Kapitel 1
Am Anfang war die Dunkelheit
Lautes Donnergrummeln hallte über die mit Schnee bedeckten Felder, die sich
weit übers Land ausdehnten. Turid, die jüngste Tochter des Händlers Magno,
der schon seit vielen Monden nicht mehr bei seiner Familie war, zuckte er-
schrocken zusammen und murmelte: „Thor hat einen Riesen umgeschubst!“ Sie
raffte ihren Rock trotz der Kälte bis über die Knie und lief so schnell, wie die
Schneedecke es zuließ, zurück in das Haus ihrer Eltern. Erneut grollte es am
Himmel. „Und noch einen …“ zischte Turid, als sie das Haus betrat und sich
die klammen Finger am Feuer wärmte. In dem lang gestreckten Gebäude war
es wohlig warm, aber auch dunkel, denn jetzt im Winter waren die Luken am
Stall und an der Kochstelle verschlossen und die Feuerstelle in der Mitte des
Hauses gab nicht viel Licht.
„Thor ist heute übel gelaunt“, sagte sie zu ihrer Mutter. „Er schubst einen Rie-
sen nach dem anderen um.“
Die Mutter lachte. „Hab keine Angst, mein Kind. Die Riesen sind weit weg.
Ich habe bei uns im Dorf noch keinen zu Gesicht bekommen. Und ich kenne
auch niemanden, der je einen gesehen hat. Sie leben am Ende der Welt, dort,
wo wir niemals hinkommen. Wir hören nur den Lärm, wenn sie umkippen und
die Erde erzittert. Du brauchst dich also nicht zu fürchten.“ Liebevoll strich sie
ihrer Tochter über den Kopf. „Mir wäre es allerdings auch lieber, Sol würde
den Sonnenwagen antreiben und uns endlich wieder mehr Licht und Wärme
schicken. Dieser Winter dauert einfach schon viel zu lange!“
„Kommt Vater dann zurück? Dann, wenn das Eis getaut ist und das Meer sein
Wellenpferd wieder trägt und er zurückrudern kann?“
„Ja, wenn der Winter endlich vorüber ist, wird auch dein Vater wieder hier
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sein“, sagte Thruda. Sie strich ihrer Tochter über den Kopf und murmelte leise:
„Hoffentlich ist er nicht bei Rán.“
Turid horchte auf. Rán ist die Frau des Meeresgottes Ägir. Sie herrscht über das
Reich der Ertrunkenen. Ein Schauer lief Turid über den Rücken und eine Träne
rann ihre Wange hinunter. Gleich morgen werde ich an den See gehen und Rán
ein Opfer bringen, beschloss Turid. Sie darf Vater nicht zu sich holen! Gegen
diese Sorge half auch kein beruhigendes Wort der Mutter. Ihr Vater war einfach
schon zu lange fort.
Die ersten Herbstwinde hatten das Segel seines Bootes aufgebläht und es von
der Küste fortgetrieben. Bis zum Einbruch des Winters wollte er zurück sein,
mit einem Schiff voll beladen mit Pelzen, Gewürzen, Silber und Seide. Und
vielleicht brachte er auch eine neue Magd mit, denn die alte Magd hatte ge-
heiratet und war fort gegangen. Turids Vater segelte mit all den Handelsgü-
tern fort, die das Dorf zu bieten hatte. Jeder hatte seinen Beitrag geleistet und
Magno und seiner Mannschaft nicht nur gute Wünsche mitgegeben, sondern
auch Gürtelschnallen aus Walrosszähnen geschnitzt, Kämme und Trinkgefäße
aus den Hörnern ihrer Rinder und Pelze, die es nur bei ihnen im hohen Norden
gab. Seehundfelle waren sehr beliebt und wenn Magno geschickt verhandeln
würde, konnte er für einen Arm voller Felle sogar eine junge, kräftige Magd
erhandeln. Das ganze Dorf wartete sehnsüchtig auf die Rückkehr des Handels-
schiffes. Nicht nur Turid, ihr Bruder und natürlich ihre Mutter. Doch sollte Rán
Magno zu sich geholt haben, bedeutete das, dass er niemals zurückkommen
würde. Und das Schiff auch nicht. Hatten sie Ägir, dem Meeresriesen vielleicht
nicht genügend Opfergaben geschenkt?
