wie sie gekommen waren. Die DDR stellte auch keine Bänder her, die erschwinglich und für die Reproduktion geeignet waren. Das einzig Billige an den ORWO-Kassetten aus dem VEB Filmfabrik Wolfen war ihre Qualität, die sich immer wieder zu einem unbrauchbaren Bandwirrwarr auflöste. Bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen eines jungen 56
Berufsanfängers von etwa 250 DDR-Mark waren 20 Mark pro Kassette nicht gerade verlockend, zumal die Monatsmiete für eine ältere 1-Zimmer-Wohnung nur etwa 25 Mark betrug. Findige Abhörwillige überspielten daher einfach gebrauchte Kassetten von unbedeutenden Stars der offiziellen DDR-Plattenfirma AMIGA. Künstlernamen wie Les Humphries Singers oder Mireille Mathieu waren oft schwach unter den neu eingeschriebenen Namen der DDR-Untergrundbands zu erkennen. Für diejenigen, die keinen Zugang zu westlicher Währung, also Westgeld, oder zu privaten Handelswegen in den Westsektor Berlins oder Westdeutschlands hatten, um Equipment durch die Lücken des Eisernen Vorhangs zu schmuggeln, waren die Möglichkeiten für Tonbandproduktionen stark eingeschränkt. Zudem waren Veröffentlichungen ohne Genehmigung der DDR-Regierung und ohne Rücksicht auf ihre ideologische Wertschöpfungskette zwar nicht streng illegal, aber doch nicht legal. Der Schmuggel größerer Mengen über die damaligen Devisengrenzen verstieß gegen die Devisenkontrollbestimmungen und wurde sowohl von den Ermittlern der DDR-Polizei als auch von der Stasi eifrig verfolgt. Aber große Mengen von Kassetten schienen in der DDR kaum notwendig zu sein, wo Dinge wie „Vertriebsstrukturen“ oder „unabhängige Plattenläden“ Mysterien waren, von denen man nur aus einem anderen, „deutscheren“ Deutschland hörte. In der gesamten DDR erschienen von 1984 bis 89 etwa 200 dieser Moonshiner-Tapes. Das ist zwar ein Tropfen auf den heißen Stein im Vergleich zu westdeutschen Produktionen, aber einige dieser Tapes, meist nur in kleinen Stückzahlen von 20 bis 50 Kassetten, machten unter Eingeweihten die Runde und erlangten Legendenstatus, wie z. B. die „Rotmaul“-Kassette der Freakwave-Truppe Ornament & Verbrechen oder „AIDS delikat“ von den Krachmachern von Klick + Aus. Text: Henryk Gericke 57
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Punk in der UDSSR Diese Darstellung des Punk in der Sowjetunion beginnt im Jahr 1979 und beschreibt nicht einfach eine Aneignung des US-amerikanischen oder britischen Punk, sondern einen spezifisch russischen stilistischen Crossover. Dies spiegelt zugleich den Aufstieg neuer Stile wider, die im Zuge des Punkrocks im Westen entstanden, aber parallel dazu nach Russland kamen. Es werden auch bestimmte russische Merkmale und Ideen berücksichtigt, die die lokalen Interpretationen und Ansätze des Punk geprägt haben. Der Artikel fokussiert Punk in Sibirien, weil der Einfluss des sibirischen Punks auch heute noch in Szenen wie dem Moskauer musikalischen Untergrund zu spüren ist. Während jede historische Chronik so detailliert und umfassend wie möglich sein sollte, wird das Verfassen einer endgültigen Darstellung des russischen Punk nicht nur durch den begrenzten Platz problematisch, sondern auch durch den Widerstand des Untersuchungsgegenstandes selbst, in eine saubere, lineare Geschichte gepresst zu werden. In diesem Sinne Путти/PUTTI 59
unterscheidet sich der russische Punk vom russischen Rock dadurch, dass er nicht den Regeln einer ikonischen historischen Erzählung entspricht. Vielmehr besteht er, wie die ausgeprägte Subjektivität und disruptive Verspieltheit seiner Quellen (Bandbiografien, Memoiren und Interviews) nahelegen, auf der Bedeutung des Hier und Jetzt. Die folgende Darstellung beschreibt die Entstehung und Entwicklung des Punk als Phänomen am Rande und jenseits des Ende der 1980er Jahre institutionalisierten russischen Rock. Ab Anfang der 1990er Jahre wird es jedoch schwierig, von einer einheitlichen russischen Rockszene zu sprechen, da russkii rok zu einem Oberbegriff wird, von dem sich eine neue Generation von Bands und Musikern abzugrenzen beginnt. Inmitten des massiven Ansturms neuer Musikstile aus dem Westen zersplitterte die entstehende russische Punkszene in eine Vielzahl von Unterszenen, bevor sie überhaupt Zeit hatte, sich zu konsolidieren. Gleichzeitig verließ der Punk – wie die Rockmusik im Allgemeinen – in den 1990er Jahren seine ursprünglichen städtischen Zentren und zog an unzählige neue Orte. Viele dieser neuen Szenen waren eher von neueren westlichen Trends inspiriert als vom frühen russischen Punk. Infolge dieser Zersplitterung und Ausbreitung in den 1990er und 2000er Jahren ist es zunehmend schwieriger geworden, von russischem Punk als einem singulären Phänomen zu sprechen. Bei der Darstellung dieser späteren Periode verschiebt sich daher der Schwerpunkt von einem historischen Überblick über Punk, der sich auf die Biografien wichtiger Bands konzentriert, hin zu einer Darstellung der Vielfalt koexistierender Praktiken und Auseinandersetzungen mit Punk im postsowjetischen Russland. Jugendliche mit PunkSpirit: 1979-83 Im sowjetischen Russland des Jahres 1979 war die Rockmusik selbst kontrovers. Die Herausforderung für Amateurmusiker bestand darin, eine Nische für die Rockmusik innerhalb der sowjetischen Kultur zu finden, und selbst die größten Optimisten sahen dies als ehrgeiziges langfristiges Ziel an. Gleichzeitig gab es in den späten 1970er Jahren am Rande der Rockszene und darüber hinaus erste Anzeichen für eine neue Antiästhetik, die von einigen wenigen jungen Leuten in Moskau und Leningrad ausgeht. Sie ließen sich nicht als Beatniks, Stilyagi1 oder Hippies einordnen und hegten auch keine Bewunderung für die westliche Kultur. Sie trugen ihr Haar kurz und bevorzugten sowjetische Markenkleidung, die sie stolz und oft auf ungewöhnliche Weise trugen: eine fleckige alte Jacke mit einer Krawatte auf der nackten Brust; ein Marinehemd mit einer schicken Hose, die ein paar Nummern zu klein war; ein langer Mantel mit weißen Pumps und einem schicken Damenschal. Einige trugen Abzeichen, verschiedene selbstgebastelte Accessoires, Sicherheitsnadeln oder Schlüsselanhänger). Der gemeinsame Nenner dieser grotesken Vielfalt war, dass sie in den Augen des Durchschnittsbürgers wie Clowns aussahen, und ihr Verhalten entsprach in der Regel ihrem clownesken Kleidungsstil. Mit lautem Ton, Grimassen schneidend und sich ungeschickt bewegend, zelebrierten sie alle Schattierungen jugendlicher Dysfunktion. Diese jungen Leute 1 Stilyagi waren Mitglieder einer jugendlichen Gegenkultur von Ende der 1940er bis Anfang der 1960er Jahre in der Sowjetunion. Eine Stilyaga zeichnete sich in erster Linie durch schicke Kleidung aus, vorzugsweise mit ausländischem Etikett, die im Gegensatz zur kommunistischen Realität der Zeit stand, sowie durch eine Faszination für Zagraniza, moderne westliche Musik und Mode, die der der Beat Generation entsprach. 60
