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Mit dem Rennrad nach Kirgistan zu den Nomaden im Hochland

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Published by otto.petrovic, 2022-05-19 04:02:18

Zu den Nomaden

Mit dem Rennrad nach Kirgistan zu den Nomaden im Hochland

Wollte man Kirgistan in einem Wort zusammen-
fassen, wäre es wohl ‚wunderbare Gastfreund-
schaft‘. Ob in den einfachsten Zelten der Nomaden
im Hochgebirge, dem Luxushaus des Direktors der
Börse oder bei der Familie am Land ohne Fließwas-
ser. Stets ist das Esszimmer der Mittelpunkt des Hau-
ses, der Tisch reichlich gedeckt und der Gast herzlich
willkommen.

Wunderbare
Gastfreundschaft

Das Haus hat ein Wohnzimmer, eine kleine Küche, kein Fließwasser und keine Toilette. Die Eltern und ihre vier Kinder
haben den Tisch großartig für uns gedeckt

Gleich am ersten Tag besuchen wir im Umland von Die Abendeinladung liegt am anderen Ende der Ska-
Bischkek eine sehr einfach lebende Familie. Ihr Haus la und bringt Las-Vegas-Atmosphäre. Das Brautpaar
verfügt über kein Fließwasser, dafür ist im Garten ein kommt in der Stretchlimousine und wird von Musik-
Stall für den riesigen Hengst des Vaters. Beide sind band, Tänzerinnen und 200 Gästen im reichlich ge-
begeisterte Kok-Boru-Spieler, der kirgisische National- schmückten Festsaal begrüßt. Der Gastfreundschaft
sport. Eine Art Polo für Hartgesottene. Nicht nur weil tut dies keinen Abbruch, auch nicht der Völkerverbin-
statt dem Ball eine tote Ziege über die gegnerische dung. Zahlreiche der Gäste kommen direkt aus Po-
Endzone zu bringen ist. Auch, weil keine Schläger zum len, in dessen Parlament der Bräutigam arbeitet. Das
Einsatz kommen, sondern die Spieler die Ziege im vol- übliche Getränk pro Person ist eine Flasche Wodka,
len Galopp unter Einsatz all ihrer Reitkunst selbst vom daneben eine Doppelliterflasche Cola. Ich deute auf
Boden aufheben. Stolz zeigt mir der Vater seine Aus- meine Nieren und erkläre, dass ich keinen Alkohol trin-
rüstung. Aber noch viel stolzer ist die gesamte Familie ke. Das wird ohne Problem respektiert. Hätte ich auch
auf die vierjährige Tochter Dinara. Sie lernte erst vor nur mit einem Schluck begonnen, wäre das Ende bitter
einigen Monaten Sprechen, vorher war sie vollständig geworden. Um Mitternacht kommt der Trommelwirbel,
taub. Durch eine deutsche Stiftung wurde ihr ein Coch- der Saal verdunkelt sich und dutzende Kellner tragen
lea-Implantat ermöglicht. Die Mutter zeigt mir den Kof- im Scheinwerferlicht zum Klang kirgisischer National-
fer mit all den Teilen und erklärt mir auch genau, wie musik auf ihren Schultern riesige Tabletts mit noch grö-
es funktioniert. Das alles im sehr bescheidenen Heim ßeren Fleischstücken zu den Tischen. Zuvor darf auch in
der Familie. Neben einer Kochnische im Vorraum und eine Rede an das Brautpaar halten, um meine Glück-
einem kleinen Schlafzimmer für die Eltern und ihre drei wünsche zum Ausdruck zu bringen. Je länger diese ist,
Kinder hat es wie noch so oft in Kirgistan einen wirk- umso mehr Wertschätzung bringt sie zum Ausdruck.
lich großen Raum: das Esszimmer zur Bewirtung von
Gästen. Ich darf mich wie in weiten Teilen Asiens üblich
auf den Boden setzen und werden wunderbar bewirtet.
Die Familie gibt mir einen ersten Einblick in die kirgi-
sische Gastfreundschaft. Es werden noch viele folgen,
von den Bergnomaden bis zum Direktor der National-
bank. Als ich meinen Begleiter nach dem Überreichen
der von mir mitgebrachten Gastgeschenke frage, ob
ich mich finanziell an den Unkosten für das großartige
Festmahl beteiligen darf, schüttelt er heftig den Kopf.
Das würde als grobe Unhöflichkeit empfunden werden.

