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Published by otto.petrovic, 2022-09-02 10:37:48

Mauna Kea Big Island Hawaii

Wer gar nicht dort ist kann auch nichts vergessen

Wochen vor der Abreise werden Listen geführt. Die Anzahl der Ersatzschläuche, das Vitamin C, das
Ladegerät für das Rücklicht - schließlich wird bei Dunkelheit losgefahren - die Sattelstütze und die
Unterwäsche, der Ersatz-Fahrradcomputer, der eigene Kopfpolster unverzichtbar in fremden Betten,
das Essen für den Monsterflug, mehr als 80 wichtige und weniger wichtige Punkte umfasst die Liste.

Natürlich werden das Rennrad und die Reisetasche am Vorabend am Flughafen eingecheckt. Doch
diesmal ist das nicht wirklich möglich. Die Beantragung der Einreisegenehmigung in die USA stand
nicht auf der Liste. Sie kann aber auch online erfolgen und dafür gibt es ja Smartphones die am
Flughafen mit dabei sind. Allerdings wird empfohlen das elektronische Antragsformular 72 Stunden
vor dem Check Inn abzusenden, nicht erst 5 Minuten. Aber es kann auch prompt gehen. Also
beginnt am Flughafen das Warten auf das Email mit der Einreisegenehmigung. Aber es kommt bis
zum Schließen des Schalters nicht. Auf der Fahrt zurück nach Hause werden Varianten
durchgespielt. Flug über Tokio, Verschiebung um diese 72 Stunden,... Nach dem Abendessen erfolgt
die Abfrage in welchem Status sich denn der Antrag befindet. Es kommt die lapidare Meldung, dass
noch keiner gestellt wurde und ein neuer, dies scheint zunächst als Marginalie, 12 Dollar kostet. Für
den vor knapp zwei Stunden gestellten wurden aber 85 Dollar bezahlt.

Gottseidank, ich bin einer betrügerischen Website aufgesessen. Vielleicht die schönsten
hinausgeschmissen 85 Dollar der letzten Jahre. Auf der echten Antragsseite kommt die Bestätigung
nach wenigen Minuten. Dass der folgende Web Check-in bei der Fluglinie nicht klappt da der
Bundesstaat Hawaii unbekannt ist sei nur am Rande erwähnt. Am nächsten Morgen ist er es wieder.

Die folgenden 26 Reisestunden bringen hingegen keinerlei Aufregung und werden mit Lesen,
Schreiben, Schlafen und Essen, übrigens hervorragenden Fisch in San Francisco, gefüllt. Der Anstieg
auf den Mauna Kea beginnt aber bereits bei der Abreise. 26 Reisestunden bedürfen einer genauen
Ernährungsstrategie um zwei Tage danach nicht mit leeren Energiespeichern stehen zu bleiben. Auch
das Jet lag von 12 Stunden soll bestmöglich verkraftet werden. Nach der Ankunft in Kona geht es über
die Saddle Road an die Ostküste ins Quartier für die ersten Tage.



Leben schaffen und zerstören

Big Island ist die entstehungsgeschichtlich jüngste aber auch die größte Insel der Hawaii-Gruppe. In
ihr haben alle anderen zusammen gleich zweimal Platz. Geprägt ist Big Island von seinen Vulkanen.
Der Mauna Kea ist schlafend aber sehr hoch, der Mauna Loa ist noch aktiv und der Kilauea ist
überhaupt der aktivste Vulkan der Welt. Aber auch der Triathlon Sport prägt Big Island. Jährlich
finden im Oktober die Weltmeisterschaften in der Langdistanz, der Ironman von Hawaii, an der
Westküste in Kona statt.

Die Inselgruppe Hawaii befindet sich mitten auf der Pazifischen Platte, der größten tektonischen
Platte der Erde. Dieser oberste Teil der Erdkruste verschiebt sich jedes Jahr um 10 Zentimeter in
nordwestliche Richtung wobei es immer wieder mit anderen Erdkrustenplatten zum Knautsch
kommt. Hierdurch schmilzt in großer Tiefe Gestein, Magma, das aufsteigt und zum explosiven
Vulkanismus führt. Als Lava tritt es dann mit über 1000 Grad an der Erdoberfläche aus. Big Island ist
die Spitze eines solchen Feuerbergs der in einer Tiefe von über 6000 Metern im Pazifik beginnt und
in Form des Mauna Kea auf 4205 Meter über dem Meeresspiegel seine höchste Erhebung hat. Die
Lavamassen des Hawaii-Archipels reichen aus um ganz Österreich mit einer Steinschicht zu bedecken
die viermal so hoch ist wie der Stephansdom.



