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Schwerpunkt: Queer Punk und queere Performance

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Published by info, 2024-04-20 13:15:20

UNDERDOG #74

Schwerpunkt: Queer Punk und queere Performance

Keywords: Queerpunk,Homocore

g Impressum UNDERrDOG V.i.S.d.P. Fred Spenner Stolles Weg 1 D-27801 Dötlingen +49(0)4431-72771 [email protected] www.underdog-fanzine.de Verkaufspreis: Innerhalb Deutschlands: € € 2.50.- + 1,60.- (Porto) Abo für 4 Ausgaben: 10.- (im Voraus) € Europa: €2,50.- + 3,70.- (Porto) 4er-Abo: 15.- (im Voraus) https://www.underdog-fanzine.de/ shop/abo/ Danke: Mad Kate, Alex Freiheit, MiddleAged Queers, Grudgepacker, alle Queer Punkbands aus NYC Bezugsquellen Deutschland: MAD BUTCHER RECORDS, KINK RECORDS, BLACK MOSQUITO Mailorder, PEST&CHOLERA, RIOT BIKE RECORDS, FLIGHT 13 Records, SN-Rex, INCREDIBLE NOISE RECORDS, RilRec., NO SPIRIT Mailorder, Cheap Trash Records Stuttgart, Black Plastic Bremen, TRUE REBEL RECORDS Archive: Schikkimikki Zinedistro & Library Berlin, Archiv der Jugendkulturen e. V. Berlin Schweiz: ROMP Info- und Plattenladen Luzern Infoläden: Infoladen Bremen, Archiv für alternatives Schrifttum Duisburg, Infoladen Frankfurt UNDERDOG #75 Deadline: 01.07.2024 Anzeigenschluss: 15.07.2024 Erscheinungsdatum: 01.08.2024 Hinweis: Die Deutsche Nationalbibliothek stellt diese Publikation in Frankfurt und Leipzig bereit und ist im Internet abrufbar unter: http://d-nb.info/1036440567 Inhalt 3 Über den Schwerpunkt 4 Homophobe Gewalt und Queercore-Explosion 10 Middle-Aged Queers 23 Siksa – Queercore und Punk-Performance 29 Siksa - Interview 34 Mad Kate – Queer, Sex positive und Performance 45 Queer Punk in Malaysia 59 Die neue queere Punk-Revolution n NYC 62 Grudgepacker – HC is for everybody 66 Queerfeindliche Hasskriminalität 72 Fanzines, Magazine 75 Abo 83 Ahoi! Unser Schwerpunkt-Thema „Queer Punk und queere Ästhetik“ spürt Aspekte von Queer Punk auf, die die Wichtigkeit von Selbstbestimmung und Authentizität betonen. Wir gehen den Fragen nach, wie queere Menschen ihre eigene Musik, Kunst und Räume geschaffen haben und welchen Einfluss die DIY-Kultur auf die Queer-Punk- Bewegung hat. Einige Menschen in der Punk-Community haben sich historisch mit queeren Themen und Aktivismus verbunden und die DIY-Ethik der Punkkultur lässt sich auch in queeren Gemeinschaften finden wie wir das im Artikel „Homophobe Gewalt und Queercore-Explosion“ darstellen. Wir unterhielten uns mit Alex Freiheit/SIKSA über ihre traumatischen Gewalterfahrungen und wie sie diese auf kreative, künstlerische Art und Weise verarbeitet und mit queerer Performance kompensiert. Wir sprachen mit MIDDLE-AGED QUEERS über ihre Mission „to make Punk gay again“ und unterhielten uns mit GRUDGEPACKER aus L.A., die den homophoben Scheiß satt haben und gegen die schwer indoktrinierten Sitten der patriarchalischen Gesellschaft angehen. Wir sprachen mit Bands aus New York, die Einblicke in die neue queere Punk-Revolution liefern und sprachen sehr ausführlich und intensiv mit Mad Kate über den Unterschied zwischen Sex und Sexismus, wie wir kollektiv darüber nachdenken können, wie wir für die Rechte von Trans- und Queer-Personen eintreten und darüber nachdenken sollten wie unsere Gemeinschaft sich weiterhin der Herausforderung stellen kann, unsere Identitäten in der geopolitischen Welt „zu queeren“, um systematische Unterdrückung zu bekämpfen. Viel Spaß beim Lesen! 3


Über den Schwerpunkt Unser Schwerpunkt-Thema spürt Aspekte von Queer Punk auf, die die Wichtigkeit von Selbstbestimmung und Authentizität betonen. Wir zeigen auf, welche Bands, Zines, Künstler*innen eine bedeutende Rolle gespielt haben und wie sich die Queer Punk-Community bis heute entwickelt hat und immer wieder spannende Acts hervorbringt. Wir gehen den Fragen nach, wie queere Menschen ihre eigene Musik, Kunst und Räume geschaffen haben und welchen Einfluss die DIY-Kultur auf die Queer-PunkBewegung hat. Ganz wichtig ist: Indem wir uns mit den Aspekten queeren Lebens auseinandersetzen, können wir ein tieferes Verständnis für die Vielfalt menschlicher Identitäten und Beziehungen entwickeln. Dies trägt dazu bei, Vorurteile und Diskriminierung abzubauen, die auf Unkenntnis und Unverständnis basieren. Eine inklusive Gesellschaft respektiert und akzeptiert die Vielfalt von Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen und schafft Raum für individuelle Selbstentfaltung. Des Weiteren ermöglicht es uns, die Erforschung von queeren Aspekten des Lebens sowie die Geschichte und Kultur von LGBTQ+-Menschen zu verstehen und anzuerkennen. Dies hilft uns, die Beiträge, die queere Menschen in verschiedenen Bereichen wie Kunst, Musik, Literatur, Politik gemacht haben, anzuerkennen und zu würdigen. Es geht aber auch um Solidarität und Empathie. Denn gerade in Zeiten, in denen sich verbale und körperliche Attacken gegen queere Menschen häufen und/oder diskriminierende Gesetze ausgearbeitet werden. So verbietet bspw. in Tennessee ein neues Gesetz, öffentliche Drag-Auftritte. Das Gesetz bezieht sich nicht nur auf Drag, sondern auch auf transsexuelle, geschlechtsuntypische und nichtbinäre Personen. Texas will mit mindestens vier Gesetzesentwürfen nachziehen, die DragPerformances sowie Auftritte von trans-, nicht-binären Personen einschränken könnten. Der texanische Senat für Staatsangelegenheiten wird sich mit zwei neuen Gesetzesvorlagen befassen, die zum einen darauf abzielt, Veranstaltungsorte, die Drag-Shows veranstalten, als sexuell orientierte Unternehmen einzustufen, und darauf abzielt, die staatliche Finanzierung von Bibliotheken zu blockieren, sogenannte Drag Story-Times veranstalten. Drag Queen Story Hour, Drag Queen Storytime, Drag Story Time und Drag Story Hour sind Kinderveranstaltungen, die 2015 von der Autorin und Aktivistin Michelle Tea in San Francisco mit dem Ziel ins Leben gerufen wurden, Lesen und Vielfalt zu fördern. Indem wir uns also mit den Erfahrungen und Herausforderungen queerer Menschen auseinandersetzen, entwickeln 4


Über den Schwerpunkt wir Empathie und Solidarität und können die queere Community besser unterstützen. Punk und Queer = HomoCore „Punk“ und „Queer“ sind Begriffe, die oft in verschiedenen Kontexten verwendet werden, aber es gibt auch Überschneidungen, insbesondere im Hinblick auf kulturelle Bewegungen und sozialen Aktivismus. Wir zeigen in unserem Schwerpunkt, wo es eine Überschneidung zwischen der Punk- und der Queer-Kultur gibt. Einige Menschen in der Punk-Szene haben sich historisch mit queeren Themen und Aktivismus verbunden und die DIY-Ethik der Punkkultur lässt sich auch in queeren Gemeinschaften finden. Es gibt queere Punkbands, queere Künstler und Aktivisten, die sowohl gegen gesellschaftliche Normen als auch gegen Diskriminierung kämpfen. Zusammengefasst sind Punk und Queer zwei verschiedene, aber manchmal miteinander verbundene Konzepte, die jeweils eine Gegenkultur und eine kritische Haltung gegenüber gesellschaftlichen Erwartungen repräsentieren können. In gewisser Weise kann QueerPunk/HomoCore/GayPunk als Tabubruch betrachtet werden, da sie oft Themen wie Homosexualität, Queerness und LGBTQ+-Rechte auf unkonventionelle Weise ansprechen und somit gegen gesellschaftliche Normen verstoßen. Homocore und GayPunk dienen oft als Plattformen für queere Künstler*innen und Musiker*innen, um ihre Erfahrungen und Identitäten auszudrücken und zu teilen. Sie zielen darauf ab, eine alternative Form von Identität und Gemeinschaft zu schaffen, die sich von der Heteronormativität und Mainstream-Kultur unterscheiden. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass die Definition von Tabubruch subjektiv ist und von Kultur, Zeit und individuellen Überzeugungen abhängen kann. Was für einige Menschen als Tabubruch angesehen wird, kann für andere als notwendige und befreiende Form des Ausdrucks betrachtet werden. Homocore „Homocore“ ist ein Begriff, der in den 1980er Jahren entstand und eine Strömung innerhalb der Punk-Szene beschreibt, die sich auf queere Themen fokussiert. Die Homocore-Bewegung war eine Antwort auf die Notwendigkeit, queere Perspektiven in einer Subkultur zu integrieren, die sich traditionell durch ihre Anti-Establishment-Haltung auszeichnete. Bands wie Pansy Division sind ein Beispiel für Homocore-Musik, die explizit queere Themen anspricht. GayPunk „GayPunk“ ist ein ähnlicher Begriff, der den Fokus auf die Verbindung von 5


Über den Schwerpunkt queeren Identitäten und der Punk-Szene legt. Dieser Ausdruck betont, dass queere Menschen nicht nur Teil der Punk-Szene sind, sondern auch ihre spezifischen Erfahrungen und Herausforderungen durch ihre Kunst und Musik thematisieren. GayPunk kann als Form des Widerstands gegen Homophobie und gesellschaftliche Normen betrachtet werden. Zusammengefasst sind Homocore und GayPunk rebellische Ausdrucksformen, die die vorherrschenden gesellschaftlichen Normen und Erwartungen in Bezug auf Geschlecht und Sexualität herausfordern. Durch ihre Musik, Texte und Performance setzen sich diese Bewegungen gegen Diskriminierung und Vorurteile ein und schaffen einen Raum für queere Selbstbestimmung und Ausdruck. Insgesamt tragen Homocore und GayPunk dazu bei, die Vielfalt innerhalb der Punk-Szene zu betonen, queere Identitäten sichtbar zu machen und spielen immer noch eine wichtige Rolle dabei, die Punk-Kultur als einen widerständigen Ort der Inklusivität zu gestalten. Pansy Division Pansy Division gilt als eine der einflussreichsten Homocore-Bands. Die Texte ihrer Songs behandeln offen queere Themen, oft mit Humor und Ironie. Sie sind seit den frühen 1990er Jahren aktiv und haben dazu beigetragen, queere Perspektiven in der Punk-Szene zu etablieren. Aufgewachsen mit einer Mischung aus 60er-Jahre-Pop und 70er-Jahre-Punk, ist ihr Sound entsprechend knackig und eingängig. Ihre Musik und ihre Haltung widersetzten sich nicht nur den stereotypen Normen von Rockmusikern, sondern sie durchbrachen auch das Klischee der schwulen Kultur, wonach 6


Über den Schwerpunkt Rockmusik schwule Menschen nicht interessieren würde. Pansy Division, die mehrere Alben beim Label Alternative Tentacles veröffentlichten, hatten das Glück, sich auch ein gemeinsames Plattenlabel (Lookout Records) mit Green Day zu teilen und eine ähnliche Punk-Ästhetik zu pflegen. Mitte der 1990er Jahre gingen sie gemeinsam mit Billie Joe Armstrong und seinen Bandkollegen von Green Day auf eine ausgedehnte Konzerttournee durch das ganze Land. Dieses Ereignis löste aber zugleich eine heftige Debatte innerhalb der QueercoreSzene aus, in der sich diejenigen, die den Queercore für tot hielten, weil er mit der Dynamik der Kommerzialisierung und Homogenisierung der Mainstream-Musik unvereinbar sei, und diejenigen, die dies als einen grundlegenden Schritt zur Legitimierung und Verbreitung dieser Bewegung betrachteten, gegenüberstanden. https://pansydivision.com Team Dresch Team Dresch ist eine queerfeministische Punkband aus den 1990er Jahren. Ihre Musik ist geprägt von energiegeladenem Punkrock, und ihre Texte behandeln Themen wie Queersein, Feminismus und soziale Gerechtigkeit. Donna Dresch, die Gründerin der Band, war in den späten 1980er und frühen 90er Jahren in die Queercore-Szene involviert, wo sie ihr eigenes Fanzine „Chainsaw“ herausgab und zusätzlich zu ihren Beiträgen für andere Zines wie „Outpunk“ und „J.D.s“ auf dem Cover der fünften Ausgabe von „Homocore“ abgebildet war und in dem Girl-GangFilm „The Yo-Yo Gang“ von G.B. Jones auftrat. www.teamdresch.com Limp Wrist Limp Wrist ist eine amerikanische Hardcore-Punk-Band, die sich aus Mitgliedern von Los Crudos, Hail Mary, Devoid of Faith und Kill the Man Who Questions zusammensetzt. Die Band spielt kurze, schnelle Musik im HardcorePunk-Stil und greift in ihren LiveAuftritten und Texten Themen auf, die die queere Gemeinschaft betreffen. Sie bezeichnen sich selbst als Teil der Queercore-Punk-Subkultur, sind aber auch heterosexuell. In Bezug auf ihren Hardcore-Punk-Stil erklärte die Band im Frontiers-Magazin: „Wir bringen das ‚Core‘ zurück in ‚Queercore‘“. The Third Sex The Third Sex war eine HomocoreBand die 1993 in Portland, Oregon, gegründet wurde. Die Band bestand aus Trish Walsh, Gitarre und Gesang, Peyton Marshall, Bass und Gesang und zunächst einer Reihe von Schlagzeugern. Sie spielten eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Homocore-Bewegung 7


