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Published by silkem, 2022-12-05 17:00:20

FuK_heft 4_2022

FuK_heft 4_2022

Keywords: Kultur,Zuhause

4/2022

Zuhause sein

Editorial

Wo und wie möchten wir wohnen?

Jeder Mensch braucht ein Zuhause, einen werden, meint Wohnungspsychologe Kino, die Donau und das gotische Müns-
Ort, der ihm Sicherheit und Geborgenheit Uwe Linke: "Ganz wichtig ist es, immer ter, die individuellen Geschäfte und den
gibt. Nicht ohne Grund werden die eigenen wieder Dinge zu entsorgen, Gewohnhei- Wochenmarkt.
vier Wände oft liebevoll als „dritte Haut“ ten zu hinterfragen. Die Möbel umzustel-
betitelt, denn sie sind weit mehr als ein len oder gar Räume zu tauschen, erfordert Natürlich ist es schön, weite Felder,
Schutz vor der Witterung. Die Einrichtung Mut, kann aber völlig neue Perspektiven Wälder und Wiesen nahe der Haustüre
erfüllt den Geschmack der Bewohner, of- bringen. Wir schauen ständig in die Ver- zu haben. Es ist in einem Dorf bei wei-
fenbart manchmal Träume und Sehnsüch- gangenheit, hängen Fotos von Orten auf, tem nicht so anonym wie in der Stadt,
te, dient auch der Repräsentation und wo wir einmal waren. Wie wäre es, wenn man kennt sich, feiert zusammen Dorf-
wirkt zurück auf das Lebensgefühl, heu- wir Bilder aufhängen würden von Orten feste und hat ansonsten viel, viel Ruhe.
te wie gestern. oder Zielen, wo wir gerne noch hinreisen
möchten, die wir noch erreichen wollen" Aber in unserem schönen westfäli-
Zuhause ist, wo man angekommen schen Dorf war ein zweites Auto eine für
ist und sich wohl fühlt. Je älter man wird, Vielleicht ist auch ein Umzug ge- mich notwendige Anschaffung, denn der
umso wichtiger wird dieses Zuhause-Ge- wünscht oder notwendig. Und dann: Bus fuhr selten in die größere Stadt.
fühl. Die Wohnung gemütlich zu gestal- Stadt oder Land?
ten, das überlassen allerdings die meis- Natürlich waren Aktivitäten wie Wan-
ten Männer den Frauen. Natürlich brauchen wir beides: die dern im nahen Wald, die Radtour auf
große weite Welt und den geschützten nicht überfüllten Radwegen und lange
„Erst formen wir den Raum, dann Winkel. Die Kurzweil der City und die Spaziergänge mit dem Hund (ohne Lei-
formt der Raum uns.“ sagte schon Le Cor- Muse der Landschaft. ne) sehr entspannend. Doch nun lebe
busier. Nicht nur Raumkonzepte, son- ich wieder in der Stadt mit einer herzli-
dern auch Farb- und Lichtgestaltung be- Ich plädiere – so ganz persönlich im chen Nachbarschaft und Besuche von al-
einflussen die Menschen. Auf die Frage, gesetzten Alter – für die Stadt. Ich schät- ten und neuen Freunden – und genieße
welche Fehler beim Wohnen oft gemacht ze die kurzen Wege, das vielfältige An- es. Aus Ulm grüßt Sie herzlich Ihre
gebot wie Konzerte, Restaurants, Cafés,
Inge Kellersmann

Inhalt Obdachlosigkeit in der Wohlstandsgesellschaft /
Der verlorene Sohn....................................................... 17
Thema: Zuhause sein Leben ohne festen Wohnsitz..................................18
Editorial ................................................................ 2 Weitere Rubriken:
Verortungen: Fremde, Zuhause, Heimat .................. 3 Wissen Sie, wer ich bin?........................................19
Wann wird aus einer Wohnung ein Zuhause ?.......... 4 Für Sie gelesen..................................................... 20
Vom Opfertisch zum Symbol der Gemeinschaft........ 5 Aktuelle Kunstausstellungen..................................21
Schöpferisch und funktional .................................. 6 Eindrücke von der documenta fifteen (15).............. 22
Zusammen ist man weniger allein .......................... 8 Aus dem Verband:
Jedem das Seine – Neue Wohnkonzepte ................ 9 Literaturseminar 2022 ........................................ 23
Alle unter einem Dach / Nachdenkgedanken..........10 Neue 1. Vorsitzende in Nürnberg / Herbstseminar
Überwintern in südlichen Gefilden ........................ 11 Kunstseminar ..................................................... .24
Daheim in anderen Ländern ..................................12 Gruppen berichten von ihren Veranstaltungen... 25
Heimisch werden / Ein fremdes Zuhause ...............14 Impressum...........................................................31
Sprachlos in der Fremde........................................15
Vom Bauernland zum Baugrund.............................16

Titelseite: Fenster in der stimmungsvollen Zeit Foto: pexels-maria-orlova

Thema

Verortungen: Fremde, Zuhause und Heimat

„Seemann, lass das Träumen,

denk nicht an zuhaus, deine Hei-

mat ist das Meer, deine Freunde

sind die Sterne…“ Dieser 1960

von Lolita gesungene Song er-

oberte in Windeseile die Charts

und erfuhr auch international

große Erfolge.

Bereits in diesem Songtext

zeigt sich die Differenzierung

der Begriffe „Zuhause“ und

„Heimat“, während das zwei

Jahre später erschienene Lied

„Zwei kleine Italiener“ die bei-

den anthropologischen Kon­

stanten als Synonyme benutzt.

Nach der Hochkonjunktur

der sentimentalen Heimatfilme Eine Umfrage zeigt: Zwei Drittel wollen eine gewisse Zurückgezogenheit auch nach der Pandemie

aus den 1950er Jahren traf der beibehalten und das Zuhause genießen. Die zermürbte Seele will ihre Ruhe.

Song den Zeitgeist und spiegel-

te mit der Thematisierung der

„Gastarbeiter“ und andererseits der Rei- Samstag aus dem Backofen, mögen als Miteinander herrscht und die zermürbte

selust nach Italien gesellschaftliche und Beispiele des Evozierens von Erinne- Seele ihre Ruhe und damit eine Heimat

politische Zustände wider. rungen die konkrete Verortung in einem finden könnte.

Die Sehnsucht nach Geborgenheit Zuhause ermöglichen. Das Gefühl, ge- Der Philosoph Ernst Bloch sieht Hei-

und Verortung in einer Gemeinschaft, schützt im familiären, meist elterlichen mat als den Ort, an dem noch niemand

dem Zuhause, stillen wir in der Regel be- Kokon voller Hoffnung in die Zukunft bli- war, ein Utopikum, an dem Menschen mit

reits als Kleinkinder in den schützenden cken zu können. den sie umgebenden Naturbedingungen

Armen unserer Eltern, verbunden mit vie- Johanna Spyris Heidi dürfte eine und den gesellschaftlichen Verhältnissen

len Sinneswahrnehmungen wie Geräu- der ersten weiblichen Personen gewe- im Einklang sind. Alle Menschen sind im

schen, Düften etc. sen sein, bei der im literarischen Gen- Sinne Blochs aufgefordert, an der Ver-

re „Kinderbuch“ eine klinisch manifeste wirklichung dieser Heimat mitzuwirken,

Form des Heimwehs diagnostiziert wur- sich mit dem Eigenen und dem Fremden

de. Die bei ihr immer stärker anwachsen- schöpferisch auseinanderzusetzen und

de Sehnsucht nach den Bergen und der den Zustand der Entfremdung mit dem

kleinen Welt des Alm-Öhis inmitten der Ziel der Schaffung einer Demokratie ab-

geschäftigen Frankfurter Welt könnte als zuschaffen. Diese Perspektive einer bes-

ideellen Grundstein das pädagogische seren Welt ist in die Zukunft gerichtet, ein

Hauptwerk des französischen Aufklärers Stück Hoffnung, Leitidee der Philosophie

Jean-Jacques Rousseau (Émile) haben, von Ernst Bloch mit dem Ziel einer Gesell-

der seine Skepsis gegenüber der groß- schaft mündiger Bürger.

städtischen Ständegesellschaft und den Ein weiter und beschwerlicher Weg

Auswirkungen des zivilisatorischen Fort- von dem angeblichen und oft als psycho-

schritts äußerte. logische Schutzmaßnahme nostalgisch

Angesichts der zunehmenden Globa- verklärten Geborgensein im elterlichen

Ein kleiner brauner Teddybär, Trost- lisierung unserer Welt, in der Millionen Zuhause, wie statistische Untersuchun-

spender bei Kinderkrankheiten und The- von Menschen vor Kriegen, Wirtschafts- gen zur häuslichen Gewalt (vor allem in

rapeut beim ersten Liebeskummer in krisen etc. aus ihren Herkunftsländern gesellschaftlichen Krisensituationen wie

durchweinten Nächten, aber auch der fliehen, manifestiert sich die Suche, die z.B. der Pandemie) belegen.

köstliche Duft des Hefekuchens jeden Suche nach einem Ort, wo das friedliche Gabriela Weber-Schipke

3

Thema

Leben in der vertrauten Wohnung

Wohnen ist ein Eckpfeiler für den Lebens- älteren Menschen aufzugreifen, führt Wenn dann ein Leben in der eigenen
alltag und das Lebensgefühl der Menschen. das Bundesministerium für Familie, Se- Wohnung nicht mehr möglich ist, gibt es
Mit dem Wohnen verbinden wir Ruhe, Er- nioren, Frauen und Jugend (MFSFJ) eine eine große Anzahl unterschiedlichster
holung und Krafttanken, aber auch sozia- Reihe von Projekten und Maßnahmen Pflegeheime. Nach Angaben des Statis-
le Kontakte, Austausch und Miteinander. durch. Das aktuelle Programm „Leben tischen Bundesamtes (2022) leben etwa
wie gewohnt“ stärkt Formen des ge- 0,82 Millionen pflegebedürftige Men-
Gerade im Alter, bei Pflegebedürftig- meinschaftlichen Wohnens und bindet schen in einem stationären Pflegeheim;
keit oder gesundheitlichen Einschrän- dabei digitale und technische Hilfen so- das sind etwa 20 Prozent der pflegebe-
kungen erhält das persönliche Zuhause wie eine Sicherstellung der Mobilität im dürftigen Menschen insgesamt. Das
noch einmal eine besondere Bedeutung, näheren Wohnumfeld. Die Zielgruppe Wohnprojekte-Portal der Stiftung trias –
um auch dann selbstbestimmt und mög- des Programms, das bis Ende 2023 läuft, Gemeinnützige Stiftung für Boden, Öko-
lichst eigenverantwortlich leben und an sind u.a. Baugruppen, Stiftungen, Verei- logie und Wohnen umfasst derzeit über
gesellschaftlichen Prozessen teilhaben ne, Wohnungsunternehmen und -genos- 700 realisierte Wohnprojekte in Deutsch-
zu können. senschaften, Nachbarschaftsinitiativen, land. Das FORUM Gemeinschaftliches
Kommunen. Wohnen e.V. und andere Institute gehen
Um diesen Wunsch der allermeisten von einer höheren Zahl aus und schätzen
Die durch MFSFJ geförderte Plattform rund 4.000 bis 5.000 gemeinschaftliche
Das Ideal WIN – Wissen, Informationen und Netz- Wohnprojekte deutschlandweit.
werke gibt praktische Tipps und Hinwei-
Ja, das möchste: se zur Gründung und Gestaltung eines Auswandern
Eine Villa im Grünen mit großer gemeinschaftlichen Wohnprojekts. Die
Terrasse, vorn die Ostsee, staatliche Förderbank KfW unterstützt Den Lebensabend unter Palmen verbrin-
hinten die Friedrichstraße; den altersgerechten Umbau von Woh- gen, ist der Traum vieler Menschen. Im
mit schöner Aussicht, nungen und der Wohnungsumgebung. Alter auszuwandern wird bei deutschen
ländlich-mondän, Dies sind Beispiele für das Engagement Senioren immer beliebter. Die Urlaubs-
vom Badezimmer ist die Zugspitze auf Bundesseite zur Stärkung des alters- länder Südeuropas wie Spanien, Portugal
zu sehn – gerechten Wohnens, über die das Minis- und die Türkei zählen nach wie vor zu den
aber abends zum Kino hast du´s nicht terium auch in seinem Serviceportal „Zu- beliebtesten Zielen für deutsche Senion-
weit. hause im Alter“ informiert: https://www. ren. Auch die USA und Thailand werden
Das Ganze schlicht, serviceportal-zuhause-im-alter.de/ immer häufiger zu einem neuen Zuhau-
voller Bescheidenheit: se. Ein Grund: Die Lebenshaltungskos-
Neun Zimmer – nein, doch lieber zehn! Länger zuhause leben ten sind in vielen Ländern Süd- und Ost-
europas oder Asiens wesentlich geringer
Ein Dachgarten, wo die Eichen drauf Auf dieser Internetseite wird ausführlich als in Deutschland.
stehn, über die verschiedensten Hilfen informiert,
Radio, Zentralheizung, Vakuum, z.B. mit Tipps für barrierefreie Wohnungen Doch mangelnde Sprachkenntnisse
eine Dienerschaft, gut gezogen und und Umbau, technische Hilfe und alters- können zur Isolation führen. Auch ohne
stumm, gerechte Musterwohnungen. Außerdem die Freunde und die vertraute Umge-
eine süße Frau voller Rasse und Verve – geht es dabei um Nachbarschaft und eh- bung, ohne die Kulturangebote wie Thea-
(und eine fürs Wochenend, zur Reserve) renamtliche Unterstützung vor Ort. Denn ter, Vorträge, Museumsbesuche und Tref-
eine Bibliothek und drumherum die Kontakte im Wohnumfeld und das En- fen bei Frau und Kultur kann es doch sehr
Einsamkeit und Hummelgesumm. gagement – auch vieler älterer Menschen einsam werden.
– sind ebenso wichtig wie die Ausstattung
Tröste dich der Wohnung selbst. Natürlich leisten Fa- Vor der Umsetzung des Umzugs ins
Jedes Glück hat einen kleinen Stich. milien, die Angehörige pflegen, wichtige Ausland ist es wichtig, sich ausgiebig
Wir möchten so viel: Haben. Sein. Hilfe. Aber auch Netzwerke können sie da- über die Themen Rente, Steuern und
Und gelten. bei entlasten. Die Broschüre "Länger zu- Krankenversicherung zu informieren, um
Daß einer alles hat – das ist selten. hause leben" kann beim Bundesfamili- finanzielle Fallen zu umgehen. Wichtige
enministerium in gedruckter Form bestellt Informationen: https://www.wohnen-im-
Auszüge aus dem Gedicht von werden oder auf der Internetseite als PDF alter.de/einrichtung/wohnformen/aus-
Kurt Tucholsky heruntergeladen werden. land-pflege.

Inge Kellersmann

4

Thema

Vom Opfertisch zum Symbol der Gemeinschaft

Da steht er nun, auf Dachböden, im Längsseite, noch heu-
Keller, in der Garage. In der Regel aus
Weichholz, Maße 140 cm x 80 cm x 120 te nimmt beim Ritual der
cm, mehr oder weniger in die Jahre ge-
kommen, ramponiert und mit unzähli- Sitzordnung diesen Platz
gen Lasurschichten überzogen. Meiner
ist mittlerweile schon 100 Jahre alt und der Vorsitzende Richter
kann so manche Geschichte erzählen!
Soziologen zufolge besitzt er eine he- bei Verhandlungen ein.
rausragende soziale Relevanz und gilt
als Spiegel gesellschaftlicher Zustän- Der sagenumwobene
de und Beziehungen: der Tisch.
runde Tisch in der Tafel-
Seine sakrale Funktion, bis heute sichtbar
in Form des Altars, der kultischen Mitte, ist runde von König Artus
bereits belegt in der altägyptischen Grab-
Architektur, wo er als Basis für Opfergaben und die „Runden Tische“
dient, erst mit der Sesshaftwerdung des
Menschen und der Erfindung des Hauses während der Revolutio-
erfüllt er vor allem in der Antike den Zweck,
den im Liegen Speisenden eine Ablage für nen 1989/90 sollten die
Nahrungsmittel zu bieten.
Gleichberechtigung aller
Während das bürgerliche Wohnen bis
1700 geprägt war durch den Küchenherd Teilnehmer spiegeln und
als symbolischer Mitte, erobert nun der
Esstisch die Wohnstuben. Berühmte Bei- in Krisensituationen die
spiele der Sitzordnung sind hinlänglich
bekannt. Klärung abweichender In-

Im weltberühmten Meisterwerk „Das teressen und die Herbei-
letzte Abendmahl“ von Leonardo da Vin-
ci aus der italienischen Renaissance po- führung eines Kompro- Drei Generationen in fröhlicher Runde Foto: istock
sitioniert der Künstler an der langen Ta- misses ermöglichen.
fel die Hauptfigur Jesus in der Mitte der
Erschreckend, skurril und psycho- bauküche in freundlichen Pastelltönen ein

logisch vielsagend präsentierte sich in Stück bundesrepublikanischen Wohlstand

Moskau an einem sechs Meter langen darstellte.

weißen Tisch der Machthaber beim Ge- Knallrot lackiert erlebte der Tisch wäh-

spräch mit Staatsgästen aus Frankreich rend meiner Studentenzeit in den meist

und Deutschland, die im Abstand von geräumigen Küchen der Altbauwohnun-

über fünf Metern am gegenüberliegen- gen politische Diskussionen, Parties mit

den Kopfende Platz nehmen mussten. Chili con carne, Ravioli, Nudelsalat und

Als Teil der Aussteuer meiner Groß- Lambrusco, bis er dann durch einen „Ate-

tante hielt mein Tisch in den 20er Jah- liertisch“ des schwedischen Möbelhauses

ren Einzug in die kleine Küche von Tan- ersetzt wurde.

te Grete, musste aber drei Jahrzehnte Das hätte sich die Wiener Architek-

später einem ausziehbaren Resopal- tin Margarete Schütte-Lihotzky beim Ent-

tisch weichen, der nun mit der stolz er- wurf der „Frankfurter Küche“ 1926 mit ih-

worbenen Eckbank und der neuen Ein- rer Zielvorgabe der Arbeitsoptimierung für

Hausfrauen nicht träumen lassen, dass

ein Abendessen mit Gästen oft die Gren-

zen zwischen Gastgeber und Gästen über-

windet und der Tisch beim gemeinsamen

Kochen, Genießen und Kommunizieren

den Mittelpunkt des Lebensraumes dar-

stellt.

Mein kleiner Tisch erfreut seit einiger

Zeit die Enkelin einer Bekannten als Spiel-

tisch, beklebt mit Flamingos und der Eis­

prinzessin.