Lavaströme begraben Leben. 1986 wälzt sich ein Lavastrom auf Big Island den Berg hinab und begräbt
dabei mehr als die Hälfte des Fischerdorfs Kalapana unter sich. Die weiteren Ströme in den Jahren 1990
und 2010 zerstören viele der verbliebenen Häuser. Heute leben in Kalapana noch verstreut einige
Spät-Hippies und verkaufen Batik-Shirts und Smoothies. Sie leben von den Touristen die in
Autobussen kommen und halb verschüttete No-Parking-Schilder und Satellitenschüsseln bewundern.

Der Vulkanismus ist aber auch eine Art Blutkreislauf der Erde und ermöglicht überhaupt erst Leben.
Durch das Zirkulieren der Magmaströme im Erdinneren begannen Vulkane Kohlendioxid
auszuspucken. Hierdurch bildete sich eine schützende Atmosphäre über der Erde welche die
Temperatur stabilisiert und Leben ermöglicht. Ohne Vulkane wäre die Erdoberfläche starr und tot und
vergleichbar mit der Oberfläche am Mars und Mond.

Erdgeschichtlich gesehen ist Hawaii sehr jung. Die Insel O’ahu entstand vor drei Millionen Jahren und
Big Island ist noch immer im werden. Der Lo’ihi benötigt noch 969 Meter um die Wasseroberfläche zu
erreichen und zur Insel zu werden. Das wird schon bald soweit sein, in etwa 50.000 Jahren. Vor zwei
Millionen Jahren begann übrigens der Homo erectus gerade das Feuer zu nutzen, zu Jagen und aufrecht
zu gehen. Aus ihm entwickelte sich dann vor rund 200.000 Jahren der Homo sapiens, der Moderne
Mensch.



Der Heilige Berg

Nicht nur Frankreich hat einen Weißen Berg, auch Big Island. Dort heißt er Mauna Kea und ist ein
erloschener Vulkan. Mit seinen 4205 Metern gehört er zu den höchsten Bergen der USA. Genau
genommen ist er sogar der höchste der Welt - gemessen vom Fuß bis zur Spitze. Allerdings liegen
6000 Meter unter dem Meeresspiegel und wären nur zu bewundern, wenn der Pazifik austrocknete.

Der Mauna Kea ist auch bekannt für seine Riesenteleskope am Gipfel. Nun soll ein weiteres Fernrohr
errichtet werden: das Thirty Meter Telescope. Ist es einmal fertig, kann es 13 Milliarden Jahre in die
Geschichte des Universums zurückblicken. Es soll nicht zufällig am Mauna Kea errichtet werden.
Dieser Gipfel bietet weltweit die besten Beobachtungsbedingungen, denn 40 Prozent der
Erdatmosphäre die den Blick hinaus beeinträchtigen würden liegen unterhalb des Vulkans und die Luft
ist extrem trocken, rein und dünn. Hawaii ist aber auch als ganzes jener Ort auf dieser Welt, der am
weitesten von allen anderen entfernt ist.

Für die hawaiianische Urbevölkerung gilt der Mauna Kea als Heiliger Berg und als Nabelschnur
zwischen Erde und Himmel. Er gehört in ihrem Glauben zur geliebten Familie - und in diese baggert
man nicht tiefe verletzende Löcher. Denn das Thirty Meter Telescope soll nicht auf den Gipfel, sondern
in ihn hinein gebaut werden. Seit dem Bekanntwerden der Baupläne demonstrieren Hawaiianer am
Gipfel ebenso wie in den Städten gegen den Bau des Thirty Meter Telescope um ihren heiligen Berg
gegen weitere tiefe Furchen zu schützen. Auch Präsident Obama hat sich in die Diskussion
eingeschaltet. Einmal im Monat sollen Einheimische Gelegenheit haben unter Begleitung von
Experten das neue Teleskop zu nutzen. Doch das war zu wenig. Der aktuelle Stand ist ein Baustopp für
das neue Thirty Meter Telescope bis zumindest ein Viertel der alten Teleskope abgebaut ist.