Über den Schwerpunkt und setzten sich durch ihre Musik und Botschaften für queere Rechte ein. Queercore in Europa In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre entstanden viele Queercore-Bands in europäischen Ländern wie England, Frankreich und Spanien. Sister George war eine Band aus England, die von 1993 bis 1996 aktiv war. Ihre Musik zeichnete sich durch politische Texte und eine explizite Auseinandersetzung mit queeren Themen aus. Obwohl es in den 1980er Jahren bereits Queer-Punk-Bands im Vereinigten Königreich gab, wie The Apostles/Academy 23, No Brain Cells und Tongue Man (Anfang der 1990er Jahre), waren Sister George eine der ersten Queercore-Bands im Vereinigten Königreich. Bestehend aus Lisa Cook (Bass), Daryl Stanislaw (Schlagzeug), Lyndon Holmes (Gitarre und Gesang) und Ellyott (Leadgesang und Gitarre). Obwohl ihre queere Identität in ihrer Musik im Vordergrund steht, wollten sie nicht in eine Schublade gesteckt oder nur wegen ihrer Homosexualität geliebt werden. Sängerin Ellyot sagte: „Ich will nicht, dass die ganze Welt unsere Platten kauft, weil ich eine Lesbe bin, ich will, dass sie unsere Platten kaufen, weil wir brillant sind!“ In Italien beschränkte sich die Verbreitung auf einige wenige Veranstaltungen der BDSM-Szene, die vom besetzten Haus Atlantide in Bologna organisiert wurden, und auf die musikalischen Auftritte einiger berühmter italienischer Punks wie Helena Velena, einer TransgenderAktivistin und Punk-Musikproduzentin. The Little Rabbits war eine französische Band, die in den 1990er Jahren aktiv war. Obwohl sie nicht ausschließlich Queercore waren, trugen sie zur LGBTQ+-Sichtbarkeit bei. Lavender Diamond war eine Band mit Wurzeln in den USA, aber sie hatten auch Verbindungen zur französischen Szene. Sie setzten sich in ihrer Musik für queere Themen ein. Alaska y Dinarama war eine spanische Band, die bereits in den 1980er Jahren aktiv war, aber auch in den 1990er Jahren präsent blieb. Die Sängerin Alaska ist eine prominente LGBTQ+- Persönlichkeit. Fangoria war die Nachfolgeband von Alaska y Dinarama und sprachen in ihrer Musik offen über queere Themen. Unser Themenschwerpunkt möchte dabei mitwirken, Inklusion zu fördern und eine Bewusstseinsbildung zu erreichen, Stereotypen und Vorurteile abzubauen. Es ist wichtig, dass diese Bemühungen nicht nur in der Theorie existieren, sondern in konkreten Maßnahmen und politischen Entscheidungen umgesetzt werden. Die Schaffung einer gerechten und inklusiven Gesellschaft erfordert kontinuierliche Anstrengungen auf individueller, institutioneller und gesellschaftlicher Ebene. Punk und Queer haben viel gemeinsam, repräsentieren subkulturelle Identitäten, teilen viele gemeinsame Werte und haben sich oft gegenseitig beeinflusst und gestärkt und tun dies immer noch. Diese Synergien haben zu einer Vielzahl von queer-punkigen Ausdrucksformen geführt und dazu beigetragen, dass beide Bewegungen Plattformen für Selbstausdruck und sozialen Aktivismus bieten. Wir hoffen, dass mit unseren Beiträgen und Interviews zum Ausdruck gebracht zu haben. 8


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Homophobe Gewalt und QueercoreExplosion Als die polnische queere Musikerin und Schriftstellerin Ola Kamińska 14 Jahre alt war, ging sie davon aus, dass es mit 18 Jahren möglich sein würde, zu heiraten, und dass sie alt genug sein würde, um dieses Recht wahrzunehmen. Doch nun ist sie zehn Jahre älter und statt des erwarteten Fortschritts haben sich rund 100 Städte – fast ein Drittel des Landes – zu »LGBT-freien Zonen« erklärt. Schwule und Lesben haben nur wenige gesetzliche Rechte, und die ehemalige national-konservative PiS-Regierung schützte die Interessen der LGBTQ+-Gemeinschaft nicht vor brutalen Übergriffen. Im Jahr 2020 stufte die europäische Interessenvertretung ILGAEurope Polen1 als das schlimmste Land in der Europäischen Union für LGBTQ+ Menschen ein. Ola Kamińska ist Mitglied der queeren Post-Punk-No-Wave-Band NANA und Gründerin von „Girls* to the Front“, eine Initiative von Agata Wnuk und Ola Kamińska, die seit 2015 in Warschau aktiv ist. Als G*TTF organisieren sie Shows von Mädchen, Frauen und queeren Menschen aus Polen und dem Ausland, Partys, Performances, Diskussionen und Workshops, spielen DJSets und veröffentlichen ein feministischqueeres Zine. Das Hauptziel von Girls* to the Front ist es, eine Gemeinschaft von Mädchen und Frauen, nicht-binären, trans- und queeren Menschen aufzubauen – zugänglich, inspirierend und unterstützend, in der jede Stimme gleich wichtig ist. „Girls* to the Front“ wurde unter anderem von der punkfeministischen Riot Grrrls-Bewegung inspiriert, die sich in den 1990er Jahren in den Vereinigten Staaten entwickelte. Die Veröffentlichung des elften G*TTFZines, das unter dem Motto „Secret“ steht, umfasst eine Show der Post-PunkBand Naoms, ein DJ-Set von Olga Drenda (der beliebten Ducholożka) und einen Auftritt von Paulina Wozniczka. Ihre Musik ist beeinflusst von amerikanischen Bands der 80er und 90er Jahre wie Bush Tetras, Tribe 8 und Bikini Kill. Im Gespräch beschreibt Ola Kamińska, wie Autos und Lastwagen durch die Stadt fahren und Transparente mit Slogans wie „Schwule sind pädophil“ schwenken und Lautsprecherdurchsagen mit homophober Propaganda vor besetzten Häusern, die junge queere Menschen aufnehmen, abspielen. 1 https://www.ilga-europe.org Ola Kaminska; Foto: Katarzyna Szenajch 10


„Die Dinge spitzten sich im Sommer 2019 zu“, berichtet Kamińska, „als die nicht-binäre Aktivistin Margot Szutowicz in eine Auseinandersetzung mit einem Anti-LGBT-Propagandisten und Abtreibungsgegner geriet“. Margots Festnahme hatte mit einem Vorfall zu tun, der sich am 27. Juni 2019 ereignete. Damals hatten Aktivist*innen einen Kleinbus, der mit homophoben Botschaften durch Polen fuhr, gestoppt und beschädigt. Aus Solidarität mit Margot brachten Aktivist*innen der Gruppe „Stop Bzdurom“ („Stoppt den Bullshit“) Regenbogenflaggen an Denkmälern an – darunter auch an einer Jesus-Statue. Margot wurde im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung verhaftet. Dutzende Demonstrant*innen hatten versucht, die Verhaftung zu verhindern. 48 Demonstrant*innen wurden daraufhin in Gewahrsam genommen. Ihnen wurde unter anderem Beleidigung von Polizeibeamt*innen und Beschädigung eines Polizeiautos vorgeworfen. Weil die Staatsanwaltschaft die Aktion als Hooliganismus einstuft, drohten den Festgenommenen bis zu fünf Jahren Haft. Die Umstände der Untersuchungshaft, die offiziell mit Flucht- und Verdunkelungsgefahr begründet wurde, wurden in Polen scharf kritisiert – nicht nur von der LGBTI-Community oder Medien. Die Aktivist*innen berichten auch von offener Polizeigewalt2 . Was dann geschah, war eine kleine Revolution: Queer-Aktivist*innen, darunter Ola Kamińska und ihre Band, gingen auf die Straße, die Proteste nahmen zu, und es gab einen internationalen Aufruf zur Freilassung von Margot Szutowicz. Das zeigte Wirkung. „Es veränderte die Art und Weise, wie die Menschen über den Kampf für ihre Rechte dachten“, sagt Kamińska. „Vor allem queere Menschen.“ Nach drei Wochen war die polnische LGBTI-Aktivistin Margot aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Da keine weiteren Haftgründe vorlagen, ordnete ein Gericht in Warschau nach einer Berufung ihrer Anwälte die sofortige Freilassung der Aktivistin an. Frauen*streik gegen polnische Abtreibungspolitk Im Herbst 2020 kam es zu einem landesweiten Frauen*streik gegen die drakonische Abtreibungspolitik des Landes. Ola Kaminska sagt, der Frauenstreik wäre ohne die Vorarbeit von Margot Szutowicz und anderen queeren Aktivist*innen nicht möglich gewesen. Die gesellschaftliche Polarisierung erreichte mit dem „Frauenstreik“ gegen die Reform des Abtreibungsrechts einen neuen Höhepunkt. Seit langem ist die polnische Gesellschaft tief gespalten in proeuropäisch liberal-progressive und konservativ-nationale Kräfte. Medienpropaganda und Hetzkampagnen der national-konservativen PiSRegierung schürten diese Polarisierung jeden Tag. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 22. Oktober 2020 schränkte das ohnehin restriktive Abtreibungsrecht stark ein. Sie erklärt den Schwangerschaftsabbruch im Falle einer schweren Schädigung des Fötus 2 In den letzten Jahren wurden LGBTI-Personen von Politikern, religiösen Führungspersönlichkeiten und anderen Personen des öffentlichen Lebens in Polen zunehmend angegriffen. Dies geschah in Form von gefährlichen und falschen Darstellungen von LGBTI-Menschen als Bedrohung für Kinder und als Bedrohung für das Christentum. Polen Anti-LGBT-Zeitleiste: https://www.ilga-europe.org/files/uploads/2022/06/Poland-Anti-LGBT-Timeline.pdf Margot Szutowicz 11


mit einem Verweis auf den Grundsatz der Menschenwürde für verfassungswidrig. Im Jahr 2019 wurden jedoch 98 Prozent der legalen Abtreibungen in Polen aus diesem Grund durchgeführt. Im Kern kommt die Entscheidung des Verfassungsgerichts also einem nahezu kompletten Abtreibungsverbot gleich. 800 000 Menschen demonstrierten auf dem Höhepunkt der Proteste, vor allem junge Frauen*. Dabei zielt ihre Wut sowohl auf das Abtreibungsverbot als auch die Politik der Regierung. Zwar gab es bereits einige Versuche der PiS, ein Totalverbot der Abtreibung durchzusetzen – etwa durch Bürgerbegehren fundamentalistischchristlicher Organisationen. „Am Ende stürzen die Frauen den Diktator“, war auf einem Plakat zu lesen. Hintergrund Im Februar 2019 unterzeichnete Warschaus liberaler Bürgermeister Rafał Trzaskowski eine Erklärung zur Unterstützung der LGBTQ-Rechte und kündigte seine Absicht an, die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation zu befolgen und LGBT-Themen in die Sexualerziehungslehrpläne der Warschauer Schulen zu integrieren. Politiker der PiS-Partei lehnen das Sexualerziehungsprogramm mit der Begründung ab, es würde Kinder sexualisieren. Der Parteivorsitzende der PiS Jarosław Kaczyński reagierte auf die Erklärung und nannte die Rechte der LGBT „einen Import“, der Polen bedrohe. Bis August 2019 wurden in Polen etwa 30 verschiedene LGBT-Ideologiefreie Zonen erklärt. Im September 2021 nahmen vier von fünf Woiwodschaften aufgrund des finanziellen Drucks der EU-Kommission die Maßnahmen wieder zurück. Ola Kamińska erzählt, dass viele queere Punks und Anarchist*innen, die sich gegen die polizeiliche Unterdrückung in Warschau wehrten, sich von einer nordamerikanischen Bewegung namens „Queercore“ inspirieren ließen, die in den frühen 1980er Jahren in Chicago, San Francisco, Los Angeles und Toronto entstand. Queercore – eine Anspielung auf Hardcore – ist eine Bewegung radikaler queerer Punks, die eine regelrechte Welle von Musik, Literatur, Film und Kunst auslöste, die das Gesicht des Punkrock und des schwul/lesbischen Aktivismus gleichermaßen veränderte. Bands wie Tribe 8, Nervous Gender, Team Dresch und Pansy Division drängten darauf, sich ihren eigenen Platz in einer ansonsten dominierenden männlichen, weißen, heterosexuellen Musikszene zu erobern. UndergroundZines, die in kleinen Auflagen kopiert und verschickt wurden, vereinten queere Menschen im ganzen Land und vermittelte ihnen das Gefühl von Empowerment, Gemeinschaft und Solidarität. „Wir alle nehmen unsere Ideen von irgendwoher“, sagt Kamińska. „Queercore ist definitiv etwas, das für uns jetzt funktioniert. Wir haben hier in Polen noch einiges zu tun. Nichts macht mich glücklicher, als ein Zine in eine kleine polnische Stadt zu schicken, in der es keine LGBTQ+ Treffpunkte gibt.“ Queercore Queercore begann mit einer strategischen Lüge, und zwar im Wohnzimmer von G.B. Jones in der Queen Street in Toronto. Jones war 12


Schlagzeuger einer Band namens „Fifth Column“ in Toronto, die nur aus Lesben bestand, und Bruce LaBruce, ein Filmstudent, war der „Go-Go-Boy“ der Band. Gemeinsam gründeten sie ein Zine namens J.D.s, das unter anderem eine „Homocore-Top-10-Liste“ veröffentlichte. Jones und LaBruce wollten den Popkultur-Journalismus parodieren, also schrieben sie über eine vollwertige Queer-Punk-Bewegung, die Toronto eroberte, und stellten sie als eine großartige, vielfältige Szene von Schwulen und Lesben, Dragqueens, Punkbands und Anarchisten dar, obwohl die Szene viel kleiner war. Das J.D.s Zine Es war einmal ein Restaurant in Toronto, das sich auf avantgardistische Desserts und konfrontativen Service spezialisiert hatte. Zwei Kellner trafen sich während der Nachtschicht. Einer von ihnen – der sich vor kurzem als Bruce LaBruce neu erfunden hatte – sah aus wie ein Statist von Liquid Sky3 und studierte marxistisch-feministische Filmtheorie. Der andere, G.B. Jones, spielte in einer coolen Punkband namens „Fifth Column“ und war in der Stadt für das Zine „Hide“ bekannt, das sie zusammen mit Caroline Azar herausgab und in dem Berichte über die lokale Szene. Es vermischte die subversive Welt der Zine- und Kassettenkultur, indem es Papierkopien mit Tape-Samplern herausgab. Die beiden verstanden sich gut: LaBruce wurde der Go-Go-Boy von Fifth Column und zog in ein besetztes Haus neben dem Proberaum der Band. Bald schufen sie ihr eigenes Zine und veröffentlichten 8 Ausgaben. J.D.s stand für „Juvenile Delinquents“, war aber auch eine Anspielung auf Just Desserts, jenes Diner, in dem Jones und LaBruce sich zum ersten Mal trafen. Die Kürzel waren in seiner absichtlichen Mehrdeutigkeit aber auch ein Signifikant für die Postpunk-Band Joy Division, konnte auch für J. D. Salinger stehen, dessen unverblümter, jugendlicher Schreibstil für J.D.s imitiert wurde. Ursprünglich war Queercore eine fiktive Gemeinschaft und existierte vor allem in Jones’ und LaBruces Fantasie: Außerhalb der provokanten Seiten von J.D.s gab es keine nennenswerte Queercore-Szene. Doch als die Leser*innenschaft von J.D.s anwuchs, änderte sich das bald. In Toronto entstanden weitere QueercoreZines, wie Johnny Noxzemas und Rex Boys aufrührerisches „Bimbox“ (Anfang der 1990er Jahre) und Jena Von Brückers feministisches „Jane Gets a Divorce“ (1993). Solche Queercore-Zines, die oft kollektiv hergestellt und von Hand zu Hand umsonst oder für ein paar Cent getauscht wurden, fungierten als D.I.Y.- Zentren der alternativen queeren Community in Toronto und schließlich auch anderswo. Als solche bot Queercore queere Außenseiter*innen einen Raum und die Möglichkeit, sich aktiv zu beteiligen und dazu zugehören. J.D’s #5: G.B. Jones und Bruce LaBruce 13