Turid überlegte. Sie erinnerte sich ge-
nau an den Tag der Abfahrt. Alle
Männer, Frauen und Kinder
aus dem Dorf hatten sich
am Anleger versammelt
und dem Fjord das
übergeben, was sie
entbehren konnten.
Äpfel waren ebenso
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in die seichten Wellen geworfen worden, wie Schwerter und Fässer mit Fischöl.
Alles Geschenke für den Meeresriesen, damit er glücklich war und die Wellen
der Meere nicht über dem Boot brechen ließ. Sie wollten Ägir milde stimmen,
damit Magno und seine Männer ohne Schaden zurück in die Heimat kommen
würden. Aber er war nicht zurückgekommen. Bis jetzt nicht.
Aber vielleicht war Magnos Verschwinden nicht das Schlimmste, was passieren
konnte. Vielleicht war alles ja noch viel schlimmer!
Turids Bruder Askon war zu ihr ans Feuer getreten und zischte seiner Schwes-
ter zu: „Vielleicht steht das Ende bevor: Ragnarök!“, sagte er so bedrohlich,
dass Thruda sich mit strafendem Blick an ihren Sohn wandte. „Damit scherzt
man nicht!“ Askon verstummte augenblicklich. Erst als seine Mutter mit dem
Melken der Ziegen beschäftigt war, wagte er die düstere Prophezeiung erneut
zu erwähnen.
„Wenn der Fimbulwinter beginnt und drei Winter hintereinander folgen, ohne
Sommer, ohne Licht, dann bekämpfen sich die Götter solange, bis alles Leben
erloschen ist! Asen gegen Wanen, Reifriesen gegen Trolle, jeder gegen jeden –
bis am Ende kein Herz mehr schlägt.“ Askon rollte mit den Augen und warf
seinen Kopf in den Nacken, bevor er weitersprach. „Und dieser Winter geht
schon viel zu lange. Die Sonne will einfach nicht mehr richtig scheinen, Turid.
Ist dir das nicht auch schon aufgefallen? Wahrscheinlich hat der Wolf Skalli
Sol auf ihrem Himmelwagen schon längst eingeholt und ist bereits dabei, sie
zu verschlingen.“ Askon riss seinen Mund auf und heulte furchteinflößend:
„Uhhaaagggrrr!“
In diesem Moment ertönte aus der Ferne ein Horn.
„Ist das das Gjallarhorn?“ Entsetzt riss Turid die Augen auf. Sollte ihr Bruder
recht haben und Heimdall bläst bereits in sein Gjallarhorn, um den Anfang vom
Ende zu verkünden?
Aber nein, das hörte sich nach einem Jagdhorn an. Und besonders kräftig wur-
de es wohl auch nicht geblasen, beruhigte sie sich.
Turids Gedanken kreisten trotzdem. Sie drehten sich um die Entstehung der
Asen, der Wanen, der Menschen, der Reifriesen und der Trolle. Sie versuchte
alles zu erfassen, was sie jemals über die Entstehung der Welt gehört hatte.
In ihrem Kopf purzelte so vieles durcheinander. Es dauerte eine Weile, bis sie
beginnen konnte, das Wirrwarr zu ordnen. Sie setzte sich auf das mit Fellen
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ausgepolsterte Podest nah der Feuerstelle
und zog fortwährend mit einem Stock
Spiralen in den sandigen Boden, während
sie ihre Gedanken zum Anfang steuerte.
Hin zu der Zeit, als es die Welt, wie sie
sie kannte, noch nicht gab.
„War am Anfang wirklich alles dunkel?“,
fragte Turid ihren Bruder, der sich zu ihr
auf die Felle gesetzt hatte, die die Stroh-
matten ihrer Schlafstätte bedeckten.
„Mach die Augen zu, Turid“, bat er sie. „Was siehst du jetzt?“
„Nichts“, antwortete Turid und presste ihre Hände fest vor die Augen. Alles ist
dunkel.“
„Ja, genau so war es, bevor irgendetwas entstanden ist. Es gab nichts. Dann
kam der Nebel.“
„Woher?“, fragte Turid und nahm die Hände wieder vom Gesicht.