Gabriela Weber-Schipke

"Das letzte Abendmahl" von Leonardo da Vinci

5

Thema

Schöpferisch zuhause sein

Gemeinsam musizieren ist Labsal für die Seele

Meine früheste Erinnerung an Musik ist das Klavierspiel meiner rona fiel alles aus. Dann fasste ich einen einsamen Entschluss:
Mutter, während ich wahrscheinlich auf dem Teppich herum- Ich spiele wieder Klavier, (das mütterliche Klavier war alters-
krabbelte, dann gesellte sich der leider etwas dünne Geigenton schwach und verstimmt) und so habe ich mir tatsächlich mit 73
meines Vaters dazu. Sie spielten meist aus den „Klassischen Jahren einen Flügel gekauft. Mit meiner Klavierlehrerin spiele
Stücken“ der Edition Peters mit dem typischen blassgrünen ich manchmal vierhändig, so wie früher. Nur meine Finger sind
Einband, ich konnte relativ schnell dazu singen mit einem zar- nicht mehr so beweglich.
ten, aber hohen Sopran.
Auch das Chorsingen kommt wieder in Mode: In Wien und
Und so entwickelte sich allmählich der feste Termin des Salzburg gibt es eine „Sing mit“-Bewegung, es werden die
Hausmusikabends, meine ältere Schwester hatte eine Block- großen Chorwerke im Stephansdom oder im Salzburger Dom
flöte, später dann eine Querflöte, manchmal kam auch ein aufgeführt von einem bunt zusammengewürfelten Chor, man
Kind aus der Nachbarwohnung dazu. Dann kramte meine Mut- kann sich anmelden, wenn man das Werk „draufhat“. In die-
ter ein altes Liederbuch hervor „Das deutsche Volkslied“ aus sem Jahr habe ich den Elias von Mendelssohn mitgesungen,
dem Verlag von Richard Birnbach mit wunderschönen Jugend- den wir 1967, also vor 55 Jahren, mit dem Berliner Konzertchor
stil- Zeichnungen. Es muss noch aus der Kaiserzeit stammen, in der neuen Philharmonie aufgeführt haben!
enthält auch Soldaten- und Vaterlandslieder, leider fällt das
Buch allmählich auseinander, aber die Lieder kann ich alle Dr. Lore Gewehr, Gruppe Berlin
noch singen, nur mit dem Text hapert es etwas.

Mit sieben Jahren bekam ich dann Klavierunterricht und
habe oft mit meiner Mutter vierhändig gespielt, die Hausmu-
sik fand dann nur noch gelegentlich statt, mein Vater spielte
in einem Laien-Quartett als Bratschist.

Der Umzug nach Berlin 1958 veränderte unser Leben, die
große Stadt, die neue Schule – für uns Kinder aufregend und
toll, aber zwischen meinen Eltern kriselte es und dann hat man
keine Lust zu gemeinsamer Hausmusik.

Mit 18 bin ich in einen großen Chor eingetreten und lern-
te zehn Jahre lang die gesamte wichtige Chorliteratur kennen.
Jetzt singe ich in drei Seniorenchören, aber in der Zeit von Co-

Von der Musik zur Malerei amt“ zu studieren, Kunsterziehung mit Nebenfach – ich geste-
he: Ich habe meist richtig gerne unterrichtet, besonders auch
I ch wurde in Wiesbaden groß, die Familie war ganz der Musik Kunstgeschichte.
zugetan – mein Vater war Musiker mit Leib und Seele, zeich-
nete aber wohl auch gerne. Das ging so weit, dass er mir die Von der Schule wieder ins entpflichtete Leben entlassen,
Zeichnungen für meinen Kunstunterricht anfertigte, während ist die eigene, intensive Malerei (meist mit Ölfarben, Lasurma-
ich Flöte, Cello oder Klavier spielte. Und ich – wäre es nach lerei) hier in meinem Hannoverschen Atelier (neben der gro-
meinem Vater gegangen – sollte Opernsängerin werden, we- ßen Familie) das Wichtigste. Die Themen variierten im Laufe
gen meiner „3 Oktaven-Stimme“. der Jahre und mit dem Älterwerden. Waren es anfangs mehr
sozialkritische Themen, gemalt immer in Serien (wie „Nähe-
Erst auf der Klassenfahrt (13. Klasse) nach Paris beim Zeich- rinnen“ oder „Fabrikarbeiterinnen“), so wurden sie, bedingt
nen von Skizzen und vor allem Karikaturen meiner Mitschü- auch durch die eigenen Kinder, deutlich heiterer. So lauteten
lerinnen vollzog sich der „Seitenwechsel“. Kräftig unterstützt die Titel dann „Rote Kuh“ oder „Anderswelten“. Dazu kommen
von meinem damaligen Kunstlehrer, machte ich ein paar Sieb- literarische Themen wie „Hommage an Kafkas `Verwandlung`“
drucke (war damals brandneue Technik an Gymnasien), um oder ein Mythos wie „Ikarus“.
mich an Kunsthochschulen zu bewerben. Es wurden für mich
äußerst erfolgreiche Jahre (Schwerpunkte Malerei und Litho- In all den Jahren hat neben der Malerei aber auch die
grafie) bei zwei sehr bekannten Professoren und mit bis heute Druckgrafik ihren Platz gefunden. Vor allem der Hochdruck
liebgewonnenen Kommiliton*innen! wurde mit einbezogen. Eine Grafik ist eben schneller herge-

Mein Realitätssinn veranlasste mich, auf „Höheres Lehr-

6

Thema

stellt (und auch verkauft) als ein Ölbild. In den vielen Einzel- Tagebuch oder Biographie
wie Gruppenausstellungen der jüngsten Zeit (wie in Hanno-
ver, Celle, Hameln, Uelzen, ) macht die Resonanz bei Publikum Ist Tagebuch schreiben heute, wo die jungen Menschen vieles
oder Presse immer wieder Lust zum "Weiter so!"
auf Instagram und Facebook posten, überholt? Nein, denn ein
Annette Grund, Gruppe Hannover
Tabebuch schafft Raum für ganz persönliche private Gedanken
Annette Grund in ih-
rem häuslichen Ate- oder Erlebnisse. Es hilft, den Tag zu reflektieren, schöne Mo-
lier mit gestapelten
fertigen und erst be- mente festzuhalten, negative Erinnerungen von der Seele zu
gonnenen Arbeiten.
schreiben, Gedanken und Ideen zu sammeln.

Ein Tagebuch kann auch ein Begleiter fürs Leben sein. Es

ist spannend zu lesen, wie man vor fünf, zehn, zwanzig Jah-

ren über das Leben und die Welt gedacht hat. Zu lesen, welche

Menschen man kannte und welche Krisen man gemeistert hat.

Und es hilft, zu hinterfragen und evtl. umzudenken.

Und wer bisher kein Tagebuch geführt hat, könnte ja mit ei-

ner Autobiographie beginnen. Die eigene Biografie zu schrei-

ben, heißt auch, andere Perspektiven auf Vergangenes zu er-

möglichen. Das betrifft nicht nur die Gesellschaft als Ganzes,

sondern auch die eigene Familie, die Kinder und Enkelkinder.

I.K.

Home Office informell zu klären oder gar mal etwas Privates anzusprechen.
Für eingespielte Teams war dies zu schaffen, so hörten wir so-
Niemand hätte für möglich gehalten, dass dem Corona-Virus et- gar von virtuellen Weihnachtsfeiern, die als Erfolg bewertet
was Positives zugeschrieben würde. Die Möglichkeit aus dem wurden. Neue Mitglieder in den Teams hatten es jedoch ein-
Home Office zu arbeiten, gehört jedoch dazu. War es früher da- deutig schwerer, Kontakt aufzunehmen und Netzwerke zu bil-
von abhängig, ob man einen vertrauensvollen oder einen miss- den.
trauischen Chef hatte, wenn man ab und an einen Tag im Home
Office arbeiten wollte, so gingen während Covid-19 viele Firmen Mit der Zeit kristallisierte sich heraus, dass eine Mehrheit
dazu über, ihren Mitarbeitern geradezu eine Home-Office-Pflicht der Kollegen ein Modell für die Zukunft favorisiert, bei dem
zu verordnen. Es mussten schon sehr triftige Gründe angeführt zwei Präsenztage im Büro und drei Tage Home Office vorge-
werden, um überhaupt ins Büro kommen zu dürfen. sehen wären. Für die Unternehmen bedeutet die Realisierung
dieser Wünsche neue Herausforderungen: Wie ist zukünftig
Und entgegen allen Vorurteilen, im Sinne von "es würde mit der Bereitstellung von Büroraum umzugehen und wie sind
nicht genauso viel gearbeitet“, klappte es mit der Arbeit im Kantinen wirtschaftlich zu betreiben.
Home Office überraschend gut.
Birgit Potthoff-Karl
Natürlich mussten zu Beginn Hindernisse überwunden
werden: Wenn mehrere Personen aus einem Haushalt über Die Zukunft: zwei Tage im Büro und drei Tage Home Office?
den PC mit ihren Arbeitsplätzen oder Schule verbunden wer-
den sollten, war oft die Investition in WLAN in alle Räumen und 7
in mehrere IT-Geräte nötig.

Vorteile des Arbeitens von zuhause wurden schnell identi-
fiziert: Zeit- und Kostenersparnis.

Nachteile machten sich oft erst nach einigen Wochen be-
merkbar: Die Menschen erkannten, wie anstrengend es ist, je-
den Tag bis zu acht Stunden in Telefon- bzw. Videokonferen-
zen mit wechselnden Teilnehmern zu arbeiten. Kopfschmerzen
und oder Schulter/Nackenbeschwerden mehrten sich. Berufs-
tätige Mütter machten die unangenehme Erfahrung, dass für
sie im Homeoffice plötzlich wieder die Hausarbeit, die Kinder-
betreuung und das Homeschooling fast ausschließlich zu ihren
zusätzlichen Aufgaben wurden.

Auch wurde schnell erkannt, dass die ausgefallenen Mit-
tagessen mit den Kollegen die Möglichkeit nahmen, Themen

Thema

Zusammen ist man weniger allein

Win-Win-Win: Mehrgenerationenwohnen wird immer beliebter

Im Gegensatz zu allen früheren Zeiten gibt es heute vielfäl- Nicht nur junge Familien oder Singles profitieren vom gene-
tige Wohnkonzepte und Wohnformen, die auf die jeweilige rationenübergreifenden Wohnen, sondern auch die älteren
Lebenssituation sowie auf die individuellen Wünsche an Menschen.
die eigenen vier Wände bzw. an das Zuhause zugeschnit-
ten sind. käufe erledigen, die Singles das Rasenmähen übernehmen,
bei PC-Problemen helfen… Jede und jeder bringt sich dann im
Früher war es vor allem auf dem Land völlig normal, dass alle Rahmen der Möglichkeiten in die vielfältigen Alltagsaufgaben
Generationen einer Familie unter einem Dach lebten und sich auch der anderen Generationen ein.
im Rahmen der Möglichkeiten in den Familienalltag einbrach-
ten. Doch heute ist das die Ausnahme. Unser Leben ist mobiler, Klingt toll! Und das ist es m. E. auch. Eine Win–Win–Win–
flexibler und weitläufiger geworden und nur selten wohnen die Situation par excellence. Voraussetzung ist natürlich, dass sich
Großeltern in räumlicher Nähe zu den Kindern und Enkelkin- alle – wie in einer richtigen Großfamilie – aufeinander verlas-
dern. Eine Entwicklung, die nicht nur viele ältere Menschen be- sen können und sich an die getroffenen Vereinbarungen hal-
dauern, sondern auch junge Eltern, die sich aufgrund der viel- ten.
fältigen Aufgaben und Herausforderungen in Familie und Beruf
über Entlastung im Familienalltag freuen würden. Die meisten Vorteile ergeben sich vermutlich für die Jüngs-
ten, weil immer eine ihnen vertraute und verlässliche Bezugs-
Und genau hier setzt die Idee des Mehrgenerationen- person da ist, die Zeit hat, wenn die Eltern sich nicht um sie
wohnens an. Meist geht die Initiative von jungen Eltern aus, kümmern können; die mit ihnen spielt, ihnen vorliest, sie zum
die sich nicht nur Unterstützung im Familienalltag wünschen, Sport bringt oder einfach zuhört.
sondern auch ihren Kindern ein Heranwachsen mit älteren
Menschen ermöglichen wollen. Also suchen sie nach gleich- Die jungen Eltern profitieren, weil ihnen nicht ständig die
gesinnten Mitbewohnern zur Gründung einer „Großfamilie“. Uhr im Nacken sitzt, wenn‘s bei der Arbeit unerwartet später
Sind diese gefunden und – ganz wichtig! – stimmt die Che- wird, sie unterwegs im Stau stehen, die Schlange an der Kasse
mie zwischen ihnen - wird ein passendes Haus mit jeweils für nicht kürzer werden will oder wenn sie einfach mal Zeit für sich
Einzelpersonen, Paare und (Ein-Eltern-)Familien geeigneten brauchen. Das gilt in besonderer Weise für Ein-Eltern-Familien.
Wohnungen gesucht, wo sie ihre Vorstellung eines generati-
onsübergreifenden Miteinanders realisieren können. Wenn Den „Grannies“ bietet das generationsübergreifende
die Umsetzung der Idee richtig gut läuft, dann betreuen schon Wohnkonzept den Vorteil, im Alter nicht allein zu sein, sich
bald nach dem Einzug die Ersatz-Großeltern die Jüngsten, le- nützlich machen zu können sowie bei altersbedingt auftreten-
sen ihnen vor, spielen mit ihnen, betreuen die Hausaufgaben, den Einschränkungen dank gegenseitiger Hilfe möglichst lange
während die jungen Eltern im Gegenzug für diese z. B. die Ein- ein selbständiges Leben führen zu können.

Mehrgenerationenhaus Berufstätige Singles profitieren vom generationsübergrei-
fenden Wohnen, weil es ihnen die Organisation privater All-
Ebenfalls auf ein generationsübergreifendes Miteinander
ausgerichtet sind die vielerorts entstandenen Mehrgenera-
tionenhäuser. Hier wohnen die Menschen allerdings nicht
dauerhaft miteinander unter einem Dach, sondern treffen
sich dort zu gemeinsamen Aktivitäten, Gesprächen sowie
zur gegenseitigen Hilfe. Menschen jeden Alters und jeder
Nationalität. Zu den überwiegend von öffentlichen Einrich-
tungen initiierten und organisierten Aktivitäten gehören z.
B. Hausaufgabenbetreuung und Spielgruppen für Kinder,
Deutschunterricht für Menschen anderer Nationalitäten, ge-
meinsames Kochen, Singen, Basteln oder Malen, Tanzgrup-
pen ebenso wie PC-Kurse, Unterstützungs- und Hilfsange-
bote für ältere Menschen und Pflegebedürftige.

8

Thema

tagsaufgaben erleichtert, wenn z. B. Mitbewohner die online tert und schärft den persönlichen Erlebens- und Erfahrungs-
gekaufte Ware für sie an der Packstation oder einer Annahme- horizont, was für alle ein Gewinn ist.
stelle abholen oder bei wichtigen Handwerkerarbeiten in der
Wohnung sind. Das kann den ohnehin schon prall gefüllten Ter- Selbstverständlich wird es auch beim Mehrgenerationen-
minkalender spürbar entlasten. Und wenn man sich als über- wohnen mal ruckeln. Aber wie immer und überall muss das
zeugter Single nach einem anstrengenden Arbeitstag mal für nicht das Scheitern des Konzeptes bedeuten, solange alle to-
ein paar Stunden ganz entspannt mit Kindern beschäftigen lerant und respektvoll miteinander umgehen. Wenn sich alle
kann, ohne den Druck elterlicher Verantwortung zu haben, ist Mitbewohner bewusst und nach reiflichen Überlegungen für
das zweifellos eine wertvolle Bereicherung. Nicht zu vergessen: diese Lebensform entschieden haben, wird die Gemeinschaft
Das generationsübergreifende Zusammenleben gewährt allen gelegentliche Meinungsverschiedenheiten sicherlich aushal-
den Blick über den eigenen sozialen Tellerrand hinaus, erwei- ten und konstruktiv miteinander lösen.

Sigrid Lindner

Jedem das Seine – Neue Wohnkonzepte

Der Wohnungsmarkt ist in Bewegung wie nie. Der große Be- Gemeinschaftsräume ergänzt, die allen zur Verfügung stehen
darf an bezahlbarem Wohnraum, die moderne, auf Mobilität und zusammen genutzt werden. Im Gegensatz zu einer auf kur-
und Flexibilität setzende Lebensweise sowie Klimawandel ze Zeit angelegten WG, wie wir sie aus der Ausbildungszeit ken-
und Rohstoffbegrenzungen erfordern alternative Wohnide- nen, ist das Cluster-Wohnen für ein langfristiges Zusammen-
en. Ideen, die die individuellen Wohnbedürfnisse der Men- leben konzipiert. Die Gemeinschaftsräume wie Küche, Wohn-/
schen befriedigen und ressourcenschonend, klimaneutral Esszimmer, Hauswirtschaftsraum, Besucherzimmer, ein Gar-
sowie nachhaltig sind – in Bauweise und Bewirtschaftung. ten sind ausdrücklich zur gemeinsamen Nutzung, Bewirtschaf-
Drei Beispiele. tung, sowie für weitere gemeinsame Aktivitäten vorgesehen.

Co-Housing Großes Plus: Cluster-Wohnen ist billiger als konventionel-
les und kommt der Notwendigkeit nach einem ökologischen,
Aus Dänemark stammt das Wohnkonzept Co-Housing. Hierbei ressourcensparenden Wohnungsbau nach.
geht es vorwiegend um das Teilen von Ressourcen und Poten-
tialen sowie um gute, aktive Nachbarschaft. Privat initiiert, ge- Tiny-Houses
plant, genossenschaftlich organisiert entsteht eine Ansiedlung
privater Wohnungen und Häuser, die um weitere Gebäude, Räu- Eine besonders stark auf Umweltschutz, Nachhaltigkeit sowie
me und Freiflächen wie Großküche, Speiseraum, Spielzimmer, auf Individualismus setzende Wohnform ist das Leben im Tiny-
Waschküche, Werkstatt, Arbeitszimmer usw. ergänzt und von House. Das sind kleinste Häuser, die auf minimaler Fläche al-
allen genutzt werden können. Alter, Familienstand, Single oder les bieten, was man zum Wohnen mindestens braucht: Kochni-
Familie – spielt beim Co-Housing keine Rolle. sche, Essplatz, Schlafstelle, WC, Dusche. Sie sind energetisch
gedämmt und beheizbar und es gibt sie für den besonders mo-
Die Vorteile: Man kann Haus- und Gartengeräte, Fahrzeu- bilen Bewohner sogar auf Rädern.
ge sowie die o. g. Räume teilen und sich bei Reparatur- und In-
standhaltungsarbeiten helfen. Kann! Müssen muss man nicht. Die Idee dazu kam während der Finanzkrise in den USA auf,
Die Miete pro qm sowie die Betriebskostenumlage ist für alle als sich viele Amerikaner ihre Häuser und Wohnungen nicht
gleich, unabhängig von der individuellen Nutzungsweise. mehr leisten konnten und nach billigeren Alternativen such-
ten, ohne die Privatsphäre teilen oder aufgeben zu müssen.
Cluster-Wohnungen Damals ging es zunächst um finanzielle Aspekte. Doch wenn
wir den nachfolgenden Generationen einen intakten Lebens-
Nach Familienphase und Berufsleben wollen sich viele ältere raum hinterlassen wollen, müssen wir weitgehend auf Mini-
Menschen beim Wohnen kleiner setzen. Denn die bisherige fa- malismus setzen.
miliengerechte Wohnung oder das Einfamilienhaus macht Arbeit
und kostet Geld. Gleichzeitig suchen sie wegen der sich ausdün- Weil das Leben auf kleinstem Raum weniger Arbeit macht
nenden beruflichen und familiären Kontakte die Gesellschaft und billiger ist, bringt es dem Besitzer finanziellen Spielraum
anderer Menschen, um nicht zu vereinsamen. für andere Ausgaben. Inzwischen wächst das Interesse an
Kleinsthäusern, denn es bietet vor allem jungen Menschen die
Hier setzt die Idee der „Cluster-Wohnung“ an. Beim Clus- Möglichkeit eines mobilen und flexiblen Lebens. Zunehmend
ter-Wohnen werden kleine, als privater Rückzugsort genutzte unterstützen Kommunen dieses Wohnkonzept, indem sie Flä-
Wohneinheiten – ein bis zwei Zimmer, Bad, Teeküche – durch chen für eine Kleinsthaus-Bebauung bereitstellen.