Außerhalb Torontos entstanden Queercore-Szenen in Städten wie San Francisco, Chicago, New York, Los Angeles und Portland. „Homocore“ (1988 - 1991, San Francisco), produziert von Tom Jennings und Deke Nihilson, war ein einflussreiches Zine und eine Plattform für queere Punks. Andere Zines wurden an ihren jeweiligen Entstehungsorten bekannt, wie „Fertile LaToyah Jackson“ von Vaginal Davis (1982 - 1991, Los Angeles), „Holy Titclamps“ von LarryBob Roberts (1989 - 2003, Minneapolis und San Francisco), „My Comrade/Sister“ von Linda/Les Simpson (1987 - 2006, New York), „Rude Girl“ von Eulalie Fenster-Glas und Alison Wonderland (Anfang der 1990er Jahre, San Antonio), „Slant/Slander“ und „Evolution of a Race Riot“ von Mimi Thi Nguyen (1990er Jahre, Berkeley), „I Am So Fucking Beautiful“ von Nomy Lamm (1990er Jahre, Olympia) und „Bamboo Girl“ von Margarita Alcantara (1995 - 2005, New York). Handgemacht, fotokopiert, durch Mundzu-Mund-Propaganda beworben und per Post verteilt, verließen sich diese Zines auf D.I.Y.-Praktiken, um interessierte Kreise über die Ankunft von Queercore zu informieren. Diese Zines förderten ein Untergrundnetzwerk von Queer-Punks und schufen einen Raum für die Queercore-Generation, in der sie ihre Geschichten außerhalb des korrupten, homophoben, sexistischen und rassistischen Massenmarktes und im Gegensatz zu diesem erzählen konnte. „Unser Hauptziel war es, jungen Queers, die in kleinen Städten lebten und sich von ihren Eltern entfremdet hatten oder aufgrund ihrer Kleidung oder ihrer Gedanken entfremdet waren und keine Möglichkeit hatten, diese auszudrücken, Hoffnung zu geben“, berichtet LaBruce. „Also schufen wir die Illusion von Solidarität und einer großen Bewegung, an der sich die queere Community beteiligen konnte – und [es] hat wirklich funktioniert. Es wurde zu einer großen Bewegung, weil Queercore-Bands entstanden und die Kulturen rund um Musik und politischen Aktivismus zu wachsen begannen, was sich schließlich in der realen Welt niederschlug. Wir taten es als eine sehr aufrichtige Intervention, die politisch war.“ Für kurze Zeit hatte der frühe Punk mit Musiker*innen wie Jayne (Wayne) County, Germs-Sänger Darby Crash, Patti Smith oder Nervous Gender-Mitglied Phranc einige (gender-)queere Figuren ins Rampenlicht befördert. Aber als sich Ende der 1970er Jahre Hardcore in den USA aus dem Punk entwickelte, traten mit den Dead Kennedys, Black Flag, etc. neue, fast durchweg männlich besetzte Bands auf den Plan. In den 1980er Jahren begann sich die politische Bewegung der Schwulen und Lesben zu institutionalisieren, lobbypolitisch auszurichten, sie machte „stillschweigend ihre weißen, mittelständischen und männlichen Vertreter zur Norm“ (Woltersdorff 2003, 914). Als weitere Motivation für J.D.s gibt Jones an, dass sie und LaBruce Prozesse der Vereinnahmung, wie sie sie nannten, dieser wie auch der Punk-Bewegung stören und unterbrechen wollten. 3 Liquid Sky ist ein US-amerikanischer Science-Fiction-Film des russischstämmigen Regisseurs Slava Tsukerman aus dem Jahr 1982. Er verbindet Elemente des SF-Films mit der visuellen Ästhetik und Musik der New-Wave-Ära. J.D.s #5 (1989) 14


Das Cover der ersten Ausgabe von 1985 sah aus, als hätte ein Stiefel den Titel auf ein zerknittertes Stück Papier gestempelt. Im Inhalt: fotokopierte Fotos von muskulösen Punks, Jones' Illustrationen von maskulinen Lesben und eine „J.D.s Top Ten Homocore“, in der die Hits einer Szene benannt werden, von denen LaBruce und Jones nicht wirklich überzeugt waren. Aber sie wussten, dass Bands wie „Aryan Disgrace“ derbe Punk-Kracher wie ‚Faggot in the Family‘ produzierten und ganz schön aneckten. Angeeckt haben dürften auch die 6 Seiten mit sogenannten Hardcore-PinUps: nackte und halb-nackte Männer und Musiker in Bühnenpositionen wie Anthony Kiedis, Sänger der „Red Hot Chili Peppers“, „A Neon Rome“-Sänger Neil Arbic aus Toronto, ein Mitglied der Band „Group Home“, „Dead Kennedys“- Sänger Jello Biafra und zuletzt „Fad Gadget“, einen britischen Elektro-, New Wave- und Industrial-Pionier. Sein nackter Oberkörper ist aus nächster Nähe fotografiert, gerade in dem Moment, als er den Bund seiner Hose herunterzieht, sodass ein Teil seines Schamhaars sichtbar wird. Das bedeutete, dass sie nicht allein waren. Die „Top 10“-Liste wurde zum Markenzeichen von J.D.s und wuchs rasch zu einer „Top 20“-Liste an. Sie war gleichzeitig ein Beleg für das Konzept und ein Rekrutierungsinstrument. Oft stand neben der Liste das Foto eines muskelbepackten Typen mit Irokesenschnitt. Die Arbeiten in J.D.s kritisierten sowohl Punk- wie auch schwule und lesbische Bewegungen und ihre Politiken. In ihnen treten konkrete Visionen queerer (Punk-)Entwürfe hervor. Die hard-core pin-ups, eine Arbeit aus der ersten J.D.sAusgabe von 1985, sind die erste künstlerische Arbeit im Heft nach dem Titelblatt, bilden also den Eintrittspunkt in J.D.s imaginäre Queer-Punk-Welt. J.D.s hat eine Subkultur ins Leben gerufen, indem es deren Hinterlassenschaften sammelte – und sie auch selbst schuf. Bereits in der vierten Ausgabe bewarben Jones und LaBruce ihre eigenen Super-8-Filme und Kunst und Pornos, die ihre Freund*innen und Bekannten produzierten. Sie rühmten sich, aus den örtlichen Buchhandlungen verbannt worden zu sein, und steckten Fragebögen zwischen die Seiten der Zines, in denen sie die Leser*innen (in einer seltsamen Mischung aus Selbsthilfe und Fluxus) fragten: „Schlagen Sie im Wörterbuch nach. Schlagen Sie ‚Punk‘ nach. Hast du es getan? Ehrlich? Fühlst du dich irgendwie anders?“ „Do you see yourself / In the magazine… / Did you do it for fame / Did you do it in a fit / Did you do it before / You read about it?“ — Identity; X-Ray Spex Die fotokopierten Collagen wurden immer knotiger, lösten die Fesseln des zinetypischen „Cut-and-Paste“-Prinzips und verknüpften stattdessen Strategien 15


des Cut-up, der Collage und der Poesie miteinander. In der siebten Ausgabe erlahmte der Enthusiasmus: Ein Cartoon mit dem Titel „Stupid Fags Worship the Oppressor!“ zeigt einen Mann, der an den Stiefeln eines Polizisten leckt, während ein anderer an den Doc Martens eines Nazis leckt und spottet über die Fetischisierung männlicher Autoritätsfiguren durch die schwule Community. Ein Textabschnitt weiter stellt die schwule Wertevorstellung infrage: „Wenn jemand eine ‚heterosexuelle‘ Version von J.D.‘s herausbringen würde, würde man ihn sofort an ein Kreuz nageln. Ich will weder Schwule, Lesben noch sonst jemanden schlecht machen. Ich sage nur, dass unsere sexuellen Wertvorstellungen vielleicht ein wenig verdreht sind.“ LaBruce und Jones verbrachten sechs Jahre damit, acht Ausgaben von J.D.s zu produzieren, eine beliebter als die andere und zunehmend mit LaBruces Eigenwerbung gefüllt. In der letzten Ausgabe von 1991 entpuppte er sich als der Filmemacher, der er schon immer sein wollte, und bewarb seinen abendfüllenden Film „No Skin Off My Ass“, in dem er die Hauptrolle eines einsamen Friseurs spielte, der mit Punks vögelt. Auch Jones hatte schon einige bemerkenswerte Filme gedreht: die feministischen, provokanten Super-8- Kurzfilme „The Troublemakers“ (1990) und „The Yo-Yo Gang“ (1992), die von BDSM geprägt waren. LaBruce und Jones gingen auf Tour, zeigten ihre Werke und schlossen Allianzen mit der PerformanceKünstlerin Vaginal Davis4 aus Los Angeles, sowie dem Herausgeber des Homocore-Zines aus San Francisco, Tom Jennings, und den Proto-Riot-Grrrl-Bands Tribe 8 und Team Dresch. 4 Vaginal Davis ist eine amerikanische Musikerin, Performerin, Malerin, Kuratorin, Komponistin, Filmemacherin und Schriftstellerin. Sie wurde intersexuell geboren und in den 1980er Jahren in New York als Dragqueen und Queercore-Punk-Performerin berühmt. Derzeit lebt und arbeitet Davis in Berlin 16


„Ohne J.D.s, Homocore und G.B. Jones gebe es kein Bikini Kill“, erzählt Kathleen Hanna von Bikini Kill in dem Buch „Queercore: How to Punk a Revolution“, das im Juli 2021 bei PM Press erschien. Die Oral History erzählt die Geschichte der Bewegung anhand von Interviews mit den Bands, Aktivisten und Künstlern, die sie gegründet haben. „Ohne Homocore hätte ich keine Karriere starten können“, berichtet Hanna in dem Buch. „I really wouldn't.“ „Tribe 8 waren politisch und kulturell so weit voraus, dass es mehrere Jahrzehnte gedauert hat, bis die Welt aufgeholt hat“, sagt Ramsey Kanaan, Herausgeber von PM Press und ehemaliger Sänger der Punkband „Political Asylum“. „Sie als Vorreiter zu bezeichnen, ist so, als würde man Neil Armstrong als Vorreiter für den Flug zum Mond bezeichnen.“ Tribe 8 Tribe 8 war eine von 1991 bis 2005 existierende lesbische Punkband aus San Francisco und gilt als eine der ersten Queercore-Bands. Der Bandname bezieht sich auf der Praxis des Tribadismus, wobei „Tribe Eight“ eine Anspielung auf das Wort Tribade ist, eine sexuelle Praxis, die manchmal auch als „Scissoring“ bekannt ist. „Wenn ihr mich kommen seht, rennt ihr alle weg. Als ob ich auf euren Arsch schießen würde oder so. Die meiste Zeit liegt es mir fern, euch einen Spruch zu geben, während ihr ausflippt!!“ (Lezbophobia) Bei Tribe 8 gab es während ihrer aktiven Laufbahn personelle Veränderungen, aber Lynn Breedlove, Flipper (Silas Howard), Leslie Mah (zuvor bei Anti Scrunti Faction) und Slade Bellum machten den Kern der Band aus. Bei Konzerten trat Leadsängerin Lynn häufig oben ohne auf, trug einen Umschnalldildo und forderte das Publikum auf, mit dem Dildo zu interagieren. Teile des Publikums zog nach und tanzte oben ohne. In ihren Songs ging es oft um Themen wie S/M, und die Band war wegen der Nacktheit, der obszönen Bühnen17


Performance und der TransgenderThematik Gegenstand von Kontroversen. Die Alben „Fist City“ (1995), „Snarkism“ (1996) und „Role Models for America“ (1998) wurden auf Alternative Tentacles veröffentlicht. Außerhalb der musikalischen Aktivitäten trat Lynn Breedlove auch als Autorin mit dem 2002 erschienenen Roman „Godspeed“ in Erscheinung, der 2006 von Andrea Rick unter „Götterspeed“ ins Deutsche übersetzt wurde. Die Story dreht sich u. a. um die fiktive Lesben-/Trans-Punk-Band Hostile Mucus und deren Tournee, um (US-)Punk und Punk-Geschichte. „Es war zwingend, das Buch zu schreiben. Ich wollte jedes noch so kleine Detail notieren, wie ich Drogen mit Glamour verband, dachte, es sei großartig, was für mich an Drogen funktionierte. Folge ich diesem Gedanken bis zum Schluss, ist er nicht mehr so glamourös. Du liegst in der Gosse, mit einer Nadel im Arm.“ Und es geht um Sex. Sex zwischen Drag-Queens und Jungs, um Chickboys und Boychicks wie die Heldin, die sich Jim nennt und immer ein Junge sein wollte und die sich so etwas Perverses wie Sex zwischen Mädchen und Jungen einfach nicht vorstellen kann. Lynn Breedlove führte auch Regie, war Co-Produzentin und spielte die Hauptrolle in dem Kurzfilm „Godspeed“, der auf ihrem gleichnamigen Roman basiert und 2007 auf Festivals debütierte. Leslie Mah hat in verschiedenen Filmen mitgewirkt, darunter „The Yo-Yo Gang“ von G.B. Jones, „Shut Up White Boy“, bei dem Vu T. und Thu Ha gemeinsam Regie führten. 1998 hat sie ihren eigenen Film „Estrofemme“ produziert. Tribe 8-Sängerin Lynn Breedlove, live in Seattle 18


1996 gab die Band ihr Leinwanddebüt in „A Gun For Jennifer“ unter der Regie von Todd Morris. In dem 1997 erschienenen Dokumentarfilm „She's Real, Worse Than Queer“ von Lucy Thane zeigt die Band mit einem Live-Autftritt. Außerdem werden Musikerinnen der Band interviewt, die über eine Reihe von Themen wie die Entwicklung der Queercore-Musikszene sprechen. Im Jahr 2004 wurde der Film „Rise Above: A Tribe 8 Documentary“ von Regisseurin Tracy Flannigan veröffentlicht. Vier Jahre lang begleitete Tracy die lesbische PunkRock-Band Tribe 8 mit ihrer Kamera. Sie dokumentierte die energetischen, wilden und völlig unberechenbaren GenderPerformances. Flannigans Doku blickt aber auch hinter die Bühne und zeigt die fünf höchst unterschiedlichen Charaktere in ihrem Alltag, bei ihren Jobs, in ihrem Liebesleben und im Gespräch mit ihren Eltern. »Wir waren antiautoritär und antikapitalistisch.« - LaBruce Mitte/Ende der 80er Jahre hatte AIDS die Gay-Community erschüttert. Die Forderungen nach Liberalisierung und Solidarität der Schwulen wurden zu Forderungen nach Unterstützung für die Sterbenden und zu MainstreamForderungen wie dem Recht auf Heirat. New York City, das Epizentrum der Epidemie in Amerika – wo nach Angaben der „Gay Men's Health Crisis“ schließlich mehr als 100.000 Menschen an den Folgen von AIDS starben – hatte eine pulsierende Punkszene, in der sich viele gegen die Vorstellung einer binären Geschlechterordnung wehrten. Figuren der Downtown-Szene, wie die „Königin des Underground“, Penny Arcade, wurden zu Ikonen des Queercore. Im Gegensatz zu den damaligen Vorstellungen von Identität wurde Queercore von dem Wunsch angetrieben, alle Kategorien auszulöschen, das Patriarchat und die heterosexuelle Welt abzulehnen. Zur Person: Penny Arcade (alias Susana Ventura) ist eine international angesehene Schriftstellerin, Dichterin, Schauspielerin, Theaterproduzentin und eine der wenigen Künstlerinnen, die die Performance-Kunst geprägt haben und weiterhin prägen. Penny debütierte im Alter von 17 Jahren in John Vaccaros explosivem Playhouse of the Ridiculous und war mit 19 Jahren ein Superstar der Warhol Factory, der im Warhol-Film „Women in Revolt“ zu sehen war. Mit einer künstlerischen Karriere, die sich über fast 50 Jahre erstreckt, nimmt Arcade eine einzigartige Stellung in der amerikanischen Avantgarde ein, die seit langem mit den Vertreter*innen der amerikanischen Gegenkultur zusammenarbeitet: Andy Warhol, Charles Henri Ford, John Vaccaro, Judith Malina, Taylor Mead, Jack Smith, Harry Smith, Tom O'Horgan und Charles Ludlam und viele andere. 19


