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Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover

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Published by alumni, 2020-12-03 08:27:06

Unimagazin 1/2_2018 Europa

Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover

Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover
Ausgabe 01|02 • 2018

Europa

Vielfältige Geschichte – gemeinsame Identität?

Zukunft Hochspannend
mit Energie

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UNIMAGA ZIN • AUSGABE 1|2–2018 LEIBNIZ UNIVERSITÄT HANNOVER

Editorial

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

»In Vielfalt geeint« lautet Daran anschließend stehen Viel Freude beim Lesen
das Motto der Europäischen geschichtliche Bezüge im Mit­ wünscht Ihnen
Union seit 17 Jahren. Es geht telpunkt: Peter Antes vom
auf die Ursprungsidee eines Institut für Religionswissen­ Prof. Dr. Volker Epping
friedlichen Europas zurück, in schaft zeigt, dass keine der Präsident der
dem sich die Europäerinnen großen Religionen in Europa Leibniz Universität Hannover
und Europäer nach zwei Welt­ entstanden ist, sondern dass
kriegen zusammengeschlos­ sie ihre Wurzeln in Asien
sen haben, um sich gemein­ haben. Sein Beitrag ist ein ve­
sam für Frieden und Wohl­ hementer Aufruf zu Toleranz
stand einzusetzen. Europa und Dialogbereitschaft. Auch
soll ein Kontinent sein, in dem der Blick auf das Geflecht von
die verschiedenen Kulturen, Beziehungen zwischen Han­
Traditionen und Sprachen nover und London im 17. Jahr­
als Bereicherung empfunden hundert, die europäische Stadt
werden. als historisches Erbe sowie
das »Europäische Jahr des
Das neue Unimagazin zeigt Kulturerbes 2018« verdeut­
einen Ausschnitt aus dieser lichen, wie wichtig es ist, bei
überwältigenden Vielfalt, die zukünftigen Entwicklungen
Europa ausmacht, aber auch die Historie Europas mitein­
die aktuellen Probleme: Die zubeziehen.
Beiträge beginnen mit dem
Brexit – dem Austritt Groß­ An einer Universität sind es
britanniens aus der EU – und nicht zuletzt die Studieren­
gehen zum einen der Frage den, die entweder nach Han­
nach, wer für den Brexit ge­ nover kommen oder von Han­
stimmt hat und wer dagegen. nover aus ins europäische
Zum anderen steht im Fokus, Ausland gehen, um neue Län­
wie sich die Euro­Skepsis der, andere Menschen und
der Briten im Laufe der Jahre Kulturen kennenzulernen.
entwickelt hat. Ein weiterer Das Austauschprogramm
Brennpunkt ist das Verhältnis Erasmus+ feiert mittlerweile
zwischen Europa und den 30jähriges Bestehen und zieht
USA nach der Wahl von Bilanz.
Donald Trump – hier stehen
Ursachen und mögliche Fol­ Einzelne Aspekte politischer
gen zur Debatte. Entscheidungen wie etwa die
digitalen Strategie der EU
oder die Entwicklung der
Zinssätze in den Euroländern
zeigt das Forschungsmagazin
ebenfalls.

1

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2

UNIMAGA ZIN • AUSGABE 1|2–2018 IMPRESSUM • INHALT S VERZEICHNIS

Europa

VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Unimagazin Christiane Lemke Rainer Danielzyk | Martin Prominski |
Forschungsmagazin der Institut für Politische Wissenschaft Frank Othengrafen | Kendra Busche
Leibniz Universität Hannover 6 ������ Der Brexit und Europa Institut für Freiraumentwicklung, Institut für
ISSN 1616-4075 Ursachen und mögliche Folgen Umweltplanung
34 ���� EMiLA und EuMiTD
Herausgeber Jana Gohrisch | Rainer Schulze Studieren, Planen und Entwerfen im euro-
Das Präsidium der Englisches Seminar päischen Kontext
Leibniz Universität Hannover 10 ���� »Brexit means Brexit!«
»Or so they say …« Francesco Ducatelli | Anne Höch
Redaktion Hochschulbüro für Internationales
Monika Wegener (Leitung), Christiane Lemke | Jakob Wiedekind 38 ���� Europa – vom Kontinent zur Identität
Dr. Anette Schröder Institut für Politische Wissenschaft Das Austauschprogramm Erasmus+
14 ���� Transatlantische Turbulenzen
Anschrift der Redaktion Die Beziehungen zwischen Europa und den Bernd Oppermann
Leibniz Universität Hannover USA nach der Wahl von Donald Trump Institut für Deutsches und Europäisches
Alumnibüro Privatrecht und Wirtschaftsrecht
Welfengarten 1 Peter Antes 42 ���� Internationale Verbindungen in den
D–30167 Hannover Institut für Religionswissenschaft Rechtswissenschaften
18 ���� Religiös lebt Europa vom Import Das ELPIS-Netzwerk
Anzeigenverwaltung / Herstellung Eine Herkunftsgeschichte
ALPHA Informationsgesellschaft mbH Petra Buck-Heeb
Finkenstr. 10 Michaela Hohkamp Institut für Deutsches und Europäisches
D–68623 Lampertheim Historisches Seminar Privat- und Wirtschaftsrecht
Telefon: 06206 939-0 22 ���� Dem Herrscher nahe sein 44 ���� Was Europa mit der Vergabe von Krediten
Telefax: 06206 939-232 Der niedere Adel zu tun hat
Internet: www.alphapublic.de im Umkreis der welfischen Herzöge Das Beispiel Immobilienkauf
auf dem englischen Königsthron
Titelabbildung Christian Heinze | Michael Nicolai |
picture alliance/ Westend61 Markus Jager Gabriel Prado Ojea
Institut für Geschichte und Theorie Institut für Rechtsinformatik
Das Forschungsmagazin Unimagazin der Architektur 48 ���� Europa jetzt auch digital?
erscheint zweimal im Jahr. Nachdruck 26 ���� Die Europäische Stadt Die »Digital Single Market«-Strategie
einzelner Artikel, auch auszugsweise, Gewachsenes Erbe – gestaltete Räume der EU
nur mit Genehmigung der Redaktion.
Für den Inhalt der Beiträge sind die Jörg Schröder Philipp Sibbertsen | Michelle Voges |
jeweiligen Autoren verantwortlich. Institut für Entwerfen und Städtebau Christian Leschinski
30 ���� Creative Heritage Institut für Statistik
52 ���� Langfristig stabil und im Gleichgewicht?
Eine Agenda für Regenerative Städte,
Ein Blick auf die Entwicklung der Zinssätze
Resilienz und territoriale Innovation
der Euroländer
im Europäischen Jahr des Kulturerbes 2018

56 ���� Personalia und Preise

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E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Der Brexit und Europa

URSACHEN UND MÖGLICHE FOLGEN

Die Beziehung zwischen Groß-

britannien und der EU war

von Anfang an ambivalent –

auch die britische Mitglied-

schaft in der EU war mit

Skepsis behaftet. 2016 be-

schlossen die Briten in einem

Referendum, die Europäische

Union zu verlassen.

Eine Professorin aus dem 1
Institut für Politische Wissen-

schaft blickt auf die Folgen des Am 23. Juni 2016 stimmten stehen kaum Zweifel, dass das 1973 schloss sich das Land der
Brexit und die Zukunft Groß- 51,6 Prozent der Briten in Land am Ende tatsächlich die Europäischen Gemeinschaft,
einem Referendum dafür, die Union verlassen wird, auch dem Vorläufer der EU, an. Die
britanniens und Europas. Europäische Union (EU) zu deshalb, weil die EU ihr In­ Meinungen in den beiden
verlassen; 48,1 Prozent votier­ teresse an einem zügigen Ab­ großen Parteien, den Konser­
ten für den Verbleib in der EU. schluss der Verhandlungen vativen und der Labour Partei,
Die relativ hohe Wahlbeteili­ deutlich unterstrichen hat, um waren gespalten. Während die
gung von 72,2 Prozent zeigte, Unsicherheiten zu vermeiden. Labour Partei mit Premier­
wie groß das Interesse der Bri­ Zwar ist eine fundamentale minister Harold Wilson den
ten an dieser Streitfrage war. Krise in der EU ausgeblieben, Beitritt vorantrieb, bestanden
Obwohl seit längerem be­ dennoch stellt sich die Frage, innerhalb der Partei Vorbehal­
kannt war, dass in dem Land welche Folgen der Brexit für te, da man einen Rückschritt
mit der zweitgrößten Volks­ die EU und Europa insgesamt in den Arbeitnehmerrechten
wirtschaft der EU starke euro­ hat. fürchtete. Bei den Konserva­
skeptische Positionen vor­ tiven war die EU­Mitglied­
handen sind, überraschte, ja Großbritannien und die EU: schaft unpopulär, aber etliche
schockierte der Ausgang Be­ Eine ambivalente Beziehung Abgeordnete befürworteten
obachter inner­ und außerhalb den Beitritt, darunter auch
Europas. Inzwischen sind die Die britische Mitgliedschaft in die junge Margaret Thatcher.
Verhandlungen über den Aus­ der EU war von Anbeginn mit Ein nach der Aufnahme in die
stieg Großbritanniens aus der Skepsis behaftet. Erst im Jahr EG 1975 abgehaltenes Referen­
EU fortgeschritten und es be­ dum ergab zwar eine deut­

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E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

liche Mehrheit von 67 Prozent ren Seite des Ärmelkanals, im gleich unterstützte sie die
der Stimmen für die Mitglied­ kontinentalen (West­)Europa weitere Integration mit der
schaft, aber die Motive, der waren Politiker über diese Schaffung des Binnenmarktes
EG beizutreten waren in ers­ Neuorientierung erfreut und durch den Vertrag von Maast­
ter Linie wirtschaftlicher Art. die Aufnahme Großbritan­ richt 1992. Die Labour Partei
Anders als in den sechs Grün­ niens galt als Stärkung der Idee kritisierte diesen Schritt zu­
derstaaten der Gemeinschaft einer europäischen Integration. nächst als neoliberales Wirt­
stand der Friedensgedanke Die Gemeinschaft wuchs von schaftsprojekt; Premierminis­
nicht im Mittelpunkt. Die Vi­ sechs auf neun, dann auf zwölf ter Tony Blair versuchte dann
sion eines neuen Europas der Mitgliedsländer an und erwei­ jedoch ab Ende 1990er Jahre
Völkerverständigung sowie terte sich nach dem Ende des das Land enger an die EU
das Bestreben, eine gemein­ Ost­West­Konflikts auf 28 Mit­ heranzuführen. Während­
same europäische Identität zu gliedsländer. dessen gewann in der Partei

Abbildung 1

Die Fahne Großbritannien (GB)
und die der Europäischen Union
(EU)
Foto: picture alliance / empics

Abbildung 2

Dierke Weltatlas, S. 84, Karte

2 Nr. 4, Braunschweig 2018
Westermann Gruppe

entwickeln, spielten auch in Die Beziehungen mit der EU der Konservativen der euro­
den folgenden Jahren kaum blieben in Großbritannien skeptische Flügel immer mehr
eine Rolle. Vielmehr erfüllte politisch weiter umstritten, an Gewicht.
die Mitgliedschaft die Funk­ wobei sich die Konfliktlinien
tion einer Neuorientierung im Zeitverlauf zwischen den Als eines der größten und
der Außenbeziehungen. Das Parteien verschoben. Mit Mar­ wichtigsten Mitgliedsländer
einstmals bedeutende briti­ garet Thatcher positionierte der EU hat Großbritannien
sche Empire hatte durch das sich Großbritannien in den Kernbereiche der EU mit­
Ende des Kolonialismus poli­ 1980er Jahren als kritisches, geprägt, von der Wirtschafts­
tisch, aber auch wirtschaftlich aber pro­europäisches Mit­ politik über die gemeinsame
Einbußen erlitten und die bri­ glied. Thatcher gelang es, für Außen­ und Sicherheitspolitik
tische Ökonomie befand sich das Land einige Sonderbedin­ bis hin zur EU­Erweiterung.
in einer Misere. Auf der ande­ gungen auszuhandeln, zu­ Die britischen Vorbehalte blie­

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E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

ben jedoch bestehen; so gehört Angesichts des wachsenden dass die lange Tradition euro­
Großbritannien nicht zum Einflusses von UKIP und der skeptischer Positionen in den
Schengen­Raum und es hat Kritik des euroskeptischen beiden großen Parteien und
den Euro trotz seiner wirt­ Flügels in der eigenen Partei ihre Ambivalenz gegenüber
schaftlichen Stärke nicht ein­ erklärte der konservative Pre­ dem Europaprojekt eine
geführt. In anderen Fragen mierminister David Cameron, schwungvolle Pro­EU Kam­
wie der Sozialcharta setzte die im Falle seiner Wiederwahl pagne erschwerte. Erstaun­
britische Regierung eine »opt­ 2015 ein Referendum über die licherweise stimmten auch
out«­Klausel durch und wehr­ EU­Mitgliedschaft abhalten zu solche Regionen wie zum Bei­
te sich erfolgreich gegen eine wollen. Zwar setzten sich spiel Wales mehrheitlich für
tiefere Koordinierung der Cameron, ebenso wie andere den Brexit, obwohl sie von den
Außen­ und Sicherheitspolitik. führende Mitglieder seiner Strukturhilfen der EU beson­
Partei, die Labour Partei und ders profitiert hatten.
Die Zuspitzung: die kleineren Liberal Demo­
Wachsender Euroskeptizismus crats für den Verbleib in der Aus Umfragen nach dem Re­
EU ein, aber die Stimmung in ferendum geht hervor, dass
Die parteipolitische Polarisie­ der Bevölkerung war gekippt. viele Europabefürworter nicht
rung zur Europafrage, welche In der nationalistischen Rhe­ an der Abstimmung teilnah­
die britische Politik seit den torik der Rechtspopulisten men; eine Mehrheit der
1970er Jahren beschäftigte, wurde die EU für Probleme Befragten äußerte sogar den
nahm eine dramatische Wen­ am Arbeitsmarkt sowie die Wunsch nach einem Verbleib
dung durch den zunehmen­ wachsende Zuwanderung ver­ in der EU.
den Einfluss einer neuen, zu­ antwortlich gemacht. Auch
nächst recht kleinen Partei, der Zustrom von Geflüchteten Politische Folgen des Brexits
der United Kingdom Indepen­ aus den Krisengebieten des
dence Party (UKIP). Mit ihrer Nahen und Mittleren Ostens Der Ausgang des Referen­
Forderung des Austritts Groß­ sowie aus Afrika schürte dums führte zu erheblichen
britanniens aus der EU wurde Ängste, obwohl das Land politischen Verwerfungen.
sie die erste rechtspopulisti­ 2015/2016 tatsächlich weniger Premierminister Cameron
sche Partei des »harten« Euro­ Asylsuchende aufgenommen und sein Kabinett traten un­
skeptizismus. Während der hatte als andere Länder. mittelbar nach dem Referen­
Eurokrise gelang es, mehr dum zurück und Theresa May
Unterstützung zu gewinnen Der Einfluss der rechtspopu­ übernahm das Amt der Regie­
und die Partei ging schließlich listischen UKIP und ihr Druck rungschefin. Nigel Farage,
mit 28 Prozent der Wähler­ auf die anderen Parteien einer der schärfsten EU­Kriti­
stimmen als stärkste britische sowie eine hoch emotional ker erklärte, dass er sein Amt
Partei aus den Wahlen zum geführte Kampagne lieferten als Vorsitzender der UKIP nie­
Europäischen Parlament 2014 einen Schlüssel für den Aus­ derlegen würde, da er seine
hervor. gang des Brexit­Referendums. Ziele erreicht habe. Das briti­
Zugleich lässt sich feststellen,

Streitpunkte in den Brexit-Verhandlungen
Finanzieller Beitrag: Die EU besteht darauf, dass Großbritannien die finanziellen Verpflichtungen
einhält, die es im Rahmen des EU-Finanzrahmens bis 2020 zugesagt hatte. Großbritannien versucht
dagegen, finanzielle Verpflichtungen so gering wie möglich zu halten. Über die Höhe der britischen
Beiträge gehen die Vorstellungen weit auseinander.
Freizügigkeit und Rechte von EU-Bürgern: Im Brexit-Referendum ist die Gegnerschaft zur Frei-
zügigkeit in der EU deutlich geworden. Großbritannien will zukünftig den Zuzug allein bestimmen
und die Grenzen schließen. Die EU möchte die Freizügigkeit der EU-Bürger möglichst beibehalten
und besteht vor allem darauf, dass die in Großbritannien lebenden rund 3,2 Millionen EU-Bürger
ihre Rechte behalten. Umgekehrt sollen auch die in anderen EU-Ländern lebenden britischen Bürger
ihre Rechte behalten.
Grenzfragen: Das Ausscheiden aus der EU-Zollunion bedeutet, dass es zwischen der Republik Irland
und Nordirland eine harte Grenze mit Zollkontrollen geben müsste. Großbritannien hat bislang
nicht dargelegt, wie es das Problem der Grenzkontrollen lösen wird. Irland sowie die EU-Vertreter
treten für eine möglichst durchlässige Grenze zwischen beiden Ländern ein, um politische Span-
nungen zu vermeiden.

8

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

sche Pfund stürzte ab und vie­ Die Zukunft Großbritanniens wie Pulse of Europe, die Jun­ Prof. Christiane Lemke
le Unternehmen und Finanz­ in Europa gen Europäischen Föderalisten ist seit 1996 Professorin für
institutionen begannen ange­ und andere Gruppen profilie­ Politische Wissenschaft an der
sichts der Unsicherheiten über Noch ist nicht absehbar, wel­ ren sich mit neuen pro­euro­ Leibniz Universität Hannover
den weiteren Verlauf und die che längerfristigen wirtschaft­ päischen Aktivitäten. und Leiterin des Arbeitsbereichs
Modalitäten des Austritts, sich lichen Folgen der Brexit für Internationale Beziehungen und
in anderen Ländern niederzu­ Großbritannien haben wird. Die Vorteile, die die britische Europapolitik im Institut für
lassen. Schottland, das mehr­ Die wirtschaftliche Verflech­ EU­Mitgliedschaft mit sich ge­ Politische Wissenschaft der
heitlich für den Verbleib in der tung zwischen EU­Ländern ist bracht hat, sind unübersehbar. LUH. Von 2000 bis 2010 war sie
EU votiert hatte, erklärte, dass eng und vielfältig. So ist Groß­ Daher kann davon ausgegan­ Sprecherin der AG »European
es sich vorbehalte, ein erneu­ britannien Deutschlands dritt­ gen werden, dass es keine voll­ Studies« und Mitverantwortlich
tes Unabhängigkeits­Referen­ wichtigster Handelspartner. ständige Entflechtung der für das Jean Monnet European
dum abzuhalten. In Nordir­ Mehr als 2500 deutsche Fir­ Beziehungen zwischen Groß­ Center of Excellence der Uni-
land, das ebenfalls für den men haben Niederlassungen britannien und der EU geben versität. Von 2010 bis 2014
Verbleib in der EU gestimmt in Großbritannien und schät­ wird. Für die Neugestaltung besetzte sie den Max Weber
hatte, wuchsen Befürchtun­ zungsweise 3000 britische Fir­ gibt es bereits Modelle. Nor­ Lehrstuhl für deutsche und
gen über ein Wiederaufflam­ men sind in Deutschland re­ wegen ist als Mitglied der Eu­ europäische Politik an der New
men gewalttätiger Auseinan­ präsentiert. Die Freizügigkeit ropean Free Trade Association York University. Ihre Arbeits-
dersetzungen, wenn die Gren­ von Bürgern innerhalb der EU (EFTA) beispielsweise auch im schwerpunkte sind Theorien in-
ze zur Republik Irland wieder hat diese Verflechtungen ge­ »Europäischen Wirtschafts­ ternationaler Beziehungen;
eine »harte« EU­Außengrenze fördert. Mehr als eine Million raum« verankert; das Land hat transatlantische Beziehungen
würde. britische Bürger leben in an­ das EU­Gemeinschaftsrecht und US-Wahlen; EU- und Euro-
deren europäischen Ländern; im Binnenmarktrecht umge­ paforschung. Kontakt: lemke@
Hoffnungen der EU­Befür­ rund drei Millionen Bürger setzt und Dreiviertel der EU ipw.uni-hannover.de
worter, dass das Oberste Ge­ aus den mittelosteuropäischen Richtlinien übernommen; es
richt oder eine Abstimmung Mitgliedsländern haben sich trat dem Schengen Abkommen
im Parlament den Brexit stop­ in Großbritannien niederge­ zur Freizügigkeit bei und be­
pen würden, zerschlugen sich lassen. London ist zudem Sitz teiligt sich am Kohäsionsfond
in den Folgemonaten. Obwohl zentraler Finanzinstitutionen der EU, aus dem die neuen
sie als Mitglied der Konserva­ und ein Hauptanteil des welt­ Mitgliedsländer unterstützt
tiven die EU­Mitgliedschaft weiten Eurohandels wird dort werden. Auch die Schweiz
befürwortet hatte, erklärte abgewickelt. Auch im Wissen­ ist Mitglied des Schengen­
Theresa May nun unmissver­ schaftsbereich bestehen sehr Abkommens, wobei hier die
ständlich, dass sie die Brexit­ enge Kooperationen mit briti­ Zuwanderung einen Zank­
Verhandlungen konsequent schen Hochschulen. apfel zwischen den Parteien
durchführen würde (»Brexit bildet. Die Schweiz zog 2016
means Brexit«). Bei den für Die große Krise, die mit dem offiziell ihr 1992 hinterlegtes
Juni 2017 angesetzten Neu­ Brexit­Referendum vorherge­ Beitrittsgesuch zurück, aber
wahlen zur Stärkung ihrer sagt wurde, ist allerdings aus­ sie bleibt wirtschaftlich und
Position verloren die Konser­ geblieben. Nach wie vor wirkt rechtlich durch Abkommen
vativen allerdings ihre Mehr­ die EU als Magnet für bei­ eng mit der EU verflochten
heit, so dass sie nun mit einer trittswillige Länder und selbst und zahlt ebenfalls in den Ko­
kleinen irischen Regional­ Länder wie Polen oder Ungarn häsionsfond ein.
partei zusammen regieren streben keinen Austritt aus der
müssen. Im März 2017 stellte EU an, trotz der euroskepti­ Welchen Weg die Brexit­Ver­
die britische Regierung offizi­ schen Haltung ihrer rechts­ handlungen weiter gehen wer­
ell in Brüssel den Antrag auf nationalen Regierungen. Im den, ist derzeit offen. Die EU
Austritt aus der EU. Nach Ar­ Gegenteil: Nach der Wahl des benötigt kreative Kompetenz
tikel 50 des Lissabon­Vertrags Europabefürworters Emma­ und visionäres Verhandlungs­
bleiben damit zwei Jahre bis nuel Macron in Frankreich geschick, um die Idee der regi­
Großbritannien die EU ver­ und angesichts der Abkehr der onalen Integration lebendig zu
lassen muss. Rechtlich ist es US­amerikanischen Adminis­ halten. Stets war die EU dabei
zwar möglich, dass diese Frist tration von den engen trans­ nicht nur ein Wirtschaftsver­
von der EU verlängert werden atlantischen Beziehungen ge­ bund, sondern auch eine poli­
kann, aber sowohl die EU als winnen die europäischen Be­ tische Gemeinschaft, verwo­
auch Großbritannien favori­ mühungen um eine tiefere ben mit den Lebensgeschicken
sieren einen zügigen Ab­ Zusammenarbeit zum Beispiel ihrer Bürgerinnen und Bürger.
schluss der Verhandlungen. in der Binnenmarktpolitik so­ Daher verdient das Projekt der
wie in der Außen­ und Sicher­ europäischen Integration wei­
heitspolitik an Fahrt. Zivilge­ ter aktive gesellschaftliche Un­
sellschaftliche Organisationen terstützung.