ignorierten demonstrativ die Bedenken und Verhaltensregeln ehrbarer Bürger und genossen es offenbar, als Spinner angesehen und behandelt zu werden. Der Komsomol (VLKSM, die Jugendorganisation der KPdSU) und andere Institutionen, die für die Jugendfürsorge und -erziehung zuständig waren, waren über diese Leute irritiert. Man konnte sie nicht beschuldigen, westliche Lebensstile zu fördern oder sich an organisierten antisowjetischen Aktivitäten zu beteiligen. Ihr Desinteresse an der Politik war nahezu grenzenlos, und sie schienen nichts anderes zu tun zu haben, als zusammen abzuhängen. Als einige dieser jungen Leute begannen, Instrumente in die Hand zu nehmen und Bands zu gründen, hatte ihre Musik viel mit anderen Amateurbands des RockUndergrounds gemeinsam. Mangelnde musikalische Ausbildung, limitierte musikalische Fähigkeiten und autodidaktische Herangehensweisen waren üblich. In Bezug auf das Songwriting und die poetischen Texte gab es jedoch Unterschiede. Während der Rock-Underground von gebildeten Jugendlichen aus der Oberschicht dominiert wurde, war die Musik dieser PTU-Student*innen und Schulabbrecher*innen aus der Arbeiterklasse unprätentiös, amourös und nahezu konzeptionslos. Ihre Texte drehten sich um das Hier und Jetzt, um einfache Dinge, den Spaß und die Langeweile des Alltags. Ihre Kombination aus Straßenslang und Musik war ein Novum. Sie verzichteten auf die hochtrabende poetische Sprache, auf Zukunftsvisionen, existenzielle Fragen und Betrachtungen über die Gesellschaft und das Individuum, die für die meisten etablierten Rockbands typisch sind. Punk hielt trotz des Eisernen Vorhangs, trotz der Zensur, trotz aller sozialistischen Jugendorganisationen bereits in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre Einzug in die UdSSR. Im sowjetischen Russland gehörten Avtomatičeskie Udovletvoriteli (ru.: Автоматические удовлетворители; de.: Automatische Befriediger) (1979-1998) und „Graždanskaja Oborona“ (GrOb) (ru.: Гражданская оборона; de.: Bürgerwehr) (1984-2008) zu den Pionieren des Genres. Das Gründungsmitglied von GrOb Egor Letov ist für russischen Punk das, was Sid Vicious für den britischen Punk ist. Letov lebte jedoch deutlich länger und gründete nach dem Zerfall der Sowjetunion unter anderem mit Eduard Limonov und Slava Mogutin die Nationalbolschewistische Partei mit – ein Projekt zwischen postironischer Aktionskunst und tatsächlicher Politik. Später driftete die Partei nach Rechtsaußen ab und nahm sogar imperialistisch-kolonisatorische Züge an. Graždanskaja Oborona Die 1980er Jahre gelten als die „Geburtsstunde“ der russischen Rockmusik. Insbesondere im damaligen Leningrad entstand eine aktive Yegor Letov 61
Musikszene, die mit dem 1981 gegründeten Leningrader Rockclub sogar öffentliche Auftrittsmöglichkeiten hatte. Die bis heute bekannteste Band, die in Leningrad gegründet wurde, ist „Kino“ mit deren Frontsänger Viktor Zoj. Dessen Klang zeichnete sich durch eingängige Riffs und literarischpolitische Texte aus. Im musikalischen Gegensatz zur Leningrader Rockmusik steht die sibirische Punkmusik. „Graždanskaja Oborona“ gilt dabei als die erste sowjetische Punkband überhaupt und Yegor Letov als der Begründer dieser musikalischen Bewegung, die zahlreiche weitere Punkbands in Sibirien inspirierte wie „Instrukcija po vyživaniju“ aus Tjumen. Der sibirische Punk war eine DoIt-Yourself-Bewegung, und die Musik von Egor Letov zeichnete sich durch primitive, verzerrte Gitarrenriffs und eingängige Schlagzeugrhythmen im Viervierteltakt aus. Er verband in seiner Musik Einflüsse der sowjetischen Estrada und einen expressionistischen Gesang, der an die Band Sex Pistols erinnerte. Die polemischen Texte waren reich an literarischen Stilelementen und oftmals mit Schimpfwörtern und Provokationen versehen. Der rohe Sound stand im Gegensatz zu der eher unpolitisch unprätentiösen Musik, die die sowjetischen Autoritäten bevorzugten. In der aufkommenden sibirischen Punkmusik sahen sie dagegen einen negativen Einfluss aus den westlichen Ländern. Die Musiker konnten kaum auf staatliche Akzeptanz oder gar Unterstützung hoffen, sodass sie auf ihre eigenen kreativen Ideen bei der Beschaffung von Instrumenten, der Aufnahme von Liedern und der Veranstaltung von Konzerten angewiesen waren. Entsprechend wurden die Lieder vornehmlich mit einfachen Kassettenrecordern aufgenommen, aber auch nachdem bessere technische Geräte verfügbar waren, blieben Bands wie „Graždanskaja Oborona“ bei dieser Aufnahmetechnik. Auftritte stellten für sibirische Punkbands eine besondere Herausforderung dar, denn öffentliche Auftritte wurden den Gruppen von den sowjetischen Behörden untersagt. So etablierten sich akustische Konzerte in privaten Wohnungen, die sogenannten Kvartiniki. Yegor Letov schuf mit dem sibirischen Punkrock ein neues Musikgenre, welches sich durch eine Rohheit und Brutalität auszeichnete, die bis dato in der Sowjetunion unbekannt war. Dabei scheint es kein Zufall gewesen zu sein, dass sich eine derartig radikale Musik in der Peripherie der Sowjetunion entwickeln konnte. So war Sibirien weit entfernt von den sowjetischen Machtzentren, und auch die schlechten ökonomischen Bedingungen und das harte Klima der Region dürften eine nicht unwichtige Rolle gespielt haben. Graždanskaja Oborona 62
Die ersten Veröffentlichungen wie der 1986 erschienene Titel ‚nenavižu krasnyj cvet‘ („Ich hasse die rote Farbe“) zeigten bereits die Ambivalenz zwischen Humor und politischer Forderung. Der Song wird von treibenden, verzerrten Gitarren getragen, das Schlagzeug spielt einen Viertvierteltakt, und die kratzige Stimme Letovs wiederholt im Refrain immer wieder die Aussage „ich hasse die rote Farbe“. In der Strophe besingt er Gründe für diesen Hass. Allein das musikalische Arrangement musste für die staatlichen Autoritäten schon eine Provokation darstellen. Letov kombinierte die punkigen Sounds mit Texten, die ebenfalls als Kritik an der sowjetischen Nomenklatura gelesen werden konnten. So ist der im Refrain des Liedes ‚nenavižu krasnyj cvet‘ betonte Hass auf die „rote Farbe“ als Synonym für die in der Sowjetunion allgegenwärtigen roten Fahnen wie die der kommunistischen Partei und die der Sowjetunion zu sehen. Die Konfrontation mit dem sowjetischen Herrschaftssystem war mit derartigen textlichen und musikalischen Arrangements programmiert. Letov war sich offensichtlich dieser provokativen Außenwirkung von Punkmusik in der Sowjetunion bewusst, wie auch in dem 1985 erschienenen Lied ‚poganaja molodëž‘ („Verfluchte Jugend“) deutlich wird. Musikalisch blieb Letov dem punkigen Sound treu, jedoch besingt er in dem Lied die „verfluchte Jugend“, die „nichts mehr zu verlieren hat.“ Als Schlussfolgerung daraus kann die Textzeile „wir scheißen auf alles und zerstören“ verstanden werden. Zum einen wird darin Letovs Selbstverortung als ein abgehängtes Glied der sowjetischen Gesellschaft deutlich. Zum anderen lassen sein musikalisches Arrangement, die schreiende Stimme und das unangepasste Aussehen auf eine provokative Absicht Letovs schließen. Es ging dem Sänger nicht um konstruktive Kritik, denn diese war durch die Repression des Staates nicht möglich, sondern darum, die sowjetischen Machthaber herauszufordern. Im Humor des stjob ist Provokation ebenfalls eins der Mittel, um Kritik in einer gesellschaftlichen Umgebung zu artikulieren, in der keine Kritik geäußert Ein Konzert von Grazhdanskaia oborona, Ende der 1980er Jahre (Letov auf dem Boden wälzend) 63
werden soll. Diese Form des Humors entwickelte sich, weil es in der Sowjetunion kaum Möglichkeit gab, abweichende Meinungen zu artikulieren. Auch Letov war mit diesem Problem konfrontiert. Seinen Liedern war durch ihr radikales Arrangement eine humoristische Überspitzung eigen. Die Inszenierung der Band als Punk, die die sowjetische Nomenklatura reizen sollte, erinnert stark an das Vorgehen von Künstlern, die sich stjob zu eigen machten. So erschufen die Aktivisten um Vladimir Šinkarëv Mit’kí, kleine, humoristische Kurzgeschichten, die meist vom unangepassten und ausschweifenden Leben der Künstler handelten. Der Bruch mit den Tabus Schon der erste öffentliche Auftritt von Yegor Letov endete mit einem Skandal – er trat 1987 mit seiner Band unter dem Namen „Adolf Hitler“ auf einem Festival in Novosibirsk auf, welches vom örtlichen Kommunistischen Jugendverband genehmigt worden war. Das Konzert wurde zwar nach zwanzig Minuten von den Organisatoren beendet, staatliche Repressionen wegen des Bandnamens „Adolf Hitler“ waren dennoch absehbar. Bei der Betrachtung von Letovs Namenswahl ist insbesondere die sowjetische Erinnerungskultur von Bedeutung. Das seit den 1970ern in der Sowjetunion propagierte historische Narrativ bezog sich nach dem Ende des „Großen Vaterländischen Krieges“, wie der Deutsch-Sowjetische Krieg 1941– 1944 genannt wurde, auf die Erinnerung an den Sieg über den Nationalsozialismus. Man erhoffte sich, dadurch ein gesellschaftlich verbindendes erinnerungspolitisches Ereignis zu kreieren. Mischa Gabowitsch konstatiert in seinem Essay „Faschismus als Stjob“, dass dieses konstitutiv für die politische Identität in der Sowjetunion gewesen sei, wobei als Faschismus „gemäß der sakrosankten Formel von