Ihr Fokus auf die Schaffung von Gemeinschaft und Inklusion als Ziele der Performance und ihre Bemühungen, Performance als transformativen Akt zu nutzen, machen sie zu einem echten Original im amerikanischen Theater. Ihre Show „Bitch! Dyke! Faghag! Whore!“ wurde in über 30 Städten auf der ganzen Welt aufgeführt. „Niemand interessierte sich wirklich für die Sexualität der Menschen“, berichtet Penny Arcade in einem Interview in Queercore. „Und so geht es mir auch mit der Geschlechtsidentität. Wen interessiert es, welche sexuelle Orientierung man hat? Das ist so konterrevolutionär und kontraevolutionär. Identitätspolitik ist für Leute, die keine Identität haben.“ „Queercore war nicht nur gegen Homophobie und das Märtyrertum von Schwulen“, sagt der Journalist Adam Rathe im Buch. „Es ging gegen den Mainstream der schwulen Gesellschaft, gegen die Vorstellung, dass weiße, schwule Männer der Oberschicht ins Fitnessstudio gehen und ihre Nächte im Dampfbad verbringen.“ Queer-Autor*innen wie Sarah Schulman argumentieren, dass die Aktionen und Forderungen von Queer Radicals eher assimilatorische Forderungen wie die Homo-Ehe für die heterosexuelle Welt schmackhaft gemacht haben. Ohne Organisationen wie die „AIDS Coalition to Unleash Power“ (ACT UP) und Queercore hätte es kein Recht auf gleichgeschlechtliche Heirat gegeben, das in der Rechtssache „Obergefell vs. Hodges“5 zum Tragen kam. Der eigentliche Schwerpunkt von Queercore, sagen viele Mitglieder der Szene, lag auf der Klassenpolitik. „Der größte Unsinn ist“, sagt LaBruce, „dass Leute glauben, sie könnten eine Kultur durch Identitätspolitik verändern, ohne sich mit Klassenfragen zu befassen – das verblüfft mich jeden Tag. Das Wohlstandsgefälle ist so enorm, und doch reden alle von Gleichberechtigung. Wie kann es Gleichheit in einem System geben, das in der reinen sozialen und politischen Realität offensichtlich so ungerecht ist? Das ist ein Thema, das sich durch alle meine Filme zieht – der Unterdrückte wird zum Unterdrücker. Damals kämpften wir für unser Recht, zu unseren eigenen Bedingungen zu existieren, außerhalb der Konventionen der herrschenden Ideologie, und uns neue soziale und politische Konfigurationen vorzustellen, die mehr Gleichheit ermöglichten“, sagt LaBruce und ergänzt: „Wir waren antiautoritär und antikapitalistisch.“ LaBruce sagt, dass Queercore eine dauerhafte Wirksamkeit hat, weil es früher noch keine globalisierte Schwulenrechtsbewegung gab. Als er 2015 Polen für ein Filmfestival besuchte, 5 Obergefell v. Hodges ist die Sammelbezeichnung für vier vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten verhandelte Fälle zur staatlichen Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Penny Arcade 20


bekam er das Erbe seiner Arbeit als Künstler und Aktivist zu sehen und hörte schwule Anarchisten, die ihm von dem Einfluss erzählten, den Queercore auf sie hatte. „Polen“, sagt er, „ist eine Gesellschaft vor der Befreiung. Der Kampf [für Queers] ist das Recht, tatsächlich zu existieren – [um] nicht verfolgt oder verhaftet zu werden. Es ist ein grundlegender Kampf, und er ist tendenziell antiautoritär; es ist eine Allianz von marginalisierten Menschen, die zusammengewürfelt werden.“ „Die meisten Bemühungen in Polen zielen darauf ab, die Menschen dazu zu bringen, zu sehen, dass Queers genauso sind wie [alle anderen], und dass Queers nicht auf der Straße zusammengeschlagen werden“, stimmt Ola Kamińska zu. „Aber im Sommer 2019 haben viele Leute gesehen – sogar Heteros – dass queere Menschen, die gewaltlos sind und versuchen, einander zu schützen, trotzdem Gewalt erfahren haben. Vielleicht ist es jetzt also tatsächlich eine Chance, wenn wir nicht für die Assimilation kämpfen, sondern rebellieren, denn selbst wenn wir uns noch so anständig und nett benehmen, funktioniert es nicht.“ Wie geht es also weiter? Im November 2023 haben LGBTQ+-Aktivist*innen die neue Koalition aufgefordert, sich von der diskriminierenden Politik der Vorgängerregierung zu distanzieren und der Gleichstellung und dem Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität Priorität einzuräumen. Weiter haben die Aktivist*innen mehrere Forderungen gestellt. Sie streben die Einführung eines Verbots homophober Hassreden an, insbesondere in den öffentlichen Medien und bei öffentlichen Amtsträgern. Zu diesem Zweck fordern sie eine rasche Änderung des Strafgesetzbuchs, um Hassreden im Zusammenhang mit der sexuellen Ausrichtung und der Geschlechtsidentität unter Strafe zu stellen. Außerdem fordern sie die Regierung auf, öffentliche Zuschüsse zu überprüfen, da es Belege dafür gibt, dass öffentliche Gelder an Einrichtungen mit homophobem Gedankengut geflossen sind. Die Oppositionspartei hat versprochen, die gleichgeschlechtliche Ehe zu legalisieren und zivile Partnerschaften einzuführen – letzteres ist das wahrscheinlichere der beiden Themen. Diese Themen sind für LGBTQ+-Aktivist*innen derzeit von geringerer Bedeutung, bleiben aber symbolisch wichtig. In der Zukunft erwartet die Gemeinschaft die Einführung von Vorschriften zur Erleichterung der Geschlechtsumwandlung für Transgender-Personen. Das Wahlergebnis war ein entscheidendes Bekenntnis zur Demokratie und verzeichnete die höchste Wahlbeteiligung seit 1989. Ein Zeichen dafür, dass die meisten polnische Staatsbürger*innen populistische Hassreden ablehnen und die Gleichbehandlung aller befürworten. Die tatsächliche Einführung einer LGBTQ+-freundlichen Politik wird jedoch von der Fähigkeit der neuen Regierung abhängen, Kompromisse zwischen den drei verschiedenen politischen Gruppierungen zu finden, die eine Regierungskoalition bilden. Auch der für seinen Konservatismus bekannte polnische Präsident Andrzej Duda, der bei der Gesetzgebung ein Veto einlegen kann, wird bis 2025 Präsident Polens bleiben. Dennoch stand die polnische LGBTQ+-Gemeinschaft noch nie so kurz vor der Verwirklichung einiger ihrer historischen Ziele. 21


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MIDDLE-AGED QUEERS A mission to make punk rock gay again Middle-Aged Queers ist eine LGBTQPunkrock-Band aus Oakland, die 2018 gegründet wurde, nachdem Bassist Josh Levine auf Facebook nach Musiker*innen gesucht hatte, um eine „Middle-Aged Queercore-Band“ zu gründen. Bassist Josh Levine spielte zuvor in FANG, NO ALTERNATIVE und in einer späteren Version von FLIPPER. Gitarrist Fureigh spielte bei THE SHONDES, Schlagzeugerin Niki Pretti spielte bei SPAG und den SHUddERS. Sänger Shaun Osburn spielte in WET-NAP und THE COST. 2020 erschien das erste Album „Too fag too love“. Während der Covid-bedingten Auszeit haben sie neue Songs geschrieben und aufgenommen. Die Songs und der Sound auf „Shout at the Hetero“ sind düsterer. Shaun hatte den Großteil der Songs geschrieben und in der Covid-Lockdown-Phase sehr viel BLACK FORK gehört, ein Mix aus X-Ray Spex meets Negative Approach. Das mittlerweile ausverkaufte Album erschien 2022 auf ‚Say-10-Records‘ und wurde noch mit Gitarristen Mag Delana aufgenommen, der kurz darauf ausgestiegen ist und durch Fureigh ersetzt wurde. Wie würdet ihr euren Musikstil beschreiben? Niki: Hyperspeed Tanz Queercore. Shaun: Jemand hat mir kürzlich gesagt, wir seien die schwule Version von Blatz1 . Was ich ziemlich lustig finde, 1 Blatz war eine US-amerikanische Punkband, die 1989 in Berkeley, Kalifornien, USA, gegründet wurde. Blatz kam Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre zusammen mit Bands wie Operation Ivy, Filth und Green Day aus dem 924 Gilman Street-Umfeld. 23


wenn man bedenkt, wie viele Mitglieder von Blatz schwul waren. Aber ich denke, es ist ziemlich zutreffend. Wir sind eine kratzbürstige Midtempo-Punkrock-Band mit offenen, direkten Texten und einer chaotischen Live-Show, die manchmal aus den Fugen gerät. Fureigh: Wir sind queere PartyPunks! Punk hatte schon immer eine Affinität zu sexuellen Außenseitern. Wo sonst lässt sich nachweisen, dass Punk und Queer zusammengehören? Josh: Von allen Beispielen in der kurzen Geschichte unseres Genres könnte man sagen, dass Sid Vicious 1977 ein Tom Of Finland-Shirt trug und seitdem Punk und Queer eine Symbiose sind. Welche Themen findet man in euren Texten und wie bringen sie eure queere Identität zum Ausdruck? Shaun: Nicht in jedem unserer Songs geht es direkt um Queerness, aber meine eigene Queerness prägt die Texte. Ein Song wie „TERFs Up“ handelt direkt von der Solidarität mit Trans-Personen, und während ein Song wie „Frankenstein's Alive“ oberflächlich betrachtet nicht unbedingt queer ist, geht es in dem Lied darum, seine Kultur und Identität als queere Person inmitten einer heterozentrischen Kultur zu entwickeln. Eure Musik ist old school, eingängig und auf den Punkt. Und es gibt Songs wie ‚SoDoMe‘, ‚Bike Cock‘, ‚Anal Beads‘, in denen es ums Ficken geht. Ist das immer noch ein Tabubruch? Josh: Ich denke, das sollte es nicht sein, nach allem, was wir durchgemacht haben. Shaun: Amerika ist so puritanisch, dass es sich selbst schadet. Ich denke, die Meth-Krise bei schwulen Männern wird durch die Scham über Sex angeheizt. Wir müssen uns wohlfühlen, wenn wir miteinander über Sex und Sexualität sprechen, und nicht Substanzen als Deckmantel benutzen. Wenn es ein Tabu um Sex gibt, bin ich dafür, es zu brechen, damit wir ein ehrlicheres und authentischeres Leben führen können. Furiegh: Das hängt davon ab, wo wir (oder unsere Musik) spielen. Welche queeren Künstler*innen haben dich inspiriert und beeinflusst? Josh: The Dicks, Hüsker Dü, David Bowie. Niki: Alle Glam-Größen: David Bowie, Elton John, Freddy Mercury. Pansy Division, Gravy Train, Laura Jane Grace. Shaun: Rob Halford von Judas Priest und Roddy Bottom von Faith No More. Furiegh: Team Dresch, SleaterKinney, Pansy Division, und, um ganz ehrlich zu sein, Ani Difranco2 . 2 Ani DiFranco ist eine US-amerikanische Singer-Songwriterin, Labelgründerin und politische Aktivistin. 24


»Wir können ein Leuchtfeuer der Hoffnung sein«; Shaun Wie wichtig ist es für euch, in der MusikSzene als queere Band sichtbar zu sein? Shaun: Die große Musiklanfdschaft wird immer noch von weißen, heterosexuellen Männern dominiert. Sie ist immer noch voll von Machos und geprägt von Frauenfeindlichkeit. Für mich bedeutet die Tatsache, dass wir eine sichtbare queere Band sind, dass wir Menschen wie uns, die sich vielleicht nicht so wohl mit sich selbst fühlen, zeigen können, wer wir sind. Wir können als ein Leuchtfeuer der Hoffnung dienen, wo immer wir hingehen. Niki: Es ist immer wichtig, das Queere zu repräsentieren, vor allem jetzt, wo all die Anti-Queer-Gesetze3 ins Spiel gebracht werden. Wir müssen für all die queeren Menschen sichtbar bleiben, die etwas Positives brauchen, an dem sie sich festhalten können. Gibt es spezifische Herausforderungen, mit denen ihr als queere Band konfrontiert seid? Shaun: Wenn die Veranstalter uns vor einer Show keinen Soundcheck geben, ist das Homophobie. Josh: Es gibt leider immer noch überraschend große homophobe Vorfälle in der Punk-Szene. Shaun: Was uns betrifft: Orte wie Tankstellen in ländlicheren Gegenden sind da am unheimlichsten. In kleineren Städten gab es Fälle von Mikroaggressionen, aber keine direkte Gewalt oder gar Gewaltandrohung. Wie reagiert das Publikum in der Regel auf eure queeren Botschaften und eure Musik? 3 Im letzten Jahr und vor der Präsidentschaftswahl treiben Christlich-Konservative den Kulturkampf voran. Republikanische Abgeordnete fluten die Parlamente der Bundesstaaten mit Anti-LGBTQ-Gesetzen. Die US-Menschenrechtsorganisation ACLU zählt US-weit allein im letzten Jahr 491 Gesetzesinitiativen, die die Rechte der LGBTQ-Community einschränken. Das ist ein neuer Rekord – mehr als doppelt so viel wie im gesamten Jahr 2022. Es sind insbesondere die Südstaaten, in denen die Republikaner in den Parlamenten die Mehrheit stellen, die mit rigiden Gesetzen die Freiheiten der LGBTQ-Bevölkerung einschränken. Foto: Cam Evans 25


