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Mit dem Rennrad nach Kirgistan zu den Nomaden im Hochland

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Published by otto.petrovic, 2022-05-19 04:02:18

Zu den Nomaden

Mit dem Rennrad nach Kirgistan zu den Nomaden im Hochland

Der Tosor, höchster Pass von Kirgistan.

Auf knapp 4.000 m gerade einen Wolf getroffen.

Die Abfahrt vom Tosor bei strahlendem Sonnenschein.

„Kasid erklärt mir mit strahlendem Gesicht auf
Kirgisisch, dass sie hier in der Jurte mit ihren
Geschwistern lebt. In the middle of nowhere.“

Sonntag. Zum Viehmarkt und in die Geisterstadt. namenlos. Aus einem himmelblauen Lada mit weißen
Am Sonntagmorgen besuchen wir in Karakol den Wolken aus Spachtelmasse steigen zwei Männer und
kontrolliert meine Genehmigungen für das Grenzge-
Viehmarkt, der im Morgengrauen beginnt. Danach früh- biet. Wohl zwei Polizisten.
stücken wir und fahren rund 100 Kilometer in Richtung
chinesischer Grenze bevor ich wieder aufs Rad steige, Direkt an der Grenze zu Kasachstan laufen mir aus
um die tiefe Schlucht des Syry-jaz Valley zu durchque- einem einsam dastehenden Wohnwagen zwei Kinder
ren. Jetzt wird es wieder einmal sportlich. Plötzlich höre entgegen, bald folgt ihre ältere Schwester. Kasid erklärt
ich das Geräusch, das ich bei all meinen Touren am mir mit strahlendem Gesicht auf Kirgisisch, dass sie hier
wenigsten mag. Die Tatzen eines Hundes, der mich mit in der Jurte mit ihren Geschwistern lebt. In the middle
vollem Einsatz verfolgt. Meine instinktive Entscheidung of nowhere. Bei der nächsten Einsiedelei bricht gera-
fällt gegen Entgegenwerfen der griffbereiten Wurst und de ein Stier aus. Der Vater jagt ihn auf einem riesigen
gegen den Kampf Mann gegen Hund. Für beides ist es Hengst, seine beiden Söhne helfen ihm dabei. Dann
bereits zu spät, es bleibt die Flucht. Ich habe mehr Aus- wirft er sein Lasso und fängt den Stier. Die Cowboyfil-
dauer. Danach wird es für eine halbe Stunde sehr be- me meiner Kindheit sind also wahr.
schaulich. Ich radle umgeben von hunderten Schafen,
an ein Vorbeifahren ist nicht zu denken. Irgendwann Noch einige Stunden radle ich von Einsiedelei zu
biegen sie dann doch ab. Jetzt wird es beklemmend. Einsiedelei, auf der Höhe der mächtigsten Pässe der
Die Ortsschilder der verlassenen Bergbaustadt Engil- Westalpen, umgeben von großartigen Siebentausen-
chek markieren die Einfahrt in die Geisterstadt. dern. Überall winken mir Familien zu, laufen aus ihren
Jurten und bringen mir Brot und Schokolade. Dann
Montag. An der Grenze zu Kasachstan radle ich von kommen Sturm, Starkregen und Schnee. Der Fahrrad-
Einsiedelei zu Einsiedelei. Bis mich der Starkregen computer zeigt ein Grad unter Null. Irgendwann wird
erwischt. alles nicht mehr fahrbar, ich suche Zuflucht unter einem
Baum und warte auf Arnabek mit seinem Bus. Als er
Nach der Nacht in der Industrieruine starten wir eine kommt, kurbelt er sein Fenster herunter, lächelt ver-
kurze Transferfahrt zur Grenze mit Kasachstan. Wir schmilzt und fragt: möchtest du deine Regenjacke? Ich
treffen zwar vereinzelt auf Wachtürme, eine wirkliche steige ein und versuche die nächste Stunde im fahren-
Grenze gibt es aber nicht. Die war zur Zeit der Sow- den Auto irgendwie meine völlig durchnässten Sachen
jetunion nicht notwendig. Das nördlich an Kirgistan auszuziehen. Dann kommen wir wieder in Karakol an
grenzende Kasachstan ist das neuntgrößte Land der und gehen Abendessen. Die Heimfahrt wird zum Ab-
Welt, größer als Frankreich, Deutschland, Spanien, schlussabenteuer des großartigen Tages. Das erste be-
Italien, Griechenland, Großbritannien und siebenmal stellte Taxi kommt nicht. Das zweite kommt, nimmt aber
Österreich zusammen. Ich wechsle aufs Rad, um bald jemand anderen mit. Mit dem dritte können wir losfah-
zwei entgegen reitende Nomaden nach dem Namen ren, aber bald hat es Motorschaden. Das vierte findet
des Passes zur fragen, den ich gerade überquere. Er ist unser Quartier nicht.