Georgi Dimitrov‚ die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ verstanden wurde. Mit der einsetzenden Glasnost und Perestrojka in der Sowjetunion und schließlich ihrer Auflösung 1991 änderte sich die politische Umgebung elementar. Dies wirkte sich auch auf die Akteure der sibirischen Punkbewegung aus, da es von nun an möglich war, öffentlich aufzutreten, ohne staatliche Repressionen fürchten zu müssen. „Graždanskaja Oborona“ konnte so ihre Bekanntheit auch außerhalb Sibiriens ausbauen und Konzerte in anderen Gebieten Russlands spielen. Ferner kommerzialisierte sich der russische Musikmarkt. Bis dato hatten sich die Aufnahmen von Letov vor allem als Magnizdat verbreitet, also als in Eigenproduktion hergestellte Musikalben. Nun erlangten der sibirische Punkrock und insbesondere ‚Graždanskaja Oborona‘ endgültig Bekanntheit bei einem breiten Publikum. Mit dieser Entwicklung ging eine politische Neuorientierung von Letov einher, die sich im musikalischen Wirken von „Graždanskaja Oborona“ und seiner anderen Gruppen wie ‚Egor i Opizdenevšie‘ widerspiegeln sollte. So begann Letov im Jahr 1992, sich in der von Eduard Limonov und Alexander Dugin gegründeten Nationalbolschewistischen Partei Russlands (NBP) zu engagieren und besaß das Parteibuch mit der Mitgliedsnummer vier. Diese Organisation versuchte, nationalistische und bolschewistische Ansichten miteinander zu verbinden. Ute Weinmann sieht in der Ideologie der NBP ein Konglomerat „des europäischen Faschismus und russisch64
nationalistischer und neoimperialistischer Ideen.“ Vier Jahre vor seinem Tod 2008 distanzierte sich Letov jedoch öffentlich von der nationalistischen NBP und bezeichnete sich als „unpolitischer Weltchrist“. Das 1994 von „Graždanksaja Oborona“ veröffentlichte Lied Novyj den’ („Neuer Tag“) ist in der Zeit entstanden, als sich Letov öffentlichkeitswirksam bei der NBP engagierte. Das Lied handelt von dem schlechten Zustand „seines Landes“, wobei es einen Ausweg aus dieser Situation zu geben schien, nämlich den neuen Tag, der kommen und alles Schlechte in diesem Land zerstören werde. Der Autor benutzt Termini, die der Natur entnommen sind; so stellt er die vorherrschenden Begebenheiten mit dem Schatten gleich (ten’), wobei die kommende politische Ordnung mit einem Paradies (raj) verglichen wird. In diesem Lied wird Letovs ausdrucksstarke Sprache deutlich. Der Autor benutzt zahlreiche Metaphern, welche den Zuhörern die Möglichkeit einer subjektiven Interpretation geradezu aufdrängen. Jedoch kann dieses Lied auch in Zusammenhang mit seinem politischen Schaffen gesehen werden, denn stjob ist immer auch im Kontext des Gesamtwerkes der Person zu sehen. So ist das Lied ‚Novyj den‘ in Zusammenhang mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem aufkommenden Nationalismus zu betrachten. Das Lied kann als ein nationalistischer Apell interpretiert werden, in welchem das alte Land des Schattens (ten) das Russland nach der Perestrojka symbolisiert. Demgegenüber steht der neue Tag (Novyj den) für ein Russland, das von den Übeln der Perestrojka-Zeit befreit ist. Ferner formuliert der Autor unkonkrete Revolutionsgedanken, die er mit einer Kritik an den Vorgängen in Russland verknüpft. In Zusammenhang mit seinem Engagement in der NBP kann dieses Lied als ein Aufruf zu einem Aufstand aufgefasst werden, der eine nationalbolschewistische Revolution in Russland herbeiführen soll. Auf den ersten Blick erscheint diese politische Forderung als ein Gegensatz zu den Werken und Äußerungen Letovs in den 1980ern. Jedoch ist auffällig, dass Letov auch im postsowjetischen Russland, ebenso wie zu sowjetischen Zeiten, weiterhin Kritik an den Machteliten übte. Darin ist eine Konstante in seinem Schaffen zu sehen, zumal es keine elementare personelle Veränderung in der Nomenklatura Russlands gab. Elementar verändert hatten sich indes die Möglichkeiten, Kritik zu üben. Mit Themen, die noch in der Sowjetunion einen Aufschrei ausgelöst hätten, war nun keine Provokation mehr möglich. Um jedoch weiterhin das Prinzip der Provokation und Überidentifikation zu bedienen, scheint es, als habe sich Letov mit dem Engagement in der NBP ein neues thematisches Feld gesucht, um sein Schaffen mit dem Mittel des stjob fortzusetzen. Rezipienten haben jedoch seine politischen Äußerungen durchaus ernst genommen. Auch entsprach die NBP in ihrem Auftreten nicht einer sarkastischen Partei, sondern vielmehr einer ernstzunehmenden radikalnationalistischen Gruppierung. Jedoch spielt dies für eine stjobsche Nutzbarmachung keine Rolle, denn das Ziel von stjob – die Provokation durch eine Überidentifikation mit dem Objekt – ist Letov definitiv gelungen. „Ich bin ein Nationalist, ja. Ein sowjetischer Nationalist“ sagte Letov 1994 in einem Interview2 , als er seine politische Vision skizzierte. Für einen Mann, der einst gegen das ‚ekelhafte‘ sowjetische System gewettert hatte, war dies eine bemerkenswerte Wende. Es bestand jedoch der begründete Zweifel, dass Letovs neue Ansichten weniger auf 2 http://www.youtube.com/watch?v=uxapXdv1NbY 65
wirklichen Überzeugungen beruhten, als vielmehr auf dem Instinkt eines Punks, sich gegen jede Form von Autorität zu stellen. „Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnte er sich nicht beruhigen“, sagt seine Witwe Tschumakowa. „Er konnte sich nicht all den anderen sowjetischen Rockgruppen anschließen, die die neuen Machthaber unterstützten und einfach nur das kommerzielle Spiel weiterspielten.“3 »Ich werde immer dagegen sein.« Letovs Engagement in der Politik dauerte etwa acht Jahre, danach beendete er seine Verbindung zur NBP. 2008 starb er in seiner Wohnung in Omsk. Zunächst wurde Herzversagen als Todesursache angenommen. Einen Monat nach seinem Tod wurde jedoch das Ergebnis der Untersuchung der russischen Staatsanwaltschaft veröffentlicht, wonach Letov an einer Ateminsuffizienz infolge einer Alkoholvergiftung starb. Im Westen wurde Letov von Adam Curtis, dem berühmten Dokumentarfilmer der BBC, gefördert. „Die Musik, die Letov schuf, war viel interessanter als der westliche Punk, der sie inspiriert hatte“, schrieb Curtis in einem BBC-Blog. „Seine Lieder mischten modernen Lärm mit russischer Folklore und attackierten damit die Leere der Welt, die er um sich herum sah.“ In Russland lebt Letovs Musik weiter und hat sich bei den postsowjetischen Generationen als fast ebenso beliebt erwiesen. In Putins neuem, puritanischem Russland, in dem Obszönitäten aus Kunst und Film verbannt wurden, haben Letovs Worte viel von dem Schockwert wiedererlangt, den sie zu Sowjetzeiten besaßen. Letovs Musik hatte sich bis zu seinem letzten Album „Zachem Snyatsya Sny“ (Why Do We Dream Dreams?) zu einer melodischeren Variante des psychedelisch angehauchten Rocks entwickelt, und es ist ungewiss, welche Richtung sie eingeschlagen hätte, wenn er noch gelebt hätte. Aber es ist sicher, dass dieser kompromisslose sibirische Punkrocker seinen scheinbar unerschütterlichen Prinzipien der Nonkonformität treu geblieben wäre. Wie Letov einst sang: „Ich werde immer dagegen sein.“ Avtomaticffleskie Udovletvoriteli Die Pioniere der Punk-Bewegung in der russischen Rockszene verbanden das ästhetische Konzept des Punk als Philosophie der Anarchie und der universellen Verneinung mit rein russischen Traditionen der volkstümlichen Folklore. Die Band wurde im Sommer 1979 von Andrei Panov (1960–1998) gegründet. Unter dem Künstlernamen Pig sammelte er eine Gruppe junger Leute um sich und nannte sie „Avtomaticheskie Udovletvoriteli“ (oder AU); eine freie Übersetzung des Namens Sex Pistols. Der Musikkritiker Artemy Troitsky stellt eine Verbindung zwischen AU und Punk her und argumentiert, dass sie erfolgreich Elemente des westlichen Punk als Philosophie der universellen Negation mit lokalen russischen Traditionen der städtischen 3 Zitiert in: https://www.new-east-archive.org/articles/show/3116/yegor-letov-Siberian-punk-GrOb 66