Josh: Wir sind ein guter Ritt, probier es aus! Niki: Sie scheinen ziemlich begeistert davon zu sein! Ob sie nun queer sind oder nicht, alle scheinen größtenteils begeistert zu sein. Welche Rolle spielt der politische Aktivismus in eurer musikalischen Arbeit? Josh: Er treibt mich an, inspiriert mich und hält mich auf Trab! Wie würdet ihr euren Fans die DIYQueer-Kultur näherbringen? Shaun: Unser jüngeres Publikum weiß oft nicht, dass wir unsere eigenen Touren buchen, unsere Platten von Freund*innen herausbringen lassen oder unser eigenes Merchandise herstellen. Sie kommen zu einer Show und erwarten einen Tourbus vor einem größeren Veranstaltungsort, und dann sitzen wir nur in einem Mietwagen und spielen in einem kleinen veganen Café. Wenn man sich mit ihnen unterhält, merkt man sofort, dass sie das auch machen könnten. Mit seinen Freund*innen Musik zu machen und um die Welt zu reisen, ist nicht nur etwas, was große, schicke Rockstars tun können. Wahrscheinlich gibt es in jeder Stadt junge Queers, die keine Möglichkeit haben, sich auszudrücken. Außerdem gibt es in einigen US-Bundesstaaten eine wachsende Zahl von trans- und homophobe Gesetzesvoorlagen, die queere Literatur aus Bibliotheken verbieten und die bloße Diskussion über queere Existenzen in Schulen kriminalisieren, um nur einige zu nennen. Welchen Rat kannst du jungen queeren Menschen geben, um trotzdem sichtbar zu bleiben? Josh: Halte einfach durch, bis du herausgefunden hast, wo du im Leben sein sollst. Bleib positiv! Niki: Bleibe dir selbst treu, finde eine Gemeinschaft und Freund*innen, mit denen du dich zusammentun kannst und versuche, die Hoffnung aufrechtzuerhalten, dass wir das alles überstehen werden. Foto: Arthur Wernham 26


Warum ist es wichtig, nach Aspekten des queeren Lebens zu suchen? Josh: Jeder möchte sich als Teil von etwas fühlen. Die Geschichten, die wir erzählen, sind aus dem queeren Leben gewoben und geben den vielleicht unterdrückten Gefühlen einen Sinn. Niki: Es ist wichtig, die Gemeinschaft zusammenzubringen, vor allem für diejenigen, die Schwierigkeiten haben, ihren Platz in der Welt zu finden. Vor allem Menschen mit gleichgeschlechtlichen Neigungen sprechen oft davon, dass sie in ihrer Jugend etwas empfunden haben, was sie selbst nicht verstehen konnten. Wie war das bei euch? Shaun: Ich erinnere mich, dass ich ‚Star Trek the Next Generation‘ gesehen habe, als ich etwa 8 Jahre alt war und Wil Wheaton im Fernsehen sah. Ich war mir nicht ganz sicher, was das für ein Gefühl war, aber ich wusste, dass ich die Serie mehr mochte, weil er darin vorkam, und ich mochte die Episoden, in denen er im Mittelpunkt stand, sehr. Wil Wheaton ist dazu auch heute noch ein knackiger Bär! Wuff!4 Niki: Ich persönlich habe das Gefühl, dass ich mein Verlangen nach Frauen immer verstanden habe. Ich habe das nie wirklich infrage gestellt, auch wenn meine Eltern sagten, es sei ‚nur eine Phase‘. Ich war schon immer mehr von der Persönlichkeit einer Person angezogen als von dem, was unter ihrer Kleidung vor sich geht. Da ich in der East Bay aufgewachsen bin, hatte ich wohl das Privileg, dass ich mir nicht allzu viele Gedanken darüber machen musste, wie ich meine Liebe zu beiden Geschlechtern offen zeigen konnte. Eine der wenigen Queercore-Bands, die ein fußballstadiongroßes Publikum erreicht haben, sind Pansy Division, die humorvolle und wütende Texte haben. Das ist sehr ähnlich wie bei euch und zeigt: queer-feministische Punk hatte und hat keine feste politische Agenda im engeren Sinne. Seine Methoden sind fließend und spielerisch. Kannst du mir dafür ein repräsentatives Beispiel nennen? Josh: Ich habe das Gefühl, wir haben eine klare politische Agenda, wir sind hier und wir sind queer! Unsere Band ist eine politische Band, die nicht in eine Schublade gesteckt werden kann! Einige von uns können allerdings mit veganen Hot Dogs gefüttert werden. Shaun: Ich glaube, wir schwanken zwischen direkt konfrontativen Texten und Texten, die in Humor verpackt sind. Manchmal ist die Botschaft so krass provokant, weil wir kein Blatt vor den Mund nehmen können. Zu anderen Zeiten wird die Ernsthaftigkeit erst nach der Einführung von Komik vermittelt, um die Botschaft besser vermitteln zu können. https://middleagedqueers.com 4 Mit Wesley Crusher verkörperte er eine bei den Star-Trek-Fans Rolle in den ersten vier Staffeln von „Star Trek: The Next Generation“ (1987–1991) und in drei weiteren Folgen der verbliebenen drei Staffeln. Gleichwohl er verheiratet ist und Kinder hat, gab es immer wieder Gerüchte oder Hinweise darauf, er könne schwul sein. In einer Entertainment-Show sprach Wil davon, dass er Schwierigkeiten hatte, bei „Star Trek“ mitzuspielen, während er begann, seine Sexualität infrage zu stellen oder sich mit ihr auseinanderzusetzen. Wil hat sich nie geoutet, brachte der queeren Community aber Verständnis entgegen und bedankte sich mit einem Facebook-Eintrag: „Im Laufe der Jahre habe ich mehrere Männer getroffen, die mir erzählten, dass ihre Kindheitsverliebtheit in Wesley Crusher ein großer Teil davon war, dass sie sich geoutet haben und ihr Leben mit Freude, Liebe und Stolz leben. Ich kann euch gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet. Ich liebe es so sehr, dass ich und ein Teil meiner Arbeit für Menschen da war (als ich noch nicht einmal wusste, dass es passierte), die einen sicheren Ort brauchten.“ Wheaton wünschte den Mitgliedern der LGBTQ+-Gemeinschaft eine ‚Happy Pride‘: „Happy Pride“, schrieb er, „ihr lieben und perfekten Menschen. Ich und Wesley Crusher sehen euch, und wir bewundern euch absolut“. (Quelle: https://www.facebook.com/itswilwheaton/posts/3829234737203040) 27


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SIKSA Queercore und Punk-Performance SIKSA (jiddisch: עסקיש, romanisiert: shikse, abwertendes Wort für eine junge Frau, die als vulgär, unerfahren und unreif wahrgenommen wird) ist ein feministisches Duo, bestehend aus Alex Freiheit und Buri mit Stimme, Bass, Text und Performance. Siksa bricht normative Regeln der Gesellschaft, tut dies bewusst, entschuldigt sich für nichts und lacht darüber. Die Shows von SIKSA vereinen die Energie eines Punkkonzerts, performative Poesie und theatralischer Tanz. Dank der Interaktion mit dem Publikum erhält jede Show einzigartige dramatische Qualitäten. In den Grenzen der Instrumente und der Bühnenpräsenz findet das Duo die Kraft, einen eigenen Weg zu beschreiten. Manchmal beruhen sie auf Kindheitserinnerungen, manchmal auf Märchen und Legenden oder auf der Realität, die durch die ungehemmte und ungezügelte Vision von SIKSA verändert wird. In ihrem Werk trifft das Persönliche auf das Politische und das Unausgesprochene auf das Ohrenbetäubende. SIKSA spielte über 300 Konzerte in ganz Europa, von kleinen Clubs und besetzten Häusern über zeitgenössische Kunstgalerien bis hin zu den größten europäischen Festivals. Siksa/Alex Freiheit (li.) und Bari (re.) Foto: Piotr Królikiewicz 29


Alex Freiheit ist Performerin und Dichterin. Darüber hinaus führt sie Workshops für Mädchen, Jugendliche und für diejenigen durch, die für wenig Geld auf eigene Kosten auftreten wollen. Des Weiteren ist sie Autorin des Gedichtbandes „Natalia ist sex, Alex ist Freiheit“, sowie Mitgestalterin von „Stabat Mater Dolorosa“, einem Musical über den Tod und ein Mädchen. Man könnte diesen Film ein visuelles Album nennen: Jeder Song auf der LP bekommt einen eigenen Videoclip, wie ein Tableau, präzise inszeniert, geradezu mit Highgloss bebildert, zu oftmals geschrienen Texten und eindringlichem Noise. Hier wird Widerspruch zu den Verhältnissen im heutigen Polen ausagiert, laut und deutlich. Wenn man den musikalischen und künstlerischen Stammbaum von Siksa umreißen müsste, würde er auf Queercore, Riot Grrrl, der TeenagerFaszination von Britney Spears und HipHop basieren oder umgekehrt auf die in den Vereinigten Staaten lebende trinidadische Rapperin, R&B- und PopSängerin und Schauspielerin Nicky Minaj, dazu auf die US-amerikanische Avantgarde-Performancekünstlerin, Sängerin und Komponistin Diamanda Galas oder Lydia Lunch. Es handelt sich nicht nur um eine Reihe von Inspirationen, sondern um eine Art Gegenkultur-Cocktail aus Popkultur und Protest. Subversion ist die erste Lektion, die mensch braucht, um die richtige Form zu finden. Oft ist es die Verwendung von dem, was schon da war: Punk-Riffs, Geschrei oder extravagante Outfits/Kostüme. Das Recycling von Ideen führt zu einem eigenen Stil. Hinzu kommt: ein Ausdruck bei Konzerten, der stilistisch an Performance erinnert (von Ewa Partums Reflexionen über den weiblichen Körper bis hin zu feministischen Poetry Slams im Stil von Denice Frohman oder Elizabeth Acevedo) und eine Überschreitung der dualistischen Trennung zwischen den passiven Zuschauer*innen und den Künstler*innen, die das Publikum unterhalten. All dies ergibt eine explosive Mischung, die mit den frühen Performances von PunkrockKünstler*innen von Poly Styrene und THE SLITS, X-RAY SPEX bis PUSSY RIOT verglichen werden kann. Die Community, die am meisten Gemeinsamkeiten mit SIKSA aufweist, ist die Riot-Grrrl-Szene, die Anfang der neunziger Jahre in den Vereinigten Staaten durch die Aktivitäten punkfeministischer Bands wie Bikini Kill, Tribe 8 und Team Dresch entstanden ist und sich auf die androgyne Patti Smith, die erotische Debbie Harry von Blondie oder die unbekümmerte Poly Styrene von X-Ray Spex bezieht. Der übergreifende Slogan der Szene lautete „Girls, to the front!“, denn damit wollte mensch diejenigen, die sich sonst 30


vor dem stürmischen Pogo scheuten, ermutigen, ihre eigene Band zu gründen, auf der Bühne zu stehen und Musik zu machen. Kim Gordon, Bassistin/Sängerin der Band Sonic Youth, erklärte die frauliche Unsicherheit und Scham folgendermaßen: „Unsere Kultur lässt den Frauen nicht die Freiheit, die sie sich wünschen, weil sie Angst erzeugt. Solche Künstlerinnen werden entweder abgelehnt oder für verrückt gehalten. Weibliche Sängerinnen, die zu viel und zu hart singen, überleben vorwiegend nicht lange. Sie sind wie Pfeile im Flug, Funken, Kometen: Janis Joplin, Billie Holiday. Außerdem zeigt eine Frau, die an ihre Grenzen geht, auch die weniger wünschenswerten Seiten ihrer selbst. Letztlich sind Frauen dazu da, die Welt zu erhalten, nicht sie zu vernichten.“1 Wenn Alex auf der Bühne in das Mikrofon schreit: „Wer weiß besser als du, wie man ein böses Mädchen zähmt / und es der ganzen Nachbarschaft wissen lässt“, bricht sie mit Konventionen und bezieht sich darauf, kein nettes Mädchen sein zu wollen. Und so lässt Kritik nicht lange auf sich warten und kommt, wer hätte das vermutet, vor allem aus den Reihen männlich konnotierter Zuhörer, die nach dem Prinzip des Mansplaining, des Erklärens der Welt, SIKSA vorschreiben, was und wie sie zu spielen hat. Alex verwendet einige dieser Kommentare, die in den sozialen Medien auftauchen, in ihren Posts oder webt sie bei Konzerten zwischen die Songs ein. So transportiert sie ungefiltert Gefühle von Besorgnis, Sexismus und Frauenfeindlichkeit. Idealerweise sollten Künstlerinnen natürlich nicht ewig ihre Sexualität in den Vordergrund stellen, sondern den 1 Kim Gordon: Girl in the Band, 2015, S. 141. Fotocredit: Marcin Rodzaj 31


öffentlichen Raum gleichberechtigt nutzen. Andrea Juno, Autorin von zwei Interview-Sammlungen mit Rockkünstlerinnen, sieht das ähnlich: „Ich blicke mit Neugier auf eine Zukunft, in der geschlechtsspezifische Fragen nicht mehr das beherrschende Thema sein werden, aus dem Bereich der Macht entfernt werden, und dann können wir uns mit wichtigeren Fragen beschäftigen, die unser Überleben und unseren Spaß auf dem Planeten betreffen“.2 In Alex’ Texten ist das Thema „Körperlichkeit“ immer noch stark vertreten, vor allem in ihrer ersten Schaffensperiode. Auch eines der Kapitel des Gedichtbandes „Natalia ist sex. Alex ist Freiheit“ trägt den Titel „Der Körper“ und handelt von der Wahrnehmung einer Frau durch das Prisma ihres Aussehens. Aber auch in anderen Texten taucht das Motiv der Kontrolle der weiblichen Körperlichkeit und ihrer Grenzen auf, also die normative Erwartungshaltung bezogen auf Schönheitsideale (schön, schlank). Eine ähnliche Taktik wird von einigen Aktivistinnen der Body-PositiveBewegung angewandt, mit der sie Auseinandersetzungen um ihr Äußeres wirkungsvoll vorantreiben. Denn beim Körper geht es auch darum, wie die Zeit vergeht, wie sich der Körper verändert und welche Erwartungen damit an Frauen gestellt werden: „Wenn ich jünger wäre / würde ich nicht zunehmen / würde ich nicht dick werden / würde ich keine Falten bekommen / würde ich die Welt nicht in den Arsch ficken“! In der Zwischenzeit ist die PunkPerformance und der provokante Inhalt durchsetzt mit dem Kampf darum, wahrund ernstgenommen zu werden. Es ist, als ob es SIKSA nicht möglich wäre, sich eine Zeit lang mit etwas anderem zu beschäftigen. Und doch kann es bei einem Übermaß an Engagement krank machen wie Alex auf dem Album „Poskromienie złośnicy“ singt: „Ich habe Angst, dass ich mich selbst verliere, indem ich auf alles reagiere / verrückt werde“. Es stellt sich also die Frage, welche Rolle Siksa auf der Bühne übernimmt, denn, wie sie selbst auf dem Album „Zemsta na wroga“ singt: „Ich bin nicht gekommen, um dich zu belästigen / Ich bin nicht gekommen, um dich zu erschrecken / Ich bin nicht gekommen, um dich zu beleidigen / Dabei... warum bin ich hierhergekommen?“ Vor Kurzem ist SIKSAs neuestes Werk erschienen. Das von der Warschauer feministisch-queeren Initiative „Girls and Queers to the Front“ herausgegebene Buch „...and the She-Devil bangs with a bass“ von SIKSA (illustriert von Łukasz Przytarski) ist ein Punk-Libretto und eine verquere Legende, die mit zahlreichen Stimmen erzählt wird. Es ist eine subversive Geschichte über die Übernahme von Erzählungen und die Schaffung einer eigenen Sprache, die sich den Regeln entzieht und ein belebendes Chaos einführt. Seit Anfang 2023 wurde der Text von SIKSA bei zahlreichen Konzerten vorgetragen und wird auch in naher Zukunft bei LiveShows zu hören sein. 2 Andrea Juno „Angry Women in Rock, vol.1“, ReSearch, New York 1996, S. 5. „...and the She-Devil bangs with a bass“ 32