Sigrid Lindner

9

Thema

Alle unter einem Dach Nachdenkgedanken

Miteinander in der Großfamilie Ein Haus wird gebaut, aber ein Zuhau-
se wird geformt.
Vom ersten Atemzug an habe ich in einer litäten austrug. Doch spätestens zu den
generationsübergreifenden Familie gelebt. Abendnachrichten saßen alle wieder ver- Hazrat Inayat Khan
Mit zwei Schwestern, Eltern, Großeltern. eint am Radio, später vor dem Fernseher.
Schon bald zogen auch eine früh verwitwe- Wer ohne Angst die Stürme des Le-
te sowie eine ledige Großtante ein. Damit Der absolute Höhepunkt unseres ge- bens meistern will, braucht einen si-
waren wir elf Familienmitglieder aus drei nerationsübergreifenden Zusammen- cheren Ankerplatz.
Generationen unter einem Dach. seins war der Sonntagnachmittag, wenn
sich alle um zwei große Tische versam- Astrid Lindgren
Den Begriff „Mehrgenerationenwoh- melten und Rommé, Mensch-ärgere-dich-
nen“ kannte man damals nicht und im nicht oder Malefiz spielten. Wir Kinder hat- Ein Zuhause ist überall dort, wo man
Gegensatz zu diesem heutigen Wohn- ten den größten Spaß, wenn wir Oma beim mit einem Lächeln gegrüßt wird.
konzept war unser Zusammenleben kein Schummeln erwischten. Und sie schum-
freiwilliger Zusammenschluss gleichge- melte jeden Sonntag. Welch wunderba- Philipp Helmer
sinnter Menschen, sondern eine Zwangs- res Zuhause!
gemeinschaft. Es ging nicht anders. Zuhause ist da, wo man dich wieder
Mit zunehmendem Alter und fort- aufnimmt, auch wenn du mal etwas
Jede Wohnung in unserem Haus ver- schreitender Gebrechlichkeit der Groß- falsch gemacht hast.
fügte über eine eigene Küche, doch zur elterngeneration mussten wir Mädchen
Mittagsmahlzeit saßen alle an einem Tisch. – inzwischen pubertierend – nach den Christian Morgenstern
Das ergab sich so: Omas und Großtan- Schularbeiten bei der Haus- und Garten-
ten gingen meiner Mutter bei der Wäsche, arbeit helfen und auch leichte Pflegeauf- Manche Frauen putzen ihr Zuhause,
leichter Hausarbeit und der Betreuung von gaben übernehmen. Das gefiel uns natür- während andere leben. Viele Frauen
uns Kindern helfend zur Hand; die Opas lich nicht. Vor allem nicht, wenn wir uns putzen für andere, um leben zu können.
hielten im Garten Gemüsebeete, Obstbäu- lieber mit Freunden trafen als den Bett-
me und -sträucher, Stein- und Ziergarten in lägrigen das Abendessen anzureichen, Gerlinde Fink, Kabarettistin
Schuss. Meine Mutter kochte für alle und ihnen die Kissen aufzuschütteln oder an-
dann wurde gemeinsam gegessen. dere Hilfen zu leisten. Und noch viel we- Und jedem Anfang wohnt ein Zauber
niger mochten wir, dass sich die „Oldies“ inne, der uns beschützt und der uns
Unser Mehrgenerationen-Zuhause ungefragt in unsere Mode-, Musik- und hilft zu leben.
war wohl für uns alle eine gute Sache. Schminkvorlieben einmischten.Doch auch
Vor allem für uns Kinder. Irgendjemand damit arrangierten wir uns irgendwie. Hermann Hesse.
nahm sich immer Zeit, wenn wir uns lang-
weilten, die Knie aufgeschlagen oder sich Als ich Abitur machte, waren wir nur In der Enge unsers heimatlichen Gar-
eine von uns beim Klettern die Strumpf- noch neun, wenige Monate später nur tens kann es mehr Verborgenes ge-
hose zerrissen hatte. Und gab es Ärger mit noch sechs. Meine ältere Schwester hei- ben als hinter der Chinesichen Mauer.
den Eltern, hielten die Großtanten ihre gü- ratete, ich begann mein Studium. Unser
tigen, tröstenden Hände über uns. Zum Mehrgenerationenhaus löste sich auf. Antoine de Saint-Exupery
Unmut unserer Eltern, die sich jedes Ein-
mischen in die Kindererziehung verbaten. Mein Sohn hatte nur noch eine Oma. Der Mensch ist dort zu Hause, wo sein
Was die gescholtenen Großtanten mit ei- Sie wohnte zwar nicht in unserer Woh- Herz ist, nicht dort, wo sein Körper ist.
nem gutmütigen Lächeln quittierten. nung, aber ganz in der Nähe und half mir
bei seiner Betreuung. Ich denke, dass Mahatma Gandhi
Es herrschte wahrlich nicht immer eitel auch er die Oma-Zeiten uneingeschränkt
Sonnenschein. Insbesondere nicht für mei- genossen und in seiner Entwicklung da- Ich fühle mich in der ganzen Welt zu-
ne Mutter, die die verschiedenen Wünsche von profitiert hat. Meine Enkelkinder hause, wo es Wolken und Vögel und
und Bedürfnisse der Großfamilie jeden wachsen ganz anders auf. Sie wohnen Menschentränen gibt.
Tag aufs Neue unter einen Hut bringen gut zwei Stunden Autofahrt von mir und
und deren ältere Mitglieder sie zuneh- den anderen Großeltern entfernt und un- Rosa Luxemburg
mend pflegen musste. Gelegentlich kam ser Zusammensein hat infolgedessen bei
es zu Meinungsverschiedenheiten und aller Herzlichkeit und Vertrautheit über- Heimat ist da, wo wir verstehen und
kleinen Wortgefechten – erstaunlicherwei- wiegend Besuchscharakter – mit allen verstanden werden.
se auch innerhalb der „Senioren-Frakti- damit verbundenen Vor- und Nachteilen.
on“, wenn diese frühere Geschwisterriva- Karl Jaspers
Sigrid Lindner
Die Welt zerstreut oder engt dich ein,
du musst in dir selbst zu Hause sein.

Paul Heyse

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Thema

Überwintern in südlichen Gefilden

Caravaning – das klingt nach Freiheit und Abenteuer, zumin- zum Kochen, kaum zum Heizen. Der Winter in Malaga ist ei-
dest in der Werbung. 82 000 Reisemobile wurden laut Carava- ner der wärmsten in Europa. Von Dezember bis Februar liegen
ning Industrie Verband 2021 in Deutschland neu zugelassen, die Tagestemperaturen durchschnittlich bei 17 bis 18 Grad, an
fast zwei Millionen Menschen sind hierzulande Besitzer eines 300 Tagen im Jahr scheint die Sonne. Rita genießt die langen
Wohnmobils oder Wohnwagens. Ab Mai 2020 verzeichnete die Spaziergänge am Strand, ohnehin spielt sich das Leben viel im
Freizeitfahrzeug-Branche sogar noch einen rasanten Anstieg – Freien und weniger im 7-Meter-Wohnmobil ab. Wenn sie mehr
wohl Corona geschuldet. Denn wer auf Reisen im eigenen Bett Trubel braucht, nimmt Rita den öffentlichen Bus, der sie in 50
schläft, fühlt sich den Viren weniger ausgesetzt als im Hotel. Minuten nach Malaga bringt, der Geburtsstadt von Picasso,
Ohnehin ist dies häufig ein Hauptgrund, sich ein Reisemobil dem dort ein eindrucksvolles Museum gewidmet ist.
anzuschaffen: Das Schlafen im eigenen Bett – egal, wo man
sich gerade befindet, ob auf einem Parkplatz am Supermarkt Einmal die Woche fährt Rita mit ihrem E-Bike auf den Markt
oder einer Parzelle des Luxuscampingplatzes, ob am Meer oder in die nächst gelegen kleinere Stadt oder spielt mit anderen
in den Bergen. Camperinnen Karten im Café. Inzwischen hat sie auch etwas Spa-
nisch gelernt. „Das hilft schon, zum Beispiel, wenn man mal ge-
Dass diese Art des Reisens ohne Flugscham zunimmt, hat sundheitliche Probleme hat.“
allerdings auch Nachteile. Einfach drauflosfahren? Riskant. Zu-
mindest in der Hauptreisezeit im Sommer müssen Stellplätze Bisher sind Werner und Rita freilich problemlos über die
meist reserviert werden. Auch wer im Süden überwintern will, Wintermonate gekommen, nur einmal war ein Zahnarztbesuch
muss mittlerweile mehr Zeit in die Planung investieren. nötig. Ohnehin wird der Alltag im europäischen Ausland immer
einfacher, meint Rita. „Wir haben hier superschnelles Internet,
Werner und Rita, beide in Rente, entfliehen schon seit vier ich kann mit meiner Familie chatten oder mir auch mal Klei-
Jahren den süddeutschen Nebeltagen im November. Auf einem dung direkt auf den Campingplatz bestellen.“
Campingplatz an der Costa del Sol, wo die Berge gegen den kal-
ten Nordwind schützen, treffen sie auf eine deutsche Commu- Jetzt, wo die Energiepreise in Deutschland steigen, steigen
nity, die es im Winter eher warm haben will. Werner hat sein womöglich auch die Übernachtungen in Sizilien, Portugal oder
Rennrad dabei, Rita ein Dutzend Romane auf ihr E-Book ge- Spanien während der Wintermonate. In Spanien richten sich
laden. Der 4-Sterne-Campingplatz bietet einen überdachten mehr als 200 Campingplätze auf Wintertouristen ein. In Grie-
Pool, einen Fitnessraum, ein Restaurant, eine Bar, und sogar chenland, Kroatien und der Türkei dagegen sind offene Cam-
eine Sauna. Das Beste aber, meint Rita, ist das sogenannte pingplätze im Winter eher rar. Doch sparen kann nur, wer seine
Privatbad. Auf ihrem großzügig bemessenen Stellplatz unter Wohnung oder sein Haus in Deutschland in der kalten Jahres-
Palmen steht ein kleines Häuschen mit Toilette und Dusche. zeit vermietet und keine laufenden Kosten hat.
Für Camper ein absoluter Luxus. Denn zu den weniger attrakti-
ven Seiten des Caravaning zählt für gewöhnlich das Leeren des Für Werner und Rita ist das zweitrangig: Ihre Eigentums-
Chemie-Klos. Auch Werner zieht im Normalfall die mobile Toi- wohnung ist abbezahlt, die Zeitung geht in ein Altenheim, nach
lette wie einen Koffer hinter sich her, um ihn an einer dafür vor- Post und Blumen schauen die Kinder. Wobei dies für Rita der
gesehenen Einrichtung zu entleeren. Er ist außerdem zustän- einzig wunde Punkt ist: An Weihnachten, wenn sie unter Pal-
dig für den Wechsel der Gasflasche, wenn diese zuneige geht. men ein paar Kerzen anzündet, sieht sie ihre Enkel auf dem
Bildschirm des Laptops. „Da wäre ich dann schon gerne zu-
In Spanien braucht das Rentnerpaar Gas allerdings nur hause.“

Iris Humpenöder

11

Thema

Daheim in anderen Ländern

Die Schrankwand für Bücher und Krimskrams gilt als typisch Holzbauten. Man findet sie immer noch in ländlichen Gebie-
deutsch. Ebenso die Einbauküche. Gibt es auch in anderen ten, wo Wohnraum günstiger ist als in den Millionenstädten.
Ländern Möbel, Einrichtungsstile oder Bauten, die dort nicht Das traditionelle Wohnhaus unterscheidet sich grundlegend
wegzudenken sind? von einem europäischen, es ist geprägt durch die typische ja-
panische Ästhetik der Schlichtheit.
Fundbüro Kamin

Das Zentrum einer englischen Wohnung

ist der Kaminsims, auch wenn schon lang

kein echtes Feuer mehr darunter brennt.

Er ist ein Minimuseum für die kollekti-

ve Erinnerung der Familie. Hier sind die Fotos von Kindern und

Eltern neben liebgewonnenem Krimskrams und Urlaubssouve-

niers drapiert. Und er ist das ständig geöffnete Fundbüro für al-

les, was man verlegt hat: vom Schlüssel bis zur Herzpille. Hier

schauen Engländer zuerst nach, wenn sie etwas vermissen, und

wie der Golfstrom Treibgut aus aller Welt in gewisse Meeresbuch- Grundlage eines traditionellen japanischen Zimmers bilden

ten spült, so taucht irgendwann der fehlende linke Handschuh Reisstrohmatten (Tatami). Räume werden durch Schiebetüren

oder die verlorene Brille dort auf. Seine größte Rolle spielt das (Shoji) gebildet, dadurch können sie frei und flexibel gestal-

"mantelpiece" jedoch zur Weihnachtszeit. Auf ihm werden die tet werden. In Japan waren die Wohnverhältnisse schon immer

Weihnachtskarten wie Jagdtrophäen aufgereiht und der Strumpf sehr beengt und das ist bis heute so geblieben. Deshalb sind

aufgehängt, den der Weihnachtsmann in der Christnacht mit die Räume in traditionellen japanischen Wohnhäusern meist

Geschenken füllt. Und danach trinkt er das Glas Sherry, das für funktionsfrei. Es gibt fast keine Möbel, alle Sachen werden ent-

ihn auf dem Kaminsims wartet. beb weder in Wandschränken oder unter dem Fußboden verstaut.

Betten sind nicht vorhanden, ein Raum wird erst zum Schlaf-

Unter einer Decke zimmer, wenn die aufrollbaren Futons in der Mitte des Raumes

ausgebreitet werden.

Man mag es für ein Klischee halten, aber Inzwischen bevorzugen viele Japaner die Bequemlichkeiten
es ist doch was dran: Franzosen bevor-
zugen ein großes Bett mit einer riesigen, eines westlichen Einrichtungsstils. Falls sie aber den Platz und
doppelten Bettdecke. Zwei getrennte Bettdecken – das kennen
unsere Nachbarn nicht, übrigens ebenso wenig wie Raufaser- die finanziellen Mittel dafür haben, richten sie ein Zimmer als
tapeten. Allgemein wird in Frankreich weniger für Wohnungs-
einrichtung ausgegeben und dafür mehr in Essen investiert. „Japanzimmer“ ein, das als Wohn- oder Esszimmer dient und
So wundert es nicht, dass auch geschmackvolles Porzellan auf
den Tisch gehört und die Küche gut ausgestattet ist, allerdings in dem Gäste empfangen werden. U.M.
muss es nicht unbedingt eine Einbauküche sein. Viele Franzo-
sen lieben eher Einzelstücke und auch Antiquitäten. Und der so TV and Popcorn
genannte Landhausstil ist en France schon lange zu Hause. ih
In den USA entscheiden immer mehr Eigenheimbesitzer, ihre

Keller umzuwidmen und als sogenannte Medienräume einzu-

richten. Wo früher der Tischtennis- oder Billiardtisch stand, wer-

den nun mehrere Reihen flauschiger Sit-

ze am Boden festgeschraubt. Wie auch im

Auf Reisstrohmatten Kino hat jeder Sitz den eigenen Dosen-

halter, in dem die Cola oder das Bier ab-

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gestellt werden kann. Riesenbildschirme in Cinema-Scope-For-
hat sich die japanische Architektur des Woh-
nungsbaus sehr verändert, in den Großstäd- mat nehmen manchmal eine ganze Kellerwand in Anspruch,
ten gibt es Hochhäuser wie in der westlichen
Welt. Der Raum auf den japanischen Inseln ist knapp und Woh- und wer sich schon 20.000 Dollar für den Medienraum leisten
nungen sehr teuer.
Vor dem Zweiten Weltkrieg war die westliche Architektur kann, der scheut auch nicht vor dem besten und teuersten Pro-
eine Ausnahme und die Menschen lebten in traditionellen
vider zurück. Gegen Bezahlung lassen sich per Knopfdruck fast

alle Filme, die aktuell im Kino laufen, in höchster Auflösung auf

den heimischen Bildschrirm bestellen. dth

12

Thema

Der ständige Gast Hyggelig

Wohnen ist in Italien noch immer gleichbe- Das dänische Wort beschreibt einen Mo-
deutend vor allem mit Leben in der Küche. ment, in dem man sich selbst mit ganz viel
Nirgends darf ein Küchentisch mit Stühlen Lebensgefühl beschenkt – wie etwa einer
für Gäste fehlen. Das Wohnzimmer ist eher Tasse Tee bei schöner Musik oder einem
zum Vorzeigen da, während es sich in der Küche beim Essen guten Buch. Hygge meint so viel
oder Espresso am besten plaudern lässt. Damit alle Familien- wie Wohlbefinden (verbreiten).
mitglieder ihre individuellen Fernseh-Programme verfolgen kön- Eine Stimmung, die wir als woh-
nen, steht in fast allen Räumen ein TV-Gerät und sorgt als stän- lige, gemütliche Atmosphäre be-
diger Gast für zusätzliche Unterhaltung. zeichnen würden. Und es bedeu-
tet auch, sich mit Menschen zu
Patios – nicht nur in Cordoba umgeben, deren Gesellschaft
einfach guttut.
Vor allem in Andalusien zeugen die Innen- Im Winter ist es in Däne-
höfe mit ihren Orangenbäumen, ihren Pal- mark noch länger dunkel als in
men und Topfpflanzen in besonderem Maße Deutschland. Deshalb findet es
vom Einfluss der maurischen Architektur. die Autorin Inken Henze in ih-
Oft befindet sich in der Mitte ein Brunnen, der Hof ist umge- rem Buch „Mein dänisches Le-
ben von efeuumrankten bensgefühl“ sinnvoll, sich an die Dänen zu halten, wenn wir
Säulen. Hier spielt sich uns in dieser Zeit ganz bewusst mit kuscheligen Pullovern, war-
auch das Innenleben der mem Kerzenlicht und gutem Essen hyggen. Und auch dann gilt
Familien ab, hier wird es die Regel: Zusammen hyggt es sich besonders gut. Also laden
ganz privat, denn zum In- wir Familie und Freunde ein, damit uns allen warm ums Herz
nenhof hin liegen in der wird. I.K.
Regel Schlafzimmer, Bad
und Küche. Die Patios ver- Bassena-Tratsch
mitteln Geborgenheit und
gleichzeitig auf ganz dis- Bassena ist in Wien, aber auch sonst in Ös-
krete Weise auch Teilhabe terreich, ein üblicher Ausdruck für eine all-
am nachbarschaftlichen gemein zugängliche Wasserstelle am Gang
Treiben. Im Sommer wis- eines alten Mietshauses. Üblicherweise gab
sen die Spanier ihre schat- es in jedem Stockwerk im Stiegenhaus eine Bassena, an der
tigen Patios besonders zu die umliegenden Parteien das Kaltwasser holten. Die Hausbe-
schätzen. Die Patios in Cordoba sind Unesco-Weltkulturerbe. wohner konnten dort auch gebrauchtes Wasser ausschütten.
Die Bassena war nicht nur die Wasserstelle des Hauses,
Tsatsiki, Souvlaki und griechischer Wein sondern auch allgemeiner Treffpunkt, da die Hausbewohner
oder deren Dienstboten sie häufig aufsuchen mussten. An
In den südlichen Ländern spielt sich das der Bassena gedieh vor al-
Leben im Sommer draußen ab. So gehö- lem der Tratsch, Bassena-
ren "Kafeinion" und "Taverna", die belieb- Tratsch genannt. Der Tratsch
ten Treffpunkte der griechischen Männer, konnte leicht zu Streit und
die gerne mit dem Komboloi (ein Kettchen Klagen wegen Ehrenbelei-
mit Perlen) spielen, untrennbar zum griechischen Alltag, vor al- digung führen. Die so ge-
lem in den Dörfern. So sind auch die Frauen, anscheinend ewig nannten Bassena-Prozes-
schwarz gekleidet, noch immer uneingeschränkte Herrscherin- se waren bei den Besuchern
nen über das Haus. Die meisten griechischen Frauen glauben der Wiener Gerichte über-
fest daran, dass das Kochen für die ganze Familie die Priorität aus beliebt. Heute wird das
der Frau ist. Seit Ikea 2001 nach Griechenland gekommen ist, Wort auch als Bezeichnung
hat sich das Wohnen vieler Hellenen verändert. Entsprechend für einen Ort verwendet,
eintönig sieht es heute in vielen Wohnungen aus. Aber ohne gro- an dem viel getratscht wird Typische Bassena, wie sie in al-
ßen Balkon geht es eigentlich nicht. Dank des Klimas spielt sich . I.K. ten Mietshäusern zu finden war.
das Familienleben rund acht Monate im Jahr draußen ab. I.K.
13