Aziz ist begeisterter Kok-Boru-Spieler. Der Stall für seinen riesigen Hengst ist gleich gegenüber des Wohnhauses



Dinara kann seit einigen Monaten hören. Dank eines Cochlea-Implantats

Die Abendeinladung bringt Las-Vegas-Atmosphäre mit 200 Gästen. Ich darf eine Glückwunschrede halten



Das Festessen ist schon ein wenig fleischlastig, aber ebenso voller Gastfreundschaft



Timurs Tante konnte als Studentin vom Baltikum bis Wladiwostok, von den Neusibirischen Inseln bis zur Krim reisen.
Heute könnte sie auch die restliche Welt sehen, aber nur theoretisch. Sie kann sich reisen kaum mehr leisten



Auch der Besuch einer Bar für Motorradfahrer wird spannend. Der Chef erzählt, er war vor kurzem in einem Lokal in der Mongolei.
Die Einheimischen wollten gleich mit ihm hinausgehen, um zu kämpfen. Sie erkannten an seinen gebrochenen Ohren, dass er Ringer ist



Bei der Flussquerung werde ich von einem einäugigen Quasimodo begrüßt. Er fuchtelt mit dem Zeigefinger seiner rechten
Hand ständig in Richtung Gurgel. Die Laute, die er von sich gibt, kann ich nicht deuten. Die Grimassen, die er schneidet, sind
nicht gerade beruhigend. Jetzt steigt er in sein Auto und ich verstehe seine Botschaft. Er holt wohl ein Messer, um mir damit
die Gurgel durchzuschneiden. Es kommt anders und es wird eine Flasche Wodka, samt Plastikbecher für uns alle. Quasimo-
do füllt meinen randvoll und hält ihn mir vor den Mund. Auch das ist kirgisische Gastfreundschaft.



Großartiges Frühstück gibt es immer, auch in der größten Abgeschiedenheit
Madina kann überall großartig kochen

Die am Tosor vor drei Tagen geschenkt bekommene Stutenmilch läuft im Bus aus. Jetzt wünsche ich mir einen Wunderbaum

„In Afghanistan wollen 90 Prozent der Menschen keine Demokratie,
sondern den Islam samt seinem Rechts- und Gesellschaftssystem.
Auch die Frauen unterstützen mehrheitlich die Taliban. Sie bringen
Ordnung und Stabilität und bekämpfen die Korruption.“

Wir sind bei Timurs Tante zum Fischgrillen am Ufer des wollen. Ich spreche ihn auf die Situation der Frauen an.
Yssykköl eingeladen. Ihr Mann ist Universitätsprofessor Auch die unterstützten die Taliban, sie bringen Ord-
für Immunologie und koordiniert die Pandemiemaß- nung und Stabilität und bekämpfen die Korruption viel
nahmen von Kirgistan. Das Tragen einer Maske sei sehr effektiver als eine Demokratie.
wenig verbreitet, die Impfquote liegt bei 40 Prozent,
die Anzahl der Genesenen bei 50 Prozent – was viel Und China? Die Menschen in China arbeiten sehr
effektiver sei als eine Impfung. hart und der Staat investiere so viel in Wissenschaft,
wie sonst niemand auf der Welt. 2.600 Tote in Folge
Spannend ist auch seine Sichtweise auf die aktuelle des Aufstands am Tian’anmen-Platz sind in Relation
Situation in Afghanistan nach der neuerlichen Macht- zu einer Milliarde Menschen zu sehen, die nicht mehr
ergreifung der Taliban. Zahlreiche Historiker und politi- Hunger leiden müssen. China schaut auf seine Gesell-
sche Analysten teilen seine Sicht, dass die USA das Ent- schaft als Ganzes, nicht auf einzelne Egoisten. Und die
stehen der Taliban durch ihre aktive Unterstützung der Pandemie? In den USA starben bisher bereits Hundert-
Mudschaheddin in den 1980er Jahren ermöglicht ha- tausende, weitere Massen werden folgen. Die Regie-
ben. Auch nachvollziehbar ist seine Perspektive, dass rung schaut weg. China schützt seine Bevölkerung und
Demokratie auch nur eine Ideologie sei. Ein letztlich stellt wirtschaftliche Interessen hintan.
nicht weiter begründbares Wert-Normen-System und
somit nur eines von vielen möglichen Weltbildern. Doch In Afghanistan wollen 90 Prozent der Menschen kei-
sehr verstörend ist seine Meinung, dass in Afghanistan ne Demokratie, sondern den Islam samt seinem Rechts-
90 Prozent der Menschen keine Demokratie, sondern und Gesellschaftssystem. Auch die Frauen unterstützen
den Islam samt seinem Rechts- und Gesellschaftssystem mehrheitlich die Taliban, sie bringen Ordnung und Sta-
bilität und bekämpfen die Korruption.