Arbeiterklasse kombiniert haben. Wer heute zum ersten Mal zuhört, würde AU wahrscheinlich unter Post-Punk einordnen. Der Leadsänger der Band, Panov, weigerte sich jedoch damals, die Band als Punk oder Post-Punk zu bezeichnen. In einem Interview mit dem Samisdat-Fanzine Roksi von 1981 definierte er AU im Gegensatz zu den Sex Pistols: Panov: „Punk, das ist da drüben, hier haben wir ein paar stinkende kleine Stinktiere. Wir sind keine Musiker, und wir zählen uns auch nicht dazu, wir posen nicht.“ Interviewer: „Jetzt spielt ihr Punkrock.“ Panov: „Nein, Anarcho-Rock. Wir sind ein Gegenentwurf zu den Sex Pistols. Sie sind die Klassiker und wir bekämpfen sie. Wir bekämpfen sie, weil wir nicht besser spielen können als sie. Das ist eine wirklich geniale Option. Dass es nichts Schlimmeres gibt als das, was wir spielen, und dass wir richtige Faulenzer sind, kann niemand abstreiten. Wir sind keine Punks, sondern nur lustig und unangepasst. Vergesst nicht, wir sind ganz normale Leute. Man kann sagen, wir sind nett und intelligent. Wir sprechen die gleiche Sprache wie der Kerl an einem Bierstand, wir sind mit ihm eins, und wir verprügeln Intellektuelle.“ Bis zu einem gewissen Punkt existierte die Band jedoch eher als Idee, da sie total talentlos waren und nicht spielen konnten und ihr Image zu radikal für die eher konservative Underground-Szene war. Der erste öffentliche Auftritt der Band fand am 23. März 1980 auf der Geburtstagsparty von Andrei Tropillo statt. 1981 reiste AU auf Einladung von Artemy Troitsky nach Moskau, wo sie eine Reihe aufsehenerregender Kurzauftritte absolvierten, dann besuchten sie das Baltikum, woraufhin sie für einige Jahre von der Bildfläche verschwanden. Ende 1982 findet sich die Band in der nächsten Zusammensetzung wieder zusammen und spielt erneut in Moskau in Wohnungen, am 1. Mai 1983 - im Zentrum von Ljubertsy bei Moskau. Bis 1987 führt die Gruppe ein offenes Underground-Leben, in einem Rock-Club wurde eine Punk-Band damals nicht akzeptiert. 1987 erhält AU den Status eines Clubmitglieds und wird sogar zum fünften Rockfestival eingeladen. Im Jahr 1988 spielte die Band erneut auf dem Leningrader Rockfestival. Die Zusammensetzung der Band änderte sich weiterhin auf unbestimmte Zeit. Außerdem sang Panov die gesamte zweite Hälfte des Jahres 1988 in der Band seines ehemaligen Bassisten Mikhail Vinogradov 600. Mitte der 90er Jahre begann für AU eine neue Runde von Aktivitäten, als sie, bereits als lebende Legenden des Punkrock, auf den Bühnen neuer Clubs auftraten. Ende 1995, nach einem ständigen Besetzungs-Chaos, spaltete sich AU in zwei Projekte auf, die nur durch die Person von Pig/Panov selbst verbunden waren: das erste war traditionell punkrockig, das zweite, das den Namen „Arkestr AU“ annahm, umfasste eine Gruppe sehr professionell klingender Musiker und spielte energetischen Dance-Funk. Mitte der 90er Jahre wurden verschiedene AU-Aufnahmen veröffentlicht, deren Qualität leider nur selten das wahre Potenzial dieser kuriosen Band widerspiegelt. Yanka Dyagleva Yanka Dyagleva wurde 1988 nach ihrem ersten Auftritt auf dem Tjumener Festival für alternative und linke radikale Musik berühmt. Sie reiste mit Egor Letov und ‚Graždanskaja Oborona‘ auf deren Tourneen, aber ihr lyrischer und 67
musikalischer Stil unterschied sich stark von dem ihrer Zeitgenossen. Yanka war eine der wenigen Frauen in der Punk-Community und fügte der musikalischen Bewegung ihre eigene kompositorische und kunstvoll geschliffene Wut hinzu. Sie verwendete poetische Lyrik und sprachliche Nuancen aus der traditionellen Folklore und der Rhetorik der Kommunistischen Partei, um die Kulturkritik in ihren Liedern zu verschärfen. In ihren Liedern verarbeitete sie auch ihren persönlichen Kampf gegen Depressionen und mischte ihn mit Gesellschaftskritik in Liedern wie „Гори, гори ясно“ (Brenne, brenne hell), „На чёрный день“ (An einem schwarzen Tag) und „По трамвайным рельсам“ (Entlang der Straßenbahnschienen). Zum Zeitpunkt von Yankas Debüt boten die Funktionäre des Jugendverbandes Komsomol4 die Möglichkeit, mit einem staatlichen Tross durch das Land zu reisen. Es war ein Versuch, das einzudämmen, was zu diesem Zeitpunkt nicht mehr kontrolliert werden konnte. Die Bemühungen waren weitgehend erfolglos, da sich der kreative Charakter und die rebellische Ideologie des sibirischen Punks nicht mit der repetitiven Natur der staatlich geförderten Tourneen vereinbaren ließen, die starr definierte Setlists und Routinen verlangten. Als die Fangemeinde des sibirischen Punks wuchs, nahm der Bedarf an staatlich geförderten Tourneen ab. Die Bands entwickelten ein Netzwerk von Ad-hocLocations in der gesamten UdSSR, in denen sie spielen konnten, und zogen die Massen an, wo immer sie auftreten konnten. Yanka und später die sowjetischen Punks aus Sibirien gewannen an Popularität als unabhängige Stars, die von ihren Fans und nicht von Geld und der Partei unterstützt wurden. Sie waren in der Lage, zu ihren eigenen Bedingungen zu schaffen und sich dem Mikromanagement von Parteiorganen wie dem Jugendverband Komsomol zu entziehen. Yankas Tod im Jahr 1991, nur drei Jahre nach ihrem Debüt, war ein schwerer Schlag für die sibirische Punkszene. Nach einer schweren depressiven Episode wurde Yanka in einem Fluss in der Nähe der Datscha ihrer Familie gefunden. Viele sehen in ihrem Tod ein symbolisches Ende des goldenen Zeitalters des sibirischen Punk. 4 Der Komsomol war die Nachwuchsorganisation der KP Russlands, sein Ziel war die Erziehung der Jugend nach den Idealen des Kommunismus. 68
Путти/PUTTI „Putti“ war eine russische Rockband, die 1983 in Nowosibirsk gegründet wurde. Sie gehört ebenfalls zu den Vertretern des sibirischen Punkrocks. Die Band wurde 1983 von den Studenten Alexander Chirkin und Dmitry Istomin gegründet, die eine Ausbildung als Dekorateure und Ausstatter absolvierten. Die erste Probe fand am 14. April 1983 statt, seither gilt dieses Datum als Tag der Bandgründung. Der erste Auftritt fand 1985 auf dem Studentenfestival in Akademgorodok statt. Nach dem Debüt ging Alexander Chirkin nach Omsk, um in der Armee zu dienen, wo er Yegor Letov, Oleg und Evgeny Lishchenko (die Band Pik Klakson) und Oleg Sudakov traf. Zwei Jahre lang arbeiteten die Musiker produktiv zusammen, probten, schufen ein gemeinsames Projekt – die Gruppe „Kaif“. 1986 fand in Omsk eine Wohnungsparty bei Oleg Sudakov statt, an der folgende Musiker teilnahmen: Dmitry Radkevich, Dmitry Selivanov, Oleg Lishchenko, Evgeny Lishchenko, Egor Letov, Sergey Sergeyev, Alexander Chirkin. Am nächsten Tag nach der Quarternik fand in DK „Zvezdny“ ein Konzert statt, bei dem die sogenannte „Omsk-Komposition“ der Band „Putti“ auftrat: Dmitry Selivanov an der Leadgitarre, Egor Letov am Bass, Alexander Chirkin am Gesang. Nach der Entlassung aus der Armee 1987 stellte Alexander Chirkin eine neue Besetzung zusammen, und die Band nahm das bahnbrechende Album „Red March“ auf, woraufhin die aktive Konzerttätigkeit begann. Von 1994 bis 2001 pausierte die Band vorübergehend. Im Jahr 2003 spielten sie Jubiläumskonzerte in Novosibirsk. Danach begann die Band mit der Aufnahme des Albums „Nightingale Evenings“. Am 3. Februar 2006 fand ein gemeinsames Konzert von „Putti“ und „Grazhdanskaia oborona“ im DK ‚Oktyabrskaya Revolutsiya‘ in Novosibirsk statt. Es war das letzte Treffen von Alexander Chirkin und Yegor Letov, der 2008 verstarb. 2013 feierte die Band ihr 30-jähriges Bestehen mit einem Konzert im Mayakovsky KCC in Novosibirsk. Alexander Chirkin hat Bücher veröffentlicht, in denen er ausführlich über die Band und ihre Mitstreiter spricht. „Conception of Siberian punk rock“ erzählt in zwei Teilen über die Geschichte der Band und über kreative Interaktionen mit anderen Kollektiven. Das Buch "KAIFOVY CHRONICLES" erzählt von der Zeit zwischen 1985 und 1987, als Alexander Chirkin Egor Letov, die Brüder Lishchenko und Oleg Sudakov traf. Im Anhang des Buches findet sich eine Sammlung von Comics, die die Ereignisse jener Jahre schildern. Perestroika und der Untergang der UdSSR Trotz der Zensurbemühungen der Partei erwies sich der sibirische Punk als widerstandsfähig und stützte sich auf persönliche Beziehungen und seinen DIYGeist. Mit dem Fall der UdSSR war er ein fester Bestandteil der Jugendkultur in Sibirien. Die Musik reflektierte und beeinflusste die Ansichten der jüngeren Generationen über die wachsenden Probleme, mit denen sie in der postsowjetischen Welt konfrontiert 69