Aber die Hawaiianer nutzen moderne Medien um weltweit auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen.
Warum soll zwischen Naturreligion und dem Nutzen von Smartphones und Sozialen Medien ein
Widerspruch bestehen? Auch Masai tragen während sie mit Stöcken Nilpferde - die gefährlichsten
Tiere Afrikas - aus dem Camp verscheuchen unter ihren roten Tüchern Smartphones. Ebenso wie
einheimische Führer bei den Berggorillas in Uganda, allerdings werde deren Smartphones mit
Sonnenkollektoren geladen, denn Strom gibt es kaum wo. Hawaiianer nutzen moderne Medien
intensiv um ihrem traditionellen Glauben Gehör zu verschaffen und den Mauna Kea zu verteidigen.
Die Facebook Gruppe ‚Protect Mauna Kea‘ hat mehr als 16.000 Mitglieder und auf Instagram sind
unter #TMTshutdown bereits 17.000 Bilder zu finden. Die Götter sind überall.

Lobbyisten die oftmals traditionelle Medien über ihr Anzeigenvolumen beeinflussen tun sich hier
schwer die Protestbewegung totzuschweigen oder in ein anderes Licht zu rücken. Durch Soziale
Medien hat jeder Hawaiianer sein eigenes Medium und kann sich unmittelbar und unverfälscht an die
Öffentlichkeit wenden. Und sie tun dies so intensiv, dass traditionelle Medien wie Der Spiegel oder Die
Zeit umfassend über die Ereignisse am Mauna Kea berichten. Immer wieder mit Bezug auf Soziale
Medien.



Die Auffahrt auf den Mauna Kea

Auf den Gipfel des Mauna Kea führt eine asphaltierte Straße, allerdings bei über 3000 Metern
unterbrochen von einer sieben Kilometern langen Sandpiste aus feinem Vulkangestein. Sie soll auch
unasphaltiert und nur mit allradgetriebenen Geländefahrzeugen befahrbar bleiben um einen
unerwünschten Touristenzustrom zu verhindern.

Manchmal versucht ein Mountainbiker die Strecke zu bewältigen. Noch viel seltener allerdings ein
Rennradfahrer, vor allem ohne Umbauten am Fahrrad. Dafür dann gleich von Hilo an der Ostküste aus
auf den Gipfel. Vom Meeresspiegel auf 4205 Meter in einem Stück von 70 Kilometern Länge - das ist
wohl sonst nirgendwo auf dieser Welt möglich. Und danach wieder runter und zurück ans Meer nach
Hilo.

Frühstück um 3:45 Uhr morgens ist ganz normal wenn man schon zwei Stunden munter ist.
Wasserkocher und Kühlschrank sind rund um die Uhr im B&B-Quartier für alle Gäste zugänglich. Die
sorgsam eingekauften Brote, die Marmelade, der Käse und das Müsli samt Ziegenmilch bilden den
Einstieg in die gewählte Ernährungsstrategie für mehr als acht Stunden am Rad und einem
Tagesverbrauch von 7000 Kalorien - was 21 Portionen Pasta entspricht. Der Rest wird während der
Fahrt am Rad und nach der Rückkehr gegessen.



Pünktlich um 4:45 Uhr kommen Jonathan und sein Assistent Chris mit ihrem Truck. Als einheimische
Fotografen kennen sie die Auffahrt auf den Mauna Kea und stellen auch das notwendige
Begleitfahrzeug. Lieber gute Fotos als erst nach Tagen von einem Ranger gefunden werden. Es folgt
etwas für den Berichterstatter doch eher ungewöhnliches: ein Fotoshooting in einem sehr
angespannten Zustand noch vor Sonnenaufgang und unmittelbar vor der Abfahrt. Mit dem Einsetzen
der Morgendämmerung ist dann aber alles vorbei, zumindest das Shooting, und der Anstieg beginnt.
Die ersten 45 Kilometer gehen zunächst durch Regenschauer die zwar intensiv, aber nicht kalt sind. Ab
Kilometer 30 zeigen sich dann blauer Himmel und die wärmende Morgensonne. Der Wettergott ist uns
bis zur Rückkehr nach Hilo gnädig. Wären wir nicht auf der anderen Seite der Erdkugel, würden wir
schlicht von Kaiserwetter sprechen.

