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Published by gabriel-berger, 2021-10-19 01:49:55

2005: Ist jede Utopie zu verbieten?

LieberUlrich

(2005)

Lieber Ulrich, lieber Siegmar,

natürlich bin ich nicht so naiv, an Kommunisten zu glauben, die es das
nächste Mal besser machen werden. Sie machen es immer wieder
schlecht und mehr oder weniger verbrecherisch, weil sie ihre persönli-
chen, vermeintlich menschenfreundlichen Intentionen, über die mensch-
liche Vernunft, Jahrhunderte alte Erfahrung, sowie den Willen der von
ihnen zwangsbeglückten stellen. So weit sind wir uns einig. Und natür-
lich habe ich neben der Sowjetunion und dem Ostblock China, Kambod-
scha und andere Laboratorien des „neuen Menschen“ und der „neuen
Welt“ nicht vergessen.

In einem Punkt muss ich, lieber Ulli, Dich ergänzen. Es ist Dir natürlich
wohlbekannt, dass nicht nur die Nazis, auch die Bolschewiken, nament-
lich Lenin, die Macht unter anderem mit dem Anspruch ergriffen, Russ-
land und die ihnen unterstellte Welt in die Moderne zu führen. Es gibt
zahlreiche Schriften Lenins, in denen er, ähnlich wie die Nazis, die USA
als das Vorbild an Modernität hingestellt hatte. Der Fehler, den die Leni-
nisten im Vergleich zu den Nationalsozialisten gemacht hatten war aber
die Totalität ihrer Revolution, ihr durch brutale Taten verwirklichtes Ziel,
die neue Ordnung auf den Ruinen und der Asche der alten Ordnung auf-
zubauen. Es sollte nach Möglichkeit nichts von der alten Ordnung blei-
ben. Die Bolschewiken wollten, Göttern gleich, eine neue Welt aus dem
Nichts erschaffen. Was sie sehr effektiv erreichten, war das Nichts, die
Zerstörung der materiellen Welt wie der sozialen Umwelt gelang ihnen
perfekt, die neue Welt blieb aber ein Produkt ihrer Fantasie. Statt des er-
strebten Überflusses hatten sie auf Dauer ein System diktatorischer Ver-
waltung des Mangels und der himmelschreienden Tristes etabliert, weil

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sie sich hartnäckig weigerten, ihr Scheitern einzugestehen. Je länger sie
herrschten, umso weiter entfernten sie sich von ihrer bonbonfarbenen,
kindlichen Idealvorstellung. Die Ostblockgesellschaften kannten auch
keine Korrektive, um auf einen Weg der Vernunft zurückzukehren, weil
in ihnen die Erhaltung und Verewigung der Macht um die Macht und
nicht um der Menschen Willen, das höchste Gut war.

Bei aller kritischen Distanz, angemahnter Einhaltung der Menschen-
rechte, sowie dem eklatanten Mangel an Verantwortung für die Verbre-
chen der Mao-Zeit, muss man bewundern, wie es die chinesischen Kom-
munisten bis jetzt geschafft haben, den Kapitalismus in ihr kommunisti-
sches System zu integrieren. Sie haben damit eine „den Kommunisten“
schlechthin nicht zugetraute Lernfähigkeit bewiesen, einen Pragmatis-
mus, der vermutlich in ihrer jahrtausendealten Kultur begründet ist. Sie
haben, strenggenommen, den Kommunismus als ein für die Moderne un-
taugliches System abgeschafft und ihn durch einen staatlich gelenkten
Kapitalismus sowie eine „gewöhnliche“ politische Diktatur ersetzt. Denn
Diktaturen hat es bekanntlich so lange gegeben, so lange es Staatsysteme
gibt, ohne dass sie kommunistisch, faschistisch oder nationalsozialistisch
gewesen sind.

Die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus als
Staatssystem (ich sage lieber Bolschewismus) ist aus verschiedenen
Gründen sachlich falsch. Einer der Gründe ist, dass der Bolschewismus
die totale Zerstörung, die tabula rasa, als die Grundlage der Errichtung
der neuen Machtstrukturen ansah, während sich der Nationalsozialismus
mit der totalen Kontrolle der Gesellschaft und der Wirtschaft, weitgehend
in den bisherigen Formen, begnügte. Der Nationalsozialismus schaffte
eine Synthese von revolutionärem Geist und Konservatismus, bis hin
zum extremsten Spießertum, und das verschaffte ihm einen Massenzu-
spruch im deutschen Volk, dessen sich die Bolschewiken in Russland und

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anderen kommunistisch regierten Ländern nie erfreuten. Das ist unter an-
derem der Grund, weshalb ich nationalsozialistische Ideen für gefährli-
cher als kommunistische ansehe, besonders innerhalb demokratischer
Gesellschaften.