Fischgrillen am Yssykköl mit verstörendem Perspektivenwechsel

„Der praktizierende Muslim Erkinbek meint entschieden, die
Taliban hätten gar nichts mit dem Islam zu tun. Sie seien ganz

normale Terroristen.“

Am Abend bin ich zum Essen beim Direktor der kirgi- he aus. Auch das ist Toleranz. Die jüngere Tochter rich-
sischen Börse eingeladen. Gleich bei der Ankunft fällt tet mir als ersten an, wird aber gleich korrigiert. Ihre
mir das sehr große Haus auf, in ihm wohnen wohl meh- Mutter strickt sich die Ärmel auf, holt mit den Händen
rere Familien. Begrüßt werde ich von einer Frau, die am aus dem Fleischteller die größten Fleischstücke, legt
Boden kniet, um mit Holz den im Freien stehenden Kü- sie in die Reisschüssel, greift tief in den Plov, um ihn
chenofen nachzuheizen. Neben ihr zwei junge Frauen umzurühren, formt ihre Hände zu einer Schaufel und
mit ihren Kindern. Ich denke an eine Küchenhilfe und richtet mir auf diese Art an. Dabei meint sie, jetzt habe
begrüße sie besonders freundlich. Bald bemerke ich, ich wirklich die besten Stücke. Ihre ältere Tochter ist der
dass sie die Dame des Hauses ist, die das riesige Anwe- Tradition entsprechend für mein Teeservice verantwort-
sen mit über 1.000 Quadratmetern Wohnfläche nun- lich. Wann immer sich meine Tasse zu Ende neigt, steht
mehr allein mit ihrem Mann bewohnt. Sie komme aus sie auf, greift zur Kanne und schenkt mir nach. Nie füllt
dem Süden von Kirgistan, dort wo viele der als beson- sie meine Tasse ganz. So kann sie möglichst oft aufste-
ders gastfreundlich geltenden Usbeken leben. In einer hen, um mir zu zeigen, wie willkommen ich sei.
Art Riesen-Wok bereitet sie für uns Plov zu, mit Fleisch,
Möhren und Reis aus dem Süden. Der Riesen-Wok ist Ihre Mutter meint trotz des augenscheinlichen Luxus
der kleinere von beiden. Der andere hat wohl zwei in dem sie mit ihrer Familie lebt, dass in der Sowjetunion
Quadratmeter. Auch das ist Gastfreundschaft. vieles besser gewesen sei. Vor allem drehte sich nicht
alles so wie heute nur um Geld. Ihre beiden Töchter, die
Das Haus ist mit allen erdenklichen Hightech-Gerä- diese Zeit gar nicht erlebten, stimmen zu und unterstrei-
ten ausgestattet, der Fernseher so groß wie der Wok im chen die Sicht ihrer Mutter mit zahlreichen Beispielen.
Freien und wir essen mit Goldbesteck. Nun kommt auch Ich spreche die aktuelle Situation in Afghanistan an.
Erkinbek hinzu, der Direktor der Börse. Er begrüßt mich Der praktizierende Muslim Erkinbek meint entschieden,
freundlich und ich spüre, dass er vom Beten kommt. Be- die Taliban hätten gar nichts mit dem Islam zu tun. Sie
vor wir mit dem Essen beginnen, spricht er ein Tisch- seien ganz normale Terroristen.
gebet. Der Vater ist praktizierender Muslem und betet
zumindest fünfmal am Tag. Seine Frau und seine beiden Zum Abschied spricht der Vater ein Gebet für mich,
Töchter trinken zum Essen eine Flasche Whiskey beina- wünscht mir eine gute Weiterreise und fragt mich, ob
ich an einen Gott glaube.