Thema

Heimisch werden

Die Einbindung eines Pfarrers in das Vereins- und Dorfleben

Wie wird ein neu zugezogener evangelischer Pfarrer in sei- eigenen Grundausbildung absolvierte er als zertifizierter Klet-
nem neuen, dörflich gebliebenen Freiburger Predigtbezirk terausbilder mit seinen Feuerwehr-Kameraden eine Kletteraus-
heimisch? Darüber sprach ich Ende August mit Pfarrer Las- bildung in einer Freiburger Kletterhalle. Durch diese ehren-
se Collmann, der seit September 2021 die Gemeinden Op- amtlichen Aktivitäten über den kirchlichen Dienst hinaus ist es
fingen und Waltershofen mit rund 1.600 Gemeindemitglie- Pfarrer Collmann schnell gelungen, durch bewusstes Integrie-
dern betreut. ren in das Dorfleben heimisch zu werden. Das gelingt am bes-
ten durch Mitmachen und Mithelfen und indem er mit dem Takt
Pfarrer sind qua Amt vor allem in ländlichen Gemeinden weit- der Dorfbewohner mitgeht. Das bedeutet: auch nach Dienst-
gehend auf sich allein gestellt. Auch ein Pfarrer muss sich an- schluss und an den Abenden Gemeinschaft zu pflegen, Gesprä-
genommen und aufgehoben fühlen. In Opfingen hat Lasse Coll- che zu führen und sich bei einem Glas Wein zu treffen.
mann sofort gespürt, dass er in eine intakte Dorfgemeinschaft
mit großem Zusammenhalt gekommen ist. In diesem dörflichen Die Einbindung in das Vereins- und Dorfleben vollzieht sich
Gefüge nimmt die Kirche noch ganz selbstverständlich einen in persönlichen Begegnungen. Dazu tragen die sozialen und
wichtigen Platz ein. Das merkt Pfarrer Collmann daran, dass er kulturellen Angebote der Kirchengemeinde bei, die durch Emp-
seit Beginn seiner Tätigkeit fast 30 Taufen feiern durfte. Dadurch fehlungen von Mund zu Mund bekannt gemacht werden. Gera-
zeigt sich auch die enge Verbundenheit von Kirchenzugehörig- de in kleineren Orten fungieren Kirchen als Sozial- und Kultur-
keit und dörflichem Leben. räume.

In Opfingen sind es neben einigen anderen Vereinen vor al- Am 11. September hielt Pfarrer Collmann seinen Gottes-
lem der Landfrauen-Verein, das Rote Kreuz, der Musikverein dienst im Rahmen des Offenen Tages der Freiwilligen Feuer-
und die Freiwillige Feuerwehr, die das Vereins- und Dorfleben wehr Opfingen vor dem Feuerwehr-Gerätehaus ab. In seiner
gestalten. Auch der diakonische Auftrag der Kirche wird von Predigt dankte Pfarrer Lasse Collmann den Opfinger Feuer-
den ortsansässigen Vereinen gefördert. wehrleuten für ihre Einsätze bei den Unwettern während der
letzten Wochen. Nach dem Gottesdienst sorgten ehrenamtli-
Als ausgebildeter Bergretter ist Lasse Collmann der Freiwil- che Helferinnen und Helfer für das leibliche Wohl der Gäste.
ligen Feuerwehr Opfingen beigetreten. Noch vor Beginn seiner In Opfingen werden auch sonst gern Feste an der frischen Luft
gefeiert wie z.B. das traditionelle Zwiebelkuchenfest. Für Las-
se Collmann sind das willkommene Gelegenheiten, denn sie
sind eine wunderbare Möglichkeit, die „Kirche in das Dorf zu
tragen“. Solche Gelegenheiten sollte es noch häufiger geben.

Wohin die weitere Reise geht? Darauf antwortet Lasse Coll-
mann mit frohem Vertrauen: „Das werden mir der liebe Gott
und die Menschen schon zeigen!“ Klettern, die Feuerwehr und
die Menschen am jeweiligen Ort werden auf jeden Fall dazu-
gehören.

Renate Zimmer

Ein fremdes Zuhause scheidend aber ist das Alter bzw. die Jugend. In meinen DaF-
Sprachkursen habe ich viele junge Menschen erfolgreich zum
Millionen Menschen sind auf der Flucht, viele sind hier bei uns Abschluss geführt. Dennoch: Gebildete Menschen über 50 ha-
in Deutschland angekommen. Ein großer Teil von ihnen hat hier ben es trotz Studium und akademischem Beruf nicht mehr ge-
ein neues Zuhause gefunden, hat es geschafft, das schwierige schafft.
Deutsch zu lernen, eine Arbeitsstelle gefunden – viele schaf-
fen es aber auch nicht: Ein Dach über dem Kopf, ein Bett in ei- Es mag Ausnahmen geben, aber aus eigener frustrierender
ner Flüchtlingsunterkunft, Toilette, Waschgelegenheit und Du- Erfahrung weiß ich: Das Alter ist der größte Feind des Sprachen-
sche zum gemeinschaftlichen Gebrauch mit Fremden nennen studiums. Die Muttersprache meines Schwiegersohnes ist Ru-
wir nicht „Zuhause“. mänisch, er spricht fließend Englisch, lernte innerhalb eines
Jahres fließend Deutsch und wird laufend besser. Ich habe als
Die deutsche Sprache zu lernen, ist ein großer Kraftakt: Romanistin mit Mitte sechzig versucht, Rumänisch zu lernen,
Eine gehobene Schulbildung, die Kenntnis des lateinischen Al- völlig erfolglos - bis heute sind nur sehr wenige Brocken hän-
phabets und auch Englischkenntnisse sind sehr hilfreich. Ent- gen geblieben.

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Thema

Warum erzähle ich das? Inzwischen sind Millionen Menschen aus der Ukraine geflüchtet
und finden immer weniger eine menschenwürdige Unterkunft.
Nach Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine haben mein
Mann und ich uns kurz entschlossen bereit erklärt, Geflüch- Foto: iStock
tete in unser Haus aufzunehmen. Wir konnten ein geräumiges
Gästezimmer mit Bad anbieten. Küche, Waschmaschine, Kühl- Dort fühlen sie sich inzwischen zwar bestimmt nicht zu Hau-
schrank sollten gemeinsam genutzt werden. se, aber sie kennen uns und andere Leute hier, sie sind Pati-
enten bei verschieden Ärzten hier und kennen die Einkaufs-
Es kam ein Ehepaar aus Kiew in unserem Alter (+\- 70). Sie möglichkeiten.
waren mit ihrem SUV aus Kiew geflohen, ihre Söhne waren mit
ihren Familien aus Kiew nach Lemberg bzw. nach Polen ge- Mein Mann und ich haben in den sechs Monaten WG im ei-
flüchtet. Den Sommer hatte die bis dahin glückliche Großfami- genen Haus viel gelernt: Zu Hause sein, das sind nicht nur die
lie in Odessa auf dem Land verbracht und zwar im väterlichen eigenen vier Wände, aber auch. Unbedingt dazu gehören die
Elternhaus, umgeben von großen Ländereien. Dies, so stell- gemeinsame Sprache, ähnliche Grundüberzeugungen und vor
ten wir bei unseren vielen gemeinsamen Mahlzeiten fest, war allem das Gefühl, frei zu sein.
das zweite Zuhause der nun auseinander gerissenen Familie.
Ines Pieper
Unsere „Gespräche“ fanden ohne gemeinsame Sprache
statt: Hände. Füße, schauspielerische Einlagen – und, wenn al-
les nicht half - Google translate. Das hört sich lustiger an, als es
war. Anfangs lachten wir viel, allmählich überwog dann Unge-
duld, Genervtheit, Resignation. Die gemeinsamen Mahlzeiten
wurden im Laufe der sechs Monate seltener, die tägliche An-
wesenheit der uns in vielen Ansichten unähnlichen Menschen
setzte uns zu, mein Mann und ich fühlten uns immer weniger
zu Hause im eigenen Haus.

Schließlich fand ich eine kleine Wohnung für unsere Gäste
in unserem Dorf, sie bekommen jetzt Wohngeld für die Miete.

Sprachlos in der Fremde

Bei strahlendem Sonnenschein sitze ich mit Edita (Name von Möbeln zu haben und vor allem möglichst schnell die deut-
der Redaktion geändert) bei einem Latte macchiato in dem Café sche Sprache zu erlernen. Sich mit anderen Menschen auszu-
am Fluss. „Entschuldigung, dass ich etwas verspätet bin, ich tauschen, ist mehr als nur das Kennen von Wörtern in der frem-
habe zuhause noch die Pierogi zubereitet, Sie essen doch so den Sprache, es ist der Beginn einer sozialen Kommunikation.
gerne Maultaschen? Das sind jetzt aber welche aus meiner Hei- Nur so klappt es.
mat, nach einem Rezept meiner Großmutter.“
"An meinem nächsten Arbeitsplatz bei einer pflegebedürf-
Differenzierung der Begriffe „Heimat“ und „Zuhause“! Ein tigen älteren Dame half diese mir, wichtige Gegenstände auf
in der Regel schwieriges Unterfangen, haben doch diese Wör- Deutsch benennen zu können, nach ein paar Wochen kannte
ter seit Jahren eine Hochkonjunktur, füllen Werbeprospekte ich schon viele deutsche Wörter. Wir haben auch viel gelacht
mit Angeboten aus der Heimat/Region als Beitrag zum Klima- in dieser Zeit über die Fehler in der Grammatik, es gab damals
schutz, verheißen mit dem Slogan „Fühlen Sie sich wie zuhau- noch keine Sprachkurse. So habe ich langsam meine Sprach-
se bei uns!“ losigkeit überwunden, meine Grammatik ist aber immer noch
nicht perfekt.“ Sie schmunzelt und zeigt mir stolz Bilder ihrer
Glück und Geborgenheit auch bei der Suche nach Ferienun- geschmackvoll eingerichteten kleinen Wohnung. „Das hier ist
terkünften, tauchen als Narrative in Reden von Politiker*innen mein Zuhause, aber meine Heimat mit allen Traditionen und
auf und suggerieren den Konsumfreudigen, auch offenbar öko- kulturellen Unterschieden ist Polen. Meistens koche ich auch
logisch die beste Wahl getroffen zu haben. typisch polnische Gerichte, vor allem an den Feiertagen, dann
spüre ich die Verbundenheit mit meiner Heimat.“
Als Edita 1994 mit 31 Jahren nach der Trennung von ihrem
Mann aus finanziellen Gründen als Erntehelferin vom polni- Die anfangs „sprachlose“ Edita ist angekommen in der
schen Debica nach Süddeutschland kam und nach der harten Fremde und hat sich ihr Zuhause geschaffen. Bei uns gibt es
Arbeit von 06:00 Uhr – 21:00 Uhr mit anderen Frauen in einem heute Abend Pierogi.
kleinen Zimmer mit mehreren Etagenbetten schlief, war ihr
sehnlichster Traum, einmal eine kleine Wohnung mit eigenen Gabriela Weber-Schipke

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Thema

Vom Bauernland zum Baugrund

Abschied von der Dorfidylle

Das Dorf hat seit den 1950er-Jahren einen deutlichen Wandel Henrichenburg. Sobald die Emscher, eine von Haushalts- und
durchgemacht. Immer mehr Menschen verlassen die großen Industrieabwässern stinkende Kloake als olfaktorische Demar-
Städte und ziehen in die ländlichen Regionen oder an den kationslinie überquert und die schon damals stark befahrene
Stadtrand bzw. in ein Dorf. Denn die durchschnittlichen Prei- Autobahn 2 unterquert waren, hatten wir Henrichenburg er-
se sind in ländlichen Regionen niedriger als in der Stadt. Be- reicht. Was sich heute als geruchslose Dorf-Idylle darbietet,
günstigt wurde der Umzug auch durch die Corona-Pandemie. verströmte vor 60 Jahren den strengen Geruch von landwirt-
Denn die Möglichkeit des Home Office wollen viele Berufstä- schaftlicher Stallhaltung.
tige nicht mehr missen. So entstehen auch immer mehr Neu-
baugebiete, die den Charakter eines Dorfes verändern, denn Der Bauernhof, den wir Arbeiterkinder erlebten, war kein
die Zugezogenen sind zumeist nicht am Dorfleben interes- Freilichtmuseum in Fachwerkoptik, sondern ein familienge-
siert. So sind Pendel-, Wohn- und Schlafdörfer bis heute die führter bäuerlicher Kleinbetrieb. Auf dem Hofgelände ging es
Folge, wie zum Beispiel im folgenden Ort: an Gemüsebeeten, Obstbäumen und pickenden Hühnern vor-
bei zum Schweinestall. Hier suchten die Eltern ein schlacht-
Henrichenburg war ein Bauerndorf am Südrand des westfäli- reifes Schwein aus, das der Bauer und ein Metzger in Braten,
schen Münsterlandes. Überregional bekannt ist das Dorf durch Schinken und Würste verwandelten. Für die Schlachtung eines
das nahegelegene Schiffshebewerk am Dortmund-Ems-Kanal, Rindes taten sich vier Familien zusammen, die je ein Viertel
das 1899 in Betrieb genommen wurde. Anfang der 1960er Jah- Rind bekamen. Bevor es zurück ging in unsere Bergarbeiter-
re war dieses Schiffshebewerk bereits das alte und wurde zu stadt, bekamen wir Kinder Äpfel geschenkt und die Eltern ein
einem als Ausflugsziel beliebten Museum umgewidmet. 1962 bauerngebackenes Brot.
nahm das neue Schiffshebewerk seine Arbeit auf. Henrichen-
burg selbst blieb ein unbekanntes bäuerliches Dorf mit klei- Eingemeindung
nen familiengeführten Höfen.
Und heute, fast 60 Jahre später? Aus dem Bauerndorf Henri-
Die Arbeiterfamilien, die in der angrenzenden Bergbau- chenburg ist 1975 durch Eingemeindung der nördlichste Stadt-
stadt Castrop-Rauxel zu Hause waren, versorgten sich in Hen- teil von Castrop-Rauxel geworden. Die damaligen Bauerngrund-
richenburg mit Fleisch direkt vom Bauern. Wer am Bau oder stücke waren zu klein für größere Agrarbetriebe und wurden in
unter Tage körperlich schwer arbeiten musste, der brauchte ge- Bauland umgewandelt. Als auf dem Gebiet der in Vergessen-
haltvolles Essen, und das bedeutete auch: Fleisch und Wurst. heit geratenen ehemaligen Burg Henrichenburg Einfamilien-
In den 1960er Jahren waren Fleisch und Wurst nur bei Metzgern häuser gebaut werden sollten, entdeckte man die Überreste
in kleinen Mengen erhältlich und vergleichsweise teuer. In den der Burg und wertete sie archäologisch aus. Heute ist Henri-
Arbeiterfamilien sprach es sich herum, dass sie Schweine- und chenburg ein bevorzugtes Zuhause für Pendler-Familien, die
Rindfleisch quasi am Stück direkt bei Bauern in Henrichenburg ihre Einkäufe, wenn nicht online, dann in den Gewerbeparks
kaufen konnten. Hofläden waren damals noch unbekannt, der an den Dorfrändern und entlang der Ausfallstraßen erledigen.
Lebend-Verkauf erfolgte ab Stall.
Am 1. September stattete Bundeskanzler Scholz der seit
Zwei Mal im Jahr führte unser Sonntagsspaziergang nach 1990 für 5,5 Milliarden Euro renaturierten Emscher in Castrop-
Rauxel einen Besuch ab und rühmte dabei die Lebensqualität
Und wieder entsteht ein Neubaugebiet am Rande des Dorfes. und den Wohn- und Freizeitwert entlang des wieder natürlich
plätschernden Flüsschens. Die ehemals bedauerten Emscher-
16 Anwohner werden heute um ihre Häuser und Gärten beneidet
und erfreuen sich eines nostalgischen Zusatznutzens.

Henrichenburg ist exemplarisch dafür, dass das Haupter-
kennungsmerkmal von Dörfern nicht mehr die jahrhunderte-
lange Ansässigkeit von Bauernfamilien auf ihren Vollerwerbs-
höfen ist. Dörfer sind – vor allem in den letzten Jahren – zu
einem Sehnsuchtsort für Stadtmenschen geworden, die ein
naturnäheres und beschaulicheres Zuhause suchen. Dörfer
werden immer mehr zum Inbegriff für ein Zuhause in Gebor-
genheit und abseits großstädtischer Rastlosigkeit.