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Alex, du bist Performerin, Dichterin und Mitbegründerin der punk-feministischen Gruppe SIKSA. In dem Song „Co tam u Ciebie jest?“ / „What's Going On There With You“ singst/sprichst du darüber, dass deine größte Mutprobe darin bestand, 2019 auf die Bühne zu gehen und nicht länger die große Alexandria sein zu wollen. Das passt überhaupt nicht zu deiner extrovertierten Art... Alex Freiheit: Warum? Zu der Zeit, als ich diese Platte schrieb, war ich erschöpft. Davor haben wir zwei Platten produziert, die wir live gespielt haben. Zuerst war es ZEMSTA NA WROGA, dann POSKROMIENIE ZŁOŚNICY. Kurz gesagt: Das erste Album handelte von meinen Vergewaltigungserfahrungen, und das zweite davon, wie schwer es ist, im öffentlichen Raum über Gewalt zu sprechen. Dann erschienen zwei Personen auf der Bühne – Alex, das bin ich persönlich, der mit der von mir geschaffenen Figur SIKSA diskutierte. Ich habe mich gefragt, ob es überhaupt etwas ändert, wenn man auf so unverblümte und direkte Weise über Gewalt spricht. Ich wollte zeigen, dass das Konsequenzen hat, und nachdem ich in „Zemsta na wroga“ / „Revenge on the Enemy“ die Heldin gespielt hatte, die sich an ihren Peinigern rächt, wollte ich nicht so tun, als wäre alles in Ordnung mit mir. Das war es nicht. Ich fühlte mich machtlos, ausgebrannt, ich erfuhr so viel Schlechtes über mich, darüber, dass es nicht so sein sollte, Millionen von Meinungen, wie man es besser machen könnte, wie man es poppig machen könnte. Das waren beinahe alles männliche Kommentare. Über ZEMSTA NA WROGA: Es ist Mitte des Jahres 2017. Ein Mädchen beschließt, ihre Geschichte zu erzählen. Sie fragt sich nicht, ob es angemessen ist, sie bittet niemanden um Erlaubnis. Sie hat keine Angst, dass man sie als primitiv, als Plagegeist, als Provinzlerin ansehen könnte. Sie hat keine Angst, dass jemand ihre Worte missverstehen und so hart treffen könnte, dass der andere denkt: „Redet die etwa von mir?“ Das Mädchen lässt es unkommentiert, schließlich geht es um ihr Überleben. Das Album ist ein feministisches PunkManifest, das jedoch nicht nur als akustische Form entstanden ist. Wie im Fall von „Stabat Mater Dolorosa“1 wird die Musik auch hier visuell als 43- minütiger Film umgesetzt, der in 1 Man könnte diesen 61-minütigen Film ein visuelles Album nennen: Jeder Song der LP (Auf Discogs wird es als Non-Music bzw. Punk bzw. Spoken Word beschrieben) kriegt einen Videoclip, präzise inszeniert, zu oftmals geschrienen Texten und eindringlichem Krach. Hier wird Widerspruch zu den Verhältnissen im heutigen Polen ausagiert, laut und deutlich: https://youtu.be/k7unpwFSnNs 34


Zusammenarbeit des Duos mit dem Künstler Piotr Macha entstanden ist2 . Das Material auf „Zemsta na wroga“ erforderte von mir das Anlegen eines Schutzschildes. Aber als ich versuchte, dieses abzulegen, war das eine der schwierigsten Erfahrungen, die ich in unserer künstlerischen Arbeit gemacht habe. Und ich wollte diese Panzerung ablegen, weil man mich damals in Polen zu einem Symbol machen wollte, zu einem Denkmal, zu einer Person, die für jemanden spricht. Im Grunde genommen war es genau dasselbe, als Kathleen Hanna auftrat – die Medien haben sich seither nicht verändert. Sie verdrehen meine Worte, benutzen Clickbait3 und wollen mit mir nur über die Vergewaltigung und meine Eltern sprechen, aber nicht darüber, dass Schauspielerei und Musikmachen auf DIY-Art auch befreiend sein kann. Ich hasse es, wenn sich jemand zum Symbol für eine Sache macht. Ich hatte einfach keine Lust mehr und hatte ein Burn-Out. Fred, du zitierst in der Eingangsfrage einen Textauszug aus unserem aktuellen Material, das im September 2022 veröffentlicht wurde. Wir spielen das Material zuerst live. Es wurde zwischen dem 23.08.2019 bis zum 03.10.2020 37 Mal live in Polen, Deutschland, der Slowakei und Frankreich aufgeführt. Und erst wenn wir es fertig gespielt haben, nehmen wir es auf und veröffentlichen das Album. Es ist also genau das Gegenteil von dem, was die meisten Bands machen. Wir nennen es gerne Anti-Promotion, denn die Zuhörer*innen bekommen auf dem Album etwas völlig Neues zu hören. Wir greifen live auch nie zu älteren Songs zurück, das kommt nicht infrage. Das ist ein abgeschlossenes Kapitel, und es wird das aufgeführt, was gerade in uns ist, und deshalb nennen wir es auch Performance – hier und jetzt, nur das, was in unseren Herzen vorhanden ist. »Meine größte Mutprobe war es, 2019 auf die Bühne zu gehen und nicht so zu tun, als wäre ich die neue Alexandria.« (aus: Co tam u Ciebie jest? / What's Going On There With You?) In diesem Zitat steckt ein Hinweis auf die Vergangenheit. Damals dachte ich, dass meine größte Mutprobe darin bestand, auf die Bühne zu gehen und nicht so zu tun, als wäre ich etwas Ikonisches wie der Song „Nowa Aleksandria“ der polnischen Band SIEKIERA4 . Dwir 2 https://youtu.be/HrdBlPVL_lA 3 Clickbaits: Reißerische Überschriften, die im Internet spannende Inhalte versprechen und die Nutzer*innen zum Klicken verführen: Oftmals wird diese Köder-Technik von Nachrichtenseiten verwendet, um Inhalte zu bewerben. Fotocredit: Zemsta na wroga 35


mussten uns „gut gemeinte Ratschläge“ anhören und waren für viel eine Band mit einer Tussi, die rumschreit. Aber wir scheißen auf Erwartungen. Deshalb ist es für mich definitiv ein größerer Akt des Mutes, Schwäche zu zeigen, als so zu tun, als wäre ich eine Kriegerin, die ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr war. SIKSA ist vieles: Kunstprojekt, Riot Grrrl, Avantgarde. Was sind eure Inspirationen und Einflüsse? Alex Freiheit: Ich denke, diese Mischung kommt von allem, was wir beide wirklich lieben. Und wir lieben Kunst, vor allem Musik. Wir mögen, dass Kunst an sich schon Kunst ist, aber wir lieben auch, wie sie Geschichten erzählt, besonders Herstories. Als ich ein Teenager war, bin ich in die Welt der Filme, der Musik geflüchtet und habe ein bisschen Theater gespielt. Als ich auf dem College war, flüchtete ich vor einer missbräuchlichen Beziehung in Besuchen von Ausstellungen, Konzerte und wieder in Filme. Für mich war das alles eine Flucht und ich dachte, dass die reale Welt nicht wirklich existiert, dass sie erfunden und eine schöne Fantasie ist. Wenn ich versuche, selbst eine Künstlerin zu sein, bin ich immer wieder mit Ablehnung und Hass-Kommentaren konfrontiert, dass dies nicht angemessen, dass ich seltsam sei, dass ich naiv und zu ausdrucksstark sei. Also habe ich meine Persönlichkeit oft tief drinnen versteckt. Manchmal kam sie zum Vorschein und sagte zu mir: ‚Hey, ich bin hier, bitte lass mich raus‘. Und ich tat es in Form von Sticheleien gegen meine Eltern, was meist damit endete, dass ich weinte, mich ritzte, betete oder mit Schuldgefühlen zur Beichte ging. Wenn ich mich gegen meinen Freund auflehnte, ging das nie gut aus, aber manchmal gelang es mir, ihn fertig zu machen. Ich war damals zu schwach, wahrscheinlich war ich damals schon depressiv, aber es wurde nicht so viel darüber geredet wie heute, damit ich mir dessen bewusst wurde und mir selbst helfen konnte. Das erste Antidepressivum, das ich nahm, war die Kunst. Die eigentliche Dosis war die Begegnung mit Buri, dem Mitbegründer und Bassisten von SIKSA. Ich hatte das Gefühl, dass ich so viel Unterstützung habe, dass ich jetzt alles tun werde, was ich als Teenager immer tun wollte: Ich werde meinen Freund abservieren, ich werde mich an ihm rächen. Ich werde allen, die mir jemals den Mund verbieten wollten, das Maul stopfen. Ich werde dem Klischee des braven Mädchens entkommen. Ich werde 4 Nowa Aleksandria ist das einzige Studioalbum der polnischen Band Siekiera. Es wurde 1986 über das Plattenlabel Tonpress veröffentlicht. Das Album markiert eine Abkehr vom Punkrock-Sound der Band zugunsten der Genres Coldwave und Darkwave. Obwohl das Album in der polnischen Punkrock-Szene zunächst unbeliebt war, hat es später in der polnischen New-Wave-Szene Kultstatus erlangt und gilt heute als fester Bestandteil des Cold-WaveGenres in Polen: https://youtu.be/jkmOVw_6S7s Schaubild 1: Fotocredit: Piotr Królikiewicz 36


alles tun, was in diesem Land nicht akzeptabel ist, und ich bin nicht länger damit einverstanden, wie Menschen und alle Wesen hier behandelt werden. Wenn ich über mich und meine Erfahrungen spreche, bezieht sich das in Wirklichkeit auf die Erfahrungen anderer Menschen, weil es mehr von uns gibt und wir nicht mehr schweigen werden. Wir wollen anderen unsere Fremdheit vor Augen führen. Wir wollen antworten, wir wollen über unsere Rechte sprechen, uns Raum verschaffen und uns ausbreiten. Meine große Inspiration ist mein Leben, meine Stadt Gniezno, aus der ich komme und in der ich immer noch lebe. Ich lasse mich von Sänger*innen mit starken Stimmen und politischen und sozialen Aktivist*innen inspirieren. Die Menschen, die ich auf meinen Reisen treffe, geben mir Kraft. Ich liebe es, Märchen zu lesen. Ich bin mit männlichem Rap aufgewachsen, und dank Avril Lavigne wurde ich in der Schule nicht mehr beschimpft, weil ich täglich in Turnschuhen lief. Wann immer wir um die Welt reisen, suchen wir nach Konzerten und Aufführungen, die wir besuchen können. Manchmal lese ich gerne alte Zines und lerne aus der UndergroundVergangenheit. Manchmal hören wir uns Mainstream-Projekte an, aber wir sind uns bewusst, dass der Mainstream den Underground schon immer kopiert hat und dies auch weiterhin tun wird, weshalb wir uns für solche Kunst mit DIYVibe interessieren. Wir haben schon gesehen, wie das Theater Ideen klaut, wir haben gesehen, wie polnische Künstler*innen im Ausland für sich als schwarze Protestrebellen und die Stimme der Frauen* werben, aber das nur aus Imagegründen getan haben. Wir sind uns bewusst, dass Menschen aus politischen und sozialen Veränderungen Kapital schlagen, und deshalb wollen wir klar sagen und Grenzen setzen, woher wir kommen und wer wir sind. Deshalb nutzen wir die Medien nur, wenn wir wollen, und wir nutzen unsere Verbindungen, die wir dank SIKSA haben, auch im Mainstream in Gniezno. Hier betreiben wir seit 6 Jahren einen Ort, an dem Konzerte, Workshops und Treffen mit Autor*innen stattfinden. Anstatt ein Stück mit jemandem aufzunehmen, laden wir lieber nach Gniezno ein, um ein Konzert für Oma und Enkelin, Jugendliche, Erwachsene und ein wirklich sehr unterschiedliches Publikum zu spielen. Unser Ort heißt Latarnia na Wenei5 und wir laden euch aller herzlich zu einem kleinen Chillout dorthin ein. Wie wichtig sind Protest und Provokation für dich? Alex Freiheit: Proteste sind wichtig für mich und haben mich aufgebaut. Kurz nachdem wir SIKSA auf die Beine gestellt hatten, ging ich für sechs Monate in die Türkei und nahm dort zum ersten Mal in meinem Leben an Protesten teil. Dort sah ich, wie sogenannte ManifaProteste von Mädchen und nichtheteronormativen Menschen organisiert wurden. Dort habe ich zum ersten Mal die Aggression der Polizei zu spüren bekommen. Und dort habe ich Menschen getroffen, die von der politischen und sozialen Situation im Land ausgebrannt waren. Unser Lied „Alper Sapan forever!“ aus dem Album STABAT MATER DOLOROSA handelt von einem türkischen Anarchisten, den ich nach Polen eingeladen habe und was er hier auf der Flucht vor Erdogans Schergen erlebt hat. Nach meiner Rückkehr nach Polen fing es an, schrecklich zu werden. Im Jahr 2015 war die Gesellschaft bereits stark 5 https://www.facebook.com/latarnianawenei 37


gespalten, die Medien logen und lügen über Immigrant*innen und LGBTQ+ Menschen. Die einzige richtige Form der Opposition war für mich damals der Protest. Vor allem auf der Straße und in Form von Kunst. Nach allem, was ich persönlich erlebt habe, und aus der Perspektive von jemandem, die in einer Kleinstadt mit über 20 Kirchen lebt, ziehe ich es vor, meine Energie jetzt für das Positive zu verwenden. Ich werde immer wütend sein, aber das Aufbauen macht mir heute viel mehr Freude, als das Zerstören. Und mit Buri und Freund*innen aus Gniezno habe ich einen inklusiven Raum geschaffen, an dem so viel Spannendes und Gutes passiert. Es kommen verschiedene Menschen zu uns. Indem man verschiedene Künstler*innen einlädt, werden auch bestimmte Inhalte und Gleichstellungswerte vermittelt. Ich habe ein Leben in Blasen gelebt und da ist mir nie etwas Gutes passiert. Ich bin auch sehr empfindlich, wenn es darum geht, Kunst zu begrenzen. Im Durchschnitt verwende ich in meiner Kunst gerne den Trigger-Warn-Slogan, denn die Welt warnt einen nicht davor. Obwohl ich bei unserem aktuellen Material und dem vorherigen mehr auf Fantasie und die Schaffung alternativer Welten stehe. Sie sind immer nah an der Gegenwart und der gesellschaftspolitischen Situation, aber ich habe mich verändert und deshalb verändert sich auch SIKSA. Noch vor einem Jahr haben wir ein Märchen über eine Maus, Motten, ein Pferd und andere pelzige, geflügelte Kreaturen aufgeführt. Zurzeit haben wir live das Stück „..and the She-Devil bangs with a bass!“ gespielt, in dem es um eine gewisse Teufelin aus der Vergangenheit geht, die ich auf der Bühne verkörpere. Wir nennen es eher eine Legende, einen Mythos oder sogar ein Weihnachtslied! Die Teufelsfrau übernimmt Geschichten, zündet aus Versehen Kirchen an, ist ungeschickt und träge, hat aber auch 38