„Das weiß niemand. Noch nicht einmal Vater. Aber irgendwann gab es die rie-
sige Schlucht Ginnungagap zwischen zwei Orten. Das hat Vater mir erzählt.“
„Ja, mir auch. Niflheim, die dunkle Welt im Norden, lag auf der einen Seite der
Schlucht, und Muspellheim, die feurige Welt im Süden, auf der anderen Seite.
Richtig?“
„Ja. So hat Vater es erzählt.“
„Und woher weiß Vater das?“, fragte Turid nach.
„Von einem Skalden. Als er noch ein Kind war, kamen oft Skalden in sein Dorf,
die ihm und all den anderen Dorfbewohnern Geschichten erzählt haben. Aber
auch die Wahrheit. Ganz bestimmt auch die Wahrheit! Die Skalden wissen näm-
lich alles!“, sagte Askon mit ernster Stimme.
„Und woher wissen die so viel?“
„Von ihren Vätern. Und die wissen auch alles von ihren Vätern. Skalden sind
Geschichtenerzähler. Sie handeln nicht, sie jagen nicht, sie fischen nicht. Ihre
Aufgabe ist es, die Geschichten der Welt weit über die Länder zu verbreiten.
Und ihr Wissen ist so alt wie die Welt selber.“
„Dann muss es ja wahr sein.“ Turid legte nachdenklich den Kopf zur Seite. „In
Niflheim war es ganz kalt, hat Vater gesagt. Frostig und neblig war es dort.“
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Turid bibberte kurz bei dem Gedanken, dass es in Niflheim nie Sonne und Licht
gegeben hatte – nur klirrende Kälte und Nebelschwaden.
„Ja, und in Muspellheim war es ganz heiß, denn dort gab es nur Feuer. Tausen-
de von Funken wehten über die Schlucht“, ergänzte Askon.
Die beiden Geschwister hatten die ganze Geschichte der Entstehung der Welt
schon oft von ihrem Vater gehört. Aber in diesem Moment dachte Turid nur an
Niflheim und Muspellheim. Sie meinte förmlich das Knacken zu hören, wenn
sich ein Spalt im Eis von Niflheim auftat. In Gedanken sah sie all das kalte Was-
ser durch die Spalten in die Höhe schießen, so, wie ihr Vater es ihr beschrieben
hatte. Es spritzte höher, immer höher, bis das Wasser schließlich in den Schlund
stürzte. Im selben Augenblick gefror es zu Eis. Tanzende Funken aus Muspell-
heim fielen auf das Eis und hier und da schmolz ein bisschen davon. Die heißen
Funken hatten viel Kraft. Sie waren stark genug, das Eis zum Schmelzen zu
bringen. Die kühlen Nebel aus Niflheim konnten gar nicht so schnell über die
getauten Löcher im Eis wehen, um sie alle wieder zu gefrieren. Es war wie ein
Kampf zwischen Feuer und Eis tief unten in der Schlucht Ginnungagap. Immer
wieder begann das Eis zu schmelzen. Und irgendwann erweckte die Wär-
me der Funken ein Wesen aus Eis zum Leben. Ein Wesen, das den Menschen
ähnlich war, aber viel, viel größer. Ymir, so hieß das Eiswesen, war der größte
Riese, den es je gab. Ymir war nicht das einzige Wesen, das aus dem geschmol-
zenen Eis hervorgegan-
gen war. Auch eine Kuh
kam aus dem Eis her-
vor, die hieß Audhum-
bla, die Milchreiche.
Das fiel Turid ein, als
eine ihrer Kühe unruhig
wurde und ein paarmal
laut muhte.
„Was hat sie nur?“, frag-
te Turid ihren Bruder.
„Vielleicht Hunger“,
vermutete Askon und
sprang auf. Turid folgte
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ihm die zehn Schritte zum Stall, der unter demselben Dach lag wie ihr Schlafla-
ger und der Rest des kleinen Hauses.
