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Published by gabriel-berger, 2021-10-18 03:38:50

2005: Assimilation oder Akkulturation?

LieberSiegmar

(2005)
Lieber Siegmar,

ich denke, dass offene Worte wohltuend sein können und kei-
neswegs Feindschaft artikulieren müssen. So möchte ich es
handhaben. Ich glaube nicht, in meinem letzten Schreiben Gift
versprüht, meine im Gegenteil eher sehr gemäßigt und harm-
los argumentiert zu haben. Kein Vergleich mit Generalangrif-
fen, die etwa Broder in seinen Pamphleten startet und die für
"die Deutschen" eine erheblich größere Zumutung sind als
mein Geplänkel. So zum Beispiel, wenn er in Kein Krieg, nir-
gends; Die Deutschen und der Terror generalisierend fest-
stellt, die Deutschen hätten nach dem Krieg sich selbst aus
Tätern zu Opfern umgedeutet. Ich zum Beispiel würde diese
These nicht generalisieren, wohl aber konstatieren, dass es
eine solche marginale Tendenz im heutigen Deutschland gibt.
Damit verbunden ist meine hohe Wertschätzung für die Mehr-
heit der heute lebenden Deutschen, fern von jeder Verach-
tung.

Der von mir sehr geschätzte polnische Philosoph Kolakowski
hat in den sechziger Jahren geschrieben, es gebe Zeiten, in
denen Wissen zur moralischen Pflicht werde. Er meinte damit
sowohl das Wissen um die Massenvernichtung in den NS-KZs
als auch um den stalinistischen Terror. So gesehen muss ich
jedem gebildeten Menschen in Deutschland nach dem 2.

Weltkrieg ein Mindestmaß an Wissen über die ideellen Hinter-
gründe der Judenvernichtung unterstellen und von ihm erwar-
ten, dass er nicht etwa propagiert, die Juden seien an ihrem
Schicksal selber schuld gewesen. Das aber ist die Quintes-
senz der von mir sinngemäß zitierten antisemitischen Aussa-
gen meines Kommilitonen Bernd, die mich, wie ich meine völ-
lig zurecht, gegen ihn aufbrachten. Im Übrigen gibt es eine
klassische, sehr oft zitierte Aussage aus einer mir unbekann-
ten Quelle (so z.B. israelischer Botschafter Stein): " Der Anti-
semitismus ist nicht ein Problem der Juden. Es ist ein Problem
der Antisemiten", womit der paranoide Charakter des Antise-
mitismus gemeint ist.

Natürlich ist es so, dass kein Mensch sich die Zeit in der er
lebt selbst aussuchen kann und nur bedingt das Land. Die
Verhältnisse in dem Land kann er nach bestem Wissen und
Gewissen versuchen mitzugestalten, wobei hier dem Indivi-
duum enge Grenzen gesetzt sind, was die Mitverantwortung
und Mitschuld für eine demokratisch legitimierte Wahl eines
menschenverachtenden Diktators keineswegs ausschließt.
Die Zufälligkeit des Lebens in einer Zeit und in bestimmten
Verhältnissen kann zu Situationen führen, in welchen das In-
dividuum auf eine harte Probe gestellt wird. Eine solche von
den meisten ungewollte Probe ist die Sternstunde von Hel-
den, Märtyrern, Feiglingen und Verbrechern. Normale Zeiten

polarisieren die Menschen nicht in solcher Weise, das glück-
liche Leben der Friedenszeiten ist eher langweilig, dafür aber
weitgehend frei von extremen Entscheidungen und Prüfun-
gen. Die Ungerechtigkeit des Schicksals besteht gerade da-
rin, dass es Generationen gibt, die harten Prüfungen unterzo-
gen werden, andere dagegen nicht. Natürlich haben letztere
kein Recht allzu scharfe moralische Urteile über Angehörige
der ersteren Generation zu fällen. Und trotz dem, so unge-
recht es sein mag, es gibt moralische Kriterien, die auch an
die Angehörigen der hart geprüften Generationen anzulegen
sind, und es sind Werturteile über deren Verhalten möglich
und angebracht. Sie dürfen auch von Personen vorgetragen
werden, die selbst den Horror und die Versuchungen einer
Diktatur nicht miterlebt haben, ich meine sogar sie müssen
von ihnen vorgetragen werden, so sehr es auch die Betroffe-
nen schmerzt.