In einem Punkt, lieber Ulli, stimme ich mit Dir nicht überein. Ich bin der
Meinung, dass jede Heilslehre mit universalistischem Anspruch das Po-
tential hat, ideelle Basis eines totalitären Staatssystems werden zu kön-
nen. Dabei ist es ohne Belang, ob diese Heilslehre atheistisch oder reli-
giös begründet ist. Religionen sind nicht per se Garanten einer höheren
Moralität. Das Beweist auch die Geschichte des Christentums, vom Islam
ganz zu schweigen, dessen Gegenwart uns als eine Zumutung und Belei-
digung menschlicher Vernunft erscheint. Es gehört zu den modernen My-
then, das Christentum als die Basis der heutigen toleranten westlichen
Gesellschaft anzusehen. Dabei ist diese humane Haltung der christlichen
Kirche hart abgerungen worden, gegen ihren Widerstand. Und wenn sich
die heutige evangelische Kirche in Deutschland als Hort der Humanität
ausgibt und versteht, darf nicht vergessen werden, dass erhebliche Teile
eben dieser Kirche in der Nazizeit die „Deutsche Kirche“ bildeten, die
im vorauseilendem Gehorsam Juden verfolgte und der Diktatur diente.
Wohl gab es in Deutschland Christen, die ihren inneren und in Einzelfäl-
len auch äußeren Widerstand gegen die Nazis mit ihrem Glauben begrün-
deten, diese bildeten aber bekanntlich eine verschwindende Minderheit.

Noch schlimmer sah es in solchen katholischen Ländern, wie Litauen,
Polen, Ungarn, Kroatien aus, wo es gang und gebe war, die Ermordung
der Juden als der „Gottesmörder“ für eine gottgefällige Tat der Deut-
schen zu halten, mit oder ohne eigene Beteiligung an der Mordaktion. Ich
will nicht den katholischen Widerstand der Gruppe „Zegota“ in Polen

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ignorieren, die auch Juden rettete, wie auch die vielen anständigen Men-
schen, das war aber eher eine kleine Minderheit, die die Ehre der polni-
schen Christen und der polnischen Nation rettete.

Ich betrachte jede Heilslehre mit einem universalistischen Anspruch als
potentiell totalitär. Eine Religion halte ich in diesem Sinne nur dann für
akzeptabel, wenn sie diesen Anspruch nicht hat, wenn sie folglich nicht
missioniert. Die beiden einzigen missionierenden Weltreligionen sind
meines Wissens das Christentum und der Islam. Diese beiden Religionen
liefern jeweils auf eigene Weise das Rüstzeug für Heilslehren mit totali-
tärem Anspruch. Wegen ihres Ausschließlichkeitsanspruchs bieten sie
darüber hinaus seit tausend Jahren Gründe für Religionskriege. Das sage
ich, bei aller Anerkennung der zivilisatorischen Leistung des Christen-
tums.

Das Judentum, dessen zivilisatorische Leistung ebenso unbestritten ist,
missioniert nicht. Ich sage damit nicht, dass die jüdische Religion mehr
wahr ist als die christliche, aber sie ist zweifellos friedfertiger, weil sie
sich andersgläubigen nicht als Heilversprechung aufdrängt, ganz im Ge-
genteil. Ob eine solche Haltung im Judentum angelegt oder nur ein Ne-
benprodukt der seit 2000 Jahren fehlenden jüdischen Staatlichkeit ist, sei
dahingestellt, aber sie ist eine Tatsache.

Die Struktur des Kibbuz als einer selbstverwalteten Gemeinschaft ist eine
säkularisierte Struktur jüdischer selbstverwalteter Gemeinden, so wie sie
in der Diaspora existierten, zusätzlich mit egalitärem Anspruch. Der Kib-
buz war deshalb, so meine ich, nicht ausschließlich eine nützliche vor-
staatliche Struktur in einer unwirtlichen Umwelt. Er verkörperte auch,
obwohl meistens nichtreligiös, die jüdische Tradition. Im Übrigen sollte
man nicht vergessen, dass es zu den ersten Kibbuzgründungen bereits
1909 gekommen ist. Sie wurden von geflohenen russischen Sozialisten

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gegründet und vereinten in sich die Tradition gemeindlicher Selbstver-
waltung mit der sozialistischen Utopie von Saint-Simon und Robert
Owen. Beide Letztgenannten, von Marx als „utopische Sozialisten“ ge-
nannten gesellschaftlichen Aktivisten strebten ein kollektives Leben in
kleinen Gemeinschaften an, ohne einen Anspruch auf die Eroberung der
Staatsmacht. Man nannte sie auch in der DDR „Sozialisten“, nicht „Kom-
munisten“, weil es den Kommunisten, wie wir sie kannten, bekanntlich
um die Macht im Staat und letztlich in der ganzen Welt ging. Es ist eine
Frage linguistischer Vereinbarung, ob nur die letztgenannten Kommunis-
ten als solche zu bezeichnen sind oder auch Träger kollektivistischer
Ideen, ohne einen totalitären Anspruch. Natürlich wird mittels der Hoheit
über Begriffe Macht ausgeübt, weshalb es nicht gleichgültig ist, welchen
Sinn man einem Begriff unterlegt. Anstatt diesen Gedanken weiter zu
vertiefen, möchte ich Amos Oz zu Wort kommen lassen, mit einem Aus-
schnitt aus seinem Buch „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“:

Dein Großvater war im Herzen cm Kommunist, aber kein roter Bol-
schewik. Stalin kam ihm immer wie ein zweiter Iwan der Schreckliche
vor. Er war, wie soll man sagen, so ein Kommunist und Pazifist, ein
Narodnik, ein Kommunist und Tolstojschtschik, der gegen Blutvergie-
ßen ist. Er fürchtete sehr das Böse, das sich in der Seele verbirgt, bei
Menschen aller Stände: Er hat uns immer gesagt, eines Tages müsste
eine gemeinsame Volksregierung aller anständigen Menschen in der
Welt an die Macht kommen. Aber erst müsste man einmal anfangen,
nach und nach die Staaten und die Armeen und die Geheimpolizeien
abzuschaffen, und erst danach könnte man nach und nach anfangen,
den Unterschied zwischen Reichen und Armen zu beseitigen - den ei-
nen Steuern abnehmen und den anderen geben, aber nicht auf einen
Schlag, damit kein Blut deswegen fließt, sondern alles nach und nach,

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Schritt für Schritt. Er hat gesagt: mit aropfalena!iker, mit Gefalle. Und
wenn es sieben, acht Generationen dauert, so dass die Reichen fast
nicht merken, wie sie ganz langsam nicht mehr ganz so reich sind.
Hauptsache, meinte er, man fängt endlich an, die Welt zu überzeu-
gen, dass Unrecht und Ausbeutung Krankheiten sind und Gerechtig-
keit das einzige Mittel dagegen ist: Sicherlich, es ist eine bittere Arz-
nei, so hat er uns immer gesagt, eine riskante Arznei, eine Arznei, die
man tropfenweise einnehmen muss, bis der Körper sich daran ge-
wöhnt. Wer sie auf einen Zug schlucken will, ruft nur Unglück hervor,
ein großes Blutvergießen. Seht nur, was Lenin und Stalin Russland und
der ganzen Welt angetan haben! Sehr richtig, die Wall Street ist wirk-
lich ein Vampir, der der Weh das Blut aussaugt, aber was? Durch Blut-
vergießen kriegst du den Vampir ja niemals weg, sondern im Gegen-
teil, machst ihn nur groß und stark, päppelst ihn mit noch und noch
mehr frischem Blut!

Das Problem mit Trotzki und Lenin und Stalin und Genossen ist, so
dachte dein Großvater, dass sie auf der Stelle das ganze Leben nach
Büchern neu ordnen wollten, nach Büchern von Marx und Engels und
solchen großen Weisen, die vielleicht alle Bibliotheken kannten, aber
keine Ahnung vom Leben hatten, keinen Schimmer von Hartherzig-
keit, Neid, Missgunst, Bosheit und Schadenfreude. Niemals, niemals
kann man das Leben nach Büchern ordnen! Nach keinem Buch! Nicht
nach unserem Schukhan Aruch und nicht nach Jesus von Nazareth
und nicht nach dem Manifest von Marx! Niemals! Und überhaupt, hat
Papa uns immer gesagt, es ist besser, etwas weniger zu ordnen oder
neu zu ordnen und stattdessen etwas mehr einander zu helfen und
sogar auch einmal zu vergeben. Er glaubte an zwei Dinge, dein Groß-
vater: Erbarmen und Gerechtigkeit, derbarmen Ungerechtigkeit. Aber

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er war der Ansicht, dass man die beiden immer verbinden muss: Ge-
rechtigkeit ohne Erbarmen, das ist ein Schlachthof und keine Gerech-
tigkeit. Andererseits, Erbarmen ohne Gerechtigkeit, das taugt viel-
leicht für Jesus, aber nicht für einfache Sterbliche, die vom Apfel des
Bösen gegessen haben. Das war seine Ansicht: ein bisschen weniger
Ordnung und ein bisschen mehr Mitgefühl.

Amos Os hat hier offensichtlich den Begriff „Kommunist“ anders ver-
wendet, als es Ihr beide tut. Ist die von Amos Oz beschriebene romanti-
sche Sehnsucht nach einer gerechten Welt totalitär? Muss eine solche
Romantik geächtet und vielleicht sogar verboten werden, weil sie Dema-
gogen mit totalitärem Anspruch das Tor zur menschlichen Seele öffnet?
Das sind Fragen, die man mit gehörigem Abstand vom eigenen Erleben
in der totalitären Gesellschaft beantworten sollte Denn dieses Erleben
wird, wie man hofft, den Jüngeren erspart bleiben.
Grüße
Gabriel

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