„Mutter kommt gleich zu euch“, sagte Askon und tätschelte den Hals der Kuh,
während er einen fragenden Blick zu seiner Mutter warf, die gerade die Ziegen-
milch vom Eimer in eine Kanne füllte. „Heute gibt es wieder etwas von dem
Heu, das Vater und ich im Sommer für euch geschnitten haben und danach
melken wir auch euch.“
„Ob Ymir auch den Hals der ersten Kuh streichelte, nachdem sie sich aus dem
Eis befreit hatte? Irgendjemand muss sie ja beruhigt haben, wenn sie unruhig
wurde. Und außer Ymir und ihr gab es ja sonst niemanden“, überlegte Turid
laut.
„Zumindest hat er sie gemolken. Wieder und wieder. Sie hat so viel Milch gege-
ben, dass der Riese immer satt wurde.“
„Audhumbla war ja auch eine Riesen-Kuh mit riesigem Euter!“, sagte Askon
und deutete mit seinen Händen einen gigantischen Umfang des Euters der
ersten Kuh an. „So groß war es! Und noch viel größer!“
Turid überlegte. Ja, so musste es wohl gewesen sein. Es gab also einen Riesen
und eine Kuh. Sie wusste auch noch, wie die Geschichte weiter ging.
Nachdem Ymir die Kuh gemolken hatte, war er satt und zufrieden. Die Kuh
war es auch. Sowohl zufrieden als auch satt. Auch sie musste die neue Welt erst
erkunden und schnüffelte an jedem Stein, den sie fand und sah sich alles um sie
herum ganz genau an. Viel gab es zwar nicht zu sehen, aber das wenige er-
freute sie und sie wackelte aufgeregt mit den Ohren. Bis ihre Ohren schließlich
vor Aufregung zuckten! Audhumbla hatte etwas entdeckt! Vor ihr lag ein mit
Reif bedeckter Stein, an dem sie – nicht wissend, was genau dort vor ihr lag,
geleckt hatte. Der Stein schmeckte köstlich, würzig und salzig. Sehr salzig. Das
gefiel Audhumbla ganz besonders gut. Sie schlabberte und leckte und konnte
gar nicht genug von dem wohlschmeckenden Stein bekommen. Immer wieder
leckte sie an dem Stein – tagelang. Zuerst hatte sie gar nicht gesehen, dass ein
Haar aus dem Stein hervorgekommen war. Sie hat einfach weiter geleckt und
so einen Kopf freigelegt. Das hat sie aber nicht davon abgehalten, weiter das
köstliche Salz von dem Stein zu schlecken. Sie hatte nur einmal verwundert
geschnaubt und dann auch schon weiter ihre riesige Zunge über den Stein
gezogen. Das hatte sie so lange getan, bis ein ganzer Mann aus ihm hervorge-
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kommen war.
Daran musste Turid denken, als ihr Blick auf den immer kleiner werdenden
Salzstein fiel, der mit einem Loch versehen und einer Schnur durchgezogen
angebunden im Stall hing. Doch aus diesem Stein würde kein Mann hervor-
kommen – noch nicht einmal ein klitzekleiner. Ganz zu schweigen von einem
neuen Gott. Und das bedeute wohl, dass nicht aus jedem Salzstein ein Gott
hervorkam. Audhumbla dagegen hatte also einen ganzen Mann herausgeleckt.
Nein, keinen einfachen Mann. Es war Buri, der erste Gott, den die Urkuh freige-
legt hatte. Wer weiß, wie lange Buri noch in dem Stein versteckt gelegen hätte,
wenn Audhumbla ihn nicht befreit hätte. Vielleicht wäre dann alles ganz anders
gekommen.
Der erste Gott in der neuen Welt war ein Ase. Er bildete das Göttergeschlecht
der Asen.
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Kapitel 2
Von Riesen und Trollen
Erneut ertönte das Horn, dessen Klang Turid so erschrocken hatte. Dabei waren
es ja eigentlich eher Askons düstere Worte, die sie an Ragnarök erinnerten und
somit in drehende Gedanken gestürzt hatten.
Turid zog das dichte Schaffell zur Seite, das vor der Eingangstür zu ihrem Zu-
hause hing und trat hinaus ins Freie. Eine eisige Brise blies ihr ins Gesicht und
ihr Atem stieg als kleine Wölkchen auf. Turid sah in alle vier Himmelsrichtun-
gen und hielt die Ohren in den Wind. Wieder hörte sie das Horn.