Über Fremde und die Fremdheit ließe sich sehr viel sagen.
Das Gefühl der Fremdheit Menschen gegenüber impliziert die
Existenz einer inneren Barriere, die das Anderssein als eine
Bedrohung erscheinen lässt. Es gibt mindestens zwei Wege
zum Abbau dieser Barriere: entweder der als fremd identifi-
zierte legt durch Anpassung an die Umgebung die Attribute
seiner Fremdheit ab, womit er aufhört, ein Fremder zu sein
oder die beiden Pole des Fremdheitsgefühls gehen aufeinan-
der zu. Sie lernen einander kennen und schätzen, womit sie

den Weg zur Koexistenz in der Verschiedenheit beschreiten.
Der erste Weg ist der der Assimilation, unter weitgehender
Aufgabe der eigenen kulturellen Identität der Minderheits-
gruppe. Dieses Ideal der kulturellen Homogenisierung der Ge-
sellschaft führt nicht immer zum Abbau von Barrieren und An-
feindungen. Schwierig gestaltet sich die Assimilation, wenn
die Minderheitsgruppe durch eigene rassische Merkmale auf-
fällt, wie z.B. die Schwarzen in den USA. Aber auch wenn dies
nicht der Fall ist, wie z.B. bei den Juden in Deutschland, hat
in der Vergangenheit die Assimilation nicht zur Aufhebung von
Barrieren geführt. Es haben sich im Gegenteil Teile der Be-
völkerungsmehrheit durch die außerordentlich erfolgreiche jü-
dische Assimilation, verbunden mit einem immensen sozialen
Aufstieg, bedroht gefühlt. Deshalb wurden den Juden rassi-
sche Merkmale angedichtet, um sie von der Mehrheit künst-
lich separieren zu können. Das Ende dieser Entwicklung ken-
nen wir.

Ein anderer Weg des Abbaus von Barrieren ist die Akkultura-
tion, also wechselseitiges Kennenlernen und Koexistenz kul-
tureller Gruppen, mithin eine multikulturelle Gesellschaft. Man
kann sie mögen oder nicht, de facto existiert sie in Deutsch-
land bereits. Es gibt für dieses Modell negative wie positive
Beispiele. Die USA funktionieren weitgehend nach diesem
Prinzip und bei aller Kritik gar nicht so schlecht, wenn man von
den enormen hausgemachten Problemen mit den Schwarzen

absieht. In Frankreich haben wir vor Kurzem den Abgesang
der Multikulti-Idee erlebt. Das ist für mich aber kein Beweis für
die prinzipielle Unmöglichkeit der Akkulturation. Erfahrungs-
gemäß gibt es Gruppen, die sich im Sinne der Akkulturation
leicht in der westlichen Gesellschaft integrieren, andere nicht.
Ersteren würde ich etwa Chinesen, Inder und Russen zuord-
nen, den zweiten die meisten Moslems, von der Schah-Emig-
ration aus Persien oder den Kosovo-Albanern mal abgese-
hen. Als Integration betrachte ich neben der Kenntnis der Lan-
dessprache die Anerkennung und die unbedingte Respektie-
rung moralischer und rechtlicher Normen des Gastlandes. Un-
ter diesen Bedingungen halte ich jede kulturelle Minderheit für
Akzeptabel und für eine Bereicherung für das Land. Zur Assi-
milation kann man fremde Gruppen kaum drängen, doch,
wenn sie aus gleichem Kulturkreis stammen, streben sie eine
solche meistens selbst an, siehe die Polen im Ruhrgebiet oder
in Berlin. Ein Problem mit Ausländern gibt es dann, wenn die
Regierung nicht gewillt ist zu erkennen, dass man nicht integ-
rationswilligen nationalen Gruppierungen die Einreise und
den Aufenthalt verweigern sollte, was nicht ausschließt, dass
man stattdessen andere Gruppen von Ausländern aufnimmt.