waren. Auch nach der Machtübernahme durch Jelzin im Jahr 1991 blieben die Punks weitgehend kritisch gegenüber den Behörden. Die Bands gingen weiterhin auf Tournee und kritisierten in ihren Texten die Regierung der Russischen Föderation und deren Reformen. Die sibirische Punk-Bewegung hatte großen Einfluss auf andere Gruppen in ganz Russland und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, bot eine Alternative zur sowjetischen Massenkultur und widersetzte sich der Parteizensur. Obwohl ihr direkter Einfluss auf den Zerfall wahrscheinlich minimal war, vereinte die Bewegung jüngere Generationen in einer Zeit gesellschaftlicher Desorganisation und wirtschaftlicher Turbulenzen. Obwohl viele seiner frühen Anhänger bereits verstorben sind, ist der Punk in Sibirien immer noch lebendig. ГрОб ist immer noch ein aktives Plattenlabel, eines von mehreren, die sich auf Punk spezialisiert haben. Auch in Tjumen, Nowosibirsk und Omsk gibt es noch Punkclubs. Zeitgenössische Punkbands entstehen weiterhin in Sibirien, wobei die Punkhochburg Jakutsk Bands wie Юность севера (Youth of the North) und имя твоей бывшей (The Name of Your Ex) hervorbringt. Der Einfluss des sibirischen Punk ist auch heute noch in Szenen wie dem Moskauer musikalischen Untergrund zu spüren, wo die Musikproduktion und - aufnahme im DIY-Verfahren und die Möglichkeiten von Aufführungsorten dazu beitragen, den Druck der staatlichen Behörden zu vermeiden. Durch verspielte Lyrik, die Einführung westlicher Musikstile und ein allgemeines Gefühl der Selbstbestimmung unter den Musikern veränderte der sibirische Punk die Wahrnehmung der Hörer*innen, was sowohl für die Partei als auch für die Gesellschaft insgesamt akzeptabel war. Punk in Russland heute Musiker*innen aus der Provinz blickten nicht mehr nur nach Moskau oder St. Petersburg, wo sie erfolgreich waren, oder übernahmen fraglos den ästhetischen Kanon, der von den Hauptstädten ausging. Jeder Ort ist in dieser Hinsicht anders, und auch die Art und Weise, wie sich Szenen bildeten, ist unterschiedlich. Die Entwicklung der lokalen Szenen wurde durch das jeweilige geografische, wirtschaftliche und politische Umfeld bestimmt. Heute ist Punk in Russland lebendiger denn je. „Antrieb“ aus Moskau servieren seit 2009 metallischen HC, der musikalisch in Richtung Siberian Meat Grinder, Municipal Waste und Suicidal Tendencies geht. „Wanted one-armed bandits“ aus Brjansk spielen Ska-Core. Ihr digital veröffentlichtes Album „WOAB – For This World“ aus dem Jahr 2020 werden Fans vom Atrocity Solution, The Prosecution, P.O.Box, Less than Jake, Distemper und The Dead President gut finden. „The Unsubs“ aus Kirov haben 2020 ihr drittes Album (30) veröffentlicht. Auf der Platte gibt es 13 metallischen HardcoreSongs zu hören. „The Cranzers“ aus Kalingrad haben ihr letztes, aktuelles Album ebenfalls 2020 veröffentlicht. Die Debüt-LP der Baltic Sea Surf-Punks, Amber Beach, enthält 14 instrumentale Songs im Stile von Man Or Astro-Man?. Weitere Surf-Punk-Bands sind „Messer Chups“ aus Sankt Petersburg, „Coffin Wheels“, „Operation: Diamond Bikini“, „Voodoo Band“ als die markanten Vertreter des russischen SurfGenres. Die russische Punk-Legende „Tarakany!“ veröffentlichte das Doppelalbum „15“ und ist – wie es der Albumtitel andeutet das 15. Studioalbum der Band. 70
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Fanzines, Bücher, Comics AIB #139 68 DIN-A-4 Seiten; € 3,50.- AIB, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin https://www.antifainfoblatt.de/ Mit dem Schwerpunkt wirft das Redaktions-Kollektiv einen Blick auf die Verbindung des deutschen Adels mit dem Faschismus. Bezeichnend ist die Tatsache, dass der Historiker Stephan Malinowski für sein erstelltes Gutachten über die Verstrickung der Hohenzollern in die NS-Diktatur Strafanzeige von die Hohenzollern gestellt worden ist. Die Rolle der Hohenzollern im Dritten Reich gehört zu Kernfragen der deutschen Geschichte. Malinkowski hat daraufhin mit seinem Sachbuch »Die Hohenzollern und die Nazis. Geschichte einer Kollaboration« eine überzeugende Antwort auf die Restitutionsforderungen der Hohenzollern belegt. Drei Generationen in dieser Familie haben mit den politisch relevanten Handlungsträgern versucht, die Republik zu zerstören und den Nationalsozialismus zu unterstützen, und zwar von Anfang bis Ende. Ein weiterer Beleg dafür wie sich der deutsche Adel im Vernichtungskrieg von Wehrmacht und SS bereichert hatte, ist das Fallbeispiel vom Clan des Hauses von Oldenburg. Die Anbiederung Nikolaus von Oldenburg an die Nationalsozialisten war durchaus typisch für den nord- und ostdeutschen Adel. Ihrer historischen Verantwortung nicht stellen will sich die bekannteste Vertreterin der einstigen Adelsfamilie Oldenburg, Beatrix von Storch, die gegen die europäische Idee hetzt und vom Schusswaffengebrauch gegen Geflüchtete fantasiert. Andreas Kemper widmet sich im Artikel die Verbindungen von Adelnetzwerken und Antifeminismus. Die Familienstrukturen basieren meist auf einen zutiefst christlichen Glaubens mit entsprechenden Familienstrukturen. Der christlich-fundamentalistischantifeministische „Adel“ wie Johanna Hohenberg arbeitet mit Sophia Kuby, die Tochter der bekannten katholischen Antifeministin Gabriele Kuby in Wien für Alliance Defending Freedom International zusammen, die wiederum für das konspirative Netzwerk Agenda Europe verantwortlich ist. Jedes Jahr werden aktuell über eine Million Dollar nach Europa transferiert, um einer christlich-fundamentalistischen Sexual-, Bildungs- und Familienpolitik näherzukommen. Ein weiteres Beispiel: Hedwig Freifrau von Beverfoerde war zunächst im Kontext des Kampagnennetzwerkes der Zivilen Koalition von Sven und Beatrix von Storch für die Thematik der Initiative Familien-Schutz zuständig. Sie gab diese Aufgabe schließlich an die von Storchs ab und übernahm von ihnen die Koordination der Demo für alle. Diese arbeitet mit dem spanischen 72
Fanzines, Bücher, Comics antifeministischen Netzwerk CitizenGo zusammen. Gesamteindruck: 1919 wurden durch das Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung alle Standesvorrechte des Adels abgeschafft. Streng genommen gibt es also keinen Adel mehr in Deutschland. Die Geschichte der politischen Wirkmächtigkeit des „Adels“ ist sehr umfangreich, obwohl der Adel schon seit über einhundert Jahren als ungleichzeitige Klasse auf den Müllhaufen der Geschichte gehören sollte. Und das jüngste Beispiel vom Reichsbürger Heinrich XIII. Reuß zeigt, dass Umsturzfantasien zurück ins Mittelalter real sind und sich Anhänger*innen der Verschwörungsideologie auf deutsche Adelsfamilien beziehen. Als der Vorhang fiel von Claus Oistric Glitzer & Grind 180 Seiten; € 22,00.- ISBN 978-3-903460-18-8 Zum Buch: Das Buch unternimmt einen Streifzug durch die Geschichte von Punk in Wien. Nach einem kurzen Rückblick auf die ersten beiden Wellen Ende der 70erund Anfang der 80er-Jahre wird besonderes Augenmerk auf die Zeit gelegt, als nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Welt in Wien in Bewegung geriet und die Stadt in Schwung kam. Zum ersten Mal entstand eine Art von subkultureller Infrastruktur, die sich auch rasch auf das Umland ausbreitete. Mit EKH, Chelsea oder Flex gab es nun Orte, an denen regelmäßig Punkkonzerte stattfinden konnten. Informationen über die Szene erhielt man in selbstgemachten Fanzines und neue Musik wurde durch das Tauschen von Kassetten verbreitet. Nachdem EXTREME NOISE TERROR und HERESY in der Stadt gespielt hatten, wurde die Siff-Sauf-Stumpf-PunkCommunity abgelöst durch fitte Leute, die Punk und Subversion in Aktion brachten. Schließlich lösten GREEN DAY und OFFSPRING Mitte der 90erJahre einen internationalen PunkrockBoom aus, der in Linz, Innsbruck auch in Wien seinen Niederschlag fand. Bands wie KULTA DIMENTIA, TARGET OF DEMAND, EXTREM, BLOODY MARY, PROGRAMM C, DIE BÖSLINGE u. v. m. kommen ebenso zu Wort wie Menschen, die mit Fanzines, Konzerten, Freiräumen und Labels die Szene aktiv mitgestalteten. Das Buch versteht sich nicht als Chronik, sondern als geschichtlicher Einblick in eine Welt von gestern, als man sich Punk noch ohne Internet aneignen musste. Eine Liebeserklärung an Punk in Wien und all die Menschen, die Punk in dieser „toten Stadt“ prägten. Über den Autoren: Claus ist 1981 in Hainburg an der Donau, NÖ geboren; lebt und arbeitet in Wien. Studium der Publizistik und Kommunikationswissenschaft sowie Masterstudium in Zeitgeschichte und Medien. Ab Mitte der 1990erHerausgeber mehrerer Fanzines und nach wie vor in diversen Bands aktiv, aktuell in CHOKE ON ME. Gesamteindruck: Claus vergleicht die Geschichte von und über Punk in Wien mit einer NETFLIX-Serie und skizziert mit seinem Buch die vielleicht dritte oder vierte Staffel. Beginnend mit den Chaostagen in Linz, den Repressionen, Räumungen und Schließungen von Clubs und Freiräumen, kam es Ende der 80er Jahre zu einem Schnitt in der Wiener 73