Heimdall bläst nur einmal zur großen Schlacht, nicht dreimal, beruhigte sie sich
in Gedanken. Aber wer blies jetzt in das Horn? Und warum? Die Männer, die
nicht mit ihrem Vater, dem Häuptling ihres kleinen Dorfes, vor vielen Monden
mit dem Schiff aufgebrochen waren, um als reiche Männer zurückzukehren,
sind gestern erst von der Jagd zurückgekommen. Die Waldschnepfen waren
gerupft, dem Reh das Fell abgezogen und auch die Hasen baumelten bereits
kopfüber von den Decken. Zur Jagd blies zu dieser Zeit gewiss niemand. War-
um also ertönte immerzu das Horn? Und noch dazu so schwach?
Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Weit konnte Turid nicht blicken.
Plötzlich hörte sie schnelle Schritte im Schnee. Das Knirschen kam näher. Gleich
darauf erklang das Lachen eines Kindes.
„Nanno, gib mir das Horn zurück!“, hallte es durch die kleine Gasse, die vor
Turid lag. Einen Wimpernschlag später hatte der kleine Nanno Turids Knie
fest im Griff. Liebevoll strich Turid ihm über den Kopf. „Du kannst dich nicht
hinter mir verstecken. Husch rein, Askon versteckt dich dort!“, zischte sie ihm
zu und schob ihn ins Haus.
Turid lachte erleichtert auf. Wie hatte sie ein einfaches Jagdhorn, geblasen von
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einem kleinen Kind, nur für den Ruf eines Gottes halten können?
„Hast du Nanno gesehen?“, fragte Leif, einer der älteren Krieger, der mit einem
Dutzend anderer Männer zurückgeblieben war, um das Dorf notfalls vor An-
greifern zu verteidigen. „Mein Junge hat heute nur Unfug im Kopf“, stöhnte er.
„Nanno? Nein, den habe ich nicht gesehen“, flunkerte Turid und schüttelte den
Kopf. Ihr wurde ganz heiß bei dieser Schwindelei. Sie wusste, dass auch die
Götter einst geschwindelt hatten und schluckte das aufkommende Unbehagen
herunter. Aber sie wusste auch, dass sie eigentlich nicht Lügen sollte.
Lachen drang aus dem Haus und Leif riss die Tür hinter Turid auf und rief auf-
gebracht: „Hab ich es doch gewusst! Du kleiner Racker, ich ziehe dir die Ohren
lang!“
Nanno hatte sich selbst verraten. Turid zuckte mit den Schultern und folgte
Leif kurz darauf zurück ins Haus. Lächelnd sah sie Nanno an, der bereits auf
den Knien seines Vaters nah der Feuerstelle saß und sich anhören musste, dass
das Horn nur bei Gefahr und zur Jagd geblasen wird. Er hätte das ganze Dorf
mit dem Blasen ins Horn aufschrecken können. „Die anderen Männer liegen
offensichtlich alle vollgefressen und faul in ihren Hütten“, fuhr Leif fort, „sie
hätten jetzt aber auch aufgebracht davorstehen können. Und dann hättest du
dir mehr anhören müssen als jetzt von mir.“ Thruda stand daneben und nickte
mit ernster Miene zustimmend.
Nanno versteckte verlegen sein Gesicht in den Armen seines Vaters und über-
gab ihm das Horn.
„Guter Sohn“, lobte Leif und nahm das Horn an sich.
Turid betrachtete die beiden mit einem kleinen Lächeln. Wenn sie groß war,
würde sie bestimmt auch Kinder haben.
Wenn Freya, die Göttin der Liebe, es gut
mit ihr meint, vielleicht sogar drei oder
vier Kinder. Wo kamen die Menschen
überhaupt her? Und die Riesen, die Zwer-
ge und die Trolle? Turid überlegte.
Auch Ymir, der erste Reifriese, hatte einen
Sohn. Und eine Tochter. Und noch einen
Sohn, der aber anders war als die ersten
beiden Kinder des Riesen. Ganz anders.