9

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

»Brexit means Brexit!«

»OR SO THEY SAY …«

1

»Großbritannien tritt aus der

EU aus.« Diese Nachricht

erreichte im Frühjahr 2016

die Öffentlichkeit und sorgte

für Aufruhr.

Eine Literaturwissenschaftlerin

und ein Sprachwissenschaftler

erläutern, warum das Ergebnis

des Referendums zum

Verbleib in oder Austritt Groß­

britanniens aus der EU

aus kontinentaleuropäischer

Sicht keine Überraschung ist Es ist der 29. März 2017: das in Lissabon vertraglich gere­ rend waren, aus kontinental­
und wie es sich erklären lässt. Vereinigte Königreich von gelten Austrittsmechanismus, europäischer Sicht aber nicht
Großbritannien und Nord­ sind jedoch kein neues Phäno­ überraschend sind.
irland teilt dem Europäischen men, wie die kanadische Pro­
Rat seine Austrittsabsicht aus vinz Québec in den 1990er Die Mitgliedschaft des Ver­
der EU mit. Ob dieses Aus­ Jahren, die Volksabstimmung einigten Königreichs im euro­
trittsgesuch in einen soft oder in Schottland 2014 oder die päischen Staatenverbund seit
hard Brexit mündet, ist derzeit aktuelle Situation in Kataloni­ 1973 war zu keiner Zeit un­
noch unklar. Vieles deutet en oder Norditalien belegen. problematisch. Das von Jean
allerdings bereits jetzt darauf Allen gemeinsam ist der Monnet und Robert Schuman
hin, dass das Vereinigte Kö­ Wunsch, sich aus größeren konzipierte europäische In­
nigreich und die Mitglieds­ Einheiten zu lösen, wobei sich tegrationsmodell, das in den
staaten der EU sich auf un­ das britische ›Modell der Ent­ letzten Jahren zunehmend
ruhige Zeiten und kaum über­ fremdung‹ hinsichtlich ver­ eine neoliberale Wirtschafts­
schaubare Konsequenzen der schiedener Aspekte von den politik betrieb, traf auf der ›In­
schon vor langer Zeit forcier­ anderen unterscheidet. Diese sel‹ nicht immer auf ungeteilte
ten Abspaltungsbestrebungen Aspekte erklären, warum die Zustimmung, kollidierte die
werden einrichten müssen. Ergebnisse des Referendums Vorstellung von europäischer
vom 23. Juni 2016 für viele Integration doch mit der bri­
Sezessionen, in diesem Fall Beobachter zwar irritierend, tischen Vorstellung einer von
ermöglicht durch einen 2009 wenn nicht sogar schockie­ London dominierten anglo­

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E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

phonen Einflusssphäre. Eine als sie hinsichtlich der finan­ oder Mail Online, anders als Abbildung 1
politisch­wirtschaftliche An­ ziellen Mittel, die das Verei­ die liberal gesinnten Zeitun­
näherung an das kontinental­ nigte Königreich zum Haus­ gen The Guardian, The Indepen­ Ein Pro­Brexit­Anhänger in­
europäische Gegenüber war halt der EU beisteuern musste, dent oder die der Labourpartei mitten einer Demonstration vor
für das Vereinigte Königreich geltend machte, dass der briti­ zugewandte Daily Mirror, dass dem Parlament in London im
immer nur insofern von In­ sche Mitgliedsbeitrag zur EU britische Steuerzahler über Jahr 2016
teresse und Bedeutung, als es die Summe an Agrarsubven­ Gebühr beansprucht würden. Foto: picture alliance / NurPhoto
von dem mitteleuropäischen tionen sowie Struktur­ und Angeblich zahlten sie für
Staatenverbund ökonomisch Kohäsionsmitteln überstieg. nicht­britische Konzerne, un­
profitieren konnte. Der auf Berühmt wurde 1984 ihr Aus­ zuverlässige ›Südländer‹ wie
dem Festland verbreitete Ge­ spruch »I want my money Spanien, Italien oder Grie­
danke einer immer weiter aus­ back«, mit dem sie, wie alle ihr chenland (Grexit übrigens als
baufähigen Union in vielen nachfolgenden Premierminis­ Wortbildungsvorlage für Bre­
Bereichen (zum Beispiel Wirt­ ter, Sonderrechte bei der Bei­ xit) sowie für korrupte, un­

2

schaft, Justiz, Zölle, Universi­ tragsbemessung erstritt. Mit fähige und verschwendungs­ Abbildungen 2 und 3
tätsausbildung) traf und trifft der späteren Entscheidung, süchtige Politiker in den euro­
auf der Insel auf Vorstellun­ nicht der europäischen Wäh­ päischen Institutionen, ohne EU Referendum: nach Alter und
gen, die immer die Wahrung rungsunion beizutreten, dafür entsprechende Gegen­ nach Bildungsgrad
staatlicher – soll heißen bri­ wurde zugleich das britische leistungen zu erhalten. Seinen EU Referendum: Gesamt­
tischer – Souveränität in den Autonomiebestreben gegen­ plakativen Ausdruck fand verteilung
Mittelpunkt stellen. Diese Dis­ über Brüssel sowie Frankfurt die bewusst erzeugte europa­
krepanz in den Vorstellungen als Sitz der EZB bestärkt; dass feindliche Stimmung in der
wirkt wie ein bitter­ironischer das spätere Schengen­Abkom­
Widerschein des Mind the gap men auch ohne britische Teil­ 3
[zwischen Zug und Bahnsteig­ nahme geschlossen werden
kante] der Londoner U­Bahn­ musste, verwundert in diesem
ansage. Sie wurde und wird Zusammenhang wenig.
von der politischen EU­Füh­
rung stillschweigend hin­ Die ausgeprägt selektive Teil­
genommen mit dem Ergebnis, nahme am kontinentaleuro­
dass die gemeinsam mit der päischen Integrationsprojekt
Aufnahme der Republik rückte 2013 erneut in den Fo­
Irland und Dänemark erfolgte kus, als David Cameron zur
Erweiterung der Europä­ Befriedung der eigenen Partei­
ischen Gemeinschaft 1973 und Wählerklientel ein Refe­
gleichzeitig zu einer mitunter rendum zum Verbleib in der
erheblichen Belastung der EU in Aussicht stellte. Zwi­
euro­britischen Beziehungen schenzeitlich behaupteten vor
führte. Einer Vertiefung euro­ allem die den Konservativen
päischer Integration stand nahestehenden Printmedien
zum Beispiel bereits Margaret wie The Daily Telegraph, Daily
Thatcher kritisch gegenüber, Mail, Daily Express, The Sun

11

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Aufschrift auf dem von Boris le Sicherheit und (besonders einer neoliberalen Haushalts­
Johnson gecharterten Tour­ auf lokaler Ebene) politische politik die öffentlichen Ausga­
bus: »We send the EU £50 mil­ Teilhabe bot. Parallel dazu ist ben ausgesprochen drastisch
lion a day – let‘s fund our Thatchers dezidiert neolibera­ beschnitten, was gesteigerte
NHS [das staatliche Gesund­ le Politik verantwortlich für soziale Ungleichheit, Woh­
heitssystem] instead« mit dem die Deindustrialisierung gan­ nungsnot sowie Notstand in
Zusatz »Let‘s take back con­ zer Regionen in Zentral­ und Bildung und Medizin zur Fol­
trol«. Nordengland sowie in Süd­ ge hat. Die von Thatcher über
wales, die Großbritannien im Blairs New Labour bis heute ge­
Diese Behauptung ist extrem 19. Jahrhundert zur ›Werkstatt förderte Medien­, Dienstleis­
suggestiv, wenn man bedenkt, der Welt‹ gemacht hatten. tungs­ und Finanzwirtschaft,
dass alle britischen Regierun­ Die gut organisierte Arbeiter­ symbolisiert durch die Lon­
gen seit Margaret Thatcher, schaft dieser Regionen verlor doner Bankenwelt, brachte
die 1979 die Amtsgeschäfte nicht nur ihre Arbeitsplätze, bürgerlich­urbanen Schichten
gleichzeitig deutliche finan­
zielle und kulturelle Gewinne.
Diese Schichten stimmten in
der Mehrheit für den Verbleib
in der EU, deren Vorzüge die
Grundlage ihres Erfolgs bil­
den. Auf der anderen Seite des
Brexit­Spektrums schürten die
United Kingdom Independent
Party (UKIP) sowie die kon­
servativ ausgerichteten Mas­
senmedien die Angst der so­
zial Benachteiligten vor den
sich nach Europa rettenden
Flüchtlingen aus Syrien, Af­
ghanistan, Eritrea und Nord­
afrika, die angeblich auch den
britischen Sozialstaat bedro­
hen würden.

4 übernommen hatte, die öffent­ sondern büßte auch ihre Angesichts dieser Entwick­
lichen Ausgaben reduziert schlagkräftigen Gewerkschaf­ lungen ist das Ergebnis der
Abbildung 4 und so den Wohlfahrtsstaat ten ein, deren Aktionsradius Abstimmung durchaus folge­
Eine »Stop­Brexit« Demonstra­ ausgehöhlt haben, der in der die Konservativen durch har­ richtig: Seit dem frühen Mor­
tion in Manchester Nachkriegszeit den ärmeren sche Gesetze einschränkten. gen des 24. Juni 2016 ist klar,
Foto: picture alliance / Pacific Press Bevölkerungsschichten sozia­ Seit 2010 werden im Rahmen dass 17.410.742 (51,9 Prozent)
Agency Wahlberechtigte für den
Austritt des Vereinigten
Universitäten Königreichs sowie 16.141.241
Der Austritt aus der EU hat nach jetzigem Kenntnisstand auch un- (48,1 Prozent) für dessen Ver­
mittelbare ökonomische Auswirkungen auf den akademischen bleib in der EU gestimmt
Austausch von Studierenden und Lehrenden: Pam Tatlow, Spre- haben, und dies bei einer Be­
cherin der MillionPlus Group: »EU students are worth over £2bn teiligung von 72,21 Prozent
to the UK economy.« Nach offiziellen Zahlen des britischen Rats Bei genauerer Betrachtung
für internationale Studienangelegenheiten (UKCISA) waren im erkennt man jedoch, dass der
akademischen Jahr 2014/2015 436.585 ausländische Studierende Brexit ein englisch­walisisches
eingeschrieben, 19 Prozent der gesamten Studentenschaft. Davon Phänomen deindustrialisierter
kommen derzeit wiederum 127.000 aus der Europäischen Union. Regionen ist; dass die Alters­
kohorte der 18­ bis 24­Jährigen
mehrheitlich mit 75 Prozent
für den Verbleib votiert hat;
dass bei den 50­ bis 64­Jähri­
gen immerhin noch eine Zu­
stimmung von 44 Prozent aus­
zumachen ist, aber nur noch
39 Prozent der Rentner und
Pensionäre für die Zugehörig­
keit Großbritanniens zur EU

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E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

stimmten. Ein letzter Blick die Verabschiedung aber nicht Prof. Dr. Jana Gohrisch Prof. Dr. Rainer Schulze
noch auf die Wahlbeteiligung gefährden wird. Jahrgang 1962, ist seit 2006 Jahrgang 1952, ist seit 1994
der jüngsten und ältesten Al­ Professorin für Englische Lite- Professor für Englische
terskohorte: die jüngste Ko­ »Brexit means Brexit!« Or so raturwissenschaft/New English Sprachwissenschaft an der
horte kommt auf eine Wahl­ they say: Was bringt die Zu­ Literatures an der Leibniz Uni- Leibniz Universität Hannover.
beteiligung von 36 Prozent, kunft? Was wird aus den versität Hannover. In der Lehre Forschungs-, Arbeits- sowie
die älteste auf 83 Prozent. Hoffnungen der sozial Be­ vertritt sie das Fach Anglistik Lehrschwerpunkte umfassen
Dass Wahlverhalten auch mit nachteiligten und derjenigen, in ganzer Breite, d.h. von linguistische Pragmatik, Kon-
dem Parameter ›Bildung‹ kor­ die sich benachteiligt fühlen, Shakespeare bis ins 21. Jahr- versations- und Diskursanaly-
reliert, zeigen die Zahlen zu die es mit ihrem Protest­ hundert; in der Forschung se, lexikalische Semantik, kog-
Wählern mit High School­Ab­ Votum immerhin geschafft arbeitet und veröffentlicht sie nitive Linguistik mit einem
schluss (66 Prozent für leave), haben, die Aufmerksamkeit zu britischen Literaturen und starken Fokus auf Sprache in
mit Sixth Form College­Ab­ der Politiker auf sich zu zie­ Kulturen seit dem 19. Jahr- der Verwendung. Das derzeiti-
schluss (dem deutschen Abi­ hen? Sind sie wirklich nur hundert sowie zu aktueller ge Hauptaugenmerk liegt auf
tur vergleichbar: 54 Prozent »turkeys voting for Christ­ Migrationsliteratur, zu Litera- der quantitativen und qualita-
für remain) oder Universitäts­ mas«, das heißt Puten, die sich turen aus West- und Südafrika tiven Beschreibung und Ana-
abschluss (77 Prozent für freiwillig als Weihnachts­ und der Karibik. Kontakt: lyse von Sprachgebrauchs-
remain) (alle Zahlen aus Bus­ braten melden, wie es konser­ [email protected] mustern vor dem Hintergrund
quets Guàrdia 2016). Schon vative Medien verächtlich hannover.de unterschiedlicher forschungs-
gleich nach der Abstimmung nahelegen? Exit heißt Austritt methodischer Ansätze. Kon-
hatten die liberalen Medien und Weggang, aber woraus? niens aus dem europäischen takt: rainer.schulze@engsem.
wie der Guardian das Problem Aus einer tief gespaltenen Ge­ Wirtschaftsraum und der uni-hannover.de
auf den Punkt gebracht. Das sellschaft oder nur aus einem, Zollunion, den die Regierung
Blatt zitierte einen Einwohner allerdings sehr umfangrei­ und die sie stützende, ultra­ Verweise
Manchesters, der einst bedeu­ chen und komplexen juristi­ konservative nordirische De­
tenden Industriestadt, mit den schen Regelwerk? Unter die­ mocratic Ulster Party (DUP) Busquets Guàrdia, A. (2016). How Brexit
Worten: »If you‘ve got money, sem Aspekt könnte das Ver­ verfechten? Und abschließend: Vote Broke Down. http://www.politico.
you vote in. If you haven‘t got einigte Königreich den Status Was wird aus dem Ideal einer eu/article/ graphics-how-the-uk-voted-
money, you vote out.« So ste­ eines ›Norwegen Plus‹ mit offenen Gesellschaft mit eu-referendum-brexit-demographics-
hen die der Arbeiterschicht vollem Zugang zum EU­Bin­ gerechter Verteilung des all­ age-education-party-london-final-
entstammenden Austritt­Be­ nenmarkt erhalten, ohne aller­ gemeinen Wohlstands, wenn results/
fürworter den bürgerlichen dings volle Freizügigkeit zu Großbritannien sich von Euro­ Zugriff: 28.01.2018
Wählern gegenüber, die sich gewähren. Hier jedoch ist die pa trennt?
für den Verbleib Großbritan­ Position der EU bisher un­
niens ausgesprochen haben. nachgiebig, denn sie will das
Diese Spaltung der Nation Paket bestehend aus ›freiem
durchzieht auch deren etab­ Verkehr von Waren‹, ›Kapital‹,
lierte Parteien wie die Konser­ ›Personen‹ und ›Dienstleistun­
vativen und Labour, wobei gen‹ beibehalten. Was ge­
letztere 2017 mit 40 Prozent schieht mit der irischen Insel:
der Stimmen das beste Wahl­ Wird die Außengrenze der EU
ergebnis seit 2001 erzielen durch Irland verlaufen und
konnte. Die Mitglieder der je­ dessen mühsam errungene
weiligen politischen Flügel innere Stabilität gefährden?
streiten nun über die Ausge­ Was wird aus Schottland, das,
staltung des Brexit: Seit Ende ebenso wie Nordirland und
Januar wird das entsprechen­ London, für den Verbleib in
de Gesetz im britischen Ober­ der EU gestimmt hat? Wie ver­
haus debattiert, das sicher hält sich dieses Ergebnis zum
einige Änderungen fordern, harten Austritt Großbritan­

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E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Transatlantische Turbulenzen

DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN EUROPA UND DEN USA
NACH DER WAHL VON DONALD TRUMP

Die Wahl von Donald Trump Die transatlantischen Bezie­ sierte Deutschland wegen des 1
zum 45. Präsident der USA hungen galten bislang als hohen Außenhandelsüber­
hat in Deutschland und Europa Eckpfeiler der europäischen schusses und kündigte an, das In der deutschen Debatte fällt
für heftige Reaktionen gesorgt. Außenpolitik. Aufgrund der transatlantische Freihandels­ die Kritik an der neuen ame­
Wie sieht es nun ein Jahr historischen Verbindungen abkommen TTIP mit der EU rikanischen Außenpolitik be­
nach der Amtseinführung durch Migration, Sprache und nicht abzuschließen. Der Aus­ sonders scharf aus. Bereits
Kultur standen sich die USA stieg aus dem Pariser Klima­ kurz nach der Wahl ergab eine
Trumps aus? und Europa stets nahe; der Be­ Abkommen unterstrich die empirische Untersuchung der
Eine Professorin und ein griff der »Wertegemeinschaft« Ablehnung internationaler Körber­Stiftung im November
Wissenschaftler vom Institut drückt diese tiefe Verbindung Verträge ebenso wie die An­ 2016, dass die Befragten die
für Politische Wissenschaft aus. Auf den Gebieten der drohung, das mit den Euro­ Beziehungen zu den USA als
beschreiben die Deutungen und Sicherheit und der Wirtschaft päern zusammen verhandelte die wichtigste Herausforde­
Positionen verschiedener euro- wurden die Beziehungen Iran­Abkommen aufzukündi­ rung für die deutsche Außen­
päischen Regierungen und nach Ende des 2. Weltkriegs gen. Die nationalistische Wen­ politik identifizieren.1
gehen der Frage nach, ob die besonders eng. Auch im For­ de in der Außenpolitik unter
transatlantischen Beziehungen schungsbereich arbeiten ame­ dem Motto »America First« Ein Jahr nach Amtseinfüh­
rikanische und europäische löste in der EU tiefe Besorgnis rung von Donald Trump sind
in Gefahr sind. Wissenschaftlerinnen und aus. Schärfere Einreisebestim­ die Meinungen gespalten:
Wissenschaftler eng zusam­ mungen, ein neuer wirtschaft­ Während einige Kommentato­
men. Europa wurde die wich­ licher Protektionismus, Straf­ ren annehmen, dass die pola­
tigste Handelsregion für die zölle und eine konfrontative risierende Rhetorik des US­
USA und europäische Länder Rhetorik in sicherheitspoliti­ Präsidenten den strukturellen
sind wirtschaftlich stark in schen Fragen sind hinreichen­ Verflechtungen der engen
den USA vertreten. Dies gilt de Indikatoren für eine Wende transatlantischen Beziehun­
insbesondere für Deutsch­ in der amerikanischen Außen­ gen substanziell nicht schaden
land; Firmen wie BMW, Daim­ politik, die auch die trans­ wird und bislang nur wenige
ler, Siemens oder VW haben atlantischen Beziehungen der angekündigten Ziele
in den USA Produktionsstät­ nachhaltig beeinflusst. umgesetzt wurden, wird die
ten aufgebaut, amerikanische Trump­Präsidentschaft von
Industrie­ und Handelskam­ anderen als Desaster und als
mern haben eigene Sektionen
für deutsch­amerikanische
Beziehungen eingerichtet.
Allein im Bundesstaat North
Carolina, der mit 10 Millionen
Einwohnern zu den mittel­
großen Staaten der USA zählt,
sind mehr als 200 deutsche
Unternehmen vertreten.

