Der Mann mit dem Kleeblatt.
Er stand reglos auf der Ostseedüne, nur in der zerfledderten Jeans, die er so liebte, in der
Hand drehte er ein vierblättriges Kleeblatt, welches ihm gerade beim beim Spaziergang
buchstäblich in die Hände gefallen war.
Der Blick aufs Meer beruhigte seine kreisenden Gedanken. Das Meer war immer da, egal wo
er war.
Der Horizont mit der untergehenden Sonne und dem Kontrast der verpixelten Schiffe auf
dem Wasser, ein bekanntes Bild, doch immer anders. Die typischen Gerüche der
See...imaginäre und tatsächliche. ......der Geruch von kalfaterten Holzschiffen mit dem
Teeraroma, das sich so dezent auf die Zunge legt, der Hauch von verdunstendem
Salzwasser, der sich auf die Haut schiebt, die leichten Schwaden von Schiffsdiesel der ein –
und auslaufenden Fähren, die Note des Fischereihafens, wo der fangfrische Dorsch direkt
vom Trawler verkauft wird, der Dunst von Tang und Muscheln, die die stetig leichte Dünung
ans Ufer spülte und alles andere, das Konglomerat aus den nahen Laub – und
Nadelbäumen, dem Dünenbewuchs aus Misteln und Moosen, den Gräsern, Sanddorn,
Rhododendren, von Hagebutten und Löwenzahn zusammen mit dem Atem des feinen
Priwallsandes, gaben der tiefen Melancholie des Mannes eine zusätzliche Note.
Die leichten Tränen, verbunden mit einem innerlichen Schmerz, der so umfassend, so
bohrend, so zehrend in ihm pulsierte, waren kaum zu merken, bahnten sich jedoch ihren
Weg über sein Gesicht, bis zu den Lippen, auf die er jetzt kraftvoll biss, um den Schmerz
anders zu spüren, zu verdrängen, zu entmachten.
Er hatte „ES“ verpasst, er der das Leben so liebte, so süchtig nach Emotionen und Liebe,
nach Gefühlen und Feuer, nach Verbindlichkeit und Sehnsucht, nach echter Nähe und
bedingungslosem Vertrauen, nach Respekt und gegenseitiger Bewunderung, nach
Übereinstimmung und anders sein, nach hitzigen Kontroversen und infantilen Albernheiten,
nach intellektuellem Esprit und non verbaler Kommunikation, nach verzehrender Sehnsucht
und gefühlter Sicherheit, nach drängender Begierde und explodierender Erotik, nach
Gemeinsamkeit und Gegensatz, nach Beschützen und beschützt werden, nach dem
Anspruch mit der romantischen Liebe heldenhaft Grenzen zu überwinden.
Diese Grenzen, die für viele so real waren und die er leugnete, mit seiner Lebenslust, mit
seinem Optimismus, seiner Kraft und seiner Überzeugung.
Wie oft schalteten sie ihn, verlachten, bedauerten oder belehrten ihn, versuchten ihn vom
Wahnwitz seiner Vorstellung von Zweisamkeit abzubringen, mit wissenschaftlichen
Realitäten, mit philosophischen Diskursen oder psychologischen Standards, empathisch
oder bedauernd.
„Das was du willst gibt es nicht“ eine infantile Teenager Vorstellung, eine irreale Matrix, eine
Vermeidung um überhaupt eine Beziehung einzugehen, eine megalomane Überhöhung
einer so einfachen Sache, dass zwei Menschen zusammen leben. Eine rosa Disney – World
in der harten Realität.
„irgendwann kommt immer der Alltag“ „man kann nicht immer die Emotionen auf hohem
Level halten“ „Auch du wirst irgendwann in der Realität ankommen“ „Hauptsache man
kommt einigermaßen klar zusammen“.
Wie auf einem Banner erschienen die Sätze am Horizont, legten sich als Schlagworte auf die
Wolken, sichtbar nur für ihn.
Und er hatte es allen gezeigt und die Person gefunden Diejenige die so viel Nehmen und
Geben konnte. Mit den gleichen Ansprüchen, den gleichen Vorstellungen und der
notwendigen Überzeugung und ebenfalls dem Anspruch mit der romantischen Liebe
heldenhaft Grenzen zu überwinden. Und der für andere unüberwindbare Maxime: „Drunter
mach ich´s nicht!“
Er erinnerte sich an den Pathos, die Öffentlichkeit, das Teilen und an die Euphorie……
Schemenhafte Bilder, Wortfetzen, Gedankensprünge, Gefühle der Ohnmacht. Hinterfragen
und Leugnen. Passivität und Angst, transportierten das schöne Aquarell des Anfangs und
der Aufbruchsstimmung in ein konfuses, düsteres Bild von Hieronymus Bosch.