Renate Zimmer

Thema

Obdachlosigkeit in der Wohlstandsgesellschaft

Hunderttausende Menschen in Deutschland haben kein eige- Obdachloser in Bremen
nes Zuhause. Nach einer erstmalig durchgeführten Statistik wa-
ren Anfang 2022 ca. 178.000 Menschen wohnungslos. Erfasst Wir machen uns Sorgen um Gasmangel und erhöhte Hei-
wurden aber nur diejenigen, die in Not- oder Gemeinschafts- zungskosten – jährlich erfrieren im Winter Obdachlose, die
unterkünften oder anderen vorübergehenden Übernachtungs- kein schützendes Dach über dem Kopf haben.
möglichkeiten untergebracht wurden. Obdachlose, die auf der
Straße leben, sind in dieser Zahl nicht enthalten. Tatsächlich Jeder kann etwas tun, um zu helfen. Hinschauen statt weg-
dürfte die Anzahl der Menschen ohne eigene Wohnung fast dop- sehen und ansprechen, wenn man sieht, dass jemand Hilfe
pelt so hoch sein, die Tendenz ist steigend. braucht und krank ist. Manchmal helfen schon ein warmes Ge-
tränk, eine Mahlzeit und auch Geld, auch wenn es für Alko-
Wir sehen die Obdachlosen häufig in den Innenstädten, ihre hol ausgegeben wird. Und Spenden an Hilfeeinrichtungen sind
gesamte Habe in Plastiktüten mit sich tragend. Sie schlafen ebenfalls eine gute Möglichkeit.
auf Parkbänken oder dem harten Boden, suchen Schutz vor
dem Wetter und der Kälte in Hauseingängen, Unterführungen Ursula Michalke
oder über Luftschächten. Von der Gesellschaft werden sie aus-
gegrenzt, als Penner bezeichnet und sind nicht nur der Witterung,
sondern auch immer wieder gewalttätigen Angriffen ausgesetzt.

Die Gründe für Wohnungs- und Obdachlosigkeit sind viel-
fältig: wirtschaftliche Notlagen, Arbeitslosigkeit, kritische Le-
bensereignisse wie Trennung oder Tod des Partners bzw. der
Partnerin, auch Krankheit oder Sucht. Das Leben auf der Stra-
ße verstärkt die Armut und soziale Isolation, macht krank und
depressiv. Die Perspektivlosigkeit lässt zu Alkohol oder Drogen
greifen. Nur wenige Obdachlose schaffen es, den Kreislauf zu
durchbrechen und Hilfe anzunehmen.

Der verlorene Sohn

Mit der Überschrift: „Das Gleichnis vom verlorenen Sohn“ wurde Als der ältere Sohn müde vom Feld nach Hause kommt,
traditionell die Parabel von dem Vater und seinen zwei Söhnen hört er schon von weitem, dass auf dem Hof Musik gespielt
überschrieben. Der Evangelist Lukas erzählt diese Geschichte wird. Er erfährt, dass sein Vater spontan ein Fest organisiert
im 15. Kapitel seines Evangeliums. hat, weil heute sein jüngerer Bruder gesund heimgekommen
ist. Als er auch noch mitbekommt, dass der Bruder das väter-
Der ältere Sohn arbeitet Tag für Tag auf dem elterlichen Hof liche Erbe in der Fremde durchgebracht hat, entbrennt sein
und der jüngere Sohn lässt sich sein Erbe auszahlen, verlässt Zorn. Neid steigt in ihm auf. Der Vater antwortet dem aufge-
sein bisheriges Zuhause und verprasst sein Erbe in der Frem- brachten Sohn: „Mein lieber Junge, du bist immer bei mir. Und
de. Am Ende landet er als hungriger Schweinhirt, dem sogar alles, was mir gehört, gehört dir. Aber jetzt mussten wir doch
verboten wird, vom Schweinefutter zu essen. Tiefer kann man feiern und uns freuen: Denn dein Bruder war verloren und ist
als Jude nicht sinken. Er erinnert sich an sein Zuhause. Dort wiedergefunden.“
wurde jeder Tagelöhner besser behandelt als er.
Könnte es sein, dass in Wahrheit der ältere Sohn der ver-
In dieser Situation beschließt er, nach Hause zu gehen, um lorene Sohn ist? In der Bibel bleibt offen, wie die Geschichte
dort als Tagelöhner unterzukommen. Reumütig macht er sich ausgeht.
auf den Weg. Der Vater sieht den Heimkehrer schon von Wei-
tem. Er hatte den Sohn sehnlichst erwartet. Er geht dem ab- Warum hat er in all den Jahren nicht gehandelt? Was hat
trünnigen Sohn entgegen, küsst ihn und organisiert spontan ihn gehindert, mit seinen Freunden zu feiern? Wo bleibt die
ein Freudenfest. Ein Siegelring wird ihm angesteckt, damit er Fantasie, das Leben zu feiern? Neben den Zeiten der Arbeit gibt
nun wieder Geschäfte machen kann. Ein Kalb wird geschlach- es auch Zeiten des Feierns und Ruhens. Zu Hause zu bleiben,
tet. Musik spielt auf. Der Vater sagt: „Wir wollen essen und fei- ist keine Strafe. Wohl aber ist es eine Aufgabe, das Gewordene
ern! Mein Sohn hier war tot und ist wieder lebendig. Er war ver- immer wieder zu gestalten.
loren und ist wiedergefunden.“ Peter Schaal-Ahlers, Münsterpfarrer

17

Thema

Leben ohne festen Wohnsitz

Eine Karavane von weiterziehenden Nomaden in der Sahara © wikimedia

Seit der Einführung von Ackerbau und Viehzucht wohnt ein abgebaut, sie fordern daher eine Beteiligung am Gewinn.
Großteil der Menschheit dauerhaft in Siedlungen, Dörfern Von den Mongolen leben heute noch etwa dreißig Pro-
und Städten. Ein Leben ohne festen Wohnsitz ist für die
meisten von uns kaum vorstellbar. Doch noch immer gibt es zent nomadisch. Sie ziehen in Großfamilien durch die wei-
einige Volksgruppen, die nicht sesshaft sind und sich ihre ten Steppen der Mongolei und Chinas und schlagen ihre
besondere Lebensart im Gleichklang mit der Natur bewahrt Zelte an geeigneten Weideplätzen auf. Ihr Leben ist durch
haben. Sie leben in Gegenden mit extremen klimatischen eine sehr enge Verbindung zu ihren Pferden geprägt.
Bedingungen und dort nicht in Häusern, sondern in einfach
auf- und wieder abzubauenden Behausungen. Ihr gesamtes Auch die Inuit im kanadischen Teil der Arktis lebten vor
Hab und Gut transportieren sie auf dem Rücken eines Pfer- hundert Jahren auf ihre traditionelle Weise. Sie waren Jäger
des, Kamels oder Schlittens. und Nomaden, die den Tieren auf ihren Schlitten nachreis-
ten, jagten Wale, Eisbären, Walrosse und Robben auf dem
Viele Nomaden leben am Rande von Wüsten und in Steppen. Wasser und mit Karibus (arktische Rentiere) auf dem Land.
Da ein dauerhafter Bodenanbau, um sie das ganze Jahr hin-
durch mit Nahrung zu versorgen, dort nicht möglich, sind sie Ihre Behausung im Sommer war ein Zelt, das sie auf ih-
gezwungen weiterzuziehen, sobald der Boden nichts mehr ren Reisen schnell auf- und abbauen konnten. Im Winter
hergibt. Die meisten Nomaden leben als Viehhirten und fol- bauten sie sich Grassodenhäuser (Qarmacs). Ein Qarmac
gen ihren Herden von Weideplatz zu Weideplatz. Es gibt sie besteht aus einem Gerüst aus Walknochen, über das Felle
auch heute noch auf allen Kontinenten, auch in Europa, bei- gespannt werden, die anschließend mit Gras und Schnee
spielsweise die Samen in Skandinavien, die bis heute ihre belegt werden. Einige Inuits lebten auch in Schneehäusern,
nomadische Lebensweise bewahrt haben. den Iglus. Die Iglus waren dunkel und kalt und dienten nur
zum Schlafen und Essen.
Zu den bekanntesten nomadischen Völkern zählen die
Tuareg aus der Sahara und die Mongolen. Die umherzie- Das Leben der Inuit hat sich in den letzten Jahrzehnten
henden Tuareg leben in Zelten aus Ziegenhaut oder Palm- stark verändert. Sie haben ihre traditionelle Lebensweise
wedeln und ernähren sich von Kamelmilch, Hirse, Weizen als Nomaden aufgegeben und sich an das moderne Leben
oder Gerste. Wichtige Lebensgrundlage der meisten Tuaregs angepasst. In Kanada wurden von der Regierung Siedlun-
ist der Tausch und Handel mit verschiedenen Rohstoffen, gen aus Blockhütten gebaut, die ausschließlich von Inuit
Gewürzen oder Kamelen. Sie haben es schwer, sich ihren bewohnt werden. Das Trinkwasser wird mit einem Tanklast-
Lebensraum zu bewahren. Durch den immer geringer wer- wagen gebracht. Sie heizen mit Ölöfen und haben Strom in
denden Niederschlag können sie die Herden nicht mehr ver- ihrem Zuhause. Viele Familien besitzen mittlerweile elekt-
sorgen, die für sie lebensnotwendig sind. Außerdem wird rische Geräte wie Fernseher und Waschmaschinen. Obwohl
seit Jahrzehnten Uran auf ihrem ursprünglichen Weideland das moderne Leben den Inuit einige Erleichterungen brach-
te, fiel es vielen von ihnen schwer, ihre natürliche Lebens-
18 weise aufzugeben.
Ursula Michalke

Rätsel

Im letzten Heft war nach der 1907 in der Nähe von Pittsburgh geborenen Rachel Carson gefragt, die als frühe, wissenschaftlich
fundierte Aktivistin der Umweltbewegung gilt. Sie hat das Glück, dass ihre 1869 geborene und für ihre Zeit überdurchschnittlich
gut ausgebildete Mutter ihr Interesse an der Natur gefördert und ihr trotz widriger Lebensverhältnisse ein Studium der Literatur
und Biologie ermöglicht hat. Zunächst konzentriert sich Rachel Carson auf die Meeresbiologie und wird mit einer Meeres-Trilo-
gie zur „Biografin des Meeres“. Damit ist sie in Europa allerdings nicht bekannt geworden. Ihr erster großer Essay „Unter Was-
ser“ erscheint 1937. Das markiert einen zweifachen Wendepunkt im Leben der naturwissenschaftlichen Publizistin: Ein Verleger
wird auf sie aufmerksam, und sie bekommt die ersehnte Festanstellung bei einer Fischereibehörde an der Küste von North Ca-
rolina. Rachel Carsons Mutter lektoriert ihre Texte und tippt ihre Manuskripte ab. Diese Arbeitsteilung endet erst 1958 mit dem
Tod der Mutter. In den sechs Jahren, die Rachel Carson nach dem Tod ihrer Mutter noch beschieden sind, arbeitet sie, immer
wieder von ihrer Krebserkrankung unterbrochen, an ihrem spannend erzählten Sachbuch Der stumme Frühling über die töd-
lichen Folgen von Pflanzengiften für Insekten und Vögel. 1964 erscheint ihr weltberühmt gewordenes Hauptwerk auf Deutsch
und wird immer wieder neu aufgelegt. Dass die chemische Industrie sie als weltfremde Idyllikerin verunglimpft, bestätigt die
Richtigkeit ihrer Analysen und Schlussfolgerungen. Das Time Magazine zählt Rachel Carson zu den 100 wichtigsten Personen
des 20. Jahrhunderts.

Doch nun zu einer weiteren bedeutenden Persönlichkeit:

Zu Hause war ich auf der ganzen Welt, wenn ich nur an mei- hätten das Entsetzen der Feuerwehrleute erleben sollen, als
nen Ideen arbeiten konnte. Und das bedeutete bei mir: ener- sie ihr skulpturenartiges Gerätehaus mit den lichtdurchflute-
giegeladen entwerfen, zauberisch zeichnen, gewagt gestalten, ten Räumen in Betrieb nehmen sollten. Mittlerweile wird das
kompromisslos konzipieren. Dabei habe ich die Grenzen des Bauwerk seiner architektonischen Bedeutung entsprechend
jeweils Vorstellbaren gesprengt und zugleich die Geduld und für Ausstellungen und Veranstaltungen genutzt.
die Budgets meiner Auftraggeber gesprengt. Die preisgekrönten
Entwürfe aus meinen jungen Jahren wie das Hongkong-Peak- Frühe Kritiker haben nicht nur meine Entwürfe als unbau-
Projekt, einen Freizeit- und Erholungspark, ein Bürogebäude in bar abgetan, sondern mich als vulkanisch und streitsüchtig
Berlin und das Opernhaus in Cadiff, um nur einige zu nennen, bezeichnet. Wie anders sollte ich den Baukunst-Verhinderern
blieben nur deshalb nicht gebaute „Luftschlösser“, weil deren sonst beikommen? Wahrscheinlich liegt es an meiner arabi-
Auftraggeber zu konservativ und zu mutlos waren. schen Herkunft aus einer 5000-jährigen Kultur, deren Denk-
weise nicht so rational ist wie die europäische. Ich komme aus
Aber der Reihe nach: Meine Eltern ließen mich in einer ka- einer Tradition, in der Intuition und Logik eine enge Verbin-
tholischen Klosterschule in Bagdad unterrichten. 1971 begann dung eingehen.
ich ein Mathematikstudium in Beirut, aber das war nichts für
mich. In London absolvierte ich mein Architekturstudium. Mit Allmählich kamen Aufträge aus der ganzen Welt, die ich
dem Preisgeld meines ersten Entwurfs habe ich 1980 mein nicht mehr allein bearbeiten konnte. In der ersten Dekade des
Büro in London-Clerkenwell gegründet. Es hat noch einige Jah- 21. Jahrhunderts, als ich mit der Planung eines neuen Muse-
re und weitere unverwirklichte Entwürfe gedauert, bis Anfang ums in Rom betraut wurde, arbeiteten in meinen Büros welt-
der 1990er Jahre auf einem Betriebsgelände in Weil am Rhein weit etwa 150 Menschen. Wahrscheinlich haben Sie irgendwo
nach meinen Plänen ein Feuerwehrhaus errichtet wurde. Sie auf der Welt schon einmal eines meiner Bauwerke bewun-
dert, und sicher haben Sie mich längst erkannt.

19

Für Sie gelesen

Von Selbstverlust Ich-Erzählerin Trina, die als junge Lehre- te Beziehung hatten, entwickelt sich eine
und Spurensuche Freundschaft, die auch den Sohn verän-
rin unter Lebensgefahr in „Katakomben- dert, reifen lässt. Trotz aller Fürsorge ist
es der Familie letztlich nicht mehr mög-
Schulen“ heimlich Deutschunterricht er- lich, den Vater zu Hause zu pflegen – er
muss ins Altersheim. Doch auch dort ge-
Der 1977 geborene Kunstkritiker und teilt hat. Trinas Tochter setzt sich als Kind nießt der Vater noch die Spaziergänge,
Gespräche mit Fremden, die „kleinen An-
Essayist Daniel Schreiber, schon längst ohne Einverständnis ihrer Eltern mit On- nehmlichkeiten – lachende Gesichter –
ein(en) gelungenen Scherz“.
zum Bestsellerautor avanciert, lässt uns kel und Tante auf Nimmerwiedersehen
Ein wichtiges Buch, das einfühlsam,
schonungslos teilnehmen an seiner Su- nach Deutschland ab. Der Krieg verhin- trotzdem sachlich den Umgang mit Al-
tern und Sterben, den Verfall geistiger
che nach einem Zuhause, einem Ort des dert den Bau des Staudammes nicht. Am und körperlicher Kräfte beschreibt, zu-
gleich aber auch wie der Sohn darüber
Aufgehobenseins. In acht intelligent und Ende verlieren sie alle ihr Zuhause. Offen zu seinen Wurzeln und eigenem Wachs-
tum findet.
spannend geschriebenen Essays bietet bleibt, ob auch außerhalb des Jahrhun-
Arno Geiger, Der alte König in sei-
er uns Einblick in sein Leben, erzählt von derte alten eigenen Bergbauernhauses nem Exil, Hanser Verlag, 2011. U.L.

Krisen, thematisiert seine Homosexuali- einige Kilometer entfernt davon ein neu-

tät und schmerzhafte Begegnungen. Eng es Zuhause entstehen kann.

verwoben mit den intimen Bekenntnis- Marco Balzano: Ich bleibe hier, Ro-

sen stimmt er philosophische, ethnolo- man, Diogones Verlag, 2022 (Taschen-

gische und psychoanalytische Überle- buch 286 S. ) R.Z.

gungen zu seiner Spurensuche an: Was

ist Heimat? Was ist ein Zuhause? Welche Heimat finden

Bedeutung hat im Zeitalter der Globalisie-

rung das Bedürfnis der Menschen nach Menschen suchen vermehrt nach Heimat

Sicherheit? Zu Wort kommen lässt Daniel in einer Welt, die ungewiss erscheint, Literatur und Küche

Schreiber in Zeiten der Hochkonjunktur und in einem Leben, das sich schneller

des Begriffes „Heimat“ dabei bewusst ändert, als es zu verstehen ist. Eine Er- Die "Grand Dame" der Esskultur Sybil
Gräfin Schönfeldt hat wieder schöne ku-
Wissenschaftler*innen aus der ganzen weiterung des Heimatbegriffs ist nötig, linarische Zitate der zeitgenössischen
und klassischen Weltliteratur gesam-
Welt und geht anhand der Biografie sei- denn Heimat ist mehr als nur ein Ort. Im melt und sie mit dem entsprechenden
Rezept verschönert. Dazu beschreibt sie
ner Urgroßmutter exemplarisch für alle, permanenten Hin und Her zwischen den die Autor*innen und ihre Werke und gibt
so Anregungen zum Weiterlesen.
deren Leben von Krieg und Flucht deter- Welten werden die Menschen selbst flüch-
Der literarische Küchenkalender
miniert war und ist, auf Spurensuche. tig und beginnen sich zu fragen: Wo bin 2023, Edition Momente 2022, 60 Blät-
ter I.K.
Wir dürfen dann dabei sein, wenn er auf ich wirklich daheim? Wo war ich es? Wo

seiner langen Reise wieder mal in seiner wird Heimat künftig möglich sein? Die

Berliner Wohnung ist, immer noch auf der Vielfalt wird in der Diskussion über "die

Suche nach dem Ort, an dem er bei sich Heimat" oft aus den Augen verloren. Sie

selbst ankommen wird. steht im Fokus dieses großartigen Bu-

Daniel Schreiber: Zuhause. Carl ches des Bestsellerautors.

Hanser Verlag 2017 (2018 als TB, 140 Wilhelm Schmid: Heimat finden, Zuhause im Goldenen Käfig

Seiten) G.W-S. Vom Leben in einer ungewissen Welt,

Suhrkamp Verlag, 480 Seiten I.K. Selbst wenn man Königin von England

Fortgehen oder bleiben und im Buckingham Palast zuhause ist,
und kämpfen?
Die Krankheit seines Vaters verläuft das Leben nicht ohne äußere

Zwänge und persönliche Entbehrungen.