Nach der Wahl von Donald
Trump zum 45. Präsident der
USA sind diese engen trans­
atlantischen Beziehungen in
Turbulenzen geraten. Gleich
zu Beginn seiner Amtszeit
stellte der US­Präsident das
NATO­Bündnis in Frage, kriti­

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E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Ende der liberalen Weltord­ werden, so wie dies in einem bekämpfung die Nähe der 2
nung begriffen. Einigkeit jüngst abgeschlossenen Pro­ USA zu suchen. In wichtigen
herrscht dagegen in der Fest­ jekt über deliberative Diplo­ internationalen Fragen, wie Abbildung 1
stellung, dass den transatlan­ matie gezeigt wird.2 dem Klimaabkommen, dem US-Präsident Donald Trump
tischen Beziehungen schwie­ Nuklear­Abkommen mit dem (rechts) im Gespräch mit dem
rige Zeiten bevorstehen und Die neue Phase der amerika­ Iran und den Beziehungen zu Präsident des Europäischen Rates
dass sie sich mit einer hohen nischen Außenpolitik wird Russland versucht die franzö­ Donald Tusk
Verunsicherung konfrontiert von der bundesdeutschen sische Regierung eine Mittler­ Foto: picture alliance/ZUMA Press
sehen. Die Erwartungsverläss­ Politik als Umbruch wahrge­ position einzunehmen. Dies
lichkeit, die das Verhältnis nommen. In diese Richtung bringt Frankreich in eine Abbildung 2
zwischen Europa und den geht beispielsweise die Aus­ diplomatisch herausfordernde America First
USA über viele Jahrzehnte ge­ sage von Kanzlerin Angela Position, denn in Konflikt­ Quelle: picture alliance/dieKLEINERT.de/
prägt hat, ist zu Ende. Merkel nach dem G7­Gipfel in situationen hat auch Frank­ Markus Grolik
Taormina 2017 mit Blick auf
Historisch waren die USA ihr Zusammentreffen mit Prä­ reich bei Entscheidungsalter­
stets Projektionsfläche für un­ sident Trump: »Die Zeiten, in nativen innergesellschaftliche
terschiedliche Vorstellungen denen wir uns auf andere völ­ Konstellationen zu berück­
und Konzepte, die die Euro­ lig verlassen konnten, die sind sichtigen.
päer mit der modernen Welt ein Stück vorbei.«3 Doch wie
verbunden haben. Die wirt­ sieht es in anderen Ländern In Italien hat sich die anfäng­
schaftliche Globalisierung aus? Sind alle europäischen liche Skepsis ebenfalls in
und die Herausbildung einer Regierungen so skeptisch bis pragmatisches Vorangehen
multipolaren Welt nach dem ablehnend und sind die trans­ gewandelt. Übereinstimmung
Ende des Ost­West­Konflikts atlantischen Beziehungen besteht ohnehin im Ziel der
haben auch die Wahrnehmun­ grundsätzlich in Gefahr? Terrorbekämpfung. So hat
gen der USA und ihrer hege­ Italien zum Beispiel das zweit­
monialen Rolle verändert. Der German Marshall Fund of größte Truppenkontingent
Europäische Positionen zu the United States, der sich über nach Irak und Afghanistan
entschlüsseln und Deutungs­ viele Jahrzehnte mit den gesandt. Wirtschaftlich hat
muster transatlantischer Be­ transatlantischen Beziehun­ sich in den Beziehungen nicht
ziehungen jenseits der Tages­ gen befasst hat, kommt an­ viel verändert, obwohl die
politik auf ihre politische, lässlich des ersten Jahrestages USA der zweitgrößte Markt
kulturelle und historische nach der Amtsübernahme von für italienische Produkte sind;
Fundierung zu befragen, ist Donald Trump zu einer diffe­ eine amerikanische Wende
wissenschaftlich eine reizvol­ renzierten Einschätzung.4 Das zum Protektionismus würde
le Aufgabe. Einerseits beken­ Ergebnis von Analysen aus Italien vermutlich trotzdem
nen sich die USA und Europa verschiedenen europäischen weniger hart treffen als
gleichermaßen zur westlichen Ländern zeigt die Vielschich­ Deutschland mit seinem ho­
Wertegemeinschaft; anderer­ tigkeit der Deutungen und hen Exportvolumen in die
seits zeigen sich bei konkreten Positionen. Die französisch­ USA. Allerdings wird auch in
Herausforderungen unter­ amerikanischen Beziehungen Italien die veränderte Rheto­
schiedliche Normvorstellun­ gelten als besonders eng; im­ rik über die amerikanische
gen und Präferenzmuster. merhin gibt es historisch weit
Die aus diesem Spannungs­ zurückreichende Verbindun­
verhältnis zwischen Werte­ gen. Frankreich hat sich stets
gemeinschaft und Norm­ als enger Verbündeter der
konflikten entstehenden USA gesehen, mit Ausnahme
Problemstellungen werden in des Irakkriegs 2003, an dem
Forschungsprojekten im Insti­ sich Frankreich, ebenso wie
tut für Politische Wissenschaft Deutschland militärisch nicht
weiter verfolgt und unter­ beteiligte. Wie der German
sucht, häufig in Kooperation Marshall Fund ausführt, hat
mit US­amerikanischen der französische Präsident
Wissenschaftlerinnen und Emmanuel Macron nach dem
Wissenschaftlern. Dabei zeigt Regierungswechsel in Wa­
sich, dass die transatlanti­ shington die Gelegenheit er­
schen Beziehungen auch jen­ griffen, ein pragmatisches
seits politischer Rhetorik und und konstruktives Verhältnis
Polarisierung in konkreten zum amerikanischen Präsi­
Projekten durch eine genauere denten aufzubauen und vor
Beschäftigung mit dem je­ allem in der Sicherheitspolitik
weils anderen Land gestaltet und bei der Terrorismus­

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E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Prof. Christiane Lemke Jakob Wiedekind, M.A. wichtige verteidigungspoliti­ Handelsministerium und an­
ist seit 1996 Professorin für ist wissenschaftlicher Mit­ sche Vereinbarungen zur deren Behörden fehlen. Die
Politische Wissenschaft an der arbeiter und Doktorand im Verstärkung der Ostgrenze, Androhung von Strafzöllen
Leibniz Universität Hannover Arbeitsbereich Internationale die teilweise schon von der auf Stahl­ und Aluminium­
und Leiterin des Arbeitsbereichs Beziehungen im Institut für Po­ Obama­Administration importe durch die amerikani­
Internationale Beziehungen und litische Wissenschaft bei Prof. getroffen worden sind, um­ sche Regierung im März 2018
Europapolitik im Institut für Dr. Christiane Lemke und arbei­ gesetzt. Zum anderen beste­ löst ebenfalls tiefe Besorgnis
Politische Wissenschaft der tet an einer Dissertation über hen politische Affinitäten in Brüssel aus.
LUH. Von 2000 bis 2010 war sie die außenpolitischen Entschei­ zwischen der rechtsnationalen
Sprecherin der AG »European dungsprozesse in den USA. PiS­Regierung in Warschau Daher besteht eine andauern­
Studies« und Mitverantwortlich Seine Arbeitsschwerpunkte sind und dem nationalistischen de Ungewissheit inwieweit
für das Jean Monnet European Transatlantische Beziehungen Kurs der Trump­Administra­ die bisherige Stabilität in den
Center of Excellence der Uni­ und Außenpolitikanalyse. tion. Beide lehnen beispiels­ diplomatischen Beziehungen
versität. Von 2010 bis 2014 be­ Kontakt: [email protected]­ weise Einwanderung ab und aufrechterhalten werden
setzte sie den Max Weber Lehr­ hannover.de positionieren sich kritisch kann. Allerdings zeigen neue­
stuhl für deutsche und europäi­ gegenüber muslimischen re Studien auch, dass sich das
sche Politik an der New York Sicherheitsstrategie kritisch Ländern und dem Islam. Spektrum, in dem sich trans­
University. Ihre Arbeitsschwer­ verfolgt und eine im März Allerdings verfolgt auch die atlantische Beziehungen ent­
punkte sind Theorien 2018 neu gewählte italienische Warschauer Regierung auf­ wickeln, deutlich erweitert
internationaler Beziehungen; Regierung könnte auch in der merksam, wie sich die ame­ hat. Nicht nur die leichtere
transatlantische Beziehungen europäischen Transatlantik­ rikanische Politik weiterent­ Kommunikation über soziale
und US­Wahlen; EU­ und Euro­ Politik andere Akzente setzen. wickelt. Medien, sondern auch zivil­
paforschung. Kontakt: lemke@ gesellschaftliche Aktivitäten
ipw.uni­hannover.de Interessant ist die Perspektive Die unterschiedlichen Per­ und Wissenschaftskooperatio­
Polens auf die neue amerika­ spektiven auf die transatlanti­ nen sind in der komplexen
nische Politik. Sie wird viel schen Beziehungen zeigen, und globalisierten Welt not­
positiver gesehen, als in ande­ dass es nicht leicht ist, von wendig, um die Vision einer
ren europäischen Ländern wie einer einheitlichen europä­ weltoffenen und toleranten
Deutschland, Frankreich und ischen Position gegenüber den Gesellschaft mit Leben zu fül­
Italien. Das liegt zum einen USA zu sprechen, auch wenn len. Hier ergibt sich für Euro­
daran, dass Polen auf die Si­ sich die EU nun bemüht, ein pa und insbesondere die EU
cherheitsgarantien durch die eigenes gemeinschaftliches die Chance, noch entschlosse­
NATO fokussiert ist und das Profil zu schärfen. Sicherheits­ ner und aktiver für die libera­
amerikanische Konzept der politische Überlegungen spie­ le Weltordnung einzustehen.
Sicherheit durch militärische len dabei ebenso eine Rolle
Stärke unterstützt. Polen hat wie die geopolitische Lage Verweise
seine Militärausgaben seit und die historischen Erfah­
2014 ständig erhöht, denn his­ rungen; mit Blick auf Deutsch­ 1 https://www.koerber­stiftung.de/
torische Erfahrungen haben land ist vor allem auch die In­ fileadmin/user_upload/koerber­stiftung/
dazu geführt, militärische tensität wirtschaftlicher Bezie­ redaktion/handlungsfeld_internationale­
Stärke zu schätzen, insbeson­ hungen von nachdrücklicher verstaendigung/sonderthemen/umfrage_
dere als Absicherung gegen Bedeutung. aussenpolitik/2016/Koerber­Stiftung_
ein starkes Russland. Die ame­ Umfrage­Aussenpolitik­2016_charts.pdf
rikanische Regierung ihrer­ Während die EU­Kommission (aufgerufen am 13.03.2018)
seits hat trotz der Twitter­ in Brüssel zunächst bestürzt
Rhetorik des US­Präsidenten auf die US­Wahl reagierte, 2 Vgl. Svea Burmester (2017). Deliberati­
über die NATO (»obsolet«) da sie fürchtete, dass die USA ve Democracy. Performing Democracy
ihre Sicherheitsgarantien für Beyond Borders. An Analysis of the Ame­
Europa aufheben und engere rican Embassy’s Going Green Project,
Beziehung zu Russland su­ Dissertation Philosophische Fakultät der
chen würde, versucht sie nun­ Leibniz Universität Hannover, eingereicht
mehr, die Kontinuität in den im Dezember 2017.
Beziehungen, die sich über
jahrzehntelange Kontakte ge­ 3 www.zeit.de/2017/23/angela­merkel­
festigt hat, fortzusetzen. Aller­ rhetorik­deutschland­usa (aufgerufen
dings stößt dies auf institutio­ am 13.03.2018)
nelle Grenzen, da bislang im­
mer noch etwa ein Drittel aller 4 »One Year of President Trump: Views
Positionen im amerikanischen from Around the World«, The German
Außenministerium (State Marshall Fund of the United States,
Department) unbesetzt sind Policy Brief Nr. 005/2018 http://www.
und auch Ansprechpartner im gmfus.org/publications/one­year­
president­trump­views­around­world
(aufgerufen am 13.03.2018).

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E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Religiös lebt Europa vom Import

EINE HERKUNFTSGESCHICHTE

Weder das Christentum noch

das Judentum haben ihren

Ursprung in Europa. Vielmehr

stammen die dominierenden

Religionen Europas aus Asien.

Ein Religionswissenschaftler

erläutert die Hintergründe

und plädiert dafür, im Dialog

die Rahmenbedingungen

für das friedliche Zusammen­

leben der Menschen in Europa 1
auszuhandeln und verbindlich

durchzusetzen. Viele Deutsche vertreten die Poitiers 732 zugunsten der standen ist. Sie alle stammen
Meinung, der Islam sei eine Muslime ausgegangen wäre, aus Asien. Abraham, Moses,
ganz andere Kultur, er gehöre wären vielleicht Frankreich Jesus und Mohammed waren
deshalb nicht zu Europa. und andere westeuropäische keine Europäer, sie sind im
Anders sei dies doch beim Länder heute mehrheitlich Nahen Osten und auf der Ara-
Christlichen Abendland oder islamisch, genauso wie wenn bischen Halbinsel zu Hause.
dem jüdisch-christlichen Erbe die türkischen Heere vor Wien Auch die biblischen Prophe-
Europas, eine Meinung, die im 17. Jahrhundert siegreich ten und die Jünger Jesu waren
sich so heute wissenschaftlich gewesen wären und das Habs- keine Europäer. Judentum
nicht mehr halten lässt.1 burger Reich und damit auch und Christentum sind somit
Richtig ist vielmehr, dass Ju- große Teile Deutschlands un- erst durch Einwanderer oder
dentum und Christentum seit ter ihre Herrschaft gebracht Missionare nach Europa ge-
langem in Europa heimisch hätten. kommen, wo die Verbreitung
geworden sind, nur selten ist des Christentums bisweilen
der Islam vor dem Christen- Alle großen Religionen durch Gewalt erfolgte. Musli-
tum – wie etwa im histori- stammen aus Asien me haben sich ebenfalls durch
schen Großreich Litauen – da Einwanderungen und teilwei-
gewesen. In anderen Ländern Wichtig ist in diesem Zusam- se aufgrund von Eroberungen
haben Schlachten die religiöse menhang, dass keine der gro- in Europa niedergelassen.
Landschaft bestimmt. Wenn ßen Religionen in Europa ent- Mithraskult und Zoroastris-
die Schlacht von Tours und mus sind aus Persien ins

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E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Römische Reich gekommen, davon das Buch Religionen in auf kleinstem Raum gekenn-
in den letzten 100 Jahren kam Hannover, 2016 vom Rat der zeichnet. Dies gilt heute auch
die Bahai-Religion von dort zu Religionen in Hannover her- für die Religionen. Längst
uns. ausgegeben, beredtes Zeugnis sind die Zeiten vorbei, in de-
ab. nen der Grundsatz des West-
Hinduismus, Jainismus, fälischen Friedens von 1648
Buddhismus und Sikhismus Die Herkunft aus Asien galt, dass die Religionszu-
sind in Indien entstanden, ihr schließt für Judentum, Chris- gehörigkeit des jeweiligen
Weg nach Europa verlief so, tentum und teilweise Islam Herrschers (Fürsten, König,
dass buddhistische Texte im nicht aus, dass sie in Europa Kaiser) die seiner Untertanen
19. Jahrhundert in Europa be- wesentlich weiterentwickelt bestimmte, so dass – zumin-
kannt wurden und derart at- wurden, so dass man sagen dest der Theorie nach – reli-
traktiv waren, dass Europäer kann, die Herkunft ist zwar giös homogene Regionen ent-
sich zum Buddhismus bekehr- nicht europäisch, ihre Ent- standen. Religiöser Pluralis-

23

ten und buddhistische Ge- wicklung, heutige Erschei- mus bestimmt heute das Bild. Abbildung 1
meinden gründeten, und dies, nungsform und Weltdeutung Wir finden islamische Gebets- Der Altar in der Marktkirche in
lange bevor die ersten Bud- tragen jedoch durchaus euro- räume und Moscheen an vie- Hannovers Altstadt stammt aus
dhisten nach Europa gekom- päische Züge. Sie haben einen len Orten, aber auch buddhis- dem 15. Jahrhundert.
men sind. Konfuzianisches maßgeblichen Einfluss auf tische Pagoden, Hindutempel Foto: Marktkirche Hannover
Gedankengut wurde durch Europa gehabt und stark zur und Sikh-Gudwaras neben
die China-Mission der Jesui- Gestaltung der religiösen den christlichen Kirchen. Abbildung 2
ten in Europa bekannt und Landschaft in Europa bei- Die Zehn Gebote auf hebräisch –
beispielsweise von Leibniz so getragen. Die Vielzahl der Religionen eine Arbeit von Mark Turevskiy,
hoch geachtet, dass er sich geht einher mit einer Vielzahl zu sehen in der Liberalen
wünschte, chinesische Missio- Durch Arbeitsmigration und von Richtungen innerhalb Jüdischen Gemeinde Hannover
nare möchten kommen, um Flüchtlinge sind schließlich der jeweiligen Religionen. So (K.d.ö.R.).
uns ihre Lehre zu verkünden. noch andere, kleinere Religio- etwa gibt es nicht nur Katholi- Foto: Joanna von Graefe
nen bei uns präsent. Dazu ken und Protestanten in euro-
Hindus, Jainas und Sikhs ka- zählen aus Asien die Yeziden, päischen Großstädten, son- Abbildung 3
men in größerer Zahl erst in aus Afrika der Voodoo-Kult dern ebenso Orthodoxe Kir- Die Moschee des Verbandes der
der Mitte des 20. Jahrhunderts und aus Südamerika Umban- chen wie die des Patriarchen Islamischen Kulturzentren
durch die Entkolonialisierung da und Candomblé. von Konstantinopel, aber auch (VIKZ) in Stöcken.
nach der Unabhängigkeit In- griechisch, russisch, serbisch, Foto: Haus der Religionen
diens ins Vereinigte König- Eine Vielzahl von Richtungen bulgarisch oder rumänisch
reich und von da aus langsam und Weltanschauungen orthodoxe Kirchengemeinden
auch in andere europäische neben orientalischen Christen
Länder, so dass wir heute – Europa ist im Vergleich mit al- wie den Syrern, den Chal-
was die großen Weltreligionen len anderen Kontinenten des däern, den Armeniern oder
angeht – nahezu alle in den Globus durch eine Vielzahl den Kopten. Innere Differen-
europäischen Großstädten von Sprachen und Kulturen zierungen finden sich in
vorfinden. Für Hannover legt Deutschland bei den Katho-

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E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