Die Theorie war perfekt damals, in sich schlüssig, fühlbar, ergreifend…..
Er hat es nicht geschafft, nicht fähig zu geben, zuviel genommen, die Waage nicht austariert
und auch noch unfähig es zu sehen und zu spüren. Er konnte seinen Teil nicht bringen,
obwohl er es wollte….
Die Selbsterkenntnis nagt an ihm, an der ganzen Persönlichkeit, lässt sie wanken, obwohl er
doch regungslos verharrt.
Ist alles was er denkt, fühlt, ausstrahlt, sendet, empfängt nur gefakt, eine
neurotramsmitterische Blase, eine Projektion für andere. Ohne Substanz. Ohne Background.
Ohne Eigenes. War die Kraft aufgebraucht, die Kraft die er brauchte, die letzten 30 Jahre mit
seinem Lebensstil körperlich und psychisch zu überleben, ohne große Schäden. War der
Preis das reine Überleben? Geplatzt, die selbstbewusste, aber nicht übergriffige Art an „ES“
und an sich selbst zu glauben? Welche tiefe Wunde hat er sich selbst und jemanden
anderem zugefügt, wird sie heilen, wie immer behauptet, wird sie ihn verändern, still und in
sich gekehrt werden lassen, griesgrämig und einsiedlerisch, abweisend und selbstmitleidig.
So konträr zu der Lebenslust, die er abstrahlte, einnehmend, mitreißend, selbstironisch aber
überzeugt. Leicht zweifelnd, aber siegessicher, humorvoll aber verbindlich…hinweggeweht
von der Realität?
Er dreht das Kleeblatt langsam zwischen den Fingern, sonst empfänglich für Botschaften,
spirituelles, „es gibt keine Zufälle“ bejahend. Immerhin ein kleiner Fingerzeig? Oder ein
kleiner Trost, für den Weltschmerz, der so andres ist als früher im Rausch.
Die Erkenntnis, dass er es selbst in der Hand hatte, potenziert das negative und katapultiert
vorhandene Kraft und Optimismus in weit entfernet Galaxien.
Er hebt den Kopf leicht und sieht ein junges Mädchen den schmalen Pfad zwischen den
Dünen gehen, auf ihn zu. Sie wirkt irgendwie „Rein“, trägt einen wippenden Pferdeschwanz
und eine schlichte Bluse zu einem bunt gemusterten, wehenden Rock.
Umgeben wird sie von einem schwachen Lichtschein, einer milden Lumineszenz, einem
gedämpften Leuchten. Ihn durchfahren ferne literarische Erinnerungen an Marion Zimmer
Bradley und aktuelle von Walter Moers an Trolle, Elfen und Feen und er versucht durch
Kopfschütteln dieses Bild zu klären, zu ändern, was ihm nicht gelingt
Sie winkt ihm leicht mit der Hand zu und er folgte ihr, den Weg zurück in die Ferienhaus
Siedlung mit den kleinen Häuschen, die er so gut kannte und wo er sich in einer Art
Konklave eingemietet hatte. Sie führte ihn in ein abseits stehendes Häuschen, welches er
noch nie wahrgenommen hatte und welches noch kleiner schien als der schon knutschige
Rest. Es bestand nur aus einem Raum, komplett mit Holz verkleidet und eingerichtet wie
eine Puppenstube. Sehr alt. Sehr schön. Sehr schlicht. Und trotz des Alters wirkte alles wie
noch nie benutzt.
Der Mann, er versucht zu sprechen, es gelang ihm nicht, allein das Kleeblatt ließ sich fühlen.
Sie sprach zu ihm…mit mildem Lächeln, leise aber bestimmt:
„Wir müssen jederzeit aufmerksam auf die Signale achten. Es gibt nichts außer unserer
Aufgabe, den eigenen Weg aufrichtig zu meistern!“
Er schluckte hörbar und nickte. Ein Gefühl der Leichtigkeit umgab ihn. Ruckartig dreht er sich
um und verließ das Haus, wissend nickend. Seine Füße spürten wieder den feinen Sand und
nach ein paar Schritten, dreht er sich um und er sah was er erwartete. Das kleine Häuschen
war weg, dichte Vegetationen des ehemaligen Grenzstreifen begrenzten seinen Blick.
Spontan bückte er sich. Auf der weiten Sandfläche des Weges, ohne jegliche andere
Vegetation oder Bewuchs, zupfte er es aus dem Boden…das zweite vierblättrige Kleeblatt.
Und mit den beiden verwobene Gedanken: „Ich weiß, dass es dich gibt“ und „Diesmal mache
ich es richtig“ strömte das Gefühl von Lebenslust wieder durch seinen Körper und Kopf
........