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Der Tod und die Kunst 20210403 für Homepage

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Published by sam.v.furrer, 2021-04-03 10:49:11

Der Tod und die Kunst

Der Tod und die Kunst 20210403 für Homepage

Der Tod und die Kunst

Bilder und Text von Sam V. Furrer (www.samvfurrer.com)

Wir alle leben mit der klaren Gewissheit, dass wir eines Tages sterben werden.
Jedes gesunde Kind erlangt zwischen dem vierten und fünften Lebensjahr diese
Bewusstseinsstufe, die man auch als höheres oder menschliches Bewusstsein
bezeichnet. Eine sehr kurze und elegante Definition dafür ist die folgende: Ein
höheres Bewusstsein ist ein Bewusstsein, das sich selbst als Bewusstsein
erkennt. Mit anderen Worten: Cogito ergo sum (René Descartes).
Diese Bewusstseinsstufe führt den Menschen erstens dazu, seine räumliche
Begrenztheit zu erkennen: mein Körper reicht von hier bis dort, aber nicht
weiter, und ich befinde mich hier und kann mich bewegen nach dort, aber
nicht weiter. Sie lässt ihn zweitens seine zeitliche Begrenztheit erkennen: ich
lebe von jetzt bis zu meinem Tod, aber nicht weiter (mind. nicht in dieser Form).
Ich behaupte, dass genau dieser Gedanke im Bewusstsein jedes Menschen, der
bei Verstand ist, der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Tier ist,
und dass er auch der Grund ist, warum wir Kunst machen. Ich kann das
natürlich nicht beweisen, denn wir können einfach nicht wissen, welche
Gedanken durch das Gehirn eines Schimpansen oder eines Delphins flitzen.
Aber ich werde im Folgenden meine Hypothese mit Plausibilitätsargumenten
untermauern.

Bild: Von der Gletschermilch angespült
2010, am Oberlauf der Aare bei Innertkirchen
Ausstellung INNERE SCHÖNHEIT, Galerie100, 2016

Impressum:

Der vorliegende Aufsatz wurde im März 2021 veröffentlicht im
Magazin Zwischentext, vol 2, 2021, das dem Thema Tod gewidmet ist.

Kollektiv Zwischentext
c/o D.Saliro
Steinstrasse 78
8003 Zürich
zwischentext.ch

In der Zoologie finden sich viele Hinweise dafür, dass Tiere, zumindest soziale
Tiere wie Delphine, Wölfe und Menschenaffen, durchaus Anteilnahme
empfinden. Beobachtbare Verhaltensmuster legen diese Vermutung nahe.

Bild: Simon Winter im Sommer
2016, vor Kehrsiten
Ausstellung SEEN IT ALL,
Galerie Art & Business, 2018

Ich erinnere mich an einen Dokumentarfilm über eine Schimpansenmutter,
deren Baby ums Leben gekommen war. Sie trug den kleinen Leichnahm tage-
lang mit sich, streichelte und küsste ihn immer wieder. Das war sehr berührend.
Für mich war klar, dass sie trauert, auch wenn ein professioneller Natur-
wissenschafter an der Stelle natürlich sagen würde, dass wir das nicht wissen,
weil wir das nicht messen, beweisen oder überprüfen können. Ich will hier aber
keine wissenschaftstheoretische Debatte anzetteln, sondern ich will auf etwas
ganz anderes hinaus:
Ich bin der Meinung, dass das schreckliche und einschneidende Erlebnis der
Schimpansenmutter sie nicht zum Gedanken führte, dass sie selbst auch eines
Tages sterben wird. Dieser Gedanke scheint wirklich allein dem Menschen
vorbehalten zu sein. Wenn die Schimpansin diesen entscheidenden Gedan-
kenschritt vollzogen hätte, hätte man in den Monaten und Jahren danach
Veränderungen an ihrem Verhalten beobachten können.
Der Grund, warum ich das behaupte, ist der: die Erkenntnis der eigenen
Sterblichkeit wirft zwingend weitere Fragen auf, die zu essenziellen Bedürf-
nissen heranwachsen, und die fortan das Verhalten des betroffenen Wesens
prägen. Die beiden wichtigsten dieser Fragen will ich darlegen.

Erstens drängt sich die Frage auf, was
das Ganze überhaupt soll. Diese lässt
sich auf drei fundamentale Elemente
herunterbrechen:
1. Wenn ich lediglich ein kurzes,

vorübergehendes Phänomen auf
dieser Erde bin, worin besteht
dann überhaupt der Sinn meiner
Existenz?
2. Was passiert nach meinem Tod?
3. Woher komme ich? Wer hat mich
erschaffen? Was ist der Ursprung
der Menschheit?

Diese drei Fragestellungen sind un-
trennbar miteinander verbunden.