4 liken in Form von eigenen abgehaltene interkulturelle Preußen und spätere deutsche
Gemeinden wie der spanisch Weihnachtsfest zeigt die enor- Kaiser bis 1918 »summus epi-
Abbildung 4 oder portugiesisch sprechen- me Vielfalt dessen, wie heute scopus« (= oberster Bischof)
Das buddhistische Zentrum und den, der italienischen, pol- Christentum real existiert, der Hannoverschen Landes-
Kloster Vien Giac in Hannover. nischen oder kroatischen weshalb die Deutsche Bi- kirche.
Die Pagode Vien Giac hat einen katholischen Gemeinde bezie- schofskonferenz und die
besonderen Stellenwert, da sie hungsweise innerhalb des Evangelische Kirche in Der Vielgestaltigkeit des
welt- und europaweit eine der Protestantismus in Form von Deutschland (EKD) schon lan- Christentums entspricht eine
größten außerhalb Vietnams und Freikirchen (zum Beispiel Bap- ge nicht mehr den Anspruch mindestens ebenso große Viel-
in Deutschland sogar die größte tisten und Methodisten) oder erheben können, für das falt im Judentum, die sich bei
ist. von einer evangelisch-koreani- Christentum als Ganzes zu weitem nicht auf die Unter-
Foto: Kloster Pagode Vien Giac sprechen, sondern konkret mit scheidung in Liberales, Kon-
schen, evangelisch-arabischen der Vielgestaltigkeit rechnen servatives und Orthodoxes Ju-
oder evangelisch-persischen müssen und dies bis in zentra- dentum beschränkt. Ein Glei-
Gemeinde. Eine Institution le Fragen hinein wie etwa be- ches gilt für den Islam mit
wie das seit 2011 in Hannover züglich des Verhältnisses von seinen Hauptrichtungen des
Staat und Religion. Hier ist die sunnitischen und schiitischen
Position der Orthodoxen Kir- Islam, wobei der sunnitische
chen dem islamischen Ver- Islam seinerseits in wenigs-
ständnis weit näher als dem tens vier große Rechtsschulen
des westlichen Christentums, (Hanbaliten, Hanafiten, Ma-
das sich gerne auf das Wort likiten, Schafiiten) mit oft
Jesu beruft: »Gebt dem Kaiser, deutlich von einander abwei-
was des Kaisers ist, und Gott, chenden Auslegungen für
was Gottes ist« (Markus-Evan- das alltägliche Verhalten der
gelium 12,17), obwohl es auch Muslime zu untergliedern ist.
hierzulande nicht generell gilt, Auch der Sammelbegriff Schi-
wenn man an die Anglikani- iten beinhaltet verschiedene
sche Kirche mit der Königin Richtungen wie die Zaiditen,
als Oberhaupt denkt oder da- Ismailiten (Siebenerschiiten)
ran, dass die Evangelischen und Imamiten (Zwölferschii-
Landeskirchen in Deutschland ten). Weitere Unterscheidun-
bis zum Ende des Ersten Welt- gen wie die zwischen dem
krieges den jeweiligen Landes- Scharia-Islam und dem mysti-
herrn als Oberhaupt hatten. So schen Islam (Sufismus) oder
war nach dem Sieg 1866 über extreme Auslegungen wie die
die Welfen der König von der Salafisten oder Djihadis-

5

Abbildung 5

Eine Prozession zum Fest des
hinduistischen Sri Muthuma-
riamman Tempels in Hannover.
Foto: Haus der Religionen

20

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

ten kommen hinzu, ohne die Religionskritik Toleranz und Dialog Prof. em. Dr. theol., Dr. phil.
Frage der Zugehörigkeit zum Peter Antes
Islam von Aleviten und An- Die vielleicht europäischste Angesichts der Vielgestaltig-
hängern der Ahmadiyya Mus- Art des Umgangs mit Religion keit der religiösen wie welt- Jahrgang 1942, war bis Februar
lim Jamaat oder der 2016 ge- ist die Religionskritik. Bereits anschaulichen Wirklichkeit ist 2012 Professor am Institut für
gründeten Säkularen Muslime die alten Griechen kannten eine Rückkehr zu religiös oder Theologie und Religionswissen­
und der Ex-Muslime hier zu- diese Form der Kritik am Göt- weltanschaulich homogenen schaft an der Leibniz Universität
sätzlich zu erörtern. terglauben und der religiösen Regionen im Sinne des West- Hannover. Seine Forschungs­
Praxis, seit dem europäischen fälischen Friedens heute aus- schwerpunkte sind islamische
Ähnlich vielgestaltig begegnet Humanismus und der Aufklä- geschlossen. Gefordert ist Ethik, Religionen und religiöse
uns in Europa der Buddhis- rung findet sie wieder zuneh- stattdessen, dass im Dialog die Gemeinschaften in Europa.
mus mit seinen Hauptrichtun- mend Gehör unter den Euro- Rahmenbedingungen für das Seit er emeritiert ist, beschäf­
gen des Theravada-Buddhis- päern. Dabei wiederholen sich friedliche Zusammenleben tigt sich Peter Antes mit der
mus, des Mahayana-Buddhis- teilweise die Argumente. So der Menschen in Europa aus- Vielfalt der Wege zur Trans­
mus, des Zen-Buddhismus, etwa warf man in protestan- gehandelt und dann verbind- zendenz. Kontakt: antes@mbox.
des Tantrischen Buddhismus tischen Ländern Ende des 19. lich durchgesetzt werden. rewi.uni­hannover.de
oder des tibetischen Lamais- und zu Beginn des 20. Jahr- Als Orientierung können die
mus unter der Führung des hundert dem Katholizismus Forderungen aus § 2 des Nie-
XIV. Dalai Lama. vor, reformunfähig, frauen- dersächsischen Schulgesetzes
feindlich und von einer Zent- zum Bildungsauftrag der
Als Fazit gilt, dass das, was rale im Ausland gesteuert zu Schule in der Fassung vom
früher nur Spezialisten be- sein, also genau die Punkte, 3. März 1998 dienen, wo es
kannt war und als Richtung die man Ende des 20. bezie- unter anderem heißt: Die Schü-
jeweils nur in einzelnen Län- hungsweise zu Beginn des lerinnen und Schüler sollen
dern der Erde anzutreffen 21. Jahrhunderts dem Islam fähig werden, »ihre Beziehungen
war, heute in jeder Großstadt vorgeworfen hat, ohne zu zu anderen Menschen nach den
Europas präsent ist. sehen, dass es in beiden Reli- Grundsätzen der Gerechtigkeit,
gionen auch Reformkräfte gab der Solidarität und der Toleranz
Neben der religiösen Vielfalt und gibt, die ein anderes Bild sowie der Gleichberechtigung der
gibt es aber noch den welt- von dieser Religion abgeben Geschlechter zu gestalten, den Ge-
anschaulichen Pluralismus als die offiziell verbreiteten danken der Völkerverständigung,
mit seinen unterschiedlichen Klischees.2 insbesondere die Idee einer ge-
Facetten vom Atheismus und meinsamen Zukunft der euro-
Humanismus bis hin zu Wun- päischen Völker, zu erfassen und
derheilern und speziellen zu unterstützen und mit Men-
Psychogruppen oder gar kei- schen anderer Nationen und Kul-
ner Religion. turkreise zusammenzuleben«.

Hannover hat sich Dazu gibt es keine Alternative,
in den vergangenen wenn wir die Zukunft in Euro-
Jahrzehnten rasant pa bewältigen und das friedli-
verändert: zu den rund che Zusammenleben aller im
150 christlichen Kir­ Staat sichern wollen.
chen sind viele weitere
Orte religiösen Lebens Literatur
dazugekommen. Sie
machen Hannover zu [1] Vgl. dazu Michael Borgolte: Christen,
einer multireligiösen Juden, Muselmanen: Die Erben der An­
Stadt. Das Buch er­ tike und der Aufstieg des Abendlandes
zählt Geschichten und 300 bis 1400 n. Chr., München: Siedler
zeigt, wie die Religio­ 2006
nen der Welt in Han­
nover heimisch gewor­ [2] Vgl. dazu José Casanova: Europas
den sind. ISBN 978­3­ Angst vor der Religion, Berlin: Berlin
00­053440­9 University Press 2009 S. 42–48

21

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Dem Herrscher nahe sein

DER NIEDERE ADEL IM UMKREIS DER WELFISCHEN HERZÖGE
AUF DEM ENGLISCHEN KÖNIGSTHRON

Seit der Mitte des 17. Jahrhun- Als der britische König Verwaltungstechnisch lief die Wie Forschungen zum niede­
derts musste der niedere Adel George II. im Jahr 1735 vor­ Verbindung zwischen Hanno­ ren Adel zeigen konnten, lag
übergehend in Hannover ver und London über die so­ die Sicherung niederadeligen
verstärkt Anstrengungen weilte, er war 62 Jahre und saß genannte »Deutsche Kanzlei« Status und Lebensweise zu­
unternehmen, um seine lokale seit acht Jahren auf dem eng­ in London, der Regierungs­ nächst einmal in den Händen
Macht zu sichern. Ein probates lischen Thron, traf er auf die stelle für die welfischen Terri­ männlicher Familienmitglie­
Mittel hierzu war es die Nähe etwa dreißigjährige Amalie torien auf dem Kontinent. Das der, die den mobilen und im­
Sophie aus der niederadeligen Scharnier zwischen der Insel mobilen Besitz immer wieder
zum König zu suchen. Familie von Wendt, die zu die­ und dem Kontinent bildeten zu restituieren beziehungs­
Eine Professorin für Geschichte ser Zeit bereits mit einem An­ die Brüder Philipp (Adolph) weise zu erhalten suchten.
der Frühen Neuzeit am Histori- gehörigen der Familie von und Gerlach (Adolph) von Dabei kam es nicht nur darauf
schen Seminar der Leibniz Uni- Wallmoden verheiratet war. Münchhausen (1). Sie waren an, die Güter zu vergrößern.
versität Hannover untersucht Mit ihr sollte er bis zu seinem Sprosse einer Familie, die seit Sie mussten in ihrem Bestand
die Beziehungsnetze, mit deren Tode eine Beziehung pflegen. dem hohen Mittelalter im auch gesichert werden. Ein
Ursprünglich getauft auf den Fürstentum Calenberg, einem probates Mittel hierzu stellte
Hilfe dies gelingen konnte. Namen Georg August war Kerngebiet des späteren Kur­ etwa die Errichtung eines so­
George II. der Nachfolger sei­ fürstentums Hannover ansäs­ genannten Fideikommmiss
nes Vaters George I. auf dem sig waren. Im 18. Jahrhundert dar. Er bot die rechtliche
englischen Königsthron. Als die Münchhausen Brüder in Grundlage dafür, die in vielen
Enkel Elisabeth Stuarts war vertrauter Nahbeziehung zu Familien immer wieder prak­
George I., mit dem Taufnamen den Welfen zu finden, kann tizierte Teilung von Gütern im
Georg Ludwig als erster der daher nicht überraschen. Erbgang zu unterbinden und
Herzöge von Braunschweig­ den Güterbesitz als Grundlage
Lüneburg und Kurfürsten von Gerlach und Philipp von niederadeligen Wirtschaftens
Hannover auf den englischen Münchhausen waren aber langfristig zu erhalten. Er­
Thron gekommen. Wie später nicht nur Bedienstete eines gänzend oder auch alternativ
auch noch der vor seinem fürstlichen und königlichen dazu, boten sich geeignete
Vater George II. verstorbene Herrn, der eine (Philipp) in Heiraten oder der Fürsten­
Friedrich Ludwig, waren die­ der deutschen Kanzlei, der an­ dienst an, entweder im zivilen
se beiden Georges in Hanno­ dere (Gerlach) im Kurfürsten­ oder im militärischen Bereich.
ver geboren, hatten dort tum Hannover. Sie waren Vor allem im Militärdienst
Kinder­ und Jugendjahre zu­ auch Angehörige des niederen konnten Reichtümer erworben
gebracht, zum Teil auch dort Adels und als solche damit be­ werden, wie der Fall Hilmars
geheiratet. Sie kannten die lo­ fasst, den eigenen Stand, den von Münchhausen (1512–1573)
kalen Verhältnisse. Beziehun­ eigenen Stamm, den eigenen zeigt. Als Kriegsunternehmer
gen zum niederen Adel, nicht Namen zu sichern. Eine Auf­ im konflikthaften 16. Jahrhun­
nur der welfischen Territorien, gabe, die sich angesichts der dert unterwegs, erwarb dieser
waren gegeben. Ihrer bedien­ Konsolidierung landesherr­ nachgeborene Sohn mit sehr
ten sie sich auch, als es darum licher Macht vor allem seit geringen Aussichten jemals
ging die Verbindung zwi­ dem 17. Jahrhundert für alle auch nur den Geburtsstatus
schen dem neuen Macht­ Angehörigen des niederen halten zu können, ansehnliche
zentrum jenseits und dem Adels mehr und mehr als Geldsummen, kaufte Land
alten Machtzentrum diesseits Herausforderung erwiesen zum familiären Besitz hinzu
des Kanals zu organisieren. hatte. und stabilisierte so langfristig
die Position der verzweigten
und sich immer weiter ver­
zweigenden Familie.

22

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Forschungen zu anderen nie­ war keine Angelegenheit einer vormaligen Fürstentums
deradeligen Familien im Um­ einzelnen Person. Dem Lüneburg (2). Dies ist umso
kreis der Welfen zeigen, dass Herrscher nahe zu sein, sein mehr hervorzuheben, weil
die Münchhausens, auch Vertrauen zu genießen, war George III., anders als sein
wenn diese im Kontext der ein Kapital, das transferiert, Vater, Großvater und Urgroß­
Thronbesteigung der Hanno­ an anderer Stelle eingesetzt, vater, nicht mehr in Hannover
veraner Welfen einen bemer­ gemehrt werden konnte und geboren worden war und
kenswerten Aufstieg erlebten, auch sollte. Wie sehr sich die auch seine Jugend bezie­
durchaus keine Ausnahme Zeitgenossen und Zeitgenos­ hungsweise frühen Erwachse­
bildeten. Erfolgreiches Agie­ sinnen selbst dieses Vorgangs nenjahre nicht mehr dort ver­
ren im Umkreis der Macht, bewusst waren, belegt eine in lebt hatte. Somit mag für die
das zeigt die Geschichte die­ Kürze abgeschlossene Studie Angehörigen des niederen
ser beiden Brüder deutlich, zum niederen Adel des Adels der Weg in die Nähe

1 Abbildung 1
Georg II. (1683 bis 1760), Kur-

fürst von Hannover, König von

Großbritannien und Irland, auf

einem Bild von Gottfried Boy

(1701–1755) aus dem Residenz-

museum im Celler Schloss.

Quelle: Residenzmuseum Celle

23

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Abbildung 2 des Herrschers seit Mitte des Ehe mit seiner Kusine Sophie resse gesehen werden. Seit
18. Jahrhunderts weiter gewe­ Dorothea von Braunschweig­ dem 17. Jahrhundert an den
St. James‘s Palace in London sen sein. Doch scheinen die Lüneburg einging, kann europäischen Fürstenhöfen
1753, Sitz der Deutschen Kanzlei Welfenherzöge ihrerseits den sicher gesagt werden, dass mehr und mehr institutiona­
auf einem Bild von Thomas Kontakt zum Kontinent nicht damit Ansprüche auf das Teil­ lisiert, sind Mätressen nicht
Bowles abreißen gelassen zu haben. fürstentum Lüneburg zemen­ mit Kurtisanen gleichzuset­
Drei der nachgeborenen Söh­ tiert werden sollten. Der zen, die im 15. und 16. Jahr­
ne Georges III., nämlich Ernst wenige Jahre zuvor von seiner hundert an den Höfen Geist­
August, der nach dem Ende Mutter, Sophie von Hannover, licher die Aufgaben einer
der Personalunion 1837 der ins Auge gefasste Plan, den Fürstin erfüllten. In der Regel
erste König von Hannover Sohn nach England in die ausgebildet von weiblichen
sein sollte, der nicht zugleich eigene Herkunftsfamilie ein­ Verwandten (Tanten, Mütter
oder Großmütter), beherrsch­
2 heiraten zu lassen – auch ten viele Kurtisanen die latei­
wenn die Braut nicht in jeder nische und griechische Spra­
auf dem englischen Thron Hinsicht als standesgemäß an­ che, spielten Instrumente,
saß, sowie seine Brüder zusehen war – trat demgegen­ dichteten auch. Die semanti­
August Friedrich und Adolph über in den Hintergrund. sche Abkunft des Wortes Kur­
Friedrich waren als Studenten Georges I. Sohn George II. tisane aus dem italienischen
an der Göttinger Universität ehelichte mit Caroline von »la cortigiana«, deutsch: Hof­
immatrikuliert und traten Ansbach eine Tochter aus dame, verweist aber gleich­
hernach in die hannoversche dem translokal aufgestellten wohl auf den Hof als Ort, an
Armee ein. Hause der Hohenzollern und dem weibliche Mitglieder ge­
George III. schließlich heirate­ eigneter Familien – in der
Die Welfen auf dem engli­ te Sophie Charlotte von Meck­ Fürstengesellschaft des Heili­
schen Thron verfügten aber lenburg (­Strelitz). An dieser gen Römischen Reiches waren
nicht nur über eine gut funk­ Stelle ist es wert notiert zu dies vornehmlich Töchter nie­
tionierende und translokal or­ werden, dass Ehen von An­ deradeliger Familien – Karrie­
ganisierte Verwaltung, und gehörigen des niederen Lüne­ ren machen konnten. Als
ließen ihre Söhne an ihrer burger Adels in dieser Zeit Hofdame, Hof­ und Oberhof­
eigenen Landesuniversität ebenfalls nach Mecklenburg meisterinnen, mitunter auch
Göttingen studieren bezie­ weisen. Ob dieses Heiratsver­ als Gouvernanten verbrachten
hungsweise in hannoversche halten als bewusste Strategie sie einen guten Teil ihrer
Heeresdienste treten. Sieht zu werten ist um Nähe zum Lebensjahre im sogenannten
man von den Versuchen der Herrscher herzustellen, oder »Frauenzimmer« der Fürstin­
Hannoveraner Kurfürstin in zu festigen, muss gegenwärtig nen. Der Lebensweg Anna Ka­
den 1680er Jahren ab, ihren aber noch offen bleiben. tharinas von Offen (1624–1702)
Sohn Georg Ludwig, den kann hierfür als exemplarisch
späteren George I., mit seiner Als weibliche Variante des angesehen werden. Als fünf­
Großcousine Anne Stuart (3) Fürstendienstes beziehungs­ tes von insgesamt neun
zu verheiraten, suchten die weise des Versuchs, Nähe Kindern aus einem nieder­
Welfen ihre Ehegattinnen zum Herrscher herzustellen, adeligen Haushalt in der Graf­
in den fürstlichen Häusern kann die Position einer Mät­ schaft Lippe, trat sie mit 21
des Kontinents. Für den Fall Jahren in das Frauenzimmer
Georg Ludwigs, der 1682 eine der Gräfin von Schaumburg­
Lippe ein. In den folgenden
Jahren gelangte sie über die
Beziehungen ihrer Herrin zu
ihrer Schwester an den Hof
von Hessen­Kassel, wechselte
auf Empfehlung der Landgrä­
fin an den Kurpfälzer Hof in
Heidelberg wo Offen auch als
Erzieherin tätig werden sollte.
Von Heidelberg führte der
Weg an den Hof Sophies von
Hannover, wo sie eine Posi­
tion als Hofmeisterin und
dann als Oberhofmeisterin
fand und mit Christian Fried­
rich von Harling einen geeig­

24

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

neten Ehemann. Zeit ihres Le­ konnte so an die Herkunfts­ Verweise Prof. Dr. Michaela Hohkamp
bens zählte das Paar zu den familie gespielt werden. Aus ist seit 2011 Professorin für
Schützlingen nicht nur der dieser Verbindung gingen drei (1) Sebastien Schick, Geschwisterbezie- Geschichte der Frühen Neu-
späteren Hannoveraner Kur­ Kinder hervor. Eines dieser hungen und Verflechtungen in der zeit, Raum und Region am His-
fürstin Sophie, sondern stand Kinder, die Tochter Anna hohen Dienerschaft des Herrn im torischen Seminar der Leibniz
auch in einer Patronagebezie­ Luise (1692–1773) heiratete 18. Jahrhundert, in: Christine Fertig / Universität Hannover. Ihre
hung zu deren Nichte, Liselot­ später in die Familie von dem Margareth Lanzinger (Hg.), Beziehun- Arbeits- und Forschungs-
te von der Pfalz, Schwägerin Bussche­Ippenburg ein, zu der gen, Vernetzungen, Konflikte. Perspek- schwerpunkte liegen in der
des französischen Königs wiederum der Gatte Kathari­ tiven Historischer Verwandtschafts- Geschichte frühneuzeitlicher
Ludwig XIV. nas von Meysenburg gehörte, forschung, Köln usw., 2016, S. 91–109. Gewalt und Herrschafts-
die als Vorgängerin der von geschichte, Familie und Ver-
Der Dienst als Hofdame hatte der Schulenburg in der Positi­ (2) Titel des Forschungsprojektes »Herr- wandtschaft, Frauen- und
aber nicht nur das Potenzial on der Mätresse von George I. schaft, Landschaft und Verwandt- Geschlechtergeschichte, Ge-
zu einer Karriere als Hofmeis­ zu sehen ist. Somit verbanden schaft: Die Lüneburger Ritterschaft schichte der Historiografie.
terin. Nicht wenige Hofdamen sich durch diese Ehe zwei zwischen lokaler Machtausübung, ob- Kontakt: michaela.hohkamp
unterhielten irgendwann Be­ Familien, deren jede eine Mät­ rigkeitlicher Herrschaft und transloka- @hist.uni-hannover.de
ziehungen zu den Herrschern, resse des ersten Welfen auf ler Netzwerkbildung (1648 bis 1866)«
erreichten den offiziellen dem englischen Thron gestellt gefördert von »Pro Niedersachsen«.
Status einer Mätresse, oder hatte. Diese Dichte von könig­ Laufzeit: 1. Juni 2013 bis 31.5.2016
gingen Ehen zur linken Hand lichen Mätressen in einem (Wencke Hinz), kostenfrei verlängert
ein. Madame de Pompadour weiteren Familienverband er­ bis zum 30. Juni 2018, Leitung Prof.
am französischen Hofe ist höhte sich noch durch Anna Hohkamp. Eine Publikation der For-
wohl die bekannteste unter Sophies von Wendt (Wall­ schungsergebnisse ist geplant.
ihnen. In der Fürstengesell­ moden) Großtante mütter­
schaft des Heiligen Römi­ licherseits, Clara von Meysen­ (3) Anne Stuart war eine Tochter Jakobs II.
schen Reiches haben Ursula burg, die aus dem Amt der aus seiner ersten Ehe mit Anne Hyde,
von Rosenfeld in der Mark­ Hofdame auf die Position der die sich im niederländischen Exil an-
grafschaft Baden, Eva von Mätresse bei Ernst August, gebahnt hatte, und damit eine Enkelin
Trott in Braunschweig­Wol­ dem Vater Georges I. (= Georg Karls I., dessen Schwester Mutter von
fenbüttel oder Luise von De­ Ludwig) gewechselt hatte. Im Sophie von der Pfalz war, der späteren
genfeld am Kurpfälzer Hof in Jahr darauf ergab sich dann Kurfürstin von Hannover und Präten-
Heidelberg als Mätressen der für sie die Gelegenheit, den dentin auf den englischen Thron.
Herrscher oder auch als deren Prinzenerzieher Franz Ernst
spätere Gattinnen reichsweit von Plathen zu ehelichen.
Aufsehen erregt. Wie die von Harlings teilte
sich auch dieses Paar die Nähe
Ebenso wie der männliche zum Herrscher.
Fürstendienst sich in einigen
niederadeligen Kreisen zur Die kurzen Ausführungen
familiären Tradition ent­ sollten deutlich gemacht ha­
wickelte, so scheint in einigen ben, wie sehr familiäre und
Familien auch die Position der verwandtschaftliche Strategi­
Mätresse zum Orientierungs­ en des niederen Adels halfen
punkt weiblicher Lebenswege dessen Position und Chancen
gezählt zu haben. So konnte auch in schwierigen Zeiten zu
die oben erwähnte Anna So­ sichern. Fürstendienst und
phie von Wendt, verheiratete Mätressenwesen haben sich
von Wallmoden und Mätresse dabei ergänzt. Sie bildeten
Georges II. nicht nur auf eine mitunter eheliche Kerne, um
Großmutter (Katharina von die herum sich im familiären
Meysenburg) blicken, die als und verwandtschaftlichen
Mätresse Georgs I. ebenso die Netz des Niederadels kultu­
Nähe des Herrschers genoss, relles, wirtschaftliches, sym­
wie Melusine von der Schu­ bolisches und soziales Kapital
lenburg, die diesem sogar anhäufen und gewinnbrin­
nach England folgte. Am Ende gend einsetzen ließ. Fürst und
erhielt sie vom Kaiser den Fürstin bildeten dabei den Be­
Titel einer Fürstin von Eber­ zugspunkt im sozialen Raum
stein. Das durch die Bezie­ der höfischen Gesellschaft,
hung zum König erworbene der nicht an einen bestimmten
Kapital dieser Niederadeligen Ort gebunden sein musste.