Abendessen mit der Familie des Direktors der Nationalbank. Wieder ganz andere Perspektiven

Goldbesteck und Plov, das usbekischem Nationalgericht aus dem kirgisischen Süden

„Der Versuch in Afghanistan Demokratie einzuführen, hat
sich nicht bewährt. Alles was mit den USA zu tun hat, führt zu

hochgradiger Korruption. “

Egemberdiev Berdigulovich gründete nicht nur die dass diese die Geldschöpfung an Kryptowährungen
­SO­ RO-Company, einen führenden Getränkehersteller und Blockchains abgibt und selbst nur mehr die Re-
in Kirgistan, sondern auch Supara, das 40 Kilometer gulierung übernimmt. Auch ein Perspektivenwechsel.
südlich von Bischkek beheimatete Ethno-Museum. In Sehr kritisch sieht er Spekulationsgeschäfte einzelner
ihm sind riesige, originale Jurten unterschiedlicher No- Vertreter der russischen Nationalbank mit dem Rubel.
madenstämme aufgebaut und werden als Restaurants Auch meint er, der Versuch in Afghanistan Demokra-
genutzt. Auch sind zahlreiche Werkzeuge, Reitsättel, tie einzuführen, habe sich nicht bewährt. Alles was mit
Fotos und andere Exponate zur Geschichte der Noma- den USA zu tun hat, führe zu hochgradiger Korruption.
den ausgestellt. Die Taliban werden hier Ruhe hineinbringen, sie haben
Rückhalt im Großteil der Gesellschaft. Ihre radikalen
Ich werden vom Direktor der kirgisischen National- Maßnahmen sind in einer Übergangszeit notwendig,
bank und seinem Fahrer abgeholt, um gemeinsam im danach werden sie sich verändern. Ein weiterer Pers-
Supara Abend zu essen. Bereits bei der Hinfahrt erge- pektivenwechsel. Wir essen Pferdefleisch und trinken
ben sich sehr interessante Gespräche zur Literatur und Kumys, vergorene Stutenmilch. Zum Abschied erhalte
Geschichte, zum Finanzwesen sowie über die Situati- ich als Gastgeschenk eine Erinnerungsmedaille der
on in Russland und China. Auch als Direktor der Na- Nationalbank.
tionalbank kann sich mein Gastgeber gut vorstellen,

Pferdefleisch als Festtagsspeise

Das kirgisische Nationalgetränk Kumys, vergorene Stutenmilch

August 2021

05

Flug über Istanbul nach Bischkek

06

Gespräch im Ministerium mit dem Leiter der Rechtsabteilung,
Besuch des tauben Mädchens, Motorradbar

07

Besuch Osch-Markt, Leiter Sozialabteilung, Mittagessen
bei Tante, Hochzeitsfest

08

Beginn der Tour, Anfahrt mit Jeep, über den Kalmak Ashu
Pass zum Songköl in das Jurten Camp

09

Von der Songköl-Hochebene in den Süden nach Baetovo

10

Pferdefleischsuppe zum Frühstück, über MELS-Pass nach
Tash Rabat

11

Über Torugart Highway an die Grenze zu China

12

Trekking zum Kölsuu See, Transfer nach Naryn

13

Ins Jyluu-Suu-Tal zu den heißen Quellen, bei Regen im Zelt

14

Am Torso Pass ins Schneegestöber

15

Viehmarkt in Karakol, Geisterstadt Engilchek

16

Im Starkregen den Grenzfluss zu Kasachstan
entlang nach Karakol

17

Zurück in der Zivilisation, an die Ufer des Yssykköl

18

Fischgrillen am Yssykköl, ausgeronnene Stutenmilch im Bus,
Essen bei Direktor der Börse in Bischkek

19

Essen mit Direktor der Nationalbank, Pferdefleisch und Stutenmilch

20

Tag in Bischkek, Frunse Museum

21

Rückflug nach Wien mit wunderbarem Empfang

22

Scooter Tour in Wien



Zu den Nomaden

Die Nomaden von Kirgistan leben mit ihren Tieren umgeben von Siebentausendern im
Tian-Shan. Ich besuche sie in ihren Jurten und Einsiedeleien im zentralasiatischen Hoch-
gebirge an der Grenze zu China und Kasach­stan. Finden kann sie nur, wer sich mit

Pferd, Geländewagen oder Rennrad fortbewegt.
August 2021

WEIRD

Eigenartig, seltsam, unheimlich und sonderbar. Meist jene Menschen und Kulturen, die
wir mit dem Rennrad erfahren. Eigentlich sind es aber die anderen achtzehn Prozent der

Weltbevölkerung. Wir.

Um ein wenig mehr von der Vielfalt unserer Erde und den Weltbildern ihrer Menschen zu erfahren.
Otto Petrovic. Fotos, Text, Gestaltung.


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