Die Anfahrt zur Mauna Kea Access Road ist ein Anstieg durch eine tief beeindruckende Wüste aus
Lavagestein. Die Kraft der Natur hat sie über Jahrtausende hinweg geprägt und macht die eigene noch
bescheidener. Die meiste Zeit hat der Berichterstatter nicht nur mental den Gipfel als großes Ziel vor
Augen sondern auch physisch: der Vulkan mit seinem am Gipfel glänzenden Observatorium ist
während der gesamten Anfahrt deutlich sichtbar und ein ständiger Begleiter.











Nach drei Stunden moderatem Anstieg von Meereshöhe auf mehr als 2000 Meter über dem
Meeresspiegel folgt nun die Abzweigung in die Mauna Kea Access Road und damit der weniger
moderate Teil. Die folgenden 12 Kilometer bis zum Visitor Center gleichen eher einem steilen
Alpenpass mit durchschnittlich 13 Prozent Steigung und Teilstrecken mit knapp an die 20 Prozent.
Kurz werden Erinnerungen an das Kitzbühler Horn, die Westauffahrt auf den Monte Zoncolan oder
gar den Angliru mit seinen Straßensperren durch Langhornrinder wach. Aber nur ganz kurz, denn das
was ich jetzt fahre ist ja noch immer der leichtere Teil. Auch die Seehöhe ist mit rund 2200 Metern im
Bereich des Vertrauten.

Angelangt beim Visitor Center befindet sich der Berichterstatter bereits auf 2800 Metern über dem
Meeresspiegel. Also auf der Höhe des Rettenbachgletschers und deutlich über den höchsten Pässen in
den Alpen wie dem Stilfserjoch und der Großglockner Hochalpenstraße. Es wäre bereits jetzt ein
großartiger Anstieg gewesen - aber der beginnt ja erst.























Was folgt ist eine sieben Kilometer lange Teilstrecke die nicht asphaltiert ist. Oft ist sie ganz gesperrt,
den Rest der Zeit nur für ‚4x4 Vehicles‘ geöffnet. Also nicht für Fahrräder. Der Straßenbelag besteht aus
feinem Vulkangestein und gleicht eher einem Badestrand. In Verbindung mit den bis zu 20 Prozent
steilen Anstiegen wird rasch klar, warum andere Radfahrer im Visitor Center meist auf ein Mountain
Bike mit deutlich leichterer Übersetzung aber vor allem mit den mehr als doppelt so breiten Profilreifen
umsteigen. Dies verhindert ein Versinken im Vulkangestein und ermöglich gerade noch die
notwendige Traktion. Doch es ist das Ziel mit dem eigenen vertrauten Rennrad den Gipfel des Mauna
Keas zu erreichen - wie auch immer. Auf rund 3800 Metern kommt der langersehnte Asphalt zurück.















Auch wenn die Luft sehr dünn, der Anstieg sehr steil ist - es ist wieder eine vertraute Herausforderung
für einen Rennradfahrer. Zumindest was den Straßenbelag betrifft. Die sechs Kilometer bis zum Gipfel
des Mauna Kea sind hart und durchbrechen die 4000 Meter Grenze. Bereits nach vier Kilometern sind
sehr groß die ersten Observatorien zu erkennen. Zu groß, es sind die falschen. Gottseidank fährt der
Berichterstatter rechts weiter, ein Verfahren wäre nicht so toll gewesen.

Dann wird es nochmals so richtig steil. Ob der mangelnde Sauerstoff die Sache schwierig macht oder
sonst etwas ist auch egal. Immer wieder schießt ein Gedanke durch den Kopf, der Ratschlag einer
Liechtensteiner Gruppe am Würzjoch vor zwei Jahren im ersten Rennradjahr: ‚Da musst du einfach
fahren‘.

Dann kommen die richtigen weißen Kuppeln. Das ist der Gipfel. Die Straße wird bis zum Ende ganz
ausgefahren. Der Abstieg vom Rad erfolgt vorsichtig um es nicht zu beschädigen.












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