Fanzines, Bücher, Comics Punkhistorie. Insbesondere durch die Einflüsse Bands wie JAWBREAKER, IGNITION, FUGAZI oder auch VERBAL ASSAULT kam es zu Bandgründungen wie TARGET OF DEMAND, STAND TO FALL aus Linz, die sich weg vom nihilistischen, destruktiven und selbstzerstörerischen Akt hin zu einer PMA-inspirierter Attitüde entwickelten. Ebenfalls wichtige Einflussfaktoren waren Bands wie HERESY, NAPALM DEATH und die SxE-Bands wie GORILLA BISCUITS, die synonym und Pate waren für einen Generationswechsel von fitten Punks, die mit dem FLEX auch eine Heimat fanden, das heutzutage sogar vom Wiener Tourismusverband mit beworben wird, sowie als „Sprungbrett gedient hat, eine eigene Szene aufzubauen“ (Andreas Breitweiser). Claus berücksichtigt zudem die innenpolitischen Veränderungen und linkspolitische Aktivitäten, die Mitte der 90er Jahre erneut in staatliche Repressionen gegen dem EKH-Umfeld gipfelte. Die vielen SzeneProtagonist*innen erzählen ihre Geschichte mit Bezug zu Punk in Wien, die sich von der „toten Stadt“ zu einem subkulturell pulsierenden Hotspot entwickelt hat. Mit ergänzenden Fotos und Flyern ist das Buch auch ein Beleg dafür, dass das viel beschworene „Network of friends“ funktioniert. Das BORLECK! Magazin #5 40 DIN-A-5 Seiten; € 7,85.- https://www.etsy.com/shop/ egonforever Andre Lux, 1983 in Nagold geboren, übte sich schon als Schüler im Kritzeln der Strichmännchen. Später, also nach der pubertierenden Onanierphase entwarf Andre weiterhin Comicstrips, Strichmännchen mit großen Augen, gekritzelt auf kariertes Papier. Seitdem gibt es viele „Egon Forever“-Momente. Momente purer Wahrheit, die das Leben verändern können oder einfach aus Langeweile skizziert werden. Solche Momente der Wahrheit können beispielsweise sein, wenn wir plötzlich eine neue Perspektive auf eine Situation oder ein Problem bekommen, wenn wir eine wichtige Lektion lernen oder wenn wir uns selbst besser verstehen. Diese finden wir auch im neuen „Borleck“-Magazin wieder. Selten doofe Witze in Fäkalsprache und „Ich-schlag-die-Hand-gegen-die-Stirn“- Humor, mit dem wir uns bewusst werden, dass wir uns selbst belügen oder dass wir uns von anderen belügen lassen. Hauptsache die Pointe sitzt. Ob bei Robert, bei Egon Forever oder im Borleck-Magazin. Die Cartoons, Comicstrips und Werbe-Anzeigen sind so unterhaltsam und kurzweilig wie Mario Barth oder der Stadionsprecher beim VfB Stuttgart. Nonsens kann auch Mut machen, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Um solche Momente der Wahrheit zu erkennen und zu nutzen, ist es wichtig, aufmerksam und achtsam zu sein. Wir sollten offen sein für neue Erkenntnisse und bereit sein, unsere bisherigen Überzeugungen und Annahmen zu hinterfragen. Das Borleck-Magazin ist demnach also auch sinnstiftend und synonym für Quatsch mit Soße, surreale Absurditäten und Alltagsgeschichten, die so bestimmt noch niemand erlebt hat, aber vom Hörensagen kennt und laut ausspricht. Es gibt also auch zum fünften Mal die Gelegenheit, sich Zeit für Reflexion und Selbstreflexion zu nehmen und bewusst nach Momenten der Wahrheit zu suchen oder nach dem nächsten Cartoon-Klassiker. 74
Fanzines, Bücher, Comics LOTTA #91 64 DIN-A-4-Seiten; € 3,50.- Lotta, Am Förderturm 27, 46049 Oberhausen www.lotta-magazin.de Der Schwerpunkt thematisiert mit Krieg und Protest „Die (extreme) Rechte und die Friedensbewegung“. Im Januar nahmen in Berlin an einer Demonstration aus dem Umfeld der Friedensbewegung Akteur*innen der extremen Rechten ungestört teil. Schon im Vorfeld hatten die extrem rechten, verschwörungsideologischen Gruppen „Freedom Parade“ und „Eltern stehen auf“ zur Teilnahme aufgerufen. Neben einer Bundestagsabgeordneten der Partei „Die Linke“ und Mitgliedern des VVN-BdA nahmen NPD-Aktivist*innen, extrem rechte Medienaktivist*innen, Mitglieder der verschwörungsideologischen Kleinpartei „Die Basis“, die extrem rechte „Freedom Parade“ und Menschen mit Fahnen des extrem rechten „Compact“ Magazin teil. Dieses Phänomen war bereits kurzfristig während der Querdenkerund Anti-Corona-Proteste zu beobachten, die durchzogen waren von einer Klientel aus frustrierten Bürger*innen, Reichsbürger*innen, Akteure aus der Friedensbewegung, der extremen Rechten, Esoteriker*innen-Community, Parteimitglieder/Politiker*innen von AfD bis DIE LINKE, bestückt mit u. a. antisemitischen und rassistischen Inhalten. Peter Novak geht der Frage nach, wie sich die Friedensbewegung positioniert und wie rechts die Friedensbewegung sein darf. Einen erheblichen Einfluss auf rechte Mobilisierungen in der Friedensbewegung hat Jürgen Elsässer, dem das Thema „Querfront“ wichtig ist und via COMPACT Rechte und Linke im Kampf gegen Kriegstreiberei zusammen in Position bringen will. QuerdenkenWatchAachen gibt einen Überblick über antisemitische/faschistoide QuerfrontProteste in Aachen und deren Wandlung von 2014 bis 2023 und Zeit auf, wie unterschiedlich auch innerhalb der antifaschistischen Linken mit dem Phänomen „Querfront“ umgegangen wird und Aachen ein Beispiel dafür ist, wie antifaschistischer Gegenprotest gelingen kann. Gesamteindruck: Mit dem Wegfall praktisch aller Corona-Beschränkungen müssen andere Themen die Lücke füllen. Krieg und Energiekrise sind ideologisch und emotional aufgeladen und eignen sich damit sehr gut, Menschen zu mobilisieren und auch zu radikalisieren. Mit dem russischen Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ist das Thema „Krieg und Frieden“ wieder in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Doch die Friedensbewegung kann davon nur wenig profitieren. Rechte und verschwörungsideologischen Einflussversuche auf die Friedensbewegung werden von Teilen der AfD, Akteure der rechten und verschwörungsideologischen Friedensbewegung nehmen Bezug auf Jürgen Elsässers „Friedensbewegung 2.0“ und schaffen eine Querfront für den Frieden. Für Außenstehende ist es oft nicht einfach erkennbar, wer da für den Frieden demonstriert. Doch über Transparente oder Reden präsentierte Inhalte kann auf den zweiten Blick ausgemacht werden, wer hier auf die Straße geht. Wenn die extreme Rechte für den Frieden auf die Straße geht, muss auf einen antifaschistischen Grundkonsens beharrt werden. Dieser 75