eine enorme Fantasie. Sie hat auch große Sprachprobleme, stottert oft. Das ist wie bei mir im Leben. Ich stottere und denke hundert Gedanken in der Minute, bevor ich antworte. Das war bei mir schon immer so. Aus all dem erfindet die Teufelsfrau eine neue Sprache für sich. Die einen halten es für eine Provokation, für einen teuflischen Akt, die anderen wollen aus dieser Sprache Kapital schlagen, sie verkaufen, sie nutzen. Nun, die Teufelin schneidet sich die Zunge heraus. Sie macht also eine kontroverse und provokative Geste. Ich verstehe nicht, warum es eine Provokation sein soll, sein Herz zu öffnen, seinen Mut zu zeigen und seine Gedankenwelten zu offenbaren. Es ist menschlich. Die Teufelin denkt sich seltsame Wort- und Klangkonstruktionen aus, verwandelt sich in eine Taube und die ältesten Bewohner*innen, die Herstorianer von Star-City – also der Stadt, aus der die Teufelin stammt – singen ihr zu Ehren Weihnachtslieder. Sie sieht zu, wie die leerstehenden Gebäude von den Behörden leergeräumt und von Bauunternehmern übernommen werden und scheißt auf alles. Ist das wahr? Ich fühle mich besser darin, Geschichten zu erfinden, zu erzählen und seltsame Märchen zu erfinden. Vielleicht steckt da mehr Lebendiges drin, und wenn etwas lebendig ist, dann existiert es. Und ich möchte einfach existieren. Künstlerinnen werden vielfach nicht ernst genommen oder für verrückt gehalten. Wie gehst du damit um? Alex Freiheit: Du hast völlig recht. Und nachdem ich so viele Jahre lang als geisteskrank, verrückt, besessen bezeichnet wurde, habe ich beschlossen, die Rolle des Teufels zu spielen. Ich zeige mit diesem Material auch, dass Künstlerinnen oft als teuflisch und verrückt bezeichnet werden. Das war in der Vergangenheit so und ist auch heute so. Ich habe nicht die Absicht, das zu ändern, denn es gibt viele Menschen auf der Welt, die ihre Freiheit einfordern, und zu solchen Menschen fühle ich mich hingezogen, sie geben mir Mut. Kürzlich kursierte im polnischen Internet ein Video, das sich viral verbreitete. Es handelte sich um eine reale Situation, die jemand aufgenommen und ins Internet gestellt hat. Es zeigt ein Fenster einer Scheune, aus dem die gutturalen Laute einer Frau ertönen. Einige junge Kerle rufen ‚Komm her, Hure!‘ und filmen, aber in Wirklichkeit haben sie Angst und nähern sich der Frau nicht. Nach einer Weile greifen Polizisten ein, die ebenfalls hilflos sind, weil die Geräusche, die diese Frau von sich gibt, sie erschrecken und sie sich wahrscheinlich irgendwelche Geschichten im Kopf ausdenken, dass sie es mit einer besessenen Frau zu tun haben. Ihre Hilflosigkeit ist entlarvend. Natürlich ist es auch ein sehr trauriges Video, weil diese Frau wahrscheinlich Hilfe braucht, und ich hoffe, dass sich jemand um sie gekümmert hat. Das ist sooo real, das ist kein Kunstwerk oder ähnliches. Aber es hilft mir auch darüber nachzudenken, ob die Frau es vielleicht genau so geplant hat. Dass ihre Waffe diese teuflische Stimme ist und es keinen Schwanz gibt, der sich nicht vor diesen Klängen fürchten würde. Und genau so sehe ich mich und das ist meine Strategie. So sehr „too much“ im Sinne von überdreht für diese Welt zu sein, dass die Welt ein Problem haben wird, nicht ich. Brauchen wir mehr politische, radikale Akteure in der Popkultur? Alex Freiheit: Ich schaue mir lieber etwas Abstraktes, Eskapistisches an. Politische Geschichten interessieren mich heutzutage überhaupt nicht mehr. Ich bevorzuge Geschichten, Details, kleine Erzählungen, persönliche Aussagen, anstatt zu versuchen, für die Gesellschaft zu sprechen. Vielleicht war 39


ich für viele so. Ich bereue nichts von dem, was ich früher getan habe, aber ich ziehe es vor, den She-Devil zu spielen und Musik zu machen. Denn allein die Tatsache, dass ich Musik mache, ist ein politischer Akt und eine Opposition zu vielen Dingen. Opposition kann auch für einen selbst angenehm sein. Das heißt nicht, dass ich mich jetzt weniger im gesellschaftspolitischen Leben engagiere. Ich mache nur kein endloses politisches Manifest. Welche Erfahrungen hast du mit gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen gemacht und welche Strategien dagegen hast du entwickelt? Alex Freiheit: Es ist furchtbar schwer und langwierig, über dieses Thema zu sprechen. Ich habe früher in vielen beschissenen Einrichtungen oder Branchen gearbeitet. Ich habe weniger verdient als Männer, obwohl ich besser war. Ich habe alles getan, um nie wieder so zu arbeiten. Ich bin ein Punk und ich muss nicht mit einem beschissenen Chef oder einer beschissenen Hierarchie arbeiten. Ich habe lieber kein Geld, als etwas gegen meinen Willen zu tun. Ich dachte immer, wenn ich endlich anfange, Kunst zu machen, wird es anders sein. Ich habe eine sehr schlechte Erfahrung mit der Arbeit im Theater gemacht. Ich habe allein als Darstellerin gearbeitet oder mit Buri als Darsteller. Wie auch immer, die Musik, die wir für die Aufführung „KASPAR HAUSER“ mit unserem Freund Konstanty Usenko gemacht haben, ist zum Anhören und auf der CD erhältlich. Uns gefällt, was wir gemacht haben. Aber dadurch, dass ich mit einem Regisseur gearbeitet habe, der von mir starke, brechende Gesten verlangte, der bestimmte Erwartungen an mich hatte, die ich nicht erfüllen wollte...und ich merkte, dass ich nur seine Marionette sein sollte…Dieser Mensch wird gerade für seine Leistungen ausgezeichnet, er ist der jüngste Theaterregisseur in Polen. In den Medien schwärmen alle davon, dass er so wunderbare Dinge tut. Ich könnte kotzen! Die Wahrheit ist, dass er angesagte Themen aufgreift wie Krieg, Diversität. Aber hinter der Fassade verbirgt sich ein toxischer Charakter. Wenn ich früher erfahren hätte, was für ein Manipulator er ist, wie er nur auf Beifall aus ist, wie er seine Größe auf solchen Themen aufbauen will, würde ich mir das nie mehr antun. Generell nehme ich derzeit Medikamente gegen Depressionen. Unser Hund, der uns fast von Anfang an bei SIKSA begleitet hat, ist kürzlich gestorben, ich habe Burnout, Überarbeitung und Workaholismus erlebt. Ich dachte, dass mir das in der Kunst nicht passieren würde, dass es nur Menschen betrifft, die in Unternehmen arbeiten. Wie gehe ich damit um? Neulich waren wir im Urlaub und sind in den Bergen gewandert. Es gibt alte ungeschriebene Punk-Regeln: Wenn du dich irgendwo schlecht fühlst, scheiß drauf und komm nie wieder zurück, scheiß drauf und geh in den Wald und hör den Vögeln beim Singen zu. Verirre dich irgendwo zwischen beschissenen Clubs, wo keine Tourist*innen hingehen. Kümmere dich um dich selbst und um deine Liebsten. Nimm Medikamente, wenn sie dir helfen. Und höre viel Musik oder mache deine eigene. Letzten Winter hätte ich fast alles aufgegeben. Ich fing an, SIKSA für meine psychische Gesundheit verantwortlich zu machen. Es war ein Irrglaube, dass ich mich nur auf eine andere Art und Weise verletzen wollte. Meinen Schutzengel, meine Leidenschaft und meine Freiheit zu töten. Ich bin froh, dass ich das durchgestanden habe. Ich glaube, die Drogen haben mir am meisten geholfen. 40


Wie nutzt du SIKSA, um Widersprüche und Ungerechtigkeiten sichtbar zu machen? Alex Freiheit: Ich glaube, ich habe in anderen Fragen schon ein wenig darüber gesprochen. SIKSA ist eine Musikband. Aber wir behandeln das Thema etwas breiter. Im Moment möchte ich bei Konzerten mit den Leuten tanzen und sie nicht mit dem belasten, was sie aus dem Internet kennen. Wie schon erwähnt, ich erzähle Märchen und singe abgefuckte ‚Weihnachtslieder‘, erzähle von She-Devil's Herstories und spiele die Kuhglocke. Ich sehe mich eher als Zirkusartistin, die keine bestimmte Technik beherrscht, denn als jemand, dessen Aufgabe es ist, über Ungerechtigkeiten zu sprechen. Ich spreche selbst Recht und tue, was mir gefällt, mit Stimme und Worten, mit polnischer und abstrakter Sprache, und ich mag es, wenn Menschen miteinander tanzen. Zurzeit bin ich daran interessiert, verschiedene sprachliche Erzählungen und formale Mittel in einer so begrenzten Form wie Gesang und Bassgitarre zu verwenden. Deine Rhetorik gleicht einer Poetry-SlamVeranstaltung mit musikalischer Untermalung. Wie hat dich Poetry-Slam beeinflusst? Alex Freiheit: Ich bin bei ein paar Slams aufgetreten, habe ein paar organisiert. Was mir daran wirklich gefiel, war, dass sie etwas völlig anderes waren als typische Poesieabende. Zurzeit bin ich nicht in diesem Bereich tätig. Es sind zu viele heterosexuelle Dichter dabei. In Poznań gibt es jedoch eine Initiative namens SLAMKA, die weibliche Version des männlichen Wortes SLAM. Da muss ich unbedingt hingehen, denn ich finde es gut, dass nichtheteronormative Menschen, Mädchen, dort eine Stimme haben. Ich liebe Poesie, deshalb sehe ich mich auch als Poetin. Ich denke, Rap hat der Poesie viel gebracht und wie Musik Poesie im Allgemeinen verwendet. Auch der Punkrock hat seine Vorzüge. Warum also nicht all diese Dinge kombinieren: Rap, Punkrock, gesungene Poesie? Ich denke, in diesem Sinne ist Poesie für mich inspirierend. Aber ich liebe es auch, sie zu lesen. In letzter Zeit ist mein Favorit Zuzanna Ginczanka. Sie galt als eine der talentiertesten Dichterinnen der Zwischenkriegszeit. Ihre Gedichte sind wunderschön, aber es ist schwer zu erklären, worum es darin geht. Ich denke, dass es in der Poesie um Gefühle geht, um Berührung. Und ich liebe es, zu fühlen und berührt zu werden. Warum habt ihr das Album ‚Siksa. Stabat Mater Dolorosa‘ komplett visualisiert? Alex Freiheit: Wir machen keine Videoclips zu unseren Songs, vielleicht für zwei oder drei. Außerdem hatten wir die Idee, mit Piotr Macha zusammenzuarbeiten, der ein Maler und visueller Künstler ist. Wir waren sehr neugierig darauf, wie wir zusammenarbeiten können, und es gefiel uns sehr gut. In diesem Video treten unsere Freund*innen auf. Also war es eine großartige Gelegenheit, mit diesen Talenten zu arbeiten. Die Idee war auch, das Video nicht online zu stellen, und das haben wir auch nicht getan. Wir schickten den Film an Kunstzentren, Galerien, Clubs, kleine Kinos und Squats und fragten die Leute, ob sie ihn umsonst zeigen wollen. Wir sind Kinoliebhaber*innen und uns gefällt die Idee, dass sich irgendwo auf der Welt Menschen an einem Ort treffen und der Film ohne unsere Anwesenheit gezeigt werden kann. https://www.facebook.com/xsiksax https://siksa.bandcamp.com 41


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Mad Kate Was ist der Unterschied zwischen Sex und Sexismus und wie können wir kollektiv darüber nachdenken, wie wir für die Rechte von Trans- und Queer-Personen eintreten und darüber nachdenken wie unsere Gemeinschaft sich weiterhin der Herausforderung stellen kann, unsere Identitäten in der geopolitischen Welt „zu queeren“, um systematische Unterdrückung zu bekämpfen? Fotocredit: Pamela Spitz @wanderlustwithp 45


Mad Kate (they/them) alias Kathryn Fischer ist Produzentin, Sounddesignerin, Performancekünstlerin und Autorin, die seit 2004 in der Berliner Performance- und Clubszene tätig ist und ihre einzigartige identitätsverändernde, sexpositive und performative Arbeit auf Musik, Theater und Film ausweitet. Ihre Erforschungen von Grenzen zwischen/innerhalb von Körpern, Nähe und Berührung als politische Praxis haben sie in Theatern, Kommunen, Technomansions, Gefängnissen, Kerkern, besetzten Häusern und Galerien auf der ganzen Welt bekannt gemacht, mit Projekten wie Mad Kate, HYENAZ, Mad Kate | the Tide, Kamikaze Queens, PEACHES, Bonaparte und vielen anderen Kooperationen. Mad Kate ist die eine Hälfte des Produzenten-Performer-Duos HYENAZ mit Adrienne Teicher, die mit immersiven Techno-Experimentalshows, die auf Zustimmung und Berührung basieren, auf Tournee gegangen sind. HYENAZ haben sich der Verbindung von Bewegung, Sounddesign und audiovisueller Arbeit verschrieben. Zurzeit arbeiten sie an ihrem Projekt Foreign Bodies, einer Reihe von audiovisuellen Arbeiten über Körper in Bewegung und Körper in Beziehung. Ihr neuestes Werk Audibility beschäftigt sich mit einer neuen Kosmologie des Hörens. Mad Kate arbeitet derzeit und nach und nach an S.W.E.A.T. sex.work.extraction.arts.theatrics, einem Podcast und einer Reihe von Audio- und performativen Arbeiten, die das Konzept der Performance und der Performativität des sexuellen/isierten Körpers in der Überlebens- und Kunstarbeit untersuchen. Einige dieser Stücke wurden durch die Zusammenarbeit mit Jacopo Bertacco aka TideOfSound und Sara Neidorf in ihrem PostPunkperformance-Projekt Mad Kate | the Tide erforscht. Als Co-Sängerin der Punk-Kabarett-Band Kamikaze Queens tourte Mad Kate mit unvergesslichen Live-Shows durch die europäische und amerikanische Punkrock-Szene. Als TänzerPerformance-Künstlerin ist sie mit PEACHES (als Mitbegründerin des zeitgenössischen Tanzkollektivs CLUSTERFUCK) auf internationalen Bühnen aufgetreten und bringt seit 2007 ihre genderbending Glitter-Punk-Energie in den fluffigen Punk-Zirkus Bonaparte auf die Bühnen. Mad Kate erzählt: „Ich wurde aus dem Sex heraus geboren, lebte im Körper, kam durch die Vulva, um gesagt zu bekommen, dass ich eine Pussy bin, dass ich begehrt werde, dass man Sex in mir und auf meinem Körper haben will, dass ich mich vor Sex hüten soll, dass ich eine bestimmte Art von Körper sein soll, dass ich bestimmte Dinge mit meinem Körper tun und lassen soll.“ In dem Song „Born Out of Sex“ geht es um die Unmöglichkeit, die physischen Markierungen des Körpers zu verlassen, um die Art und Weise, wie der Körper gelesen wird, und um die Erwartungen, die an ihn gestellt werden. Ein physischer Körper hat dort in der Gebärmutter gelebt, ist aus einem anderen Körper hervorgegangen. Der Körper ist aus einem Prozess des Geschlechtsverkehrs, der Schwangerschaft, der Geburt und der Elternschaft hervorgegangen, und er muss sich immer wieder mit der Art und Weise auseinandersetzen, wie er von dem Moment an, in dem er entsteht, als solcher identifiziert wird. Darüber hinaus zeigt Mad Kate mit dem Projekt sexWORKperformanceART1 eine Reihe von integrierten Live- und aufgezeichneten Performance-Arbeiten und Essays, die die Überschneidungen von Sex, Arbeit, Performance und A/Kunst untersuchen. Inwieweit ist „ein“ Körper ein autonomer Akteur, der in 1 https://www.alfabus.us/sexworkperformanceart/ 46