Das Zuhause von Kasid und ihren Geschwistern.





Dank unserer Sondergenehmigungen können wir in das Grenzgebiet zu Kasachstan.

Einmal noch einen ordentlich gatschigen Pass fahren.





Ich überquere die Grenze zu Kasachstan, weil es sonst keinen Weg gibt. Begleitet von Siebentausendern.
Stundenlang alle paar Kilometer eine Einsiedelei.





An der Grenze zu Kasachstan kommt der Starkregen und macht die Straße unfahrbar.

Dienstag. Ich erreiche das erste Mal das Ufer eines Mittwoch. Meine Füße baden im Bus in fünf Liter Stu-
der größten Gebirgsseen der Welt. Ergreifend. tenmilch und ich wünsche mir einen Wunderbaum.

Ab jetzt wird es ruhig. Ein letztes Mal steige ich aufs Nun geht es mit dem Begleitbus zurück in die Haupt-
Rad und fahre auf wunderbaren Nebenstraßen zum stadt Bischkek. Gegen Mittag sind wir bei Timurs Tante
Yssykköl. So kurz sind 100 Kilometer, wenn die Straße und ihrem Mann zum Fische grillen am Ufer des Yssyk­
nicht nur aus Felsbrocken und Schotter besteht, so wie köl eingeladen. Es soll einen interessanten Perspekti-
in den letzten acht Tagen bei den Nomaden im Hoch- venwechsel auf Afghanistan und die Taliban bringen.
gebirge. Ich durchquere mehrere kleine Dörfer, mir Am Abend folgt der Besuch beim Direktor der kirgisi-
kommen lachende Kinder auf ihrem Eselskarren ent- schen Börse. Auch das wird zu einem Feuerwerk an
gegen. Irgendwie unterhalte ich mich mit ihnen, dann Gastfreundschaft.
posieren sie stolz für meine Fotos. Bei der Weiterfahrt
ein kleiner Wiesenweg und ich erreiche das erste Mal Dazwischen wird bei der Fahrt in Richtung Bischkek
das Ufer eines der größten Gebirgsseen der Welt. Das der Geruch im Bus immer unangenehmer. Ein Blick
ist schon sehr bewegend. zu meinen Füßen bestätigt meine Befürchtung: meine
Füße baden in ausgeronnener Stutenmilch. Die am To-
Bei unserem Besuch einer Moschee und eine Kirche sor Pass geschenkt bekommene Fünf-Liter-Flasche ist
zurück in Karakol fragt uns ein deutscher Reisender, ob zerbrochen und ausgelaufen. Die Rohmilch verbrach-
er für einige Kilometer in unseren Bus steigen darf. Er te mehrere Tage ungekühlt bei 30 Grad Hitze im Bus.
wandert für elf Tage allein in den kirgisischen Bergen. Arnabek und Madina wird es nun auch zu viel, sie
Begleitet nur von einer ganzen Menge Gepäck, seine halten an und reinigen ohne ein Wort des Fluchs la-
Fotoausrüstung wiegt bereits acht Kilogramm. So viel chend den Bus mit dem, was dafür irgendwie geeignet
wie mein ganzes Gepäck bei meinen Solotouren. Er erscheint. Für mich sind das letzte Paar Socken dahin
bereist vor allem Länder der ehemaligen Sowjetuni- und ich wünsche mir zum ersten Mal in meinem Leben
on, die meisten anderen auf der Welt kenne er schon. einen Wunderbaum im Auto.
Spannend, was er alles zu erzählen hat.

Am Abend essen wir großartiges Ashlan-fu, die Spe-
zialität der in Zentralasien lebenden muslimisch-chi-
nesischen Dunganen. Sie sind mit den Hui-Chinesen
ethnisch verwandt, ihr chinesischer Dialekt wird aber
mit kyrillischen Buchstaben geschrieben. Das gibt es
sonst nirgendwo. Die kalte Suppe mit Glasnudeln,
viel frischem Gemüse und Gewürzen und je nach Ge-
schmack auch mit Fleisch, ist ebenso eine wunderbare
Besonderheit.



Der Yssykköl, einer der größten Gebirgsseen der Welt



Leben an den Ufern des Sees.





Angekommen.