Fanzines, Bücher, Comics Konsens muss sich dann aber auch in der Praxis beweisen. Gleichzeitig muss Dritten erklärt werden, was das Problematische an einer fehlenden Distanzierung zu rechten Verschwörungsideolog*innen und Pandemie-Leugner*innen ist. Bei der Analyse von Konflikten und Kriegen helfen oft eine Ideologie-Kritik im Allgemeinen und NationalismusKritik im speziellen Verkürzungen zu vermeiden. Sie erklären Motive und Mobilisierungen. OSTSAARZORN #4 Provokation & Punk 260 DIN-A-5-Seiten; [email protected] Tobias und Mitschreiber*innen widmen sich dem Schwerpunkt Punk und Provokation. Hierzu skizziert Tobias aus wissenschaftstheoretischer und soziologischer Sicht die „Liaison von Punk und Provokation“ und versucht das Warum, Wie, Wieso und überhaupt zu erklären. Auf durchaus humorvolle und ironische Art analysiert Tobias den Stellenwert von Provokation in den Anfängen bis heute und kommt zum Schluss, dass es schon mal „bessere Zeiten gab“. Die weiteren Artikel und Interviews haben konkrete Bezüge (Hakenkreuze; GG Allin), aber auch weniger Berührungspunkte zum SchwerpunktThema. Insbesondere die interviewten Bands wie DEUTSCHE LAICHEN, ALDI OST sind für das Schwerpunkt_Thema ungeeignet. Darüber hinaus sind die vielen Konzerterlebnisse und SyltReiseberichte (pur; über Bremen) an sich ganz nett, kommen aber nicht über eine Imagepflege hinaus, denn es gab weder Chaos noch Provokationen. Gesamteindruck: Punk als Musikgenre hat sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt und verändert. Es ist wahr, dass der rebellische und provokative Geist des klassischen Punks heute vielleicht nicht mehr so präsent ist wie in den Anfängen. Dennoch gibt es immer noch Bands und Künstler*innen, die sich dem Punk verpflichtet fühlen und mit ihrer Musik und ihren Texten provokative und gesellschaftskritische Themen ansprechen. Außerdem kann man nicht vergessen, dass der Punk eine wichtige kulturelle Bewegung war, die viele andere Genres und Subkulturen beeinflusst hat. Sein rebellischer Geist und seine DIY-Ethik sind immer noch in verschiedenen Formen der Musik, Kunst und Aktivismus zu finden. Doch leider wird hier nur über Punk und Provokation „gesprochen“ und in der Punk-History aufgespürt, aber nicht direkt mit Leuten gesprochen, die dieses auch vorleben. Bands wie die Sex Pistols rebellierten gegen das Establishment. Heute unterstützt ihr Sänger Trump. Und Ultrarechte inszenieren sich als „Punks“. Provokation ist also hier eine Form der Aneignung und Umdeutung mit Querfront-Strategie. Es gebe durchaus Ansätze, um weitere aktuelle Aspekte auszuführen, die aber letztendlich auf die gleiche Frage hinauslaufen: Was ist Punk heute? OX #170 164 DIN-A-4-Seiten; € 6,90.- OX-Fanzine, Postfach 110420, 42664 Solingen www.ox-fanzine.de Joachim plädiert für eine digitale Selbstbestimmung aus Angst vor einem verpflichtenden Social Score-System, in dem der Wert eines Menschen bemessen wird. Alex Gräbeldinger macht sich dagegen Sorgen um die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, während Tom 76
Fanzines, Bücher, Comics van Laak unter Long-Covid-folgen leidet und hofft, dass sich im ToskanaUrlaub sein torkelndes Gangbild sowie seine nervöse Blase entspannen wird. Hanny und Stevie von CLOWNS mutmaßen, dass ihr Geheimnis des Erfolges und der positiven Ausstrahlung an den kurzen Shorts liegt. Chris von PRIVATE FUNCTION glaubt, dass Rock and Roll als Kunstform ausstirbt und Frauen ihn auf die Ideen beim Songwriting bringen, „die dein blödes männliches Gehirn nie ausgebrütet hätte“. Mike und Stéphane haben 1978 THE BUTTOCKS ausgebrütet und sprechen mit Triebi Instabil über Punk in Hamburg, musikalische Einflüsse und Erlebnisse von Konflikten mit Teds und die Rolle der Frau* im Punk. ‚Frontfrau‘ (sic!) Martina von ÖSTRO 430 muss nicht von jedem geliebt werden, gendert nicht gerne und ist David Bowie-Fan seit „Ziggy Stardust“. Sänger Tom May von THE MENZINGERS indes ist Fan von psychedelischen Pilzen und Bruce Springsteen, währenddessen Caps von CHARGE 69 und Betreiber von COMBAT ROCK rät dazu, nur seinem eigenen Willen zu folgen und frei zu sein. Casey Roger von D.I. klärt, dass er SOCIAL DISTORTION gegründet hat und die Mike Ness’-Gesangslinie von „1945“ (...Atom Bomb...TNT…) hin zu „Amoeba“ auf seinem Mist gewachsen ist. Eine spannende Zeitreise ist Lurker Grands Fortsetzung im Gespräch mit Rämi von „DER BÖSE BUB EUGEN“, eine akribische Aufarbeitung der Bandgeschichte und Kommentare zu den Begleit-Umständen von Konzerte, Studioaufnahmen und Releases. Da hilft Rocken oder die Einstellung von Eugene Robinson, dass „irgendwas auf dieser Kloschüssel von einem Planeten sehr viel Wert ist“. Triebi Instabil taucht dann mit BLANKER HOHN in die Vergangenheit und deren Bandgeschichte und Punk in der BRD ein. Fat Mike wird von Joachim Hiller noch mit NOFX assoziiert, der aber längst mit dem Kapitel abgeschlossen und Pink ins Museum gebracht hat. POPPERKLOPPER sind dafür immer noch up to date und haben Songs und Ideen für zig weitere Platten. Gesamteindruck: Eine sehr gute neue Ausgabe mit vielen, für mich interessanten, Interviews, die aus der Zeit erzählen, als die Luft noch rein, das Wasser sauber und der Sex schmutzig war. Nicht nur retro, sondern auch zeitgemäß. Punk ist so vielseitig und vielschichtig wie kein anderes Musikgenre. Das versucht das OX immer wieder aufs Neue zu repräsentieren und Merkmale des Punk, der Rebellion, Individualität und Ausdruck zu betonen. PLASTIC BOMB #125 48 DIN-A-4-Seiten; € 5,00.- Plastic Bomb, Heckenstr. 35, 47058 Duisburg https://www.plastic-bomb.eu/ wordpress/ Ronja ist dankbar, Platten und Merch auf Festivals verkauft zu haben, damit die Plastic Bomb GmbH weiter bestehen kann und betreibt Eigenwerbung. Babette Vageenas hat einen Clone, Schmetterlinge und wünscht sich, dass jede*r sich formen und kneten lassen kann, wie er/sie beliebt und findet, dass Briefe schreiben nicht verloren gehen darf. Axel von WIZO sieht keinen Sinn mehr in Vinyl-Veröffentlichung, will lieber Konzerte spielen und verrät, dass WIZO auf der Bühnen Halb-Playback spielen. 77
Fanzines, Bücher, Comics Natro ist ein junger Punk, der sich eine Kutte gemacht hat und nachhaltig erschüttert ist, dass ihm von einem AltPunk vorgeworfen war, diese sei erbärmlich. Kniep und Ronny haben offensichtlich eine eigene WhatsApp-Gruppe und lassen die Leser*innen am Chatverlauf teilhaben, in denen beide ihre Erlebnisse auf dem „Punkrock Holiday 2023-Festival“ reflektieren/kommentieren. Lars von POPPERKLOPPER fliegen die Themen der Songs zu, während Carsten irgendwelche Themen im Alltag aufschnappt. Ullah interviewt Christian von STROHSACK, der noch so einige unkonkrete Ideen hat, Songs zu „verstrohsacken“. Ronja interviewt Ida und Jette von einem „linken Security-Team“, die ihre Arbeitsweisen vorstellen und motiviert sind, „den ganzen Mackern die Plätze wegnehmen“ zu wollen. Schlossi besucht das „Land der Tiere“ in Mecklenburg-Vorpommern und berichtet über einen einzigartigen Platz für gerettete Tiere, die der Tierindustrie entkommen sind und ohne jegliche Nutzung so frei und selbstbestimmt wie nur irgend möglich leben dürfen. Gesamteindruck: Ein buntes Potpourri von Punk und der Frage nach der Daseinsberechtigung. Während Martina von ÖSTRO 430 Punk auf der Bühne verkaufen will, Thomas von LOIKAEMIE annimmt, dass es spannend ist, was passiert, Popperklopper immer noch Bock haben unterwegs zu sein, für Natra alles im Punk politisch ist und für Axel von WIZO ist es ein gutes Gefühl, Leuten mit alten Songs ein „Strahlen ins Gesicht zu bringen“. Ergo: Punk war und ist so bunt und vielseitig wie Babette VAGEENAS’ Welt, in der „Selbstgemachtes (...)immer noch das wohlschmeckendste Salz in der eigenen Suppe sein sollte“. RAUDITUM #9 68 DIN-A-4-Seiten; €3,50.- [email protected] Herausgeber UGLY macht das ‚Raudi‘ nun im Alleingang und macht sich so seine Gedanken über rechte Gewalt, Freiheitsstrafen nach unbezahlten Anzeigen wegen des Erschleichens von Leistungen. Darüber hinaus hat UGLY in seinen unsortierten Gedankenfragmenten die Erkenntnis erlangt, „dass die vereinfachte Bezeichnung ‚Faschist‘ für jeden Rechten kontraproduktiv ist, weil dieser eine Diskussion über Italien und Faschismus beginnt und nun behaupten kann, er sei ‚nur‘ Nationalist, und weil die Gefahr von Rechts eben nicht nur der Faschismus ist, auch verharmlosend ist.“ Und weiter, „dass die weitverbreitete Bezeichnung ‚Fascho‘/‘Faschist’ durch die zutrefferende und weniger angreifbare Bezeichnung ‚Rechter‘ ersetzt werden sollte.“ So würden „unnötige Diskussionen um Begrifflichkeiten erspart und ein weitaus größeres politisches Feld abgedeckt“. Denn seiner Schlussfolgerung nach ist „nicht jeder Rechte ein Faschist. Aber jeder Faschist, Rassist, Antisemit, jeder homophobe Drecksack und jeder Nationalist ist ein Rechter!“ Nach einer Fahrt mit dem ICE beschließt UGLY, „zukünftig Tonträger, für deren Besprechung ich nicht auf das Wort ‚Gegrunze‘ verzichten kann, zurückzusenden!“ Dafür kann „Gefrierpunkt.Berlin“ auf Spenden/Unterstützer*innen nicht verzichten, weil der staatliche Umgang mit Obdachlosigkeit nicht 78