Wenn Du der Meinung bist, dass es
noch nicht genug Religionen gibt auf
dieser Welt, und wenn Du reich und
berühmt werden willst, dann musst
Du nichts weiter tun, als ein Buch
schreiben, das diese drei Fragen
beantwortet. Was Du darin schreibst,
muss nicht wahr sein. Es muss nur
die Menschen überzeugen. Dies ist
aber gar nicht mal so schwierig, weil
die Menschen dermassen sehn-
süchtig nach Antworten suchen,
dass sie nach jedem Strohhalm
greifen, der sich anbietet, und sich
auch mit Antworten zufrieden
geben, die nicht bewiesen sind. Sie
tun das deshalb, weil der Gedanke,
dass nach dem Tod einfach über-
haupt gar nichts sein könnte, für die
meisten absolut unterträglich ist.

Zweitens drängt sich die Frage auf, was man nach seinem Tod der Nachwelt
hinterlassen kann. Dieser Gedanke mag einem jungen Menschen weit
hergeholt erscheinen. Aber ab Mitte 40 fragt sich jeder irgendwann mal, was
bleibt, wenn er weg ist.

20 Jahre nach meinem Tod - und das
ist nicht viel Zeit – wird mein Körper
komplett von der Biosphäre absorbiert
sein. Mein Gehirn wird einfach weg
sein, mein Gesicht, meine Hände,
meine Tattoos, einfach alles. 40 Jahre
nach meinem Tod wird keiner mehr da
sein, der sich noch an mich erinnert. Es
bleiben höchstens noch ein paar Fotos,
die aber wohl niemand noch richtig zu
interpretieren vermag.

Ob meine Seele noch irgendwie
irgendwo weiterexistiert, wissen wir
nicht. Wir hoffen es. Aber wir haben
diesbezüglich keinen einzigen Hinweis,
der einer wissenschaftlichen Überprü-
fung standhält, obwohl die intel-
ligentesten Köpfe der Menschheit seit

Anbeginn der Wissenschaft versuchen, diese Frage zu erforschen. Ich muss also
davon ausgehen, dass auch meine Seele einfach nicht mehr existieren wird.

Was also bleibt? Es sind in Bezug auf diese unlösbare, wohl eher unantastbare
Frage, die jeden denkenden Menschen quält, viele wohlklingende und kluge
Worte im Umlauf: Vermächtnis, Legacy, Nachlass, Héritage, Hinterlassenschaft,
usw. Aber die Realität ist brutal simpel: Es gibt nur drei Dinge, die ich auf
diesem Planeten hinterlassen kann, die wenigstens die Chance haben, meine
kurze Lebenszeit zu überdauern:
1. Meine Gene, d.h. zeugungsfähige Nachkommen, die diese Gene

weitergeben können.
2. Der Teil meines Wissen, den ich nicht aus Büchern gelernt, sondern selbst

erforscht, entdeckt oder erfunden habe.
3. Meine Kunst.

Bild vorherige Seite: Sein und Werden Bild oben: Gespiegelte Baumpilzgruppe
Fotografie einer grossen Sandrose und Sand auf
einem schwarzen Labradorit Fotocollage von zwei Fotografien einer
2017, Uitikon Waldegg Baumpilzgruppe, eine von unten und eine von oben
Ausstellung SEEN IT ALL, 2018
2017, Uitikon Waldegg
Ausstellung SEEN IT ALL, 2018

Mit dem dritten und letzten Stichwort gelangen
wir auf die Zielgerade dieses kurzen Aufsatzes.

Kein Tier macht Kunst. Aber
jede menschliche Rasse, die
es je gegeben hat, hat Kunst
gemacht und ihrer Nachwelt
hinterlassen. Sogar vor dem
Erscheinen des Menschen
machten die Neandertaler
Kunst. Sie malten mit Kreide
an die Wände ihrer Hölen.
Warum? Weil sie offenbar
auch erkannten hatten,
dass sie sterblich sind, und
darum das Bedürfnis hatten,
etwas zu hinterlassen, das
sie überdauert.

Wenn ich Kunst mache, bin
ich beseelt vom Gefühl,
etwas Relevantes zu tun.
Ob mein Werk jemals
irgendeine gesellschaftliche
Relevanz erhält, und ob es
sogar eine Bedeutung erhält, die meine Person überragt und überdauert, das
weiss ich natürlich nicht. Das entscheidet Ihr, wenn Ihr meine Kunst betrachtet.
Aber wenigstens haben meine Bilder die Chance, mich zu überdauern. Darum
lass ich mich von der Ungewissheit nicht entmutigen und mache weiter.

Sam V. Furrer ist freischaffender Künstler, Autor, Fotograf und Grafiker. Seine
Ausstellungen und künstlerischen Publikationen sind auf seiner Homepage
www.samvfurrer.com dokumentiert. Der 54jährige Zürcher hat in St.Gallen
Betriebswirtschaft und Psychologie studiert und war in seiner ersten Lebens-
hälfte im Management von Industrieunternehmen tätig.

Bild: Annagret & Fred
Fotocollage eines hinterleuchteten Rauchquarzpaars und einer Abendstimmung mit zwei Wolkenbändern;
Hommage an Annagret und Fred Furrer-Abplanalp (1934-2018), Ausstellung SEEN IT ALL, 2018

Sam V. Furrer
Suracherstrasse 6
CH-8142 Uitikon Waldegg
www.samvfurrer.com
+41 79 406 34 94
[email protected]


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