25

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Die Europäische Stadt

GEWACHSENES ERBE – GESTALTETE RÄUME

1

Die »Europäische Stadt« ist

in der Städtebautheorie ein

etablierter und zugleich um-

strittener Terminus. Gleichwohl

kann dieser schillernde Begriff

dazu beitragen, vermeintliche

europäische Selbstverständlich-

keiten als urbane Qualitäten

ins Bewusstsein zu rufen.

Ein Professor für Bau- und

Stadtbaugeschichte erläutert

beispielhaft, dass diese

Qualitäten im globalen Kontext Im späten 20. Jahrhundert Qualitäten festzuschreiben. grundsätzliche Unterschei­
keineswegs selbstverständlich wurde die »Europäische Er scheint eine bestimmte Ka­ dung globaler Stadttypen,
Stadt« von praktizierenden tegorie von Stadt zu benennen insbesondere in Abgrenzung
sind. Städtebauern zu einem Leit­ und bleibt doch erstaunlich von amerikanischen oder
bild deklariert. Zu einem Ide­ diffus. Ein Problem ist die asiatischen Stadtformen, die
al, das es wieder anzustreben ahistorische Verwendung, den Städtebauboom der Ge­
und zurückzugewinnen gelte. denn es ist eine offenkundige genwart prägen.
Skeptiker sahen darin eher Tatsache, dass die europäische
ein einengendes, wenn nicht Stadt des Mittelalters eine Auf einer solchen Betrach­
sogar modernefeindliches, ganz andere war als die der tungsebene vermag deutlich
Korsett. Gründerzeit. Viele, die mit zu werden, worin sich die
dem Begriff der »Europäi­ »Europäische Stadt« als Typus
Was ist die »Europäische schen Stadt« ein morphologi­ von anderen unterscheidet.
Stadt«? Enthebt man den Be­ sches Phänomen beschreiben, Amerikanische Städte sind
griff von den zeitgenössischen haben in der Regel die Stadt zum Inbegriff von Hoch­
Debatten und städtebaulichen des späten 19. Jahrhunderts hausagglomerationen und
Projektionen, dann stellt man vor Augen. Insofern eignet gesichtslosem suburbia ge­
fest, dass er vergleichsweise sich der Begriff in gegenwärti­ worden. Und die neuen Städte
wenig geeignet ist, um präzise ger Perspektive eher für eine Asiens erscheinen uns viel­

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E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

fach als Orte eines enthemm­ Der Boom der amerikanischen fen. Als technische, sanitäre,
ten Kapitalismus, die Räume Städte im 20. Jahrhundert und ökonomische und administra­
für Renditeträume und der asiatischen Städte im tive Herausforderung, aber
schnellem Cashflow offerie­ 21. Jahrhundert mag aus euro­ nicht als kompositorische Dis­
ren, aber wenig urbanen päischer Perspektive erstau­ ziplin.
Mehrwert generieren. Es sind nen, wenn nicht sogar befrem­
vielfach Städte ohne gewach­ den. Zugleich erinnert er uns Geburtsstunde der Disziplin
sene Quartiere, Städte ohne daran, dass sich Europas Städ­ Stadtbaukunst
bauliche Permanenz, Städte te im 19. Jahrhundert ähnlich
ohne Flaneure, Städte ohne boomartig veränderten und in Das änderte sich an der
Stadtbürgertum. Folge der Industrialisierung Schwelle vom 19. zum
eine grundlegende Transfor­ 20. Jahrhundert. Es ist die Zeit,
Natürlich sind das überspitzte mation vollzogen, die sehr un­ die gemeinhin als Geburts­
Stereotypen. Aber eine solche terschiedliche Zukunftsbilder

2 Abbildung 1
Eugène Hénard, »Ville de
l’avenir« (Stadt der Zukunft),
1910

Abbildung 2
Otto Wagner, Projekt für den
XXII. Wiener Gemeindebezirk,
1911

Abbildungen aus »Großstadt ge­
stalten. Stadtbaumeister in Europa«
(Berlin 2018)

Zuspitzung vermag im Um­ evozierten (Abbilung 1). Inner­ stunde der Disziplin Stadtbau­
kehrschluss bewusst zu ma­ halb weniger Jahrzehnte kunst bezeichnet wird. Neben
chen, was denn die Besonder­ wuchsen die Städte auf ein den für die Stadtentwicklung
heiten und Eigenarten euro­ Vielfaches ihrer alten Fläche. verantwortlichen Politikern,
päischer Städte kennzeichnet. Oftmals vollzog sich dieser Tiefbauingenieuren und Sani­
Es sind vor allem historisch Prozess ohne übergeordnete tärtechnikern gesellten sich
gewachsene Städte. Städte, die Planung. Dort, wo es eine sol­ um 1900 in verstärktem Maße
über ein großes bauliches Erbe che gab, waren überwiegend Architekten hinzu. Es reifte
verfügen. Städte, die dieses Tiefbauingenieure für die Pro­ die Erkenntnis, dass städti­
Erbe sowohl im Stadtgrundriss jektierung neuer Quartiere sche Räume auch von »künst­
als auch in ihrer tradierten und Stadterweiterungen zu­ lerischen Grundsätzen« ge­
Substanz erlebbar werden las­ ständig. Unter ihnen gehören prägt sein können (und soll­
sen. Und es sind Städte, die im­ James Hobrecht (Berlin) oder ten), wie es Camillo Sitte in
mer wieder darum ringen, wie Ildefonso Cerdà (Barcelona) seiner berühmten Studie 1889
sich Tradition und Moderne in zu den bekanntesten. Vieler­ formuliert hat. Er und viele
Einklang bringen lassen. Städ­ orts waren aber auch namen­ anderen fingen an, darüber
te, die das Resultat einer gene­ lose Akteure am Werk. Städte­ nachzudenken, ob sich daraus
rationenübergreifenden bür­ bau wurde lange Zeit als bloße auch Prinzipien für künftiges
gerschaftlichen Kultur sind. Infrastrukturaufgabe begrif­ städtebauliches Handeln und

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E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Entwerfen entwickeln lassen. baumeistern waren sie nicht dazu über, ein Leitbild für die
An den Architekturfakultäten nur für einzelne Hochbauten Zukunft ihrer Stadt zu ent­
der Hochschulen wurden in der Stadt zuständig, sondern werfen, gleichsam eine Ziel­
jener Zeit die ersten Lehrstüh­ auch für die künstlerische stellung, wohin sich das Stadt­
le für Städtebau eingerichtet. Konzeption und Entwicklung gefüge räumlich entwickeln
städtischer Quartiere. Sie wa­ soll. Dabei ging es – wie heute
Im gleichen Zuge gingen auch ren wörtlich und im übertra­ auch – um das Verhältnis von
die Kommunen dazu über, genen Sinne Stadtbaumeister Geschichte und Moderne, von
eigene Planungsabteilungen oder, wenn sie gleichzeitig Erbe und Zukunft. Natürlich
für die städtebauliche Ent­ auch in politischer Verantwor­ waren (und sind) diese Debat­
wicklung einzurichten. Dies tung standen, Stadtbauräte. ten und Abwägungsprozesse

Abbildung 3 34

Karl Mayreder, Projekt für einen
Straßendurchbruch von der
Singerstraße zum Stephansdom
in Wien, 1895

Abbildung 4 nie konfliktfrei und mitunter
sehr umstritten. Aber es
Der aktuelle Band »Großstadt zeichnet viele europäische
gestalten. Stadtbaumeister in Städte aus, dass sie ihre Ge­
Europa« (Berlin 2018) bildet schichte als einen wichtigen
den dritten und letzten Teil der und zentralen Teil ihrer urba­
Stadtbaumeister-Trilogie, die nen Identität begreifen.
Markus Jager gemeinsam mit
Prof. Dr. Wolfgang Sonne von der
TU Dortmund herausgegeben
hat. Die beiden vorangegangenen
Bände widmeten sich den Stadt-
baumeistern in nationaler und
regionaler Perspektive.

Geschichte und Moderne

Abbildungen aus »Großstadt ge­ Ein anschauliches Beispiel ist
stalten. Stadtbaumeister in Europa« die Stadt Wien, die 1890 ihre
(Berlin 2018) zweite Stadterweiterung voll­
zog und zur Millionenstadt
geschah in der Absicht, aus Um 1900 waren nahezu alle wurde. In Folge dessen ließ
den wachsenden Großstädten europäischen Großstädte mit die Stadt einen »Generalregu­
nicht nur gesunde und gut einem ungebrochenen Wachs­ lierungsplan« erstellen. Der
funktionierende, sondern tums­ und Investitionsdruck unmittelbare Anlass dieser
auch schöne und attraktive konfrontiert. Damals bestand Planung war die unausweich­
Städte zu machen. Die be­ ein Konsens darüber, dass lich gewordene Modernisie­
kanntesten unter den damali­ dieser Investitionsdruck ge­ rung von Verkehr und Infra­
gen Stadtbaumeistern waren steuert und kanalisiert wer­ struktur. Dazu gehörten die
Hermann Josef Stübben in den – und nicht allein dem neue Stadtbahn, die Regulie­
Köln, Theodor Fischer in freien Spiel des Marktes oder rung des Wien­Flusses und
München oder Fritz Schu­ den Renditeträumen einiger die Verbesserung der sanitä­
macher in Hamburg. Im Un­ Spekulanten überlassen wer­ ren Verhältnisse. Dieses ge­
terschied zu früheren Rats­ den sollte. Viele Städte gingen samtstädtische Ziel wurde auf
zwei Wegen verfolgt: Zum
einen sollte ein Masterplan für
die künftige Ausdehnung und
Erweiterung der Stadt ge­

28

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

schaffen werden. Dabei wollte Neben der Projektierung von bes. Erst der drohende Verlust Prof. Dr. Markus Jager
man vorbeugen, dass sich Stadterweiterungsquartieren von Alt­Wien hat den Wienern Jahrgang 1972, ist seit 2017
abermals triste, ausschließlich sollte um 1900 auch die Wie­ vor Augen geführt, über wel­ Professor für Bau- und Stadt-
von Zinshäusern gesäumte ner Innenstadt modernisiert chen urbanen Schatz sie ver­ baugeschichte am Institut für
Straßenzüge etablieren, wie und an die aktuellen Ver­ fügen. Geschichte und Theorie der
sie in den Gründerjahren kehrsbedürfnisse angepasst Architektur der Fakultät für
durch Bauspekulation unter werden. Damit waren seiner­ Als Karl Mayreder, der dama­ Architektur und Landschaft.
anderem in Ottakring entstan­ zeit vor allem Straßenverbrei­ lige »künstlerische Leiter« des Zu seinen Forschungsschwer-
den waren. Nach Vorstellung terungen und ­durchbrüche Stadtregulierungsbüros, seine punkten gehören profane
von Otto Wagner, dessen gemeint (Abbildung 3). Das Pläne für die Transformation Kirchenumnutzungen seit der
100. Todestag in diesem Jahr berühmte Vorbild dieser Pra­ der Wiener Innenstadt erstell­ Reformation, Fürsten- und
mit einer großen Ausstellung xis war Paris unter dem Prä­ te, tat er dies unter der Prä­ Adelsresidenzen in Stadt und
im Wien­Museum gewürdigt fekten Haussmann. Doch misse, dass bei den unaus­ Land sowie die Kulturge-
wird, sollten in der Zone jen­ während dort im Zuge der weichlichen Modernisierun­ schichte der Technik in Haus
seits der neuen Gürtelstraße großen Transformation ein gen zugleich Rücksicht auf und Stadt. Kontakt: jager@
attraktive Wohnquartiere Großteil der historischen Stadt »ein historisch entwickeltes igt-arch.uni-hannover.de
entstehen. Dazu gehörten geopfert wurde, erkannte man Stadtbild« zu nehmen sei. Un­
neben Wohn­ und Geschäfts­ um 1900 in Wien den Wert geachtet der Frage, wie gut
häusern auch öffentliche Bau­ gewachsener Strukturen. ihm dies tatsächlich gelungen
ten. Darüber hinaus verfügten Galt dies anfangs nur für ein­ ist, bleibt es ein bemerkens­
Wagners Quartiere über Pro­ zelne Bauten, die man als wertes Faktum, dass ein sol­
menaden und gärtnerisch ge­ herausragende Zeugnisse der cher Anspruch schon damals
fasste Plätze (Abbildung 2), also Baukultur früherer Epochen zum Leitbild der Planung
jene urbanen Elemente, die schätzte und bewahren wollte, deklariert wurde. Die Ge­
sich unter Renditeaspekten erstreckte sich das im Zuge schichte der Stadt wurde nicht
nicht rechnen, aber Ausdruck der damaligen Debatten auch als ein Hemmnis oder ein ein­
einer Stadtkultur sind, die wir auf den Stadtgrundriss und schränkendes Korsett emp­
als Zivilisationsleistung schät­ Quartierszusammenhänge. funden, sondern als eine ur­
zen. Man kann das als Deka­ Es klingt wie ein Paradoxon: bane Qualität. Als ein vorhan­
denz diffamieren, man kann Der Modernisierungsdruck dener, über viele Generationen
darin aber auch eine beson­ war zugleich auch ein Kataly­ tradierter Wert, den es auf­
ders entwickelte Form der so­ sator für die neuerliche Wert­ recht zu erhalten und weiter­
zialen Stadt sehen. schätzung des historischen Er­ zuentwickeln gilt.

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29

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Creative Heritage

EINE AGENDA FÜR REGENERATIVE STÄDTE, RESILIENZ UND
TERRITORIALE INNOVATION IM EUROPÄISCHEN JAHR DES KULTURERBES 2018

1

»Creative Heritage« ist eine

interdisziplinäre Initiative euro-

päischer Forscher, die unter

Federführung einer Gruppe aus

der Fakultät für Architektur

und Landschaft der Leibniz

Universität, einen Beitrag zum

Thema »Regenerative Stadt«

erarbeitet hat.

Im Oktober 2018 wurde beim

Symposium »Creative Heritage«

in Schloss Herrenhausen, ge-

fördert von der Volkswagen-

stiftung, eine »Hannover »Regenerative Stadt« (»Sustainable Development Katastrophen) für den Blick
Creative Heritage Agenda« Goals« der UN) auf aktuelle auf die Stadt deutlich erwei­
entwickelt, die Grundlage für Die »Regenerative Stadt« wird Herausforderungen in Europa tert wird. Diese Erweiterung
weitere Aktivitäten ist und die aktuell als zukunftsweisendes bezogen. »Regenerative Stadt« wurde besonders durch die
im November 2018 bei der Leitbild und Antwort auf tief­ verbindet in innovativer Wei­ Wirtschaftskrise in Europa
UNESCO vorgestellt wurde. greifende räumliche und ge­ se mehrere aktuelle Zielfelder nach 2008 angestoßen, sie
sellschaftliche Transformatio­ räumlicher Entwicklung, die fragt nach der Widerstands­
nen formuliert, in Architektur mit dem Begriff »Resilienz« in fähigkeit in sozialer und öko­
und Städtebau sowie in einer Verbindung gebracht werden nomischer Hinsicht. Mit der
breiten öffentlichen und poli­ – der dazu von seiner Her­ Perspektive von Architektur
tischen Debatte. Die »Regene­ kunft aus den Ökologie­ und und Städtebau werden zwei
rative Stadt« bezieht sich auf Umweltwissenschaften weitere wesentliche Faktoren
die »Urban Agenda« der EU (Widerstandfähigkeit von zu dieser erweiterten Fassung
von 2016, in der die nachhal­ Ökosystemen gegenüber des Begriffs Resilienz hinzu­
tige Stadtentwicklung als Stressfaktoren) und aus den gefügt: der Raum der Stadt als
wesentliches Politikfeld der Ingenieurwissenschaften (Wi­ komplexes Gebilde verschie­
Europäischen Union definiert derstandsfähigkeit von gebau­ denster Einflussfaktoren und
wird. Dabei sind globale Ziele ten Systemen gegenüber als gelebter Raum, für den es
nachhaltiger Entwicklung Schockfaktoren, Risiken und insgesamt um Resilienz geht –

30

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

und die Dimension der Zu­ geben zu können. Die Archi­ Fakultäten, durch Kooperatio­
kunft: als Fähigkeit nicht nur tektur an der Leibniz Univer­ nen auch über die Universität
auf Stress und Schock zu re­ sität Hannover kann mit ihrer hinaus sowie mit Städten und
agieren und sich zu regenerie­ deutschlandweit und inter­ gesellschaftlichen und wirt­
ren, sondern proaktiv eine national starken Stellung in schaftlichen Initiativen und
resiliente Stadt zu gestalten, Forschung und Lehre wesent­ Organisationen ist die Fakul­
die zukünftige Widerstands­ liche Impulse zum neuen Leit­ tät für Architektur und Land­
fähigkeit bereits in sich trägt bild der »Regenerative Stadt« schaft bestens aufgestellt, um
und in die eine regenerative beitragen. Dies gilt – im Ver­ hierzu Akzente in der For­
Grundausrichtung zukunfts­ bund der Fakultät für Archi­ schung zu setzen. Aktuell
fähiger Gestaltung bereits ver­ tektur und Landschaft – ins­ wird ein neuer fakultätsweiter
ankert ist. Damit ist das Leit­ besondere für die Herausfor­ Forschungsschwerpunkt de­
bild der »Regenerativen Stadt« derung des Klimawandels, für finiert und ausgestaltet: unter
nicht nur eine Zielbestim­ die Stadt und Natur in einer dem Titel «Habitate der Zu­

Abbildung 1

Das Buch zur Initiative »Creative
Heritage« ist kürzlich im
Jovis Verlag Berlin erschienen:
ISBN 978-3-86859-532-1.
Quelle: Institut für Entwerfen und
Städtebau

Abbildung 2

Das Projekt »Alpine Building

Culture« im Europäischen Struk-

turfonds (Partner: Institut für

Entwerfen und Städtebau) unter-

suchte den Beitrag von Baukultur

zu Energieeffizienz und territori-

aler Entwicklung im Alpenraum.