Fanzines, Bücher, Comics zweckdienlich ist. „Punkrock – Part of the problem“ ist ein DIY-Film, über den es trotz Interview mit Filmemacher*innen keine Hinweise über weiterführende Informationen wie Inhalt, Webauftritt etc. gibt und vielleicht nur ein Mythos ist. Weniger Mythos und altersmüde ist Gary ‚Gaz‘ Stoker (Angelic Upstarts, Red Alert, Red London, The Dipsomaniacs, The Rebels), der auf 20 Seiten seinen Werdegang vom Schüler zum Skinhead in Sunderland und den musikalischen Aktivitäten skizziert, über Einflüsse und Skinhead-Lifestyle-Verständnis berichtet. Gesamteindruck: Es gibt sie noch: Skinhead-affine Zines mit linker Attitüde. UGLY vermischt Politik mit Punk und setzt sich auch kritisch mit Dogmen und Traditionen auseinander. Während einige Selbstdarstellungen von Bands oder der SLADE-Bericht keinen Mehrwert zum www bieten oder über nicht über eine Bandinfo herauskommen, ist die Interview-Reihe „Ein paar Fragen an die Vergangenheit“ stets ein Garant für tiefgründige Gespräche von Skin zu Skin über das Werden und Sein und das Lese-Highlight jeder einzelnen Ausgabe. Proud To Be Punk #37 116 DIN-A-5-Seiten; €3,90.- [email protected] Tischlerei Lischitzki ahnen nichts Böses und dennoch hat Ralf nochmals die einzelnen Songs zur immer noch aktuellen Veröffentlichung kommentiert. Des Weiteren lässt Jan auch Dieter zu Wort kommen, der 2021/2022 auf der Homepage „Heldenstadt anders e. V.“ einen längeren Text über seine MusikSozialisation veröffentlicht hat, der „immer eher ein Musikbegeisterter und Genießer war“. Auch Jan ist gefesselt, ob der erwähnten persönlichen Geschichten während der „Wir Kriegen Euch Alle“-Performance im Theater und dem Versuch, ostdeutsche Lebensrealitäten deutlich zu machen, über die letzten Tage der DDR und die chaotischen und gewaltvollen Jahre, die der Wiedervereinigung folgten. Des Weiteren stellt Jan im Interview das AkuBIZ e. V. vor, um kurz darauf auf den Spuren der Roten Bergsteiger*innen zu wandeln. Riot Turtle stellt das „Cars Of Hope“- Kollektiv vor und Tini und Tobi berichten über ihre BLACK CATS-TapeLabel- und Fanzine-Aktivitäten, bevor es mit DIVIDING LINES nach Finnland geht. Psychisch Instabil wissen immer noch, dass unpolitisch hirntot macht, aber ausrichten lassen, aus zeitlichen und gesundheitlichen Gründen keine Re-Union zu starten. Dafür hat Erich erstaunlich wenige Erinnerungslücken und lässt die Leser*innen an seinem Punker-Leben teilhaben, das geprägt war von Kiffen und Saufen, aber auch von Herzschmerz und Durst auf Bier. Gesamteindruck: Jan lässt andere zu Wort kommen und ist wie gewohnt auch persönlich in Sachen Sachsen-Punk-Szene unterwegs, um selbige zu fördern. Ob Bücher, Bands, Theater und Zeitzeug*innen. Punk ist nicht tot, aber wie hier repräsentiert, oft auch einhergehend mit Getue um Berechtigung und Verehrung für ein (inszeniertes) Stück aus der Vergangenheit sowie deren zeitlich beschränkte Aufarbeitung. Tierbefreiung #120 52 DIN-A-4-Seiten; €4,00.- die tierbefreier e.V., Postfach 160132, 40564 Düsseldorf www.tierbefreiershop.de 79
Fanzines, Bücher, Comics Ina Schmitt möchte die Chipstüte mit der Kotztüte tauschen ob der ganzen Ismen, die bekämpft gehören, während Alan Schwarz mit einer Einleitung in das Schwerpunkt-Thema „Tier-Milch“ einstimmt und festhält, dass „die Ausbeutung zu Milch (ist) nicht von anderen Ausbeutungszwecken zu trennen“. Anna Huber stellt eine Übersicht ausbeuterischer Produkte vor: Konsumund Trinkmilch von Kühen, Ziegen, Schafen, Stuten, Büffeln, Kamelen, Eseln und Mäusen als Wirtschaftszweig und fordert, dass Milch nur für die eigenen Kinder bestimmt ist und fordert einen sofortigen Ausstieg aus Ausbeutungsverhältnisse. Stefanie Rückert hat sich die Mühe gemacht und nachgeforscht, warum der Irr-Glauben verfestigt ist, dass „Milch ein Stück Lebenskraft“, normal, natürlich und notwendig ist und seit wann und welche Umstände nötig waren, damit Industrie und Werbung uns das haben glauben lassen, wobei es in der Hauptsache um Kuhmilch geht, aber nicht um das Tier und dessen Gesundheit, sondern „zum Wohle des Menschen“. Gesamteindruck: Milchwerbung lohnt sich nicht mehr. Werbung für Milchprodukte gibt es immer noch. Aber alte Werbesprüche, wonach Milch gesund, lecker ist und ein Stück Lebenskraft schenkt, funktionieren heute nicht mehr. Kritiker*innen warnen vor den gesundheitlichen Risiken wie Diabetes, Bluthochdruck und Schlafstörungen von Milch. Gleichzeitig boomen pflanzliche Alternativen. Der Umsatz mit pflanzlichen Drinks im Einzelhandel zwischen April 2021 und April 2022 ist um 16,9 Prozent auf rund 500 Millionen Euro zu. Bei klassischer Hund Frischmilch beziehungsweise Milchprodukten wie Joghurt und Butter registrierten die Marktforscher dagegen teils deutliche Umsatz- und Absatzrückgänge. (Kuh)Milch hat auch ein Image-Problem. Aus friedlichen Kühen auf idyllischen Weiden hat sich ein riesiger Industriezweig entwickelt. Solange aber Milch-Produkte wie Quark, Käse, Butter, Joghurt konsumiert werden, ändert sich ja nichts an dem Grundproblem: Die Milch ist nur für die eigenen Kinder bestimmt und nicht für Ausbeutung, Tötung und Konsum. Wir können uns anders ernähren und es gibt zahlreiche Alternativen, für die kein Tier leiden muss. TRUST #222 68 DIN-A-4 Seiten; €4,00.- Trust Verlag, Dolf Hermannstädter, Hamburger Str. 243, 28205 Bremen https://trust-zine.de/ Dolf kommentiert und sinniert über Kriege, Aktien, KI und die Auslöschung des Homo sapiens, während Jan Röhlk Impressionen vom Texas-Trip wiedergibt, heißt: Auflistung von Punkbands, Songs, Bücher, Filme mit Bezug zu Texas und berichtet davon, was er als Praktikant im Juz Leverkusen als für das Kicker-CaféZuständiger erlebt hat. Mika merkt, dass er alt wird, weil Konsum- und Kapitalismuskritik mal ein Merkmal im Punk war. Nach einem Nachruf auf den verstorbenen Armin Hofmann (X-MIST, SKEEZICKS), erklärt Jan, dass die TRUST-RKL-Memorial-Story noch lange nicht zu Ende erzählt ist und berichtet im Gespräch mit Barry D’Alive Ward aus der „Nerd at work“-Reihe erneut mit Geschichten und Anekdoten über die „tragische Typen“, die Jans Meinung nach die Punk-Superstas der 90er hätten werden können. 80
Fanzines, Bücher, Comics Claas Reiner hat mithilfe von Kira Sackmann klären wollen, was mit Deutschpunk geht und debattierten hierzu mit ‚Todeskommando Atomsturm‘, ‚Frachter‘ und ‚Scheiße die Bullen‘. Nun, es gebe bestimmt andere/deutschpunktypischere Bands, die zum Thema klärende Antworten hätten liefern können, denn wie Pölle (ATOMSTURM) – stellvertretend für alle drei Bands – erklärt, ist Deutschpunk ein Klischee, dem es an Inhalt fehlt. Das sieht bspw. auch Dome (FRACHTER) so und fühlt sich eher mit ...BUT ALIVE und frühe MUFF POTTER verbunden. ANCST fühlen sich mit Skandinavien verbunden und berichten aus ihrem Tourtagebuch über Gepflogenheiten der Konzertbesucher*innen, den besten Club, das beste Konzert und Essen wie vegane Wurst aus der Tube. Roland Brust interviewt SCHWACH und auf 5 Seiten erfahren die Leser*innen, dass wenn die Atmosphäre „cool ist auf dem Konzert, ist das(...)wichtiger, als was im Text besungen wird.“ LOBSTERBOMB stellen sich vor und wissen, Pogo gehört zum Punk, und dass man aufpassen sollte, dass alle Platz (zum Tanzen) haben. Gesamteindruck: Die aktuelle Ausgabe ist thematisch vielseitig und ergründet in Teilen, was Punk und HC heutzutage für eine Bedeutung hat und wie es sich weiter entwickelt hat. Die Quintessenz aus den Antworten bzw. dem Tourtagebuch belegt, Punk/HC bleibt ein Ventil für Frustration und soziale Kritik, aber auch für positive Botschaften wie Selbstempowerment und Solidarität. 81
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