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Nicht nur die Kuh, die so fleißig an einem Salzstein leckte, bis ein Gott daraus
hervorkam, vollbrachte Ungewöhnliches. Auch Ymir lag nicht einfach nur
unnütz herum. Er schwitzte. Selbst wenn er nichts tat, schwitzte er. Die warmen
Funken, die noch immer vom feurigen Muspellheim heraufstoben, brachten
Wärme mit – viel Wärme, wenn nicht sogar Hitze! Kein Wunder also, das Ymir
fortwährend schwitzte. Und aus seinem Schweiß, der die Achseln hinunter-
tropfte, entstanden zwei neue Riesen. Ein weiblicher, und ein männlicher Riese.
Als Ymirs Füße mitbekamen, was andere Teile von Ymirs Körper vollbracht
hatten, wurden sie rasend vor Eifersucht. Sie wurden ganz hibbelig und zuck-
ten immerzu, bis auch ihnen eine Glanzleistung gelungen war. Ymirs linker
und sein rechter Fuß hatten sich gepaart und herausgekommen war ein wei-
terer Sohn. Allerdings hatte dieser dritte Sohn sechs Köpfe. Ymirs Füße hatten
den ersten Troll gezeugt.
Es dauerte nicht lange, bis immer mehr Riesen und Trolle die neue Welt be-
völkerten. Und obwohl es immer mehr Geschöpfe gab, war es eine friedliche
Zeit. Es gab weder Streit noch Krieg. Die Asen und die Riesen lebten freund-
schaftlich zusammen. Buri, der erste aller Götter, zeugte sogar ein Kind mit
der Tochter einer Riesin. Sie nannten ihren Sohn Odin. Odin bekam noch viele
Geschwister. Auch Ymir, und ebenso seine Kinder, zeugten noch viele, viele
Geschwister. Viel mehr, als Odin und seine Brüder Vili und Vé gut fanden,
denn das Geschlecht der Trolle und Riesen war bald in der Überzahl – die Asen
eindeutig in der Minderheit. Sie fühlten sich unterlegen. Überall wo man auch
hinschaute, tobten Trolle und schritten Riesen umher. Das musste ein Ende ha-
ben, befanden Odin und seine Brüder. Bevor Ymir noch mehr Trolle und Riesen
hervorbringen konnte, überfielen Odin und seine Geschwister den Riesen im
Schlaf und töteten ihn. Aus Ymir strömte im Sterben so viel Blut, dass seine
Kinder darin ertranken. Vielleicht ertrank auch die Kuh Audhumbla. Zumin-
dest wurde sie nach Ymirs Tod nie mehr gesehen. Nur zwei Kinder Ymirs
konnten sich retten, das waren der Riese Bergelmir und seine Frau. Von allen
anderen fehlte nach diesem Blutstrom jede Spur.
Jetzt waren die Götter in der Überzahl. Und sie waren sehr zufrieden damit. Sie
wollten Großes erschaffen – eine neue Welt!
Bevor Turid sich weiter um die Entstehung der ersten Welt und ihrer Bewohner
Gedanken machen konnte, wünschte sie erst einmal dem kleinen Nanno und
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seinem Vater eine gute Nacht. Nanno war bereits auf dem Schoß seines Vaters
eingeschlafen, also flüsterte sie, als sie Leif verabschiedete. Auch Askon hauch-
te nur einen leisen Gruß zur Nacht.
Laut wurde es erst wieder, als ihre Mutter angefangen hatte, mit Kesseln und
Schüsseln herumzufuhrwerken. „Askon, bitte schür das Feuer und leg zwei
Holzscheite nach, bevor nur noch Asche übrig ist“, bat Thruda ihren Sohn. Tu-
rid nahm den Kessel entgegen, den ihre Mutter ihr reichte und hängte ihn, mit
Milch und Wasser gefüllt, über das Feuer. Drei Hände voll Buchweizen schöpf-
te sie aus dem Vorratstopf und ließ die getrockneten Samen in den Topf rieseln.