2 Quelle: Institut für Entwerfen und
Städtebau

mung, sondern auch eine pro­ gemeinsamen Zukunftsper­ kunft – Gestaltung des Le­
zess­ und kapazitätsorientier­ spektive verbunden werden. bensumfelds des Menschen«
te Ausrichtung auf eine Stadt, Durch diese interdisziplinäre wird die Forschung zu «Rege­
die sich selbst ständig sinnvoll Aufstellung, durch zahlreiche nerativer Stadt« in der Bünde­
erneuert und neu erfindet. Kooperationen mit weiteren lung interdisziplinärer Kom­

»Habitate der Zukunft« – Hannover Creative Heritage Agenda
Architektur und Landschaft Die Agenda wurde im Symposium »Creative Heritage« im Oktober
2018 in Schloss Herrenhausen, gefördert von der Volkswagen­
Architektur und Städtebau ar­ stiftung, erarbeitet und inzwischen von 44 europäischen Wissen­
beiten an der Neuausrichtung schaftlerinnen und Wissenschaftlern unterzeichnet sowie von
von Konzeptionen und Werk­ weiteren Partnern aus Lateinamerika und dem Mittleren Osten,
zeugen in enger Verbindung aus den Bereichen Stadtplanung und Architektur mit Sozial­ und
von Forschung und Praxis, Wirtschaftswissenschaften.
um damit innovative Beiträge Die Agenda ist erhältlich unter:
für gesellschaftliche, kultu­ www.staedtebau.uni­hannover.de/schroeder
relle, wirtschaftliche und öko­
logische Herausforderungen

31

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

3 petenzen gestärkt und auf zukünftige Kernaufgabe dar­ Landschaftszusammenhänge
einen größeren Horizont über­ stellt. Zur Illustration zwei einbeziehen.
Abbildung 3 tragen: eine Vielzahl von Sied­ Zahlen: in wachsenden Metro­
Im Symposium »Creative Heri- lungsformen, regionale Per­ polen wie zum Beispiel Ham­ Europäisches Jahr des
tage« in Schloss Herrenhausen, spektiven, gebauter Raum und burg werden jährlich etwa Kulturerbes 2018
gefördert von der Volkswagen- Natur. Das Leitmotiv der Ge­ 1 Prozent der Bauflächen
stiftung, wurde im Oktober 2018 staltung umfasst dabei neue stadtplanerisch neu gefasst Das Europäische Jahr des Kul­
die »Hannover Creative Heritage interdisziplinäre Bündelungen (eine relevante Größe), zusätz­ turerbes 2018 antwortet auf
Agenda« erarbeitet, der sich in- von Arbeitsmethoden: räum­ lich finden zahlreiche – und ein verstärktes Interesse und
zwischen 44 europäische Wissen- licher Entwurf, Raumkunst, zunehmende – kleine Einzel­ Engagement von Bürgern, Ins­
schaftlerinnen und Wissenschaft- Strategie­ und Programmbil­ eingriffe und größere Sied­ titutionen und von Forschung
ler sowie Partner aus Lateiname- lungserweiterungen statt. Dies in Europa, Kulturerbe als Teil
rika und dem Mittleren Osten dung, räumliche Planung, gilt auch für die sich ständig von Zukunft zu verstehen. Zu
angeschlossen haben. Werkzeuge der Partizipation, erweiternden neuen Zusam­ den vom Europäischen Parla­
Quelle: Institut für Entwerfen und Regulierung und Incentives, menschlüsse der Metropol­ ment, dem Rat und der Kom­
Städtebau Kommunikation, Wissens­ regionen. Alle diese Aktivitä­ mission definierten Zielen
transfer und Bildung. ten haben aufs Engste mit zählt: Menschen zu ermuti­
Weiterbauen zu tun, sie sind gen, Europas reiches und un­
Weiterbauen an der Stadt aber auch eine Neuerfindung terschiedliches Kulturerbe zu
von Stadtbausteinen und von erkunden, seinen einzigarti­
In Bezug darauf steht hier fol­ Konzepten von Stadt generell. gen Wert zu verstehen und zu
gendes im Fokus: das Weiter­ Die zweite Zahl betrifft einen schützen und die Rolle von
bauen an der Stadt. Es ist ein größeren Umgriff: im Alpen­ Kulturerbe im Leben der Eu­
wesentliches Merkmal der raum wurde zum Beispiel ropäer neu zu bestimmen. Es
Stadt in Europa – und des etwa 90 Prozent des Baube­ soll besonders betont werden,
Habitat als menschlicher Le­ stands vor 1990 errichtet, da­ wie Kulturerbe sozialen Zu­
bensraum –, dass das Weiter­ her geht es heute um Erneue­ sammenhalt stärken, wie es
entwickeln eine aktuelle und rung von Siedlungen und zu Arbeitsplätzen und Wohl­
ihrer Programme, um multi­ stand beitragen kann, welche
lokale und touristische Fakto­ Bedeutung es für globale
ren, um Energieeffizienz im Perspektiven hat und wie es
Baubestand sowie um impuls­ geschützt werden sollte. Das
gebende neue Architekturen Kulturerbejahr 2018 hat einen
für wirtschaftliche und so­ Vorläufer, an den es an­
ziale Innovation – alles auf schließt: das Europäische Jahr
Engste mit Weiterbauen und des Architektonischen Erbes
Neuerfindung verbunden. 1975 unter dem Motto »Eine
Nur etwa 3 Prozent des Bau­ Zukunft für unsere Vergan­
bestands in den Alpen ist genheit« war wesentlich inspi­
denkmalgeschützt, das Thema riert vom Ziel, die histori­
des Weiterbauens muss aber schen Stadtkerne Europas mit
über diesen geschützten neuem Leben zu füllen. Diese
Bestand einzelner Gebäude Herausforderung ist in keiner
hinausgehen und Orts­ und

European Year of Cultural Heritage 2018 materielles Kulturerbe: zum Beispiel Gebäude, Monumente,
Das Europäische Kulturerbejahr stellt mit zahlreichen Veranstal­ Gegenstände, Kleidung, Kunstwerke, Bücher, Maschinen, historische
tungen, Projekten und Fördermaßnahmen Kulturerbe als wichtigen Städte, archäologische Stätten;
Baustein für die Zukunft Europas dar.
Auf der Webseite europa.eu/cultural­heritage/ heißt es dazu: immaterielles Kulturerbe: Praktiken, Darstellungs­ und Aus­
drucksformen, Wissen, Fertigkeiten – und die damit verbundenen
»Man mag Kulturerbe als etwas aus der Vergangenheit oder als et­ Werkzeuge, Objekte und kulturellen Räume – denen Wert zugemes­
was Statisches ansehen – es entsteht aber durch unser Engagement. sen wird. Dies schließt auch Sprache und sprachliche Traditionen ein,
Mehr noch: Kulturerbe kann für Europas Zukunft eine große Rolle Darstellende Künste, soziale Praktiken und traditionelles Handwerk;
spielen. Daher wollen wir vor allem junge Menschen für das Europä­
ische Kulturerbejahr begeistern. Kulturerbe kann in vielen Formen natürliches Kulturerbe: Landschaften, Flora, Fauna;
definiert werden: digitales Kulturerbe: das in digitaler Form geschaffen wurde (zum
Beispiel digitale Kunst oder Animation) oder das digitalisiert wird als
Weg zur Erhaltung (mit Text, Bildern, Video, Audio).«

32

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Weise verschwunden, sie wur­ ten – gelebter Raum und Ge­ »ReCycle« gefördert vom For­ Prof. Jörg Schröder
de aber erweitert durch ein staltung von Zukunft – die schungsministerium in Ita­ Jahrgang 1972, ist seit 2012
breiteres und inklusiveres Kern der fachlichen Kompe­ lien, »Territorial Mosaic City« Professor für Regionales Bau­
Kultur­ und Denkmalver­ tenzen von Architektur und gefördert vom Wirtschafts­ en und Siedlungsplanung am
ständnis und durch ein Au­ Städtebau sind. Was hier zu­ ministerium in Spanien, Institut für Entwerfen und
genmerk auf immaterielles nächst als »Weiterbauen« und »Food Revolution 5.0« ver­ Städtebau IES sowie aktuell
Kulturgut, das wesentlich »Neuerfindung« bezeichnet anstaltet vom Museum für Forschungsdekan der Fakultät
auch in der Perspektive der wurde, soll mit »Creative Kunst und Gewerbe Ham­ für Architektur und Land­
Architektur eingeschrieben Heritage« genauer erkundet burg, oder »Baltic Coast« über schaft. Seine Forschungsinter­
ist: kulturelle Haltungen, werden: in vielen Dimensio­ neue Architektur und räum­ essen liegen in der Verbindung
Kenntnisse und Fertigkeit in nen von Architektur, Stadt liche Planung an der Ostsee. von Architektur, Stadt und
Bauen und in der Nutzung und Territorium und in gesell­ Die Initiative soll eine Platt­ Land für Modelle räumlicher
von Bauten und von Stadt. Der schaftlicher, wirtschaftlicher form für zukünftige gemein­ und kultureller Innovation.
Aspekt des Teilens (»Sharing«) und ökologischer Bedeutung. same Forschungsaktivitäten Kontakt: schroeder@
wurde vom deutschen Natio­ Für eine neue Rolle von Kul­ und internationale Ver­ staedtebau.uni­hannover.de
nalkomitee für Denkmal­ turerbe skizziert »Creative bundprojekte sowie für Trans­
schutz, das eine wichtige Heritage« vier Erkundungsfel­ fer und Kommunikation sein.
Kraft für das Europäische der in der Forschung, die im Dazu werden in »Creative He­
Kulturerbejahrs ist, mit dem Rahmen des Leitbilds der »Re­ ritage« vier Schwerpunkte in
Leitmotiv »Sharing Heritage« generativen Stadt« stehen: der Forschung bearbeitet:
besonders betont: geteilte Ver­
antwortung, gesellschaftliche 1. Verbindungen im Raum: 1. Modelle der Inklusion in
und kulturelle Integrativität, Erweiterung von den histo­ Stadt und Territorium, ver­
Kommunikation und Bildung rischen Kernen und der stärkt durch Kulturerbe;
sind dabei wesentliche Punk­ historischen Stadt zu einem
te. Leitthemen des Kulturerbe­ historischen Layer in neuen 2. Stärkung urbaner Resilienz
jahrs in Deutschland sind: Stadt­Land­Konstellationen durch Kulturerbe: soziale,
Grenz­ und Begegnungsräu­ und ihrer Transformation. wirtschaftliche und öko­
me, Austausch, Stadt, Erinne­ logische Faktoren;
rung und Beginn, gelebtes 2. Verbindungen in der Form:
Kulturerbe in Europa. materielle (berührbare), im­ 3. Verständnis von Kultur­
materielle (nicht berühr­ erbe als Grundlage für
Die Idee von bare), natürliche und digi­ Neuschaffen in Stadt und
»Creative Heritage« tale Formen von Kulturerbe Kultur;
in Stadt, Architektur und
In diesem umfassenden und Landschaft; 4. Visionen und Konzept zur
engagierten Ansatzes des Kul­ Stadt der Zukunft: Kultur­
turerbejahrs 2018 wird – sinn­ 3. Gestalten von Kulturerbe: erbe für die »Regenerative
vollerweise – zunächst Erhal­ Kontexte, Formen, Impulse Stadt«.
tung und Schutz in den Mit­ für Gesellschaft und Wirt­
telpunkt gestellt. Die Idee von schaft; Die Plattform »Creative Heri­
»Creative Heritage« geht da­ tage« kann dank des von der
von aus, dass ein zusätzlicher 4. Impulse zum Neuschaffen Volkswagenstiftung geförder­
Fokus auf Kreativität, die von von Kulturerbe. ten Symposiums im Oktober
Kulturgütern ausgeht, ein in­ 2018 in Schloss Herrenhausen
teressantes Feld für Forschung Die Initiative »Creative mit der »Hannover Creative
und Innovation darstellt. Die­ Heritage« Heritage Agenda« forciert
se Kreativität ist notwendig, werden, die im November
um den Schutz von Kultur­ Die Initiative »Creative Heri­ 2018 bei der UNESCO vor­
gütern zukunftsorientiert in tage« zielt unter dem Leit­ gestellt wurde. Zahlreiche Ak­
der Gesellschaft von heute zu thema kreativer Aspekte im tivitäten der Verbreitung und
verankern – aber noch viel Verstehen, Nutzen und Erwei­ der Kooperation zwischen den
mehr, um die Rolle von Kul­ tern von Kulturerbe auf seine Partnern haben bereits begon­
turgütern für Stadt, Kultur Rolle für die Zukunft der nen, auch in einer globalen
und Gesellschaft der Zukunft Stadt und auf kulturelle, ge­ Perspektive mit Lateinameri­
zu stärken, wie auch, um im sellschaftliche und wirtschaft­ ka und dem Mittleren Osten.
Dialog mit Bestehendem liche Innovation. Die Initiative Im April wird ein Buch im
neue Kulturgüter zu schaffen. bündelt bestehende For­ Jovis Verlag, Berlin, heraus­
Der Ansatz von «Creative schungsaktivitäten und For­ gegeben, das Ansätze und
Heritage« adressiert damit schungshintergründe der Statements zu »Creative Heri­
zwei wesentliche Komponen­ Partner, zum Beispiel aus tage« einem größeren Publi­
dem Projekt »Alpine Building kum vorstellt.
Culture« gefördert im Euro­
päischen Strukturfonds,

33

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

EMiLA und EuMiTD

STUDIEREN, PLANEN UND ENTWERFEN IM EUROPÄISCHEN KONTEXT

An der Fakultät für Jedes Jahr entscheiden sich und der Studiengang »Euro­ und Selbstorganisation verfü­
Architektur und Landschaft durchschnittlich 80 Studieren­ pean Master in Territorial gen sowie entwerferische Fä­
können Studierende zwei inter­ de der Fakultät für Architek­ Development« (EuMiTD). higkeiten vorweisen können.
nationale Studienangebote mit tur und Landschaft für einen
verpflichtendem Auslands­ Auslandsaufenthalt. Das sind Vertiefungsrichtung Eine kooperative Lehre an
25 Prozent aller Outgoings der »European Master in Landscape fünf Universitätsstandorten
aufenthalt wählen. gesamten Leibniz Universität Architecture« (EMiLA) (oder: Eine Ausbildung an drei
Wie die Vertiefungsrichtung Hannover (Stand: 2017), was Universitäten)
»European Master in Landscape insofern bemerkenswert ist, Ein Netzwerk aus fünf Uni­
Architecture« (EMiLA) und weil die Fakultät für Architek­ versitäten, die schon über Das erste Fachsemester in
der Studiengang »European tur und Landschaft mit fünf viele Jahre enge Kontakte Hannover kann zum Winter­
Master in Territorial Develop­ Prozent der Studierenden die gepflegt hatten, entwickelte oder Sommersemester erfol­
ment« (EuMiTD) strukturiert kleinste der neun Fakultäten zwischen 2011 und 2014 ein gen. Darauffolgend sieht die
sind, beschreiben Mitglieder ist. Masterprogramm, welches zweijährige Studienstruktur
das Entwerfen europäischer zwei Auslandssemester an
der Fakultät. Die bemerkenswerte Statistik Landschaften in den Mittel­ zwei unterschiedlichen Stu­
der Auslandsmobilität ist un­ punkt einer kooperativen Leh­ dienstandorten vor. Den EMi­
ter anderem auf das fakultäts­ re stellt. Der EMiLA wurde LA­Studierenden stehen vier
eigene Büro für »International bewusst nicht als Joint­ oder europäische Partneruniver­
Relations« zurückzuführen. Double­Degree­Programm sitäten zur Auswahl: Amster­
Es ermöglicht eine fachbezo­ entwickelt, weil die bürokrati­ dam University of the Arts,
gene Beratung und Vermitt­ schen und organisatorischen Universitat Politècnica de
lung einer Auslandsuniversi­ Hürden bei fünf verschiede­ Catalunya, The University of
tät, begleitet die Studierenden nen nationalen Systemen zu
während des Auslandsauf­ hoch gewesen wären. Statt­
enthalts und koordiniert die dessen wird der EMiLA in die
Leistungsanerkennung. Das laufenden Masterstudiengän­
große internationale Partner­ ge der Partneruniversitäten
netzwerk mit 61 europäischen integriert und über ein spe­
Universitäten und 20 langjäh­ zielles Diploma­Supplement
rigen, außereuropäischen im Masterzeugnis heraus­
Partnerschaften wird in enger gestellt, aus dem die geleiste­
Absprache mit den Lehrenden ten Auslandssemester hervor­
ständig gepflegt und qualita­ gehen.
tiv weiterentwickelt.
Die Vertiefungsrichtung EMi­
Neben dem Angebot eines LA richtet sich an deutsche
freiwilligen Auslandsaufent­ und internationale Bache­
haltes für alle Studierende lorabsolvierende der Land­
unterstreichen zwei inter­ schaftsarchitektur. Grundvor­
nationale Studienangebote mit aussetzungen sind ein beson­
verpflichtendem Auslandsauf­ deres Interesse an komplexen
enthalt die starke internatio­ Entwurfsfragestellungen.
nale Ausrichtung der Fakultät: Darüber hinaus sollten die In­
die Vertiefungsrichtung teressierten über ein hohes
»European Master in Lands­ Maß an Neugierde, Flexibilität
cape Architecture« (EMiLA)

34

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Edinburgh oder Ecole Natio­ Europaweite Zielvorstellun­ Landschaftsarchitektur wirkt
nale Supérieure de Paysage gen verstärkten die Internatio­ sich diese Blickwinkelerweite­
Versailles Marseille. Die Mas­ nalisierung von landschafts­ rung sogar auch auf die Stu­
terarbeit wird abschließend in bezogenen Planungsaufgaben. dierenden in Hannover aus.
Hannover verfasst – die Inspi­
ration zur Themenwahl ent­ Die Ausbildungsstruktur des Studiengang »European Master
steht bereits oftmals im Laufe EMiLA greift diese Internatio­ in Territorial Development«
der Auslandsaufenthalte. nalisierung der europäischen (EuMiTD)
Planungskultur auf und er­
Eine Besonderheit der Stu­ möglicht eine Kompetenz­ Schon Ende des vergangenen
dienstruktur liegt in der entwicklung und Wissensge­ Jahrzehnts hat es in der Fakul­
Durchführung zweier Stu­ nerierung über unterschied­ tät für Architektur und Land­
dienmodule, die eigens für liche nationale Kontexte. Die schaft erste Überlegungen für
die Vertiefungsrichtung EMi­ gesammelten Erfahrungen

12

LA entwickelt wurden: das über europäische Planungs­ einen internationalen Studien­ Abbildung 1
E­learning­Modul »EU poli­ vorhaben und Landschafts­ gang im Bereich Raumpla­ Übersicht der teilnehmenden
cies on large­scale territorial architekturen stärken die nung und Raumentwicklung Universitätsstandorte des EMiLA
changes« und die alljährliche Urteilskraft der Studierenden. gegeben. Dabei waren zwei
»EMiLA SummerSchool« ge­ Ein weiterer Vorteil entsteht Motive wesentlich: Neben Abbildung 2
währleisten eine Zusammen­ durch die Weiterentwicklung dem Beitrag zur weiteren EMiLA-Summerschool 2012 auf
arbeit aller aktuellen EMiLA­ sprachlicher Fähigkeiten, Internationalisierung des Stu­ den Orkney Islands
Studierenden der fünf Part­ die gemäß des »Common dienangebots der Fakultät
nerhochschulen – im digitalen European Framework of Re­ war es Ziel, die vorhandenen © Martin Prominski
sowie im physischen Raum. ference for Languages (CEFR)« Studienangebote in den Be­
zur Zulassung eingefordert reichen Architektur, Land­
Mehrwert durch werden. schaftsarchitektur und Um­
Internationalisierung welt um einen Studiengang zu
Der EMiLA ermöglicht eine ergänzen, der ausdrücklich
Mit der Unterzeichnung der Individualisierung des Stu­ die integrative Perspektive der
Europäischen Landschafts­ diums, da der Großteil der querschnittsorientierten
konvention im Jahr 2000 Modulbausteine frei gewählt Raumentwicklung in den Mit­
entstand ein erstes völker­ werden kann – dies führt zu telpunkt rücken sollte.
rechtliches Übereinkommen, einer verstärkten Profilschär­
welches die (Kultur­)Land­ fung und somit zur Persön­ Zielgruppe für das neue An­
schaftsentwicklung in Europa lichkeitsentwicklung der EMi­ gebot des EuMiTD, der seit
als gemeinsame staatenüber­ LA­Studierenden. Durch die dem Wintersemester 2014/2015
greifende Aufgabe definiert. Teilnahme der »EMiLAs« an angeboten wird, sind insbe­
Pflichtmodulen des Master sondere Absolventinnen und

35

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Absolventen aus in­ wie aus­ weitere Schwerpunkte im Be­ Mehrwert durch Internatio­
ländischen Studiengängen mit reich raumbezogener Planun­ nalisierung und Praxisbezug
raum­ und planungs­ gen wie etwa der Landschafts­
wissenschaftlichem Schwer­ planung und der Verkehrspla­ Das dritte Fachsemester von
punkt. Ihr Interesse sollte auf nung durch eigene Module EuMiTD soll obligatorisch an
eine berufliche Tätigkeit im gesetzt. Zudem wird im Inter­ einer der ausländischen Part­
internationalen Kontext aus­ esse der praktischen Hand­ neruniversitäten verbracht
gerichtet sein. Damit sind lungsfähigkeit der Studieren­ werden (University of West
nicht nur Arbeitsplätze in in­ den ausführlich auf die England, Stockholms uni­
ternationalen Organisationen Förderpolitiken der EU ein­ versitet Université Francois
gemeint, sondern etwa auch gegangen. Gemeinsam ist al­ Rabelais Tours, Wageningen
University oder Universität
3 für Bodenkultur Wien). Hier
ist durch Kooperationsverträ­
ge eine Integration der Studie­
renden in den laufenden Be­
trieb der jeweiligen Fakultäten
gewährleistet. Das vierte
Semester dient dann der Er­
stellung der Masterarbeit, die
möglichst von einem inter­
nationalen Team aus je einem
Lehrenden der Universität
Hannover und einer ausländi­
schen Partneruniversität be­
treut werden soll.