einer prekären kapitalistischen Wirtschaft Entscheidungen trifft, wie stehen diese Entscheidungen im Dialog mit der Intersektionalität eines Körpers und wie wirkt sich dies auf die Art und Weise aus, in der eine Person ihre Arbeit als Performance von Arbeit oder als Performance von Kunst betrachtet? »Queer ist im Wesentlichen weg von der Binarität.« Mad Kate, du erforschst die Politik der Grenzen zwischen und innerhalb von Körpern. Wie praxistauglich sind deine Ergebnisse? Danke für die Frage! Ich glaube, dass es viele Möglichkeiten gibt, dieses Gleichgewicht zwischen dem, wie wir uns als autonome Individuen verstehen, und dem, wie wir uns als vernetzt und kollektiv verstehen, zu üben. Mit anderen Worten, es geht mir um die Grenzerfahrungen zwischen unseren und anderen Körpern und innerhalb unserer eigenen Körper. Die meisten dieser Praktiken beginnen mit der Imagination, zumindest für mich. Wir können nicht wirklich sagen, dass alle unsere Körper physisch miteinander verbunden sind, und die meisten von uns können die energetischen Bindungen, die uns verbinden, nicht sehen, oder sogar die Art und Weise, wie unsere Handlungen regelmäßig andere beeinflussen. Wir müssen uns diese Dinge vorstellen oder das öffnen, was manche ein drittes Auge nennen. Manchmal wird dies als radikale Vorstellungskraft oder soziologische Vorstellungskraft bezeichnet: Es ist das Vertrauen in die Bindungen, Verstrickungen und gegenseitigen Abhängigkeiten, die wir mit unseren Sinnen wie Sehen, Hören oder Berühren nicht wahrnehmen können. Vielmehr müssen wir daran glauben oder eine Art Zustand schaffen, in dem wir den Glauben daran ausführen und dann sehen, wie dieser Glaube unser Handeln beeinflusst. Eines der Dinge, die ich seit über zwanzig Jahren praktiziere, ist die NichtMonogamie – ausgelebt in Form von offenen Beziehungen, Polyamorie und Beziehungsanarchie. Das sind alles leicht unterschiedliche Ausrichtungen in Bezug auf Sex und Beziehungen, aber im Wesentlichen lehnen sie die Idee der monogamen Sexualität und der sexuellen Partnerschaft als primärem Ort der emotionalen Versorgung ab. Da die Eifersucht in Bezug auf Sex und romantische Liebe in den meisten unserer Gesellschaften so tief verwurzelt ist, ist es besonders schwer, diese zu verkörpern und umzusetzen. Se zwingt uns dazu, unser individuelles Selbst und die feinen Grenzen zwischen unseren Bedürfnissen und dem Anliegen anderen zu überdenken. Ich lebe seit über zwanzig Jahren in einer unvollkommenen Fotocredit: Guilles Chipironet 47


Poly-Beziehung und Nicht-Monogamie. Was uns in der Poly-Praxis herausfordert, ist die Praxis der Compersion. Compersion kann in vielen verschiedenen Formen auftreten und ist nicht auf polyamore Beziehungen beschränkt. Sie kann auch in Freundschaften und anderen nicht-romantischen Beziehungen vorkommen. Wenn man sich zum Beispiel für einen Freund/eine Freundin freut, der/die eine Beförderung erhalten hat, kann das auch als Compersion bezeichnet werden. In romantischen Beziehungen kann Compersion jedoch komplexer sein, da sie oft das Bewältigen von Eifersucht erfordert. Ich bin immer noch dabei zu lernen, wie man das macht, und ich mache ständig Fehler, aber ich bleibe in diesem Prozess. Nach der Logik des Mitgefühls müssen wir auch bedenken, dass wir Schmerz und Trauer teilen, oder dass wir die Macht haben, diese Dinge zu teilen; mit anderen Worten: anderen zu helfen, ihre Trauer zu verarbeiten. Dies kann auf vielerlei Weise geschehen – ganz praktisch könnte es bedeuten, dass wir bewusster konsumieren, indem wir die Arbeitsbedingungen und die Nachhaltigkeit, unter denen die Dinge, die wir kaufen, hergestellt werden, tatsächlich berücksichtigen. Wie wirkt sich unser Handeln auf andere aus? Es kann aber auch bedeuten, dass wir herausfinden, wie wir uns auf kreative Weise mit anderen vernetzen können, um gemeinsam unseren Schmerz und unser Leid, unsere Depressionen und unsere Probleme mit der psychischen Gesundheit zu bekämpfen. Für mich bedeutet das, klein anzufangen. Vielleicht geht es einfach darum herauszufinden, wie wir unsere Unterstützungs- und Versorgungssysteme dezentralisieren können. Kürzlich habe ich mich dem Hologram-Netzwerk angeschlossen, das von Cassie Thornton gegründet wurde – ein informelles Netzwerk von Menschen, die versuchen, dezentrale und antikapitalistische Therapiemodelle zu schaffen.2 Außerdem praktiziere ich seit zehn Jahren queere Elternschaft, was bedeutet, dass ich meine Rolle als Elternteil mit zwei anderen zentralen Personen und einer Vielzahl von anderen Helfer*innen teile. Als nicht gebärender Elternteil und non-binärer Eltern-‚Dada‘ war ich gezwungen, anders darüber nachzudenken, wie Verbindungen und Bindungen zum Körper meines Kindes, das nicht biologisch mit mir verbunden ist, aufgebaut werden. Wie konstruieren wir gemeinsam die Geschichte unserer queeren Familie, um sie für andere sichtbar zu machen? Viele von uns leben in Zweierbeziehungen oder streben Zweierbeziehungen an, die für uns ein enormes emotionales Gewicht haben, vielleicht mehr, als wir oder der andere ertragen können. Natürlich erleben wir auch einen verheerenden Verlust, wenn diesen Strukturen bröckeln. Und den meisten von uns fehlen das Wissen, die Modelle und die Unterstützung, die uns helfen, generative Trennungen und positive Übergänge zu gestalten. Wie wäre es, wenn wir eine Vielzahl von Unterstützungsstrukturen mit vielen verschiedenen Menschen mit vielen verschiedenen Fähigkeiten aufbauen würden? Wie wäre es, wenn wir herausfinden würden, wie wir verschiedene Bedürfnisse mit verschiedenen Menschen 2 The Hologram ist ein mythorealistisches kollektiven Peer-to-Peer Gesundheitsprojekt. Ausgehend davon, dass wir in allen unseren Krisen miteinander verbunden sind und jede*r von uns ein bisschen krank ist, entwirft The Hologram ein virales Gesundheitsmonitoring und diagnostisches System. Dieses System der Gesundheitsversorgung basiert auf dem Modell der selbstverwalteten Solidaritäts-Kliniken in Griechenland, das dort auf dem Höhepunkt der Finanz- und Migrationskrise entwickelt wurde. 48


aufrechterhalten, erfüllen und teilen können? „Die Politik der Grenzen zwischen und innerhalb von Körpern zu praktizieren“ umfasst diese Art von Praktiken und viele andere, die ich noch kennenlernen muss. Aber im Wesentlichen geht es darum, die willkürliche Art und Weise zu erkennen, in der wir Grenzen ziehen und bestimmte Dinge zu etwas Besonderem machen, Unterschiede schaffen und bestimmte Dinge, Beziehungen oder Personen isolieren. Sobald wir das erkennen, können wir versuchen, es rückgängig zu machen. Man kann den Begriff der geopolitischen Grenze verwenden, um die Idee des „Exzeptionalismus“ oder der „Abschottung“ oder „Privilegierung“ zu verstehen. Stell’ dir eine Person vor, die einen europäischen Pass besitzt, weiß und gleichgeschlechtlich ist. Sie überquert fast jede einzelne Grenze, ohne länger als eine Minute angehalten zu werden. Obwohl sie nichts anderes getan hat, als geboren zu werden, wird ihr Körper durch den Ort, an dem sie geboren wurde, und die Farbe ihrer Haut privilegiert. Staat sagt, diese Person ist gut, diese Person kann hier sein, obwohl sie nichts Besonderes getan hat. Das ist die Art und Weise, wie wir bestimmte Beziehungen privilegieren. Wir sagen zum Beispiel, weil ich mit dieser Person Sex habe, sollte ich auch mit ihr zusammen und Elternteil sein. Weil ich mit dieser Person befreundet bin, kann ich auch erwarten, dass sie ein guter Geschäftspartner ist. Oder weil diese Person so ist wie ich (ähnlicher Rassen- oder Klassenhintergrund), wird sie die gleichen Entscheidungen treffen wie ich. Wir bauen Strukturen rund um den Exzeptionalismus auf. Wir tun dasselbe in unserem eigenen Körper, wir isolieren und privilegieren verschiedene Teile oder Elemente. Der Sehsinn wird gegenüber dem „Fühlen“ privilegiert. Die relative „Gesundheit des Körpers“ wird unterschiedlich verstanden, je nachdem, wo und wie. Der mentalen Gesundheit wird nicht so viel Raum gegeben wie der physischen Gesundheit. Wir haben auch unterschiedliche Vorstellungen von der Bedeutung von Körperteilen. Warum bitte ich um die Erlaubnis, meine Genitalien zu berühren, aber nicht meinen Ellbogen? Oder warum bestimmen meine Genitalien alles darüber, was ich tue und wer ich für dich bin, und nicht die Form meines Kinns? Wie aber lassen sich Grenzen als Ausdruck politischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse definieren? Wenn wir über geopolitische Grenzen sprechen, dann scheint sich das Verhältnis von Macht und Herrschaft in der Entstehung und Aufrechterhaltung von Grenzen im Laufe der Geschichte zu verfestigen und wieder zu verfestigen. Denk’ an die Art und Weise, wie Grenzen von kolonialen und imperialistischen Mächten willkürlich gezogen wurden, um ethnische Gruppen zu trennen oder ehemals geeinte Gemeinschaften in zwei verschiedene Nationalstaaten aufzuteilen. Es gibt zahllose Beispiele für diese Art der Beherrschung und Machtausübung durch die Errichtung von Grenzen, Mauern oder Zäunen. Tatsächlich schafft jede Grenze per Definition eine Teilung, wo vorher keine war, wo es vielleicht Unterschiede gab, die aber subtil in die nächste übergehen. Das ist so, als würde man versuchen, ein Spektrum irgendwo entlang des Spektrums aufzuteilen und dann sagen, dass eine Sache links und eine andere rechts ist. Wenn du einen Regenbogen in zwei Hälften teilen würdest – wie 49


würdest du die rechte Seite des Regenbogens nennen und wie die linke Seite? Und warum sollte man das tun? Man kann ein Spektrum nicht in ein binäres verwandeln, nur mit Gewalt und Herrschaft. Aber darüber hinaus bedeutet eine Grenze eines Nationalstaates im Allgemeinen, dass alles innerhalb der Grenze – im Allgemeinen der private Reichtum und die Körper der Bürger*innen – vor denen außerhalb der Grenze geschützt werden muss. Das bedeutet, dass die Grenze vor denjenigen geschützt werden muss, die sich auf irgendeine Art und Weise Zugang zu Privilegien verschaffen wollen, in der Regel durch militarisierte Kraft und Gewalt. Das bedeutet, dass jeder*r kriminalisiert werden muss, der/die versucht, die Grenze ohne die sogenannten richtigen Papiere zu überqueren. Aber die richtigen Papiere erhält man in der Regel nur durch den Erwerb von Reichtum oder durch die „Geburtsrechte“, und das auch nur auf eine ganz bestimmte Art und Weise. Welche Bedingungen sind notwendig, um deine eigenen Vorstellungen von Queer zu schaffen und durchzusetzen? Hmm. Nun, das Erste, was mir einfällt, ist das Praktizieren von queerem Sex und Nicht-Monogamie. Auch wenn die „queere Identität“ sicherlich eine politische Bedeutung jenseits von Sex hat, ist sie doch aus den Kämpfen von Menschen entstanden, die zwei Dinge taten: 1. nicht den geschlechtsspezifischen Erwartungen des Geschlechts entsprechen, das bei der Geburt zugewiesen wurde und 2. Sex mit Menschen praktizieren, die entweder die gleichen Genitalien haben wie sie oder auch so geschlechtsuntypisch sind, dass die Gesellschaft nicht verstehen kann, wie man sie in eine heterosexuelle Schublade stecken kann. Ich weiß, dass sich das sehr einfach anhört, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass wir vergessen, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass selbst im „liberalen Westen“ Sex überwacht wurde und Gesetze gegen Sodomie und andere Anti-LGBT-Gesetze in Kraft waren und natürlich auch noch sind! Aber wenn ich sage, dass Queer aus diesen Bewegungen hervorgegangen ist, dann ist damit auch gemeint, dass Lesben- und Schwulenkulturen und sogar Transkulturen immer noch in Binaritäten verhaftet waren: männlich und weiblich, Penis und Vulva. Das sind Überbleibsel des patriarchalen Denkens. Queer ist im Wesentlichen weg von der Binarität. Queer zu sein bedeutet für mich also im Grunde zwei Dinge, die beide Binaritäten aufheben: 1. queeren Sex, queere Asexualitäten und/oder Erotik zwischen Körpern (sich selbst und anderen) zu praktizieren, indem man die Bedeutung der Genitalien, die man hat, von der Bedeutung der Genitalien anderer Menschen, mit denen man Sex hat, entkoppelt und eine Vielzahl von Möglichkeiten eröffnet, Vergnügen außerhalb dessen zu finden, was als penetrativer Sex zwischen Penis und Vagina verstanden wird, der der Fortpflanzung dient. 2. Queer Gender in deinem Körper zu praktizieren: Das hat damit zu tun, die Genitalien, mit denen du geboren wurdest, bzw. das Geschlecht, das dir zugewiesen wurde, mit dem Geschlecht und 50


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