Sie wusste noch genau, wie sie die kleinen, würzigen Samen im vergangenen
Sommer gesammelt hatte. Mit ihrer Freundin Ava, der Tochter des Fischers,
war sie durch die Wiesen gestreift und hatte nach den wild wachsenden Grä-
sern Ausschau gehalten. Sie hatten sie gepflückt und der Mutter zum Trocknen
gegeben. Sie mussten ganz behutsam mit den Stängeln umgehen, denn die
wertvollen Samen saßen sehr locker und fielen leicht heraus. Fangen spielen
mit einer Hand voll Buchweizen war verboten! Das hatte Turids Mutter den
beiden Mädchen noch zugerufen, als sie sich aufgemacht hatten, die Wiesen
zu durchkämmen. Ach, es war wunderschön gewesen, unter der Wärme der
prallen Sonne durch die Wiesen und Felder zu laufen und den würzigen Duft
des Spätsommers in der Nase zu haben. Turid vermisste die warme Jahreszeit.
Ganz besonders vermisste sie die vielen Gerüche, die in der Jahresmitte in der
Luft gelegen hatten. Es roch nach gedroschenem Gras, nach salziger Meeresluft
und nach saftigem Obst. Alles roch nach Leben.
Jetzt im Winter waren nicht nur die Seen gefroren, es schien Turid so, als wäre
auch das Leben erstarrt. Wer nicht vor die Türe gehen musste, blieb im Schutz
seines Hauses und wartete ab, bis der erste laue Frühlingswind wieder über
das Land zog und den Boden tauen ließ.
Dass der Frühling bald kommen würde, hoffte Turid, während sie gleichmäßig
den Brei im Kessel rührte. Natürlich auch, weil ihre Hoffnung, den Vater bald
wieder zu sehen, mit jedem weiteren Wintertag ein kleines bisschen kleiner
wurde. Aber daran wollte Turid jetzt nicht denken.
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Kapitel 3
Die Entstehung der Welt
Als ihre Mutter zu den Kühen ging, um diese zu melken, bat Turid sie: „Er-
zählst du mir noch einmal, wie die Welt entstanden ist?“
„Aber ja doch. Reich deinem Bruder die Schöpfkelle und hilf mir mit unseren
drei Schönen hier.“
Turid schnappte sich einen Krug und einen Melkschemel und umfasste das Eu-
ter der alten Kuh, die am wenigsten empfindlich auf kalte Hände reagierte. Sie
zog an deren Zitzen und ließ die Milch in den Krug prasseln. Turid war zwar
nicht ganz so geschickt wie ihre Mutter, aber sie tat ihr Bestes, während sie den
Worten der Mutter so aufmerksam lauschte, als hätte sie die alte Saga noch nie
zuvor gehört.
„Wo soll ich anfangen?“, fragte Thruda und blickte kurz unter dem Bauch der
Kuh auf zu ihrer Tochter.
„Was geschah nach Ymirs Tod? Und wie ist eigentlich das Meer entstanden?“,
fragte Turid.
„Nun, die Götter überlegten, was sie mit dem toten Ymir jetzt anstellen sollten.
Immerhin war er ein Riese – ein riesengroßer noch dazu“, begann Turids Mut-
ter und zupfte dabei rhythmisch am Euter. „Er war so riesig wie alles zusam-
men, was du bisher gesehen hast – und noch viel größer! Unvorstellbar groß!
Aus Ymirs Fleisch wurde das feste Land, auf dem wir noch heute leben, sein
Blut umspülte es und wurde zum Meer. Am Meeresstrand durften der Riese
Bergelmir und seine Kinder leben, so beschlossen es die Götter. Ymirs Knochen
wurden zu Bergen und Klippen und seine Knöchel und Zähne zu Gestein und
Geröll.“
Turid klapperte mit den Zähnen. „Wenn der tote Ymir das macht, rollen Steine
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Feuerstein – ein Kieselgestein, der Funk
festen Gegenstand schlägt.
Funkenschläger – ein aus Eisen geschmi
ner Ring, den man gegen einen Feuerste
Netznadel – ein Werkzeug, das man zur
nutzt.
Bundgarne – eine besondere Form von N
kann.
Stockfisch – durch Trocknung haltbar ge
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ken sprüht wenn man ihn gegen einen
iedeter ovaler großer, nicht geschlosse-
ein schlug bis die Funken sprühten.
r Herstellung von Fischernetzen be-
Netzen mit denen man Fische fangen
emachter Fisch.