Das ehemalige deutschsprachige Dörfer- Der Vater entwickelt bald nach seiner Das schildert der britische Schriftsteller
Dreieck Graun, Reschen und Sankt Va- Pensionierung Eigenarten, die in seiner
lentin im Vinschgau gerät ab 1923 ins Vi- Familie als Eigenbrötelei und Schrullen Alan Bennett in seiner 2007 erschiene-
sier der italienischen Faschisten, die mit abgetan werden. Bald ist nicht mehr zu
dem Bau eines Stausees die Wasserkraft übersehen, dass die Schrullen mehr sind: nen Erzählung Die souveräne Leserin auf
zum Gold Südtirols machen wollen. Zu- eine sich langsam entwickelnde Demenz,
dem spalten die faschistischen Herrscher mit der der Vater auf seine eigene Art um- höchst amüsante und menschelnde Wei-
die Dorfbewohner in „Optantinnen“, die geht. Er bleibt immer freundlich, humor-
von den Nazis nach Deutschland abge- voll und vital. Arno Geiger, der in Wien als se. Beinahe vergisst man, dass es sich
worben werden, und „Dableiberinnen“, Schriftsteller arbeitet, besucht seinen
die ihren Geburtsort nicht verlassen wol- Vater nur selten und lernt ihn von einer um eine fiktive Geschichte handelt, die
len und zu Italienern gemacht werden sol- ganz neuen Seite kennen, ja lieben. Zwi-
len. Zu den „Dableiberinnen“ gehört die schen beiden, die zuvor eine distanzier- Bennett die kürzlich verstorbene Queen

erleben lässt.

Alan Bennett, Die souveräne Le-

serin. Verlag Klaus Wagenbach, Ber-

lin. Hardcover (115 Seiten). Als Hörbuch

beim Audio-Verlag erschienen. Gelesen

von Jürgen Thomann. S.L.

20

Aktuelle Kunstausstellungen

Expressionisten am Deutschland. Die vielfältigen Kunstwer- seit den 1850er Jahren standen Maler und
Folkwang. Entdeckt – ke und Biografien berichten von erfolg- Fotografen in regem Austausch unterein-
Verfemt – Gefeiert reichen, unterbrochenen und vollständig ander und befruchteten sich gegenseitig.
abgebrochenen Karrieren, von Widerstand
Museum Folkwang, Essen und Anpassung, von Verfolgung und Exil. Chagall. Welt in Aufruhr
Bis 8. Januar 2023
Die Oper ist tot – Es Schirn-Kunsthalle, Frankfurt am Main
Anhand von etwa 250 Meisterwerken lebe die Oper! Bis 19. Februar 2023
des Expressionismus beleuchtet die Aus-
stellung das Sammlungs- und Ausstel- Bundeskunsthalle Bonn Die große Ausstellung beleuchtet eine bis-
lungsgeschehen vom Beginn des 20. Jh. Bis 5. Februar 2023 lang wenig bekannte Seite seines Schaf-
bis heute. Werke der Malerei, Skulptur fens: Chagalls Werke der 1930er- und
und Grafik unter anderem von Wassily Wie kein anderes Genre spricht die Oper 1940er-Jahre, in denen sich seine farben-
Kandinksy, Ernst Ludwig Kirchner, Os- unsere Sinne an: In ihr verbinden sich frohe Palette verdunkelt. Das Werk und
kar Kokoschka, Franz Marc, Paula Mo- Musik, Gesang, Poesie, Bildende Küns- Leben des jüdischen Malers wurde maß-
dersohn-Becker, Emil Nolde und Egon te, Theater und Tanz zu einem spek- geblich durch die Kunstpolitik der Natio-
Schiele erzählen von dem besonderen takulären Gesamtkunstwerk. Ausgehend nalsozialisten und den Holocaust geprägt.
Verhältnis der Expressionisten zum Mu- von ihren Anfängen in Italien, präsentiert Mit über 100 eindringlichen Gemälden,
seum Folkwang. die Ausstellung die Vielfalt der barocken Fotos und Dokumenten zeichnet die Aus-
Spektakel. Und sie erzählt am Beispiel be- stellung die Suche des Künstlers nach ei-
Mondrian. Evolution rühmter Opernhäuser wie der Mailänder ner Bildsprache im Angesicht von Vertrei-
Scala, der Wiener Hofoper oder der New bung und Verfolgung nach.
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Yorker Met vom Wachstum und Wandel
Düsseldorf der Institution im 19. und 20. Jahrhundert. Barbarossa. Die Kunst
29.Oktober 2022 – 12. Februar 2023 Begleitet von Einspielungen zahlreicher der Herrschaft
Opernwerke, erzählen Gemälde und
Viele kennen den Maler Piet Mondri- Kostüme, Plakate und Bühnenbildmo- Eine Ausstellung an zwei Orten
an (1872-1944) als Schöpfer von stren- delle, Karikaturen und Programmhefte
gen geometrischen Kompositionen mit bekannte und unbekannte Geschichten Das Vermächtnis von Cappenberg im
schwarzweißen Linien und Farbfeldern in über eine sich immer wieder neu erfin- Schloss Cappenberg, bis 5.Febr. 2023
Rot, Blau oder Gelb. Dass der Niederlän- denden Gattung und Institution.
der in seinen ersten Jahrzehnten Land- Die Kunst der Herrschaft im LWL-Muse-
schaften und andere gegenständliche Der Bühnensaal der Oper von Venedig um für Kunst und Kultur, Münster
Motive wählte und diese oft mit überra- (La Fenice),2020,© picture alliance/dpa 28.Oktober 2022 bis 5. Februar.2023
schender Farbigkeit inszenierte, ist kaum / Annette Reuther
bekannt. Die Kunstsammlung Nordrhein- Anlässlich des 900. Geburtstages des be-
Westfalen zeigt Mondrians Weg von den Eine neue Kunst – Fotografie rühmten Stauferkaisers Friedrich I. Bar-
frühen naturalistischen Gemälden bis und Impressionismus barossa (1122 – 1190) zeigt das Museum
zu den späten abstrakten Arbeiten und eine große internationale Sonderausstel-
spürt die formalen Zusammenhänge auf, Von der Heydt-Museum, Wuppertal lung. Mit den Augen des Kaisers wirft die
die zwischen den Bildern aus fünf Jahr- bis 08. Januar 2023 Ausstellung einen Blick auf eine in vieler
zehnten bestehen. Hinsicht spannende Epoche.
Die Wechselwirkungen von Fotografie und
KUNST UND LEBEN Malerei im 19. Jahrhundert untersucht GUIDO RENI
1­ 918 bis 1955 die Ausstellung anhand von mehr als 80
wertvollen Aufnahmen aus öffentlichen Städel Museum, Frankfurt
Lenbachhaus, München und privaten Sammlungen. Spätestens 23. November 2022 bis 5.März 2023
15. Oktober 2022 – 16. April 2023
Missverstanden, verdrängt, vergessen –
Zwischen 1918 und 1955 waren Menschen In einer groß angelegten Ausstellung ent-
in Deutschland mit mehreren Zeitenwen- deckt das Städel Museum den einstigen
den konfrontiert. Im Zentrum der Ausstel- Malerstar des italienischen Barock wie-
lung stehen Lebensläufe und Schicksale der: Guido Reni (1575–1642). Zu sehen
von Künstler*innen während der Weima- sind rund 130 seiner faszinierenden Ge-
rer Republik, im Nationalsozialismus mälde, Zeichnungen und Druckgrafiken.
und in der noch jungen Bundesre­publik
Inge Kellersmann

21

Weitere Themen

Eindrücke von der documenta fifteen (15)

Als „Museum für 100 Tage“ war die do-

cumenta fifteen (15), die bedeutendste

Weltausstellung zur Gegenwartskunst, von

Beginn an bis zu ihrem Ende am 25. Sep-

tember 2022 begleitet von Kontroversen,

Antisemitismus-Vorwürfen und einem ek-

latanten Mangel an Verantwortlichkeiten.

Die vom indonesischen Künstler*innen

Kollektiv Ruangrupa kuratierte Schau ba-

sierte auf den Grundsätzen wie Kollektivi-

tät, gemeinschaftlichem Ressourcenauf-

bau und gerechter Verteilung.

Nahezu 1.400 Künstler*innen und

Kollektive zeigten an 32 Standorten in

Kassel ihre Welt und ihre Werte unter

den von Ruangrupa festgesetzten Begrif-

fen Transparenz, Großzügigkeit, Humor, Die Säulen des Fridericianums hat der Künstler Dan Perjovschi mit weißen Pikto-
Genügsamkeit, Regeneration, Unabhän- grammen bemalt.
gigkeit und lokaler Verankerung.

Doch die überwiegend in Kollektiven

organisierten Weltverbesserer sind in der wärtig zu den wichtigsten Künstler*innen der des Nest Collective (gegründet 2012

Mehrzahl keine Künstler, sondern Fach- international. Er war eingeladen worden, in Nairobi) den gigantischen Export ge-

leute aus anderen Disziplinen gewesen. seine Zeichnungen und Schriften als brauchter Kleidung und Elektroschrotts

So ging es um Klima, Wirtschaft und Poli- Kommentare zum „Weltgeschehen“ an aus dem Westen nach Afrika unter dem

tik, um viel Miteinander. öffentlichen Orten in Kassel zu verbrei- Titel „Return to Sender“ (Zurück an den

Als Besucher fühlte man sich vie- ten. So hat er etwa die sechs Säulen des Absender). Für die documenta fifteen

lerorts in Aktivistencamps versetzt, die Fridericianums mit schwarzer Farbe ver- hatten sie einen Pavillon aus Decken-

Kunst war integriert in die Domäne der sehen, um darauf weiße Piktogramme und Stoffballen gestaltet, davor waren

Gesellschaftspolitik und spielte eine aufzutragen. nach Farben sortierte Kleidungsstücke

eher marginale Rolle. Damit entwickelte er eine Verbindung neben Elektroschrotts aufgestellt.

Einzelne Künstler*innen hingegen zum Gebäude selbst, das seit 1779 zu Innen informierte ein Video über die

waren in der Minderheit. Daher will ich den ältesten Museen weltweit zählt. Im Hintergründe der Präsentation: Allein

einen von ihnen vorstellen, den Rumä- Rahmen der documenta fifteen fungierte aus Deutschland werden jährlich mehr

nen Dan Perjovschi (*1961 in Sibiu). Er das Haus als Bildungsplattform für Wis- als eine Million Tonnen gebrauchter Tex-

gehört mit seinen Piktogrammen gegen- senstransfer und Erfahrungsaustausch. tilien gesammelt und verschifft. Dieser

Die so geschwärzten Export bedrohe die afrikanische Textil-

Säulen markierten produktion und sei auch ein massives

quasi dreidimensiona- Problem „für die Würde des Menschen“.

le Schultafeln, auf de- Diskussionen und Kontroversen um

nen der Künstler wei- den Umgang mit antisemitischen Bild-

ße Zeichnungen und sprachen und die Frage nach dem westli-

Schriften markierte, chen Blick problematisierten diese docu-

z.B. „I am not exotic, menta in einem bisher nicht gekannten

I am exhausted“ (Ich Ausmaß. Sitzgruppen, Diskursbühnen,

bin nicht exotisch, ich Kuschelecken sollten einladen zum „Ab-

bin erschöpft). hängen“ und vermittelten dennoch ein

Mit einem ästhe- ernüchterndes Bild. Das Kunstwerk hat

Die Mitglieder des "Nest Collective" machte mit dem Projekt tisch ansprechenden ausgedient. Wie wird es weitergehen?

"Return to Sender" auf den gigantischen Export u.a. ge- Pavillon in der Karlsaue Elisabeth Kessler-Slotta
brauchter Kleidung nach Afrika aufmerksam. . kritisierten die Mitglie- September 2022

22

Aus dem Verband

Literaturseminar 2022

Maskeraden in Literatur, Malerei und Fotografie

Das diesjährige Literaturseminar, eine sind. Arlecchino und Colombina aus der Com-
Veranstaltung der Akademie Franz Hitze Im Gelübde (1817) von E.T. Hoffmann media dell’Arte-Tradition (16.-18. Jahr-
Haus in Münster in Kooperation mit un- hundert), den Caprici (17. Jahrhundert)
serem Verband, widmete sich vom 26.-28. etwa geht es um Schleier und Maske, Mo- des französischen Kupferstechers Jac-
August dem Thema „Maskeraden“. Unter tivverknüpfungen, Geheimnis sowie um ques Callot, Masken in der Malerei des
der bewährten und kompetenten Leitung das Verhüllen und Enthüllen von Erzähl- Belgiers James Ensor, Masken und To-
der Literaturwissenschaftlerin Frau Dr. verfahren. Ebenso handelt auch das Mar- tenmasken (1896) wie auch Picasso’s
Christiane Dahms und Komparatistin an morbild (1819) von Joseph von Eichen- Desmoiselles d’Avignon (1907) mit dem
der Ruhr Universität Bochum, setzten sich dorff von Verkleidung und Verwechslung, Motiv afrikanischer Masken.
15 Teilnehmer*innen, darunter fünf Damen von eingeschränkter und irritierter Wahr-
aus fünf verschiedenen Gruppen des Ver- nehmung. Exemplarisch zu nennen ist auch die
bandes, mit der kulturübergreifenden Tra- Verwendung von Maskeraden in Film, Fo-
dition von Maskeraden auseinander. Ein Um Maskenbälle drehen sich die Er- tografie und in der Videokunst, präsen-
Reader mit neun Textauszügen, die den zählungen Die Maske des Roten Todes tiert beispielsweise in Stanley Kubrick’s
Zeitraum vom frühen 19. Jahrhundert bis (1842) von Edgar Allen Poe, die Novelle Film Eyes Wide Shut (1999), der die Traum-
in die 1930er Jahre umspannten, diente Die Maske (1889) von Guy de Maupas- novelle von Schnitzler rezipierte. Der Nie-
sowohl der Vorbereitung als auch als Ba- sant und die Traumnovelle (1925) von Ar- derländer Anton Corbijn hat sich als Fo-
sismaterial zur Textarbeit. thur Schnitzler, die Tarnung und Identi- tograf und Videokünstler profiliert durch
tätsverschleierung sowie erzählte und die Inszenierung von Maskenspielen, ein
In ihrer Einführung verwies die Do- versteckte in Form von Schaulust und vo- Genre, in dem sich auch der Sänger Da-
zentin auf die unterschiedlichen Traditi- yeuristischem Sehen thematisieren. vid Bowie auf der Bühne auslebte.
onen im Theater, im Rahmen zeremoniel-
ler Kontexte und auf die jahrhundertealte Ein eigener Schwerpunkt galt den Monströse Verwandlungen in der Li-
Funktion als Schutzelement. Seit dem Masken in der Darstellenden Kunst in teratur lieferten die Textbeispiele von
Frühjahr 2020 ist auch uns Zeitgenos- Komödie und Tragödie im antiken männ- R.I.Stevenson mit dem merkwürdigen
sen des 21. Jahrhunderts diese Funktion lich geprägten Theater und in der Bilden- Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde (1886)
durch die Corona-Pandemie nolens-vo- den Kunst. Masken in der Malerei und in und Franz Kafka mit der Verwandlung
lens vertraut geworden. der Grafik wurden beispielhaft vorgestellt (1912).
durch das Porträt des Schauspielers G.G.
Neben der Schutzfunktion treten Ge- (1599) des italienischen Barockmalers Während bei Stevenson mit der Er-
sichtsmasken, auch als Larven, als Kult, Annibale Caracci, durch die Figuren von forschung der Identität in dieser Zeit der
Theater- und als zeremonielle Masken Bruch der Eindeutigkeit einer Person an-
auf; Maskeraden allerdings sind allge- Arlecchino und Columbina (Giovanni klingt, etwa mit dem Pseudonym, das
mein als Kunst der Verkleidung zu ver- Ferretti) ein Versteck- und Verwirrspiel treibt, sich
stehen. Beide Formen – Masken und zum Doppelgänger und Gegenspieler
Maskeraden – sind Inszenierungsstrate- entwickelt, erlebt Kafkas Gregor Samsa
gien, sie spielen das Darstellen und Ver- physische und psychische Verwandlun-
hüllen aus, wobei die Identitätsverschlei- gen, die auch seine Familie nicht ver-
erung eine zentrale Rolle einnimmt. Jede schonen.
Form der Maskierung ruft bei ihrem An-
blick emotionale Reaktionen hervor und Den Abschluss bildeten Sprach- und
deutet hin auf ein Geheimnis des Trä- Hörmasken von Elias Canetti’s Komödie
gers, das gelüftet werden will. Doch kön- der Eitelkeit (1934) und Hochzeit (1932).
nen Anhaltspunkte, die jede Verkleidung
bereithält, auch falsche Fährten sein. Das Seminar bot facettenreiche Ein-
Und so ist das Rätsel um die Bedeutung blicke in Maskeraden mit ihrem Spiel
der Maske und die Identität des Maskier- bisweilen komischer Verwechslungen
ten letztlich Teil eines Spiels um Bedeu- und komplexer Täuschungsmanöver.
tungsvielfalt und -verwirrung, in das Be- Die aktive und produktive Mitarbeit der
trachter und Leser gleichfalls involviert Teilnehmer*innen prägte die anregende
Atmosphäre und trug zur Entschlüsse-
lung des vielschichtigen Themas „Mas-
keraden“ unter der erfahrenen Leitung

23

Aus dem Verband

Neue 1. Vorsitzende in Nürnberg

Bei der Jahreshauptversammlung im September ging es um den erfordern besondere Maß-
Erhalt oder die Auflösung unserer Gruppe. Christa Rauch, die
vor sechs Jahren nach dem Rücktritt von Ulrike Kreppner in der nahmen“. Daher entschloss
Hoffnung, dass sich bald eine jüngere Ablösung finden würde,
das Amt übernommen hatte, stellte sich aus Altersgründen nun sie sich zum Sprung ins kal-
nicht mehr als 1. Vorsitzende zur Verfügung.
te Wasser und versicher-
Im allerletzten Moment fand sich doch noch jemand, der
für das Amt kandidierte. Barbara König, erst seit zwei Jahren te uns, sie könne schwim-
Mitglied unserer Gruppe, wollte eigentlich erst einmal nur im
Vorstand mitarbeiten, aber sie sagte: „Besondere Umstände men. Sie wurde einstimmig

zur 1. Vorsitzenden gewählt.