Die Tiere

Für kirgisische Nomaden sind Tiere das
Ein und Alles. Sie dienen als Nahrung
auf einer Höhe, wo nichts mehr für
den Menschen Genießbares wächst,
für den Transport, signalisieren Reich-
tum und sind Tauschmittel. Hauptsäch-
lich werden Pferde, Schafe und Ziegen
gehandelt, vereinzelt auch Rinder und
Kamele. Das Feilschen ist eine alte kir-
gisische Tradition, die heftigen Debat-
ten am Viehmarkt zeigen seine hohe
soziale und gesellschaftliche Funktion.







Viehmarkt in Karakol, jeden Sonntag im Morgengrauen.











Hochzeitsessen, von den Kellnern um Mitternacht im Scheinwerferlicht gebracht.

Osh Bazaar in Bischkek.





Verlassen

In Engilchek lebten einmal 9.000 Berg-
arbeiter mit ihren Familien. Sie hatten ein
Krankenhaus, eine Schule und Geschäfte.
Heute sind es nur mehr wenige Familien.
Und Zaire. Er ist vor zwei Jahren von der
Hauptstadt hier her gezogen.



„Zaire möchte nicht wieder zurück in die Hauptstadt.
Das Leben hier ist viel beschaulicher.“

Einige verrostete Schilder markieren den Beginn der decken ihn mit den mitgebrachten Utensilien. Arnabek,
verlassenen Bergbaustadt Engilchek. Eine Geisterstadt. Timur und Madina bereiten ein fantastisches Essen zu,
Zur Zeit der Sowjetunion wurde im Jahr 1956 mit dem eigentlich aus dem Nichts. Im Anschluss fahren wir zu
Abbau von Wolfram, Zinn und anderen Metallen be- den heißen Quellen von Kara-Tash, so etwas wie das
gonnen. Zur Blütezeit lebten hier 9.000 Menschen und ehemalige Thermalbad für die Einwohner von Engil-
nutzten die Wohnhäuser, Schulen, das Krankenhaus, chek. Die Anfahrt ist unglaublich, Arnabek zeigt sein
Spielplätze und alles, was zu einer Stadt dazugehört. ganzes Können als Rallyepilot. Eigentlich jeder Meter
Nach der Auflösung der Sowjetunion zogen die rus- unfahrbar, egal mit welchem Fahrzeug. Bei der Rück-
sischen Ingenieure zurück in ihre Heimat, das Wissen fahrt legt er Ketten auf, um im tiefen Schotter bei einer
ging verloren und der Betrieb war nicht mehr rentabel. steilen Rampe im x-ten Versuch doch noch hinaufzu-
Heute leben hier gerade zwölf Familien und arbeiten in kommen. Bei Sonnenuntergang mache ich einen einsa-
der mittlerweile von einem chinesischen Unternehmen men Spaziergang. Ja, es gab sie wirklich. Die Schule,
betriebenen Mine. Am Morgen treffen wird Zaire. Er das Krankenhaus, den Spielplatz. Sie sind so wie alles
ist vor zwei Jahren von der Hauptstadt nach Engilchek hier einfach verfallen.
gezogen. Er arbeitet 15 Tage in der Mine, den Rest des
Monats hat er frei. Mit der Entlohnung ist er zufrieden.
Das chinesische Unternehmen zahlt gleich viel wie er
in Goldminen bekommen würde. Zurück in die Haupt-
stadt möchte er nicht mehr. Das Leben hier ist viel be-
schaulicher.

Für mich ist die Einfahrt in die Hauptstraße von Engil-
chek eher gruselig. Ich nehme soweit das Auge reicht
nur zerfallene Blechhütten, Industrieruinen und dazwi-
schen Lehmstraßen wahr. Dann kommen mir lachende
und spielende Kinder entgegen. Die Welt ist wieder in
Ordnung. Meine Begleiter suchen nach jemanden, den
sie nach dem angeblich noch vorhandenen Gästehaus
im Ort fragen können. Schließlich finden wir es. Wir
sind die einzigen Gäste, wohl auch die ersten seit vie-
len Jahren. Für unsere Schlafsäcke finden wir ein Stück
freien Boden zwischen all dem Gerümpel, das sich im
Laufe der Zeit angesammelt hat. Unseren Gaskocher
bauen wir in der Küche auf, wischen den Tisch ab und

Anfahrt zur verlassenen Bergbaustadt Engilchek





Die Hauptstraße, in der wir unser Gästehaus suchen



Die ehemalige Schule

Hier wurde eingekauft

Wir haben das Gästehaus gefunden
Der untere gehört zur Ausstattung, den oberen haben wir selbst mitgebracht

Noch Platz im Vorraum. Einiges haben die letzten Gäste vergessen
Irgendwie geht es immer


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