Abbildung 3 in deutschen Planungsbehör­ len Modulen die Konzentrati­ Ein weiterer Mehrwert von
den oder Entwicklungsagen­ on auf eine integrative Raum­ EuMiTD liegt in der Einbin­
Integrierte und nachhaltige Ent- turen, die in Grenzräumen entwicklung im europäischen dung der in Hannover und
wicklung von Städten und Regio- oder in anderen internatio­ Kontext – dies trägt zur Profi­ Braunschweig zuständigen
nen als Ziel des EuMiTD nalen Verbünden mitwirken. lierung des Studiengangs bei Planungsbehörden (die
und ist ein Alleinstellungs­ Region Hannover und der
© Martin Sondermann Integrative Raumentwicklung merkmal. Regionalverband Großraum
in europäisch vergleichender Braunschweig), die für ihre
Perspektive Da die beruflichen Tätigkeiten Expertise im Bereich von Re­
in der Raumplanung und gionalplanung und Raum­
In den ersten beiden Semes­ Regionalentwicklung darüber entwicklung sowie für die
tern werden in Pflicht­ und hinaus Teamarbeit und das Verknüpfung von Verkehrs­
Wahlpflichtmodulen an der Verständnis für sehr ver­ system und Siedlungsent­
Leibniz Universität Hannover schiedene Disziplinen erfor­ wicklung national und inter­
grundlegende Kenntnisse zum dern, liegt im EuMiTD, wie in national sehr bekannt sind.
Verständnis der Planung und anderen Studiengängen der Durch den engen Kontakt zu
Raumentwicklung im interna­ Raumplanung, ein besonderer beiden Einrichtungen erhalten
tionalen Kontext vermittelt. Schwerpunkt auf Studien­ die EuMiTD­Studierenden
Damit sind zum einen die EU­ projekten, die sich mit kon­ wertvolle Einblicke in die
Ebene selbst gemeint, zum kreten Aufgaben und Frage­ Planungspraxis und erwerben
anderen aber auch die Pla­ stellungen planerischer Praxis weitere beruflich relevante
nungssysteme und »Planungs­ befassen. Hier lernen und Kompetenzen.
realitäten« in verschiedenen erfahren die Studierenden die
europäischen Staaten. Dabei Bedeutung von Teamarbeit, In­ Fazit/Ausblick
werden neben der integrativen terdisziplinarität und in­
Perspektive der Raumentwick­ tegrativen Perspektiven, wobei Die Auseinandersetzung mit
lung (Territorial Development) die Lehrenden eher die Rolle interdisziplinären und trans­
eines »Coaches« einnehmen. nationalen Themen im »euro­
päischen Maßstab« gewinnt
im Kontext von Landschafts­
architektur und raumbezoge­
ner Planung immer mehr an
Bedeutung. Durch die Stu­
dienangebote an der Leibniz

36

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

M. Sc. Kendra Busche Prof. Dr.­Ing. Martin Prominski Prof. Dr. Rainer Danielzyk Prof. Dr. Frank Othengrafen
Jahrgang 1986, ist seit 2015 Jahrgang 1967, leitet seit 2009 Jahrgang 1959, Studium der Jahrgang 1976, Raumpla-
wissenschaftliche Mitarbeite- das Fachgebiet Entwerfen ur- Geographie, Raumplanung/ nungsstudium an der TU Dort-
rin am Institut für Freiraum- baner Landschaften am Insti- Verwaltung, Volkswirtschafts- mund, Promotion zum Thema
entwicklung (Fachgebiet Ent- tut für Freiraumentwicklung lehre und Psychologie an der Planungskultur an der Hafen-
werfen Urbaner Landschaften) der Leibniz Universität Hanno- Westfälischen Wilhelms- City Universität Hamburg,
und EMiLA-Koordinatorin für ver und ist seit 2011 für den Universität Münster, Promo- seit 2013 Juniorprofessor für
den Standort Hannover. Ihre EMiLA verantwortlich. Seine tion und Habilitation an der Landesplanung und Raum-
Forschungsinteressen liegen aktuellen Forschungen wid- Carl von Ossietzky-Universität forschung, vor allem Regional
im Bereich der kooperativen men sich erneuerbaren Ener- Oldenburg, ist seit 2010 Pro- Governance, im Institut für
Stadtentwicklung und perfor- gielandschaften und nach- fessor für Landesplanung und Umweltplanung. Seine For-
mativen Beteiligungsmetho- haltigen Strategien für sich Raumforschung im Institut schungsschwerpunkte liegen
den. Kontakt: kendra.busche@ verdichtende Städte, u.a. als für Umweltplanung. Seit 2013 im Bereich der Planungstheo-
freiraum.uni-hannover.de Leiter des »Sino-German Joint ist er auch Generalsekretär der rie und Planungskultur, der
Laboratory on Urbanization Akademie für Raumforschung Europäischen Raumentwick-
and Locality Research« und Landesplanung in Han- lung sowie im Bereich von
(gemeinsam mit der Peking nover. Arbeitsschwerpunkte: Urban und Regional Gover-
Universität). Kontakt: martin. Theorie und Empirie der nance. Kontakt: othengrafen
[email protected] Raumentwicklung; Raum- @umwelt.uni-hannover.de
hannover.de ordnung und Regionalpolitik,
Planungstheorie. Kontakt:
[email protected]
hannover.de

Universität Hannover sowie der Fakultät Architektur und ten und in den berufsbezoge­
die unterschiedlichen Aus­ Landschaft im nationalen nen Netzwerken profilieren
richtungen der Partneruniver­ und internationalen Raum können.
sitäten sind die Absolventin­ bedeutsam. Die Studiengänge
nen und Absolventen von sind durch die in den Modu­ Gleichwohl wäre es wün­
ihren Kompetenzen her für len jeweils vermittelten Kom­ schenswert, wenn sich In­
die Anforderungen der Be­ petenzen, aber auch durch teresse und Nachfrage der
rufspraxis sehr gut vorbereitet die Herkunft der Studieren­ Studierenden nach den Stu­
und in der Lage, der Komple­ den aus verschiedenen Län­ diengängen noch weiter stabi­
xität europäischer Fragestel­ dern, Studiengängen und Stu­ lisieren und erhöhen würden.
lungen gerecht zu werden. dienorten sehr attraktiv. Für Marketing und Koordina­
EuMiTD und EMiLA verbes­ Denn es entstehen durch das tion sind in einem durchaus
sern damit die Berufschancen gemeinsame Studieren neue bescheidenen Umfang konti­
der Studierenden, tragen aber Formen des Austausches und nuierliche Mittel erforderlich.
auch zur Persönlichkeitsbil­ neue Netzwerke, die nach un­ Diese könnten auch dafür ge­
dung bei. seren bisherigen Erfahrungen nutzt werden, noch mehr und
auch nach dem Studium systematischer Erkenntnisse
Gleichzeitig sind die Studien­ hilfreich sind. Ziel ist es, dass über den Verbleib der Studie­
gänge EuMiTD und EMiLA sich die Studierenden über renden nach Studienab­
durch ihre spezifische Aus­ die Identifikation mit den schluss im Interesse weiterer
richtung für die Außenwir­ beiden Studiengängen auf Profilierung der Studiengän­
kung und Wahrnehmung den jeweiligen Arbeitsmärk­ ge in Erfahrung zu bringen.

37

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Europa – vom Kontinent zur Identität

DAS AUSTAUSCHPROGRAMM ERASMUS+

Das Austauschprogramm Eras-
mus+ besteht seit 30 Jahren
und hat vielen Studierenden
dazu verholfen, Europa zu
bereisen und dadurch neue
Perspektiven zu entwickeln.

Der Koordinator des Erasmus+-
Programms und die Programm-

administratorin Austausch-
studierende Incomings blicken

zurück und ziehen Bilanz.

»Ich habe viele Leute in Europa genen Jahrhunderten suchten fachbezogene Sommerschulen
getroffen. Ich bin sogar mir selbst Gelehrte Hochschulen in an­ an, die im Durchschnitt bis zu
begegnet.« James Baldwin deren europäischen Ländern vier Wochen andauern und
auf, um an Studien mitzuar­ oftmals während der Semes­
Grenzüberschreitende Mobi­ beiten und zu unterrichten. terferien stattfinden. Wer
lität boomt an den europäi­ War dies noch mit vielen Hür­ Wissenschaft und Praxis ver­
schen Hochschulen. Gerade den verbunden, scheinen die binden möchte, hat die Mög­
feierte das Erasmus+­Pro­ Möglichkeiten für einen Aus­ lichkeit eines Auslandsprakti­
gramm, welches als Symbol landsaufenthalt heute schier kums. Neben Laborpraktika,
für den europäischen Gedan­ unbegrenzt. So können Mo­ welche meist an den Univer­
ken und das bekannteste bilitäten unterschiedlichster sitäten selbst angesiedelt sind,
europäische Austauschpro­ Länge ins Studium integriert können auch Praktika in pri­
gramm gelten kann, sein werden. Wer einen kürzeren vaten oder öffentlichen Ein­
30­jähriges Bestehen. Mobili­ Aufenthalt bevorzugt oder richtungen absolviert werden.
tät von Studierenden und einfach erst einmal in das Je nach Finanzlage und Ver­
Wissenschaftlern innerhalb Universitätsleben im Ausland gütung des Praktikums be­
europäischer Länder ist je­ hineinschnuppern möchte, steht auch hier die Möglich­
doch an sich kein neues Phä­ kann dies im Rahmen einer keit bei der Heimathochschule
nomen, sondern hat eine lange Summer School tun. Hierzu einen Zuschuss für Reise­
Tradition. Bereits in vergan­ bieten viele europäische oder Aufenthaltskosten zu be­
Hochschulen sprach­ und antragen.

38

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Ein Großteil der Auslandsauf­ »Erasmus Effekt« und »Eras­ sowohl eine andere Lehrkul­ Ein Auslandsaufenthalt bietet
enthalte findet allerdings im mus­Babies« die Rede, der ers­ tur kennen lernen als auch Studierenden die Chance, nicht
Rahmen von sogenannten ten Generation junger Euro­ ihr eigenes Fachwissen an die nur neue Länder kennenzuler-
Kreditmobilitäten statt. Hier­ päerinnen und Europäer. Die Studierenden der Gasthoch­ nen, sondern auch neue Freunde
bei handelt es sich um stu­ Tatsache, dass die Studieren­ schule vermitteln. Durch das zu finden.
dienbedingte Auslandsaufent­ den lernen, sich an eine zu­ Senden und Empfangen von Foto: Julia Almeida
halte, die dem Erwerb von nächst fremde Lehr­ und Gastdozenten wird nicht nur
Kreditpunkten dienen, welche Lernkultur anzupassen, zeigt das internationale Profil der
an der Heimatuniversität zur auch positive Auswirkungen jeweiligen Hochschule ge­
Erlangung des Studienab­ auf ihre Karrierechancen. Vie­ stärkt, sondern es erhalten
schlusses anerkannt werden le Firmen legen in der sich auch Studierende, die aus ver­
sollen. Die Aufenthalte sind in globalisierenden Arbeitswelt schiedenen Gründen keinen
diesem Fall zeitlich begrenzt. mittlerweile großen Wert auf Auslandsaufenthalt in An­
Meist handelt es sich um ein­ Auslandserfahrungen und spruch nehmen können oder
oder zweisemestrige Mobili­ Fremdsprachenkenntnisse wollen, die Möglichkeit, neue
täten, die im Rahmen von ihrer Mitarbeiter. Gleichzeitig Inhalte und Lernmethoden
Austauschprogrammen oder erhöhen die Studierenden auf kennenzulernen. Zudem kön­
in geringerer Anzahl auch diese Weise ihre Karriere­ nen sich Lehrende auf diese
selbst organisiert stattfinden. chancen im Ausland selbst. Im
Zusammenhang mit dem Er­ Weise vor Ort mit ihren dorti­
Im Hinblick auf die Aus­ werb internationaler Schlüs­ gen Kollegen vernetzen, was
tauschprogramme steht neben selkompetenzen dürfen auch im besten Falle die Entwick­
den Hochschulpartnerschaf­ die positiven Effekte auf die lung gemeinsamer Studien­
ten vor allem das bereits er­ Persönlichkeitsentwicklung programme zur Folge hat.
wähnte Erasmus+­Programm der Studierenden nicht uner­ Diese Erfahrungen sollen je­
im Fokus. Bedingt durch den wähnt bleiben. Neben der be­ doch nicht nur den Lehrenden
gegenseitigen Studiengebüh­ reits beschriebenen größeren einer Hochschule vorbehalten
renerlass der Partnerhoch­ Toleranz gegenüber anderen werden. Gleichwohl ist die
schulen, die Anerkennung Einstellungen und Kulturen, länderübergreifende Mobilität
von Studienleistungen aus gibt ein Großteil der ehemali­ auch für andere Hochschulbe­
dem Ausland und die Gewäh­ gen Erasmus­Studierenden an, schäftigte eine hervorragende
rung von Mobilitätszuschüs­ dass sie durch den Auslands­ Chance, einen Einblick in die
sen konnte sich das Pro­ aufenthalt deutlich mehr an Arbeitsweise der Gasthoch­
gramm in den vergangenen Selbstvertrauen und Eigen­ schule zu bekommen. Teil­
30 Jahren immer besser ent­ ständigkeit gewonnen hätten. nehmende können innerhalb
wickeln: So gingen zwischen eines jeweils ähnlichen Tätig­
1987 und 2017 rund 4.400.000 Ein Auslandsaufenthalt im keitsbereichs wie dem der
Studierende mit Erasmus ins Rahmen von Erasmus+ ist Heimatinstitution hospitieren.
Ausland, davon 651.000 aus aber längst nicht mehr nur Somit lernen sie die Struk­
Deutschland (Quelle: DAAD). Das Studierenden vorbehalten. turen und Organisation der
Programm leistet damit einen Wenn das Zusammenwachsen
wichtigen Beitrag zur euro­ und die Vernetzung europä­
päischen Identitätsbildung: ischer Hochschulen gelingen
Viele der (ehemaligen) Eras­ sollen, ist die Einbeziehung
mus­Studierenden geben an, der Hochschulmitarbeiter un­
sich durch den Erasmus Auf­ erlässlich.
enthalt mehr als Europäer zu
fühlen, als dies vorher der Fall So sehen sich nicht nur Leh­
war. rende mit der wachsenden
Anzahl von internationalen
Europa bleibt für die Studie­ Studierenden konfrontiert,
renden hierbei nicht nur ein sondern auch andere Beschäf­
abstrakter Begriff, sondern tigte aus unterschiedlichsten
wird durch den Auslandauf­ Bereichen der Hochschule.
enthalt direkt erfahrbar. Es Für Dozenten und wissen­
werden Freundschaften über schaftliche Mitarbeiter besteht
europäische Grenzen hinaus die Möglichkeit eines Lehrauf­
geschlossen und das gegensei­ enthaltes an einer der Partner­
tige, interkulturelle Verständ­ hochschulen. Die Teilnehmen­
nis wächst. So ist bereits vom den können auf diese Weise

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E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Anne Höch Dott. Francesco Ducatelli bildungsraumes. Wenn von Anzahl attraktiver Partner­
Jahrgang 1980, ist Mitarbeite­ Jahrgang 1973, ist Erasmus+­ Mobilität und Internationali­ hochschulen weltweit. Europa
rin im Hochschulbüro für Hochschulkoordinator, Pro­ sierung der Hochschulen die ist hierbei einer der Schwer­
Internationales. Ihre Arbeits­ grammkoordinator Europa und Rede ist, dürfen auch die Stu­ punkte innerhalb der Interna­
schwerpunkte sind die Pro­ Israel. Kontakt: francesco. dierenden nicht unerwähnt tionalisierungsstrategie der
grammadministration der [email protected]­hannover.de bleiben, welche im euro­ Leibniz Universität. So beste­
internationalen Austausch­ päischen Ausland einen Ab­ hen Erasmus­Kooperationen
studierenden. Kontakt: anne. Partnerinstitution kennen, schluss anstreben. So nehmen mit rund 300 Partnerhoch­
[email protected]­hannover.de was oft vielfältige neue Er­ viele Studierende die Mög­ schulen, die insgesamt über
kenntnisse und Anregungen lichkeit wahr, nach dem 700 Studienplätze beinhalten.
mit sich bringt. Gleichzeitig Bachelorstudium im Heimat­ Das Erasmus Programm der
haben sie die Gelegenheit, den land, ihr Masterstudium ins Leibniz Universität wurde be­
ausländischen Kollegen die europäische Ausland zu ver­ reits zweimal mit dem Euro­
Arbeitsverfahren an der hei­ lagern. Dies wird dann als päischen Qualitätssiegel für
mischen Institution vorzustel­ vertikale Mobilität bezeichnet. eine besonders gute Umset­
len. Was rückblickend von den Darüber hinaus kann in ein­ zung der Programmkompo­
meisten Teilnehmenden als zelnen Studiengängen bereits nenten und Mobilitätsmaß­
sehr positiv empfunden wird, ein »joint degree« (Erwerb nahmen ausgezeichnet. Neben
sind die entstandenen persön­ eines gemeinsamen Abschlus­ den Mobilitäten von Studie­
lichen Kontakte. So könnten ses der heimischen und der renden, Lehrenden und Be­
auch Dinge im gegenseitigen ausländischen Hochschule) schäftigten stehen auch Maß­
Arbeitsaustausch seit dem oder »double degree« (Erwerb nahmen zur Curriculum­
Aufenthalt an der Gastinstitu­ der Abschlüsse beider Part­ entwicklung, die Durchfüh­
tion viel schneller »auf dem nerhochschulen) absolviert rung von Kurzzeitprogram­
kurzen Dienstweg« geregelt werden. men, die Schaffung innova­
werden. Neben Hospitationen tiver Lehr­ und Lernmethoden
an Partnerinstitutionen Diese Variante erfreut sich bei sowie die Entwicklung dualer
können Beschäftigte jedoch Studierenden immer größerer Studiengänge im Fokus des
auch an internationalen Work­ Beliebtheit, zumal sie hiermit Erasmus+ Programms.
shops, Staff Weeks und bessere Karrierechancen auf
Sprachkursen im Rahmen des dem internationalen Arbeits­ Nicht vergessen werden dür­
Erasmus+­Programms teilneh­ markt verbinden. Ähnliche fen hier zudem die Erasmus­
men. Verfahren gibt es auch im Be­ Praktika und die gemein­
reich der Forschung, so dass samen Masterabschlüsse
Im Fokus all dieser Mobili­ Doktoranden beispielsweise (Erasmus Mundus). Die Auf­
tätsmaßnahmen, unabhängig eine Promotionsarbeit in zwei enthalte im europäischen
davon, ob es sich um Studie­ europäischen Ländern er­ Ausland erfreuen sich auch an
rende, Lehrende oder Beschäf­ möglicht wird (»Cotutelle­ der Leibniz Universität in den
tigte handelt, stehen der euro­ Verfahren«). vergangenen Jahren immer
päische Gedanke und die Idee größerer Beliebtheit, zumal
des lebenslangen Lernens. Es ist bereits deutlich ge­ ein großer Teil der im Ausland
Es geht um die Vernetzung worden, wie vielfältig die erbrachten Leistungen im
und das Zusammenwachsen Wege im Hinblick auf einen Rahmen der Kreditmobilitä­
der europäischen Hochschu­ Auslandsaufenthalt in Europa ten hier anerkannt werden
len und somit um die Schaf­ sind und welche Grundge­ kann und es somit nicht zu
fung eines gemeinschaftlichen danken hiermit verbunden einer Verlängerung des Stu­
europäischen Hochschul­ werden. Aber wie sieht die diums kommen muss. Viele
Umsetzung konkret an der Studierende schätzen die
Leibniz Universität Hannover finanzielle Unterstützung in
aus? Form des Mobilitätszuschus­
ses sowie den Erlass der
Die Leibniz Universität Han­ Studiengebühren an der Part­
nover hat sich die Internatio­ nerhochschule, was besonders
nalisierung als Schlüsselauf­ in Nordeuropa einen wesent­
gabe gesetzt. Zur Umsetzung lichen Vorteil mit sich bringt.
dieses Zieles ist die Leibniz Daher bleibt abschließend
Universität in verschiedenen nur zu sagen »Weiter so!« oder
Netzwerken aktiv (unter an­ getreu dem Erasmus­Slogan:
derem TU9, CESAER, T.I.M.E.) »Wer sich bewegt, bewegt
und verfügt über eine große Europa!«