Christa Rauch unterstützt

Barbara König als 2. Vorsit- Barbara König, 1. Vorsitzende der
Gruppe Nürnberg
zende. UM

Herbsttreffen 2022

Nach coronabedingter zweijähriger Pause trafen sich am 9./10. den Gruppen zusehends Probleme aufwirft, etwa in der Kün-
Oktober die Funktionsträgerinnen des Verbandes wieder im In- digung der Gruppen Kamp-Lintfort, Berlin und Düsseldorf zum
stitut für Diakonie und pastorale Dienste – dem Liudger-Haus Jahresende.
– in Münster. Insgesamt 28 Damen, darunter 18 Gruppenvorsit-
Aber der rege Austausch motivierte auch die Anwesenden
zende, ihre Stellver- zu ideenreichen und engagierten Lösungsvorschlägen. Um wei-
treterinnen und inte- terhin zeitgemäß wirken zu können, soll die digitale Schulung,
ressierte Mitglieder auch dank einer Eigeninitiative, vorangetrieben werden und
setzten sich mit Zu- ebenso die Vorstände der Gruppen mit integrieren.
kunftsperspektiven
des Verbandes aus- Elisabeth Kessler-Slotta und Elke Cronau
einander.
Kunstseminar 2023
Als Basismateri-
al fungierte ein von Kunst und Kultur der 1920er Jahre
nahezu allen Vor-
sitzenden beant- Heute sehen wir vor allem die glanzvollen Aspekte der 1920er
worteter Fragenkatalog, dessen Analyse in Form einer Power- Jahre, die sich nach dem I. Weltkrieg in einer neuen Freiheit ent-
Point-Präsentation vorgestellt wurde. Im Anschluss führten fünf falten konnten. Der Zeitraum zwischen den beiden Weltkriegen
Schwerpunktthemen zur Bildung von fünf ausgelosten Gruppen. steht für eine Aufbruchsstimmung in Kunst und Kultur. Die Zeit
In einer guten und sachlichen Atmosphäre entwickelte sich brachte so unterschiedliche Stile wie den Nachkriegs-Expressi-
ein aktiver Austausch zu einer intensiven Zusammenarbeit. onismus, die Neue Sachlichkeit, das Bauhaus und den Surrea-
Dazu zählten: lismus hervor. Mancher Künstler oder manche Künstlerin dachte
Die solide Benen- politisch und formulierte die Missständer der Zeit scharf.
nung der Proble-
me - die konstant Neben der großstädtischen Avantgarde existierte aber auch
schwindende Mit- eine bürgerliche Kultur, die weiter ihre Ideale pflegte.Der Blick
gliederzahl und in die Historie eröffnet die Möglichkeit, die heutige Weltlage vor
der hohe Alters- diesem Hintergrund zu betrachten. Das Seminar unter der Lei-
durchschnitt, die tung von Ulrike Kuschel findet statt im Tagungskloster Frauen-
allerdings ge- berg/ Am Frauenberg 1 / 36039 Fulda / Tel: 0661-1095 116,
samtgesellschaft- E-Mail: [email protected].
liche Situationen Freitag, 07.07.2023, 16:00 Uhr bis Sonntag, 09.07.2023, 13:00
widerspiegel- Uhr, Kosten: 295.-€ inkl. Übernachtung
ten, während der Anmeldung bei Frau Renate Szymanek unter [email protected]
Mangel an Bereit- bis zum 31. Mai
schaft zur Amts-
übernahme in Intensive Zusammenarbeit in fünf Gruppen

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Aus dem Verband

Gruppen berichten von ihren Veranstaltungen

Eine (fast) vergessene baltische Schrift- sie die beiden Söhne ihrer verstorbenen Schwester Mary, Peter
stellerin: Else Hueck-Dehio (1897 – 1976) und Walter Schmidt, als Pflegekinder bei sich auf. 1935 über-
nahm sie die Leitung des Lüdenscheider Ortsverbandes des
Vortragslesung von Sibylle Weitkamp Deutschen Evangelischen Frauenbundes, die sie 15 Jahre lang
innehatte.
Am 31. Dezember in diesem Jahr jährt sich zum 125. Mal der
Geburtstag der deutschbaltischen Schriftstellerin Else Hueck- Sie hatte mit schwindenden Mitgliederzahlen und man-
Dehio, ein Grund, ihrer zu gedenken und auf ihren Spuren zu gelndem Engagement der Mitglieder zu kämpfen. Sie hielt sel-
wandeln. Sie hat ihre baltische Heimat sehr geliebt und in ihren ber Vorträge, so zu dem Thema „Aufgaben der Frau in Volk und
Erzählungen und Romanen altbaltische Lebensform vermittelt. Staat“, in dem sie die Gleichberechtigung von Frauen und Män-
Ihr bekanntestes Werk ist „Tipsys sonderliche Liebesgeschich- nern propagierte, was den Nationalsozialsten wenig genehm
te“ aus dem Jahr 1959. war. Richard Hueck war seit 1933 einer der führenden Männer
der „Bekennenden Kirche“ in Lüdenscheid. Nach einer schwe-
Baltische Literatur – das betrifft eine längst verklungene Zeit ren Erkrankung Richard Huecks zog das Ehepaar 1954 nach Mur-
in einem weit abgelegenen Land, für die sich im Grunde genom- nau am Staffelsee. Wenige Monate später, 1955, kam der Sohn
men niemand interessiert. Baltische Literatur ist nach dem Li- Günther auf tragische Weise bei einem Verkehrsunfall ums Le-
teraturwissenschaftler Gero von Wilpert die deutschsprachige ben. Richard Hueck ist 1968 in Murnau verstorben, seitdem
Literatur der ehemaligen deutschen Oberschicht in den Gebie- lebte Else Hueck-Dehio alleine in dem Haus in Murnau, dem
ten von Estland und Lettland vom 12. Jahrhundert bis 1939, dem „Hueckshof“.
Jahr, in dem das Baltikum der Sowjetunion zugeschlagen und
die Deutschen ausgesiedelt wurden. Zu der Oberschicht gehör- Seit 1934 hatte sie sich als Romanschriftstellerin einen zu-
ten die Großgrundbesitzer, Kaufleute, Professoren, Lehrer, Ärz- nehmend bekannter werden Namen geschaffen. Ihre vielfach
te und Pastoren. autobiographisch gefärbten Bücher sind zumeist dem Land ih-
rer Kindheit, dem Baltikum, verhaftet. Die ersten Gedichte er-
Die baltische Literatur ist eine Literatur der Vergangenheit schienen 1919 in der Täglichen Rundschau in Berlin.
und eine Literatur ohne Zukunft, eine Literatur, die im Ausster-
ben ist, und die es nur noch so lange geben wird, wie Menschen Einen wahrhaft unwahrscheinlichen Erfolg hat sie ab den
sich ihrer annehmen, sie lesen und vielleicht sogar erörtern. Ih- 1950er Jahren in Deutschland mit ihren Romanen und Erzäh-
ren Höhepunkt und Untergang findet die deutsch-baltische Li- lungen gehabt. Mit einer Gesamtauflage von drei Millionen ge-
teratur im 20. Jahrhundert. hört sie zu den meist gelesenen deutschsprachigen Autorinnen
der ersten Nachkriegsjahrzehnte. Der Verlag, in dem ihre Bü-
Else Hueck-Dehio wurde am 31.12.1897 in Dorpat / Estland cher nach dem 2. Weltkrieg erschienen sind, war der alteinge-
als Tochter des Professors Dr. med. Karl Dehio, Pathologe und sessene Eugen Salzer Verlag in Heilbronn. Dessen Schwerpunkt
Leiter der Inneren Klinik an der Universität Dorpat, geboren. Karl lag u. a. auf der Literatur der Baltendeutschen.
Dehio hatte sich einen Namen als Lepra-Forscher gemacht. Die
Mutter, Elisabeth Treffner, war die 2. Ehefrau von Karl Dehio, sie Zwei Bücher Else Hueck-Dehios aus den 1950er Jahren wa-
hatten fünf Töchter. ren Erfolgstitel, die jeweils Auflagen von mehr als 900.000 Ex-

Else Hueck-Dehio wuchs in einem kulturell aufgeschlosse-
nen Elternhaus auf und wurde bereits als 8-Jährige 1905 mit der
Revolution konfrontiert. 1914 legte sie in Dorpat das Abitur ab.
Mit den beiden älteren Schwestern verließ sie 1918 Dorpat und
siedelte sich in Berlin an. Dort machte sie eine Ausbildung zur
Krankenschwester.

Während der Besetzung Dorpats von deutschen Truppen
lernte sie 1918 den aus Lüdenscheid stammenden Industriel-
len Richard Hueck (1893 – 1968) kennen., den sie 1920 in ihrem
Elternhaus in Dorpat heiratete. Das Paar zog nach Lüdenscheid,
wo Richard Hueck in die Geschäftsführung des elterlichen Wer-
kes eintrat. Else kümmerte sich um den Haushalt und den 1923
geborenen Sohn Günther.

In dieser Zeit begann sie zu schreiben. Es waren zunächst
kleine Essays, dann folgten die ersten Romane „Die Hochzeit
auf Sandnes“ 1934 und „Der Kampf um Torge“ 1936. 1940 nahm

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Aus dem Verband

emplaren erreichten: „Ja, damals. Zwei heitere estländische brenners, erbaut wurde. Die 14 Wandbilder wurden von Jakob
Geschichten“. (Salzers Volksbücher. 42), erstmals 1953 erschie- Götzenberger (1802-1866) gestaltet. Sie stellen Szenen aus My-
nen und immer wieder aufgelegt worden und „Tipsys sonderli- then und Sagen der Region dar. Frau Dr. Margarete Zink hat uns
che Liebesgeschichte. Eine Idylle aus dem alten Estland“. (Sal- durch die Trinkhalle geführt und erläutert, dass man am Brun-
zers Volksbücher. 62), 1959 erstmals erschienen. nen kein Wasser mehr abfüllen kann.

1955 ist im Eugen Salzer Verlag der 500 Seiten umfassende Anschließend besuchten wir das Muße-Literaturmuseum.
Roman „Liebe Renata“ erschienen, ein nostalgischer Heimat- Frau Kuratorin Prof. Dr. Elisabeth Cheauré hat uns im Bus be-
roman mit christlicher Grundlage. Es ist ein autobiographisch reits an das Thema Muße herangeführt. So waren wir gut vor-
inspirierter Roman, der die Zeit vom Spätsommer 1913 bis zum bereitet und eingestimmt. Frau Sigrid Münch, die Leiterin der
Frühjahr 1918 umfasst. Stadtbibliothek, hat uns bereits erwartet und im Konferenz-
raum zu einer Einführung empfangen.
Am 30.06.1976 ist Else Hueck-Dehio in Murnau gestorben
und auf dem dortigen Friedhof beigesetzt worden. Denn hier geht es nicht um Muße als Sujet, sondern als
Methode: Bequeme Hocker und Sessel laden zum Verweilen
Aus dem Band „Ja, damals“ wurde die Erzählung „Tante ein, es gibt in einer Bibliothek ohnehin zahlreiche Leseplätze;
Tüttchen“ vorgelesen, die nachdenklich stimmte aber auch und auch der rote Samtsessel steht samt Tisch mit Lesestoff
zum Schmunzeln anregte und für Heiterkeit sorgte. für Müßiggänger bereit. Zeit in verschwenderischem Maß soll-
te mitbringen, wer sich in sechzehn Kabinetten auf einen Streif-
Sibylle Weitkamp, Gruppe Hannover zug durch „Baden-Baden in der Weltliteratur – Die Weltliteratur
in Baden-Baden“ begibt. Es ist schlicht überwältigend, welche
Weltkultur und Weltliteratur in Baden-Baden Fülle an Material hier von der Römerzeit bis zur Geschichte des
SWF/SWR zusammengetragen und geordnet wurde.
Ausflug Gruppe Freiburg am 05.10.2022
Gestalterisch führt das vielfach variierte Motiv des Buchs
Wir besichtigten die Kath. Kirche St. Maria Hilfe der Christen im durch die Schau und: die Schublade. In den engen Räumen im
Dorf Goldscheuer nahe Offenburg. Diese Kirche wollte das Ordi- Obergeschoss hätten Vitrinen kaum Platz gefunden. Es dürfte
nariat in Freiburg schließen, der Renovierungsbedarf war groß. wesentlich spannender sein, die mit vielversprechenden Titeln
Die Rettung 2011 war spektakulär: Pfarrer Thomas Braunstein garnierten flachen Schubladen zu öffnen. Wie kleine Schatz-
fand in Stefan Strumbel einen mutigen und zugleich sensiblen kammern offenbaren sie dann ihren Inhalt: Manuskripte, Buch-
Künstler, der den Kircheninnenraum komplett umgestaltete. ausgaben, Fotos, Zeitungsausschnitte. Das Übliche eben.

Eine Besonderheit ist das Madonnenbild. Maria trägt Jesus Die Zeit war viel zu kurz, wir haben den Besuch sehr genos-
in ihrem Arm. Jesus macht dabei ein sehr ernstes Gesicht, weil sen und bei einigen blieb der Wunsch, wiederzukommen und
sein Blick auf das Kreuz gerichtet ist. Jesus hält mit seiner rech- mehr zu entdecken.
ten Hand Maria am Kinn und er hält sich liebevoll mit der lin-
ken Hand an der Tracht fest. Beim gemeinsamen Mittagessen in der Pizzeria Rosso Bian-
Maria trägt die ortsübliche co herrschte eine warmherzige Atmosphäre und wir haben uns
schwarze „Maschenkappe“ dem Genuss hingegeben.
als Kopfbedeckung. Damit
wird sie zur „Frau aus dem Der Nachmittag stand zur freien Verfügung – eine Gruppe
Volke“, wie es in der Strophe besuchte die Ausstellung „Die Maler des Heiligen Herzens“ im
eines bekannten Marienlie- Burda-Museum. Es war ein lauer sonniger Herbsttag und das
des heißt. Dieses acht Me- Städtchen Baden-Baden mit seiner Kurpromenade und dem
ter hohe Gemälde hat Stefan herrlichen Park entlang der Oos hat ein Flair, dem man sich
Strumbel mit Spraydosen ge- nicht entziehen kann.
malt. Türkis und Rosa sind
bewusst gewählte Farben Claudia Schall, Gruppe Freiburg
der Biedermeierzeit, die sich
auch in den Kerzenleuchtern wiederfinden.

Unser Busfahrer Bernward Lindinger hatte vor der Kirche
den Tisch gedeckt und es gab Tee, Kaffee und Brioches.

Dann ging es weiter nach Baden-Baden. Baden-Baden hat
sich mit den anderen Städten der „Great Spa Towns of Euro-
pe“ (die bedeutenden Kurstädte Europas) als Weltkulturerbe
beworben und erhielt die positive Entscheidung im Juli 2021.

Wir besichtigten die Trinkhalle, die von 1839 bis 1842 nach
Plänen von Heinrich Hübsch, einem Schüler Friedrich Wein-

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Aus dem Verband

Klimawandel und Klimaschutz. im Vergleich zu 1990 vermindert werden und die Treibhausgas-
Was können wir tun? emissionen um 88 Prozent gesenkt werden. Damit soll im Jahr
2045 Klimaneutralität für Deutschland erreicht werden.
Vortrag von Dr. Klaus-G. Fischer
Der größte CO2-Emittent ist die Energiewirtschaft. Eine Al-
Starkregen, Überschwemmungen mit Todesopfern, Stürme, Tor- ternative zu den fossilen Energieträgern sind Windkraft und
nados, Hitze, Dürre, Trockenheit, Waldbrände – alle diese Ex- Photovoltaik. Doch hier liegt die Tücke im Detail: Lange Geneh-
tremwetterphänomene treten nicht mehr nur in fernen Erdtei- migungsverfahren, Mangel an Flächenverfügbarkeit, Material-
len auf, wir erleben sie hier in Deutschland. Auch der heftigste und Fachkräftemangel bremsen die Vorhaben aus. Nicht zu-
Leugner des Klimawandels kann sich dieser Erkenntnis nicht letzt die Bürgerinnen und Bürger selbst, die zwar grüne Energie
verschließen. wollen, aber keine Windräder oder Trassen in ihrer Nähe wün-
schen, erschweren die Energiewende.
Zu Beginn seines Vortrages erläutert Dr. Klaus-G. Fischer an-
hand einer Grafik die Ursachen des Klimawandels und seine Was können wir tun? Der Referent weist auf unterschiedli-
sozialen und ökonomischen Auswirkungen. Zu den anthropo- che Testmöglichkeiten im Internet hin, mit denen man seinen
genen, also vom Menschen verursachten Treibhausgasen gehö- persönlichen ökologischen Fußabdruck berechnen kann. Abge-
ren die Verbrennung fossiler Energieträger, die Landwirtschaft, fragt werden zum Beispiel Ernährung, Kaufverhalten, Konsum,
der Verkehr, die Gebäude, die Industrie und die Gewinnung von Wohnen und Verkehr. Nach der Auswertung bekommt man Rat-
Kohle, Erdöl und Erdgas. Weltweit beträgt der CO2- Ausstoß 40 schläge, was man noch verbessern kann. Nicht alles lässt sich
Gigatonnen. Deutschland gehört mit 3 % Ausstoß zum Mittel- umsetzten, aber es sind wertvolle Denkanstöße. Der Referent
maß aller Länder. Im globalen Vergleich ist China der größte schließt seinen Vortrag mit den Worten von Greta Thunberg:
Emittent, gefolgt von den USA. Umgerechnet auf den pro Kopf- „Es ist manchmal ärgerlich, wenn die Leute sagen: Oh, ihr Kin-
Ausstoß gehören wir allerdings zur Spitzengruppe. Im statisti- der, ihr jungen Leute seid die Hoffnung. Ihr werdet die Welt
schen Mittel verursacht jeder Deutsche einen Ausstoß von 9,6 retten. Ich denke, es wäre hilfreich, wenn Sie uns dabei hel-
Tonnen CO2. fen könnten.“

Die Treibhausgasquellen in Deutschland sind: 30 % Ener- Für die Gruppe Moers war der Vortrag hochaktuell. Um ei-
giewirtschaft mit Kohle- und Gaskraftwerken, 22 % Verkehr mit nen geplanten energiefressenden Surfpark an der Stadtgrenze
Straßenverkehr und Flugverkehr, 22 % Industrie, 13 % Haus- zu verhindern, sammeln gerade Surfparkgegner und Umwelt-
wärme, 7 % Landwirtschaft, davon 3 % durch die Rinderzucht, schützer Spenden für das Gutachten der Star-Klimaanwältin
5 % Bodennutzung und 1 % Abfälle. Roda Verheyen.