Eine ethnisch und kulturell homogene moderne Gesellschaft
ist nicht nur eine rückwärtsgewandte Utopie, fern von jedem
praktischen Bezug, die hat es außer in Island vermutlich nir-
gendwo gegeben. Deutschland hat schon immer mit fremden

gelebt und Fremde aufgenommen. Das ist nicht immer gut ge-
laufen, siehe die Juden, die doch irgendwann aus Polen ein-
gewandert sind, meistens aber sehr gut, so im Fall von katho-
lischen Polen, Tschechen, Russen, französischen Hugenot-
ten. Probleme gibt es heute mit vielen muslimischen Einwan-
derern. Daraus kann man aber nicht den generalisierenden
Schluss ziehen, dass alle Ausländer in Deutschland als Stö-
renfriede zu betrachten sind und man sie gern nur in ihren
Heimatländern sieht.

Im Übrigen, Hochkulturen, die "ewigen" bestand hatten, wie
das römische Imperium, schöpften ihre Kraft aus der Integra-
tion des Sammelsuriums von Völkern, wobei die Stärke Roms
darauf beruhte, dass es die positiven zivilisatorischen Ein-
flüsse der eroberten Völker ohne Hochmut und Neid über-
nahm, so die griechische Kultur. Ein Volk, das nur sich selbst
reflektieren kann, ist dem Untergang geweiht. Die rein deut-
sche Kultur und Rasse ist schon einmal der Weg in den Ab-
grund gewesen. Das kann weder ein Ziel noch ein Ideal sein.

Und noch das letzte Wort zu dem Dauerbrenner-Thema: jüdi-
scher Bolschewismus. Ich habe die Homann-Rede gründlich
gelesen und nirgendwo die Notwendigkeit erkennen können
die Juden im Zusammenhang mit dem 3. Oktober zu erwäh-
nen. Wenn er es dennoch im bekannten Kontext tat, lässt es
eher auf eine reflexhafte Verwendung des Themas schließen.

Die Gründe hierfür lassen sich vermutlich nur tiefenpsycholo-
gisch erschließen. Im Übrigen habe ich bei den Protagonisten
des "jüdischen Bolschewismus" nie eine klare Analyse des jü-
dischen Umfeldes lesen können, aus der nämlich zu schlie-
ßen wäre, dass sich Juden zahlenmäßig wesentlich stärker in
demokratischen, konservativen und antikommunistischen
Parteien und Gruppierungen engagierten, als in der bolsche-
wistischen Partei. Wem ist es bekannt, dass die antileninisti-
sche menschewistische Sozialdemokratie Russlands noch
stärker "verjudet" war als die bolschewistische Partei? Wer
weiß etwas von dem starken Einfluss der Juden im vorbol-
schewistischen Russland auf die liberale Partei der Kadetten?
(Sie war ab Februar 1917 an der Regierung beteiligt) Und
wem ist es bekannt, das die stärkste antibolschewistische Op-
position in der Emigration ebenfalls jüdisch war? (Nachzule-
sen bei Solschenizyn, "200 Jahre zusammen") Wer spricht
davon, dass die Massenauswanderung der Juden aus der
Sowjetunion in den siebziger Jahren der Motor der Dissiden-
ten- und der Samisdat-Bewegung gewesen ist und damit der
erste Schritt zum Untergang der Sowjetunion? (Siehe Sol-
schenizyn) Und wem ist bekannt, dass der Name Sacharow
aus Zuckermann abgeleitet ist, dass also auch er jüdischer
Herkunft war? Wer weiß es, dass in Polen 1968 die Protest-
bewegung gegen das kommunistische Establishment von Ju-

den angeführt wurde? Das alles ist wohl unwichtig. Es ist un-
wichtig, damit "den Juden" einseitig die Schuld am Kommu-
nismus angelastet werden kann. Jetzt weißt du, warum ich die
Bemerkung von Homann für katastrophal und abwegig halte.
Denn Desinformation wird meistens nicht mit den angeführten
Tatsachen betrieben, sondern mit den verschwiegenen.

Herzliche Grüße

Gabriel


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