Jeder vom Menschen gemachte CO2-Ausstoß verursacht Iris Fischer, Gruppe Moers
Treibhausgase und erhöht die Erderwärmung. Die Folgen sind
Extremwetterlagen, die mit tödlicher Hitze und Überschwem- Flanieren in Paris
mungen ganze Zonen dieser Erde unbewohnbar machen wer-
den. Dies wiederum wird zu neuen Flüchtlingsströmen führen. Ein Vortrag von Wolfgang Schwarzer in der Gruppe Bochum

Um den Klimawandel zu stoppen, haben sich die Nationen Der Referent lud ein, in der eigenen Erinnerung durch Paris
auf Klimaabkommen geeinigt. Im Jahr 1997 wurde das Kyoto- zu flanieren und der Phantasie Raum und Zeit zu gewähren.
Protokoll verabschiedet, mit der Auflage, die Emissionen um In Paris lässt uns das Poetische dieser Stadt die zugleich vor-
5,2 % zu reduzieren. Im Pariser Klimaabkommen 2015 wurde handene Hektik unserer Zeit vergessen. Mit dem Zug erreicht
beschlossen, die Erderwärmung deutlich unter 2°C zu halten. man von Duisburg aus Paris innerhalb von vier Stunden. Paris
Im Glasgower Abkommen 2021 einigte man sich darauf, die Er- gilt als Stadt der Vergangenheit, Zukunft und der Hoffnungen.
derwärmung unter 1,5°C zu halten und aus fossilen Energieträ-
gern auszusteigen. Eingehalten wurden die Abkommen nicht, „Dem Gehenden in der Stadt, dem Flaneur, eröffnet sich immer
jedes Mal gab es Staaten, die Ausnahmen forderten und die in der Gegenwart des Wahrnehmbaren das Traumreich sich über-
Ziele abschwächten. lagernder Erinnerungen. Es ist gerade dies das Poetische der
Stadt und von Paris in unvergleichlichem Maß, daß in jedem
Am 24. März 2021 hat das Bundesverfassungsgericht in Augenblick das gelebte Jetzt sich mit der Tiefe der Vergangen-
Deutschland ein grundlegendes Urteil zum Klimaschutz ge- heit verknüpft, und sei es nur in den flüchtigen Orientierungen
fällt, dass bei den konkret beabsichtigten Maßnahmen auch der Namen.“ (Karlheinz Stierle)
der Schutz der zukünftigen Generationen nach 2031 berück-
sichtigt werden muss. Erstritten hat dieses wegweisende Urteil In diesem Sinne lud der Vortrag ein zu einem Spaziergang
die Umweltanwältin Roda Verheyen, jetzt Richterin am Ham- durch die bisweilen auch banale oder erschreckende Gegen-
burgischen Verfassungsgericht. Nach diesem Urteil reichen kei- wart und Geschichte einer Stadt und die Träume, die durch
ne Absichtserklärungen mehr, es muss gehandelt werden. Bis Film, Fotos oder Texte in jedem von uns existieren.
2030 soll der Treibhausgas-Ausstoß um mindestens 65 Prozent
Flanieren bedeutet, die Seele und die Augen dem Zufälli-

27

Aus dem Verband

gen zu öffnen. Gegenwart und Phantasie verschmelzen in den Ausflug der Wandergruppe Bochum
Bildern. nach Emmerich

Mit Paris verbinden wir z. B. die Namen Charles de Gaul- Während der Sommerpause unternahm die Wandergruppe Bo-
le und Colette; doch der erste wirkliche Flaneur durch Paris chum einen Tagesausflug nach Emmerich am Niederrhein. Al-
war der Schriftsteller Oscar Wilde. Man flaniert, um gesehen lerdings nicht, um auf Schusters Rappen die dortigen Wander-
zu werden und um zu sehen, das war Molières Einstellung. In wege zu erkunden. Ziel des Ausflugs war die Besichtigung der
den alten Straßen begegnet uns der Flaneur François Villon, Heilig-Geist-Kirche im Stadtteil Leegmeer: ein sehenswertes
Charles Baudelaire, Paul Verlaine und Ernest Hemingway. Kleinod moderner Kirchengestaltung.

Im Parc Monceau spaziert Kurt Tucholsky und ruht sich Der nach den Plänen von Architekt Georg Baumewerd
von seinem Vaterlande aus. Er schrieb: "Hier ist es hübsch. (1932-2015) zwischen 1964 und 1966 in der Folge des Zweiten
Hier kann ich träumen. Hier bin ich Mensch – und nicht nur Zi- Vatikanischen Konzils entstandene Kirchenbau beeindruckt
vilist. Hier darf ich links gehn. Unter grünen Bäumen sagt kei- schon von Weitem durch die imposante Architektur: Auf einem
ne Tafel, was verboten ist." aus unregelmäßigen Vielecken gebildeten Grundriss erheben
sich mehrere kelchförmige Außenmauern aus Sichtbeton und
Heinrich Heine tritt durch die Porte Saint Denis, besucht Glas.
die Blumenmädchen in den Passagen und begegnet auf dem
Friedhof Montmartre Alexandre Dumas fils und der Kamelien- Obwohl die schlichten Kirchenfenster überwiegend als
dame. Der Friedhof erinnert aber auch an das Grauen der Kon- Oberlichter im oberen Baukörper eingebracht und die Wän-
zentrationslager, die Opfer von Charlie Hebdo, des Bataclan- de ohne jegliche Gestaltung belassen sind, wirkt das Gebäu-
Massakers und die Morde in der rue des Rosiers. de nicht ausgrenzend oder verschlossen, sondern offen und
leicht.
Jacques Prévert und Sophie Calle lüften Geheimnisse des
Montmartre. Beim Betreten des Kirchenraumes zogen die gestalteri-
schen Kontraste der Innenausstattung sofort die Blicke der
Rainer Marie Rilke erfreut sich an dem weißen Elefanten Besucherinnen auf sich, insbesondere der aus zwei Einzelblö-
im Jardin du Luxembourg. cken bestehende strahlend weiße, unregelmäßig beschlagene
Marmoraltar und das wuchtige rostige Altarkreuz – beide ge-
Auf der Place Vendôme und im Ritz begegnet man Marcel staltet von Bildhauer Waldemar Kuhn (1923-2015).
Proust und Lady Di.
Die Teilung des Altars in zwei Einzelaltäre mit dem „Altar
Die in französischer des Wortes“ und dem „Altar des Brotes“ entspricht der durch
Sprache schreibende al- das Zweite Vatikanische Konzil betonten Gleichwertigkeit von
gerische Schriftstellerin, Verkündung des Gotteswortes und Eucharistie.
Regisseurin, Historikerin
und Hochschullehrerin Auf ganzer Breite erstreckt sich über die Altäre das den Kir-
Assia Djébar tanzt in ei- chenraum dominierende Kreuz aus rostigen Schrottabfällen –
nem Bistro des 20. Arron- neun Meter breit und sieben Meter hoch!
dissements.
Bildhauer Waldemar Kuhn (1923 – 2015) schweißte es aus
Im Hôtel Lutetia tref- Abfällen von Autofriedhöfen, Schrottsammlungen und ausge-
fen sich Josef Roth und dienten Haushaltsgeräten zu einem auf den ersten Blick ver-
sein heiliger Säufer mit Walter Benjamin und Georg-Stefan störenden Gebilde.
Troller. Berühmte Gäste des Hotels waren auch Theodor W.
Adorno, Pablo Picasso, Henri Matisse, André Gide, Antoine Das betont breit ausgerichtete Kreuz soll nicht wie allge-
de Saint-Exupéry, Albert Cohen, Juliette Gréco, Catherine mein üblich die triumphale Überwindung von Leid und Tod the-
Deneuve, Isabelle Huppert, Gérard Depardieu und Charles matisieren, sondern Unzulänglichkeit und Scheitern des Men-
de Gaulle. schen.

Schließlich rezitiert ein Clochard am Carrefour de l’Odéon Von all den weiteren Besonderheiten der Heilig-Geist-Kir-
die Fabeln von La Fontaine. che seien hier nur noch die insgesamt elf Innenwände, eben-
falls aus Beton, erwähnt. Diese wurden vom Berliner Künstler
Für gute 90 Minuten öffnet Paris seinen Schatz an jahrhun- Fred Thieler (1916-99) mit überwiegend in Blautönen einge-
dertelangem Leben. Die Zuschauer flanierten mittendrin und färbten Stoffbahnen bespannt, die einen annähernd sternen-
ließen ihre eigenen Erinnerungen und Phantasien mit dem Ge- förmigen Farbverlauf tragen und den starren Betonteilen Dy-
sehenen und Gehörten verschmelzen. namik verleihen.

Zum Abschluss des Vortrags hörten die Gäste das Lied "Un Nach der Besichtigung ging‘s trotz des nasskalten Wetters
jour tu reviendras", gesungen von Edith Piaf. zu Fuß durch das beschauliche Stadtzentrum von Emmerich
zur Rheinterrasse und dort ein Stück am Rheinufer entlang.
Wolfgang Schwarzer / Renate Hoinko
Wolfgang Schwarzer war von 2003 bis 2017 Vorsitzender der Das gemeinsame Mittagessen bot eine willkommene Ge-
Deutsch-Französischen Gesellschaft e.V. Duisburg. Dem Ruhe-
stand konnte er sich bislang erfolgreich verweigern.

28

Aus dem Verband

legenheit zur Stärkung sowie zum vielfältigen Gedankenaus- Für uns in diesem Augenblick und auch später noch nach
tausch über die Kirchenbesichtigung. Dabei waren sich alle dem Besuch eines sehr alten Weingutes, nämlich der Bodega
einig: Die Heilig-Geist-Kirche in Emmerich ist den Besuch un- Marques de Riscal, 1860 gegründet, vielfach prämiert für sei-
bedingt wert. ne erlesenen Weine auf ca. 200 ha eigenen Weinbergen, alle-
samt zwischen 15 und 30 Jahre alt und in rund 33 000 Fässern
Sigrid Lindner gelagert – für uns lebte plötzlich auch diese Zeit auf, gepaart
mit der Moderne, nämlich der privaten Fassung des Guggen-
Auf der Webseite der Heilig-Geist-Kirche in Emmerich können bei einem heim-Museums in Bilbao, das dessen Architekt Franz O`Gehry
virtuellen Rundgang die einzelnen sehenswerten Teile der Kirche bewun- hier als Hotel in kleiner Version aus dem Boden stampfte.
dert werden. Stahl, Glas, Kalkstein und Titan, Kunst der Moderne, der Tech-
nik, der Phantasie neben der Kunst des Kelterns, der Kultur
Gedanken zu einer Kunstreise nach Bilbao des Genießens. Kunst und Kultur für jedermann, der hören,
sehen und fühlen (wahrnehmen, verinnerlichen) kann.
Auf unserer Busfahrt von Bilbao zu der von hohen Bergen um-
gebenen mittelalterlichen Weinstadt LaGuardia, der Hauptstadt Es bedarf wohl aus organisatorischen Gründen in unserer
der Region La Rioja Alavesa, umgeben von stabilen Festungs- immer komplexer werdenden Welt verbindlicher Zusammen-
mauern, hinter denen sich im Mittelalter nicht nur die Bevöl- schlüsse in Form von Vereinen, Interessensgemeinschaften
kerung samt ihrer Weinschätze verbarg, sondern in deren tief wie Freundeskreisen (Haus Coburg, dem wir für diese Initia-
in den Berg hinunterführenden Kellern sich auch die erforderli- tive sehr dankbar sind), damit wir immer wieder die Bestä-
che Munition für den Fall einer feindlichen Belagerung befand. tigung erhalten, dass unsere Welt für uns Schönheit, Werte,
Kurz davor also durchfuhren wir einen kleinen unspektakulä- bereichernde und stabilisierende Erlebnisse und Erfahrungen
ren Ort namens Alava – als uns unsere Münchner Fremden- bereithält, die imstande sind, das Gleichgewicht wieder her-
führerin Susanne darauf hinwies, dass in diesem Ort einst ein zustellen, wenn wir uns hilflos gegenüber Krankheiten, Krie-
berühmter Mann das Licht der Welt erblickte: gen und Katastrophen fühlen.

Am 20. Januar 1809 wurde hier Sebastián de Iradier y Ala- Die Kraft und die Sensibilität, die wir weder allein der weib-
verri geboren (er starb 1865 in Vitoria), späterer Organist und lichen Psyche zuordnen noch der männlichen absprechen soll-
Gesangslehrer am Konservatorium in Madrid, bis er 1959 nach ten, kann weiterhin der Ansporn für kulturelle Aktivitäten und
Paris zog. Wann er sein berühmtestes Lied „La Paloma“ kom- künstlerisches Engagement sein – auf vielen Ebenen. Denn
ponierte, ist mir nicht genau bekannt. Aber das sehnsuchtsvol- Kultur ist die Kunst der Wahrnehmung aller Werte des Lebens,
le Liebeslied, das den Seemann von seiner Liebsten entfernt, der vertiefenden, beschreibenden und festhaltenden Künste
wurde und blieb bis heute ein Welterfolg, der, vielfach adap- wie Musik, Malerei, Poesie, Theater, Bildhauerei, Volkskunst –
tiert, als Oper, als Volkslied, als Seemannssong, von Freddy eine Liste, der wir die Kunst der Menschenführung, der Erzie-
Quinn sogar sehr lyrisch in spanischer Version, von Hans Al- hung, der Organisation, der Lebensbewältigung usw. getrost
bers rauchig nach St.Pauli Art interpretiert wurde. hinzufügen dürfen.

Susanne, reiseerfahren, legte eine Kassette ein, und wir er- Angelika Cromme, Gruppe Delmenhorst
lebten den spanischen Freddy Quinn, das Lied von der Taube,
die als Symbol des Friedens sogar als Hausemblem im Berliner Das spektakuläre Hotel Marqués de Riscal liegt im Herzen der
Ensemble an der Decke zwischen Stuck und Staub schwebt. berühmten Weinregion Rioja. Wie Gehrys Guggenheim-Museum
in Bilbao ist auch das Hotel mit Titan und Edelstahl verkleidet.
Warum erwähne ich gerade diesen kurzen Moment unse-
rer an Kunsterlebnissen reichen Reise durch Stadt und Land 29
der Basken – weil uns innerhalb eines Augenblickes ein Kul-
turereignis gegenwärtig wurde, das in seinen vielfältigen Vari-
ationen und Auswirkungen – vom Kitsch bis zur Poesie, vom
fremdartigen Klang der Habanera bis zum Seemannslied – et-
was Wesentliches besitzt: einen inneren Kern der Sehnsucht,
der Universalität der menschlichen Seele.

Ein Spanier, ein Baske, hat vor mehr als 200 Jahren aus
vielleicht einem ganz persönlichen Motiv seine Gedanken in
Worte und Noten gefasst und damit ein Stückchen Kunst und
Kulturgut geschaffen. Wort und Musik vermittelten uns plötz-
lich ein Gefühl der Verbundenheit, der Gemeinsamkeit zu die-
sem Land da draußen mit einem imaginären, der Vergangen-
heit angehörenden und doch gegenwärtigen Künstler, der für
die Nachwelt etwas Einzigartiges hinterlassen hatte.

Aus dem Verband

Der Bevenser Siebenstern

Alle Jahre wieder werden in nahezu allen Familien in Bad Be- Um diesen Gottesdienst trotzdem stattfinden zu lassen,
vensen zum Beginn der Adventszeit die Siebenstern-Leuchter wurde die Idee zur Durchführung der kirchlichen Feierstunde
hervorgeholt, zusammengesteckt und mit Kerzen versehen. An mit den Siebensternen geboren. Es war der erste festliche Sie-
den Abenden und auch an den Wochenenden tragen die strah- benstern-Gottesdienst in Bevensen. Die Atmosphäre des nur
lenden Kerzen zur adventlichen Stimmung bei. durch das gedämpfte Licht der zahlreich mitgeführten Leuch-
ter in der Kirche war sehr stimmungsvoll.
Der Leuchter besteht
zunächst aus einem fla- Von der Zeit an werden in jedem Jahr zunächst nur am ers-
chen runden Holzfuß, auf ten Weihnachtsfeiertag um 6.00 Uhr diese Gottesdienste an-
den ein Rundholzstab als geboten, die trotz der frühen Morgenstunde immer sehr gut
Träger von drei sich nach besucht werden. Man muss sich schon rechtzeitig auf den Weg
oben hin verjüngenden begeben, um noch einen einigermaßen guten Platz in der Kir-
Querstäben gesteckt wird. che zu bekommen. Auch heute noch gehört für mich ein Be-
An den äußeren Enden der such dieses frühen Siebenstern-Gottesdienstes an jedem
Querstäbe wie auch auf der Weihnachtsfest unbedingt dazu.
Spitze des Mittelstabes
sind jeweils Vorrichtungen Das extrem frühe Aufstehen ist jedoch immer mit Überwin-
zum Aufstecken der Kerzen dung verbunden. Bei Dunkelheit ist man zunächst allein durch
angebracht. menschenleere Straßen mit dem eigenen Siebenstern unter-
wegs. Doch je näher man auf die Kirche zukommt, trifft man
Wie kam es nun gera- auch andere Menschen mit dem gleichen Ziel. Das Kirchenpor-
de in unserer kleinen Stadt tal ist geöffnet, und warmes Licht strahlt den Ankommenden
dazu, dass der Siebenstern einladend entgegen.
sich so dauerhaft erhalten und verbreiten konnte und die Ein-
wohner Bevensens auf die in der dunklen Jahreszeit lichtspen- Seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wer-
dende Quelle nicht mehr verzichten wollten? Genaueres lässt den an allen Advents-Sonntagen am Nachmittag mit Einbruch
sich über die Herkunft sowie auch über die Zeitangaben nicht der Dunkelheit Siebenstern-Gottesdienste angeboten, um den
mehr feststellen. Bewohnern der Stadt wie auch Auswärtigen das Erlebnis eines
Es könnte sein, dass Handwerksburschen auf ihrer Wan- stimmungsvollen Siebenstern-Gottesdienstes beim Schein
derschaft in früheren Zeiten diesen Leuchter aus nordischen unzählbar vieler leuchtender Kerzen zu ermöglichen.
Ländern mitgebracht haben, und im Laufe vieler Jahre wurde
dann durch ortsansässige Drechsler die heute übliche Form Es mögen sich in zukünftigen Jahren noch so manche Ver-
entwickelt. änderungen ergeben; die Siebenstern-Leuchter in Bad Be-
Volkskundler vertreten die Meinung, dass der Bevenser vensen werden alle Zeiten überdauern und im Winter und zur
Siebenstern sich bis zum 18. Jahrhundert zurückverfolgen Weihnachtszeit werden sich viele Menschen daran erfreuen.
lässt. Anfänglich wird er vermutlich sehr viel einfacher in der
Ausführung gewesen sein bis schließlich durch verschiedene Ursel Galgan
Drechslermeister der Leuchter zunehmend sein Äußeres ver-
ändert und sich aus der einfachen, schmucklosen Form das Die beliebten stimmungsvollen Siebenstern-Gottesdienste ge-
heutige Erscheinungsbild entwickelt hat. hen auf das Jahr 1842 zurück.
Auch wird mit der Verbindung des Siebensterns aus Beven-
sen auf die Lichterpyramiden der skandinavischen Länder und
des Erzgebirges hingewiesen, wie sie dort zu festlichen Anläs-
sen verwendet wurden.
Besonders beliebt sind die Siebenstern-Gottesdienste in
jedem Jahr zur Advents- und Weihnachtszeit. Diese Tradition
geht auf das Jahr 1842 zurück. Damals wurden die Gemein-
demitglieder durch ihren Geistlichen aufgefordert, die eige-
nen Siebenstern-Leuchter von zu Hause mit in die Kirche zu
bringen, da die Kirchenbehörde die finanziellen Mittel zur Be-
leuchtung der Kirche für eine Frühmette um 6.00 Uhr gestri-
chen hatte.

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Aus dem Verband

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Mit diesem Heft zum Thema Zuhause sein wünschen wir Ihnen allen eine besinnliche Adventszeit, ein frohes
Weihnachtsfest und mit den Gedichtzeilen Dietrich Bonhoeffers einen zuversichtlichen Ausblick auf das Jahr 2023.
Herzlich grüßen Sie
Ihr Bundesvorstand und Ihre Redaktion

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Frau und Kultur Renate Zimmer, E-Mail [email protected] Tel. 02641 90 610 10
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Frau und Kultur e.V. – Heft 4/2022 E-Mail: weber-schipke@web-de
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Redaktionsschluss für Heft 1/2023:
20. Januar 2023

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