40

Rund 390 000

Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter

Rund 450 Tochter- und
Regionalgesellschaften
in rund 60 Ländern

Bosch in Zahlen: 73,1 Milliarden Euro Umsatz
im Jahr 2016 4,3 Milliarden Euro
120
Ergebnis im Jahr 2016
Entwicklungsstandorte
weltweit

Inklusive Handels- und Dienst- stwh_luh-mag-2018_90x128_layout1 03.05.2018 18:23 Seite 1
leistungspartnern ist Bosch in
rund 150 Ländern vertreten

Lieber bewegen statt stillstehen? nix schiefDamit im Studium
Willkommen bei Bosch.
läuft ...
Die Bosch-Gruppe gehört zu den Global Playern im Technologie- und Dienstleistungsbereich: Wir
setzen pro Jahr rund 73 Milliarden Euro um – mit insgesamt über 390.000 Mitarbeiterinnen und e Mensen+ Cafeterien
Mitarbeitern weltweit. Wo wir aktiv sind: in den vier Unternehmensbereichen Mobility Solutions, w Zimmer+Wohnungen
Industrial Technology, Consumer Goods sowie Energy and Building Technology. Wie wir agieren: f BAföG+Finanzierung
mit rund 450 Tochter- und Regionalgesellschaften in rund 60 Ländern. Was uns antreibt: Lösungen b Soziales+ Internationales
für das vernetzte Leben zu entwickeln und so weltweit die Lebensqualität der Menschen zu
verbessern – mit innovativen und begeisternden Produkten und Dienstleistungen. Was Sie bei
Bosch erwartet: die Möglichkeit, wirklich Großes zu bewegen und gemeinsam mit uns aktiv die
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E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Internationale Verbindungen in den
Rechtswissenschaften

DAS ELPIS-NETZWERK

Überall ist Recht in die Sprache und die Kul­ sowie im Europarecht für Untergraduierte.
tur seiner Herkunft integriert. Für Prüfung Signifikantes Merkmal ist der zweisemes­
und Ausbildung steht in Deutschland das trige Aufenthalt an einer anderen europäi­
juristische Staatsexamen im Fokus. Inter­ schen Universität. Der Abschluss »Magister
nationalität in der Lehre und Forschung ist Legum Europae (MLE)« war äußerst erfolg­
mithin nicht die Kernbeschäftigung eines reich und mit über 600 absolvierten MLEs in
Juraprofessors, sondern bleibt zusätzlichem der Branche bekannt. Derzeit als Zertifikats­
Engagement überlassen. Nach achtzehn Jah­ studium CLE angeboten, ist die Überleitung
ren eigener Leitung eines internationalen in einen konsekutiven Bachelor (LL.B.) be­
Netzwerks von Rechtsfakultäten wird diese absichtigt.
Aufgabe seit dem Vorjahr von Prof. Germel­
mann und seiner Mannschaft weiterbetrie­ Seit 2004 führt der konsekutive postgra­
ben. Das Schwergewicht lag seit jeher auf duierte Master ELPIS II in zweijährigem
dem ELPIS­Netzwerk (ELPIS steht für »Eu­ Vollzeitstudium zu einem gemeinsamen
ropean Legal Practice Integrated Studies«, Abschluss der staatlichen Universitäten in
als Akronym für griechisch »Hoffnung«). Hannover, Lissabon und Rouen mit der
Das Netzwerk, initiiert im Jahr 1984 durch Bezeichnung »European Legal Practice –
Prof. Fenge, besteht heute aus rund 36 euro­ LL.M. Joint Degree«. Das Programm wird
päischen Rechtsfakultäten, hinzu kommen durch ein Konsortium koordiniert und
programmbezogene assoziierte Partner auf zeichnet sich durch europäische Mobilität
anderen Kontinenten. Es handelte sich lange der juristischen Studien ebenso aus wie
um das größte europäische Rechtsfakultä­ durch ein integriertes Sprachschema. Als
ten­Netzwerk Europas, welches Studieren­ ERASMUS MUNDUS Pionierkurs hat das
den­ und Dozentenaustausch, Forschungs­ Produkt 12 Jahre ein EU­Label (EMMC)
verbund sowie gemeinsame Projektanträge getragen.
zum Gegenstand hat. Vor allem aber geht es
uns allen um den Ausbau des europäischen Das ELPIS­Netzwerk hat regional noch wei­
Hochschulraums. tere gemeinsame Produkte an seinen Part­
neruniversitäten anzubieten, darunter be­
Das Charakteristische bei ELPIS war stets kannte Sommerakademien im Steuer­ und
das Gespräch zwischen den europäischen Europarecht, integrierte Curricula euro­
Partnern, das verlässlich, unmittelbar und päischer Universitäten und gemeinsame
jederzeit stattfindet. Die Studienangebote Publikationen. Auch hat die juristische Fa­
und Förderschemata, wie ERASMUS MUN­ kultät in Hannover, deren Stärke nicht zu­
DUS und TEMPUS, entwickelten sich zu letzt auf ihrem internationalen Fokus be­
neuen Formen, Elemente der juristischen ruht, überdies noch weitere internationale
Praxis gehörten stets dazu. Projekte vorzuweisen.

So vermittelt der ELPIS I­Studiengang im Prof. Dr. Bernd Oppermann
Regelfall in Ergänzung des Staatsexamens­ Institut für Deutsches und Europäisches
studiums Kenntnisse des Rechts in ver­
schiedenen europäischen Rechtsordnungen Privatrecht und Wirtschaftsrecht

42

Steuerverwaltung
Niedersachsen

Das Landesamt für Steuern Niedersachsen
sucht zum nächstmöglichen Zeitpunkt

Volljuristinnen / Volljuristen

mit fundierten juristischen Kenntnissen für Führungs- und Leitungsaufgaben in der
Steuerverwaltung Niedersachsen.

Soweit die beamtenrechtlichen Voraussetzungen vorliegen, werden Sie im zweiten Einstieg-
samt der Laufbahngruppe 2 (ehemals höherer Dienst) als Regierungsrätin/-rat auf Probe
(Besoldungsgruppe A13 NBesO) eingestellt.

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unserer Homepage www.lstn.niedersachsen.de unter der Rubrik Job & Karriere/Ausbil-
dung/Stellen/Regierungsrätin/-rat.

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E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Was Europa
mit der Vergabe von Krediten zu tun hat

DAS BEISPIEL IMMOBILIENKAUF

Wie sehr das nationale Recht

von der EU-Normsetzung

durchdrungen ist, zeigt sich

besonders deutlich

am Beispiel des Wirtschafts-

rechts. Das deutsche Wirt-

schaftsrecht basiert inzwischen

zu etwa 80 Prozent auf euro-

päischen Vorgaben.

Eine Wissenschaftlerin vom

Institut für Deutsches und 1
Europäisches Privat- und

Wirtschaftsrecht beschreibt I. Der Traum vom Eigenheim Im Mittelpunkt stand dabei wiederum führte in manchen
die Auswirkungen dieses und dessen Finanzierung bis zum Jahre 2016 insbeson­ Fällen sogar zur Obdachlosig­
dere, dass die zu erwerbende keit der betroffenen Personen.
Befunds auch auf den einzelnen Viele Menschen hegen, nicht Immobilie werthaltig ist. Dies
Bürger beispielhaft am zuletzt aufgrund steigender festzustellen war auch das II. Der europäische Gesetzgeber
Mieten und der geringen Ver­ Ziel der dem Darlehensgeber und die Kreditwürdigkeits-
Wohnimmobilienkreditrecht. zinsung des Ersparten, den in § 18 Kreditwesengesetz prüfung
Wunsch nach den sogenann­ (KWG) aufsichtsrechtlich vor­
ten eigenen vier Wänden. Der geschriebenen Kreditwürdig­ Ein Anliegen des europä­
Erwerb einer Wohnimmobilie keitsprüfung. ischen Gesetzgebers war es
ist regelmäßig mit der Auf­ daher, Missstände bei der Ver­
nahme eines Kredits bei Die Wohnimmobilienengage­ gabe von Wohnimmobilien­
einer Bank oder Sparkasse ments der Verbraucher krediten zu beseitigen. Es war
verbunden. führten in der Praxis immer von einer »verantwortungs­
wieder dazu, dass der Kredit vollen Kreditvergabe« aus
Der Kreditgeber prüft bei der nicht mehr zurückgezahlt Verbraucherschutzgründen
Vergabe eines Kredits schon werden konnte. Die Kon­ die Rede. Die Banken und
aus eigenem Interesse, ob ein sequenz war häufig eine Sparkassen würden bei ihrer
solcher im Falle einer Nicht­ Zwangsversteigerung der er­ Kreditentscheidung nicht hin­
rückzahlung abgesichert ist. worbenen Immobilie. Dies

44

E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

reichend berücksichtigen, ob Wohnimmobilien­Kreditver­ Rechtsunsicherheiten beseiti­ Abbildung 1
der Kreditnehmer den Kredit gabe unter anderem nur noch gen sollte. Zugutehalten muss Das deutsche Wirtschaftsrecht
mit den ihm zur Verfügung dann gestattet sein soll, wenn man diesem, dass diejenigen basiert zu einem großen Teil auf
stehenden Mitteln zurück­ der Kreditgeber eine einge­ Punkte, die der deutsche europäischen Vorgaben.
zahlen kann. Vielmehr werde hende Kreditwürdigkeits­ Gesetzgeber bei seiner Um­ Foto: picture alliance
überwiegend auf die Wert­ prüfung vorgenommen hat. setzung von 2016 »vergessen«
haltigkeit der Immobilie ab­ Es muss wahrscheinlich sein, hatte, im Gesetz ergänzt wur­ Abbildung 2
gestellt. dass der Verbraucher seinen den. So darf beispielsweise Um eine Immobilie erwerben
Verpflichtungen aus dem Kre­ nun »hauptsächlich« der Im­ zu können, müssen viele Käufer
Gleichzeitig ging es dem EU­ ditvertrag nachkommen kann, mobilienwert berücksichtigt einen Kredit aufnehmen.
Gesetzgeber um die Vermei­ wobei nicht hauptsächlich auf werden, wenn der Kreditver­ Foto: picture alliance / Ikon Images
dung einer weiteren Finanz­ den Immobilienwert abgestellt trag »zum Bau oder zur Reno­
marktkrise, deren Ursache werden darf (Art. 18 Abs. 1, 3 vierung der Wohnimmobilie«
auch in der unverantwort­ und 5 lit. a) Wohnimmobilien­ dient (§ 505b Abs. 2 Satz 3
lichen Kreditpraxis gegenüber kreditrichtlinie). BGB). Mit dem Begriff »Bau«
den Verbrauchern auf den ist wohl richtlinienkonform
Hypothekenmärkten gesehen III. Die Richtlinienumsetzung der »Ausbau« gemeint.1
wurde. Dass der deutsche in deutsches Recht
Markt, im Gegensatz zu ande­ Nicht vollständig behoben
ren europäischen Märkten, Der deutsche Gesetzgeber sind mit dem Korrekturgesetz
hieran aufgrund regelmäßig setzte diese Richtlinie im von 2017 jedoch die angepran­
festverzinslicher (und nicht gerten Verschlechterungen bei
März 2016 um und nahm ins­ einer Kreditvergabe.2 Auf­
2 besondere die oben genannten grund der zahlreichen unbe­
Punkte in das Darlehensver­ stimmten Rechtsbegriffe des
variabler) Darlehen gar nicht tragsrecht des Bürgerliche Ge­ Gesetzes war zudem die Be­
»Mitauslöser« war, spielte im setzbuchs auf (vgl. § 505a fürchtung aufgekommen, die
europäischen Kontext keine Abs. 1 Satz 2, § 505b Abs. 2 Banken und Sparkassen wür­
Rolle. Und drittens wurde BGB). Damit geriet er sofort den ab jetzt in ihrer Kreditver­
konstatiert, dass die Ge­ heftig in die Kritik. Bemängelt gabe wegen der entstandenen
schäftsgebaren in den EU­ wurde zu Recht vor allem, Rechtsunklarheiten sehr rest­
Mitgliedstaaten bei Abschluss dass es jetzt insbesondere jun­ riktiv verfahren. Eine fehler­
eines Wohnimmobilienkredit­ gen Familien und alten Men­ hafte Kreditwürdigkeitsprü­
vertrags sehr unterschiedlich schen faktisch unmöglich fung des Kreditgebers führt
waren. Damit werde der Wett­ geworden sei, einen Wohnim­ nämlich nach neuem Recht
bewerb und die Auswahl auf mobilienkredit zu erhalten. zu drastischen Rechtsfolgen
dem Markt eingeschränkt. (§ 505d BGB). Sie reichen von
Als Reaktion des Gesetzge­ einer Zinsreduktion bis hin
Aufgrund dieses Szenarios bers trat am 10. Juni 2017 das zur Möglichkeit des Kunden,
schuf der europäische Gesetz­ Finanzaufsichtsrechtergän­ den Kreditvertrag auch noch
geber am 4. Februar 2014 die zungsgesetz in Kraft, das un­ nach vielen Jahren mit der Be­
»Richtlinie über Wohnimmo­ ter anderem die aufgetretenen gründung einer fehlerhaften
bilienkreditverträge für Ver­ Kreditwürdigkeitsprüfung
braucher«. Zentraler Punkt fristlos zu kündigen. Umstrit­
war die Regelung, dass eine ten ist derzeit in der Wissen­
schaft noch, ob der Kunde da­
neben auch Schadensersatz­
ansprüche geltend machen
kann.3

Immerhin enthält das Gesetz
von 2017 eine Rechtsverord­
nungsbefugnis (§ 505e BGB),
auf der nun die Hoffnungen
hinsichtlich einer Konkretisie­
rung der Anforderungen
ruhen. Der Verordnungsvor­
schlag »zur Festlegung von
Leitlinien zu den Kriterien
und Methoden der Kredit­
würdigkeitsprüfung« ist aller­
dings sehr allgemein gehalten.

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E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Prof. Dr. Petra Buck-Heeb IV. Die »europäisch bedingten« Familie. Eine akribische Kre­ V. Fazit
Jahrgang 1963, hat am Institut Schwierigkeiten, einen ditwürdigkeitsprüfung würde
für Deutsches und Europäi- Kredit zu erhalten solche Fragen zwingend ein­ Zwar haben die europäische
sches Privat- und Wirtschafts- beziehen müssen. Denn nur Richtlinie und das deutsche
recht der Juristischen Fakultät Zentraler Stein des Anstoßes dann ist eine noch immer re­ Umsetzungsgesetz mit dem
der Leibniz Universität den ist nach wie vor die gesetzlich lative, aber gesichertere Prog­ Schutz des Verbrauchers ein
Lehrstuhl für Zivilrecht, Euro- vorgeschriebene Prüfung, ob nose bezüglich der Rückzah­ gutes Ziel vor Augen gehabt.
päisches und Internationales der Kunde den Wohnimmobi­ lungsfähigkeit möglich. Mit den getroffenen Maßnah­
Wirtschaftsrecht inne. Ihre lienkredit »wahrscheinlich« men wurde jedoch teilweise
Arbeits- und Forschungs- zurückzahlen kann (§ 505a Nach der Leitlinien­Rechts­ »danebengeschossen«. An den
schwerpunkte sind Kapital- Abs. 1 Satz 2 BGB). Wann eine verordnung soll zwar davon »Pranger« gestellt wurde bis­
gesellschaftsrecht, Bank- und solche Wahrscheinlichkeit abgesehen werden können, lang in der Öffentlichkeit der
Kapitalmarktrecht, Informa- gegeben sein soll, ist bislang statistisch mögliche Szenarien deutsche Gesetzgeber. Dass
tionsmanagement in Unter- nur unzureichend ausgelotet. im Sinne von allgemeinen ihm aber in zahlreichen Punk­
nehmen, Compliance sowie Diesbezüglich hat der Dar­ Lebensrisiken (Ehescheidung, ten »die Hände gebunden«
Selbstregulierung im Privat- lehensgeber laut Gesetz die Arbeitslosigkeit usw.) zu be­ sind, darf dabei nicht verges­
recht. Kontakt: buck@jura. finanziellen und wirtschaft­ rücksichtigen, wenn nicht sen werden. Konkret ist es
uni-hannover.de lichen Umstände des Darle­ konkrete Anhaltspunkte vor­ jedenfalls derzeit weder der
hensnehmers »eingehend« zu liegen (§ 4 Abs. 3 VO­Ent­ Praxis noch der Wissenschaft
prüfen, wobei die relevanten wurf). Welche und wie viele möglich, festzustellen, wann
Faktoren »angemessen« zu be­ Angaben hierzu vom Kredit­ eine Kreditwürdigkeitsprü­
rücksichtigen sind. Solche und geber zu erfragen sind, wird fung vor den Zivilgerichten
weitere unbestimmte Rechts­ aber offengelassen. Nur be­ wohl standhalten wird.
begriffe machen eine hinrei­ dingt hilft es auch, dass die
chende Kreditwürdigkeits­ zu beachtenden Faktoren vom Eine Konkretisierung der
prüfung schwer. Einzelfall abhängen sollen deutschen Regelungen durch
(§ 2 Abs. 3 VO­Entwurf), und eine nationale Rechtsverord­
Als Parameter sollen nach dass bei der Rückzahlungs­ nung ist schon deshalb nur
dem Gesetz nicht nur das Ein­ prognose ein »nach der Le­ begrenzt hilfreich, weil diese
kommen und die Ausgaben benserfahrung anzunehmen­ Bestimmungen von den Ge­
des Kunden berücksichtigt der Verlauf der Dinge« unter­ richten richtlinienkonform
werden, sondern auch »die stellt werden darf (§ 3 Abs. 1 auszulegen sind. Daher wird
Faktoren …, die für die Ein­ VO­Entwurf). es darauf ankommen, wie die
schätzung relevant sind, ob nationalen und letztendlich
der Darlehensnehmer seinen Hinzu kommt ein Weiteres: die europäischen Richter die
Verpflichtungen aus dem Dar­ Selbst wenn der potenzielle einzelnen Rechtsbegriffe aus­
lehensvertrag voraussichtlich Kunde den »Verdacht« hat, die legen. Ein misslicher Zustand
nachkommen kann« (§ 505b Bank habe die Kreditgewäh­ nicht nur für die Banken und
Abs. 2 Satz 2 BGB). Welche rung aufgrund einer fehler­ Sparkassen, sondern auch für
Faktoren das genau sein sol­ haften, weil viel zu strengen den Verbraucher.
len, bleibt offen. Kreditwürdigkeitsprüfung
abgelehnt oder wenn er Hin­ Verweise
Einigkeit besteht immerhin weise darauf hat, dass die
darüber, dass der Kreditsach­ Bank falsche (negative) Infor­ 1 Omlor, NJW 2017, 1633, 1636.
bearbeiter nun nicht nur die mationen hierfür verwendet 2 Siehe etwa Buck-Heeb, WM 2017, 1329
Haben­ und Soll­Seite ver­ hat, kann er diese weder dar­
gleicht, sondern auch eine auf verklagen, ihm den Kredit ff.; Harnos, JZ 2017, 552 ff.
Prognose darüber abgeben zu gewähren noch die Kredit­ 3 Vgl. Buck-Heeb, NJW 2016, 2065 ff.
muss, ob der Kreditnehmer würdigkeitsprüfung zu wie­ 4 Vgl. Omlor, NJW 2017, 1633 f.; König,
den Kredit auch in der Zu­ derholen. Insofern herrscht
kunft bis zur vollständigen (noch immer) Vertragsfreiheit WM 2017, 269, 273 ff.
Tilgung zurückzahlen kann. mit dem Recht zur Ablehnung
Wie diese langfristige Ein­ eines Vertragsschlusses durch
schätzung hinreichend erfol­ die Bank. Der einzige Weg,
gen kann, ist nicht klar.4 Offen der dem Kunden bleibt, ist,
ist, ob deshalb die Kunden sich an eine andere Bank zu
etwa nach der Familienpla­ wenden. Sofern diese jedoch
nung gefragt werden müssen, erfragt, ob bereits anderweitig
beispielsweise nach Schei­ ein Darlehen »beantragt« und
dungsgedanken, nach Krank­ abgelehnt wurde, könnte für
heiten und/oder nach erblich den Kunden die Traumimmo­
bedingten Handycaps in der bilie »in weite Ferne« rücken.

46

im Sockelgeschoss des Welfenschlosses,

LeibnizSHOPWelfengarten 1, 30167 Hannover

Welfenschloss
Welfengarten 1
30167 Hannover

Öffnungszeiten

Montag bis Freitag
10.00 - 14.00 Uhr

www.leibnizshop.de

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E U R O P A VIELFÄLTIGE GESCHICHTE – GEMEINSAME IDENTITÄT?

Europa jetzt auch digital?

DIE »DIGITAL SINGLE MARKET«-STRATEGIE DER EU

Digitale Technologien sind aus Die Europäische Kommission 1 dafür hat die EU­Kommission
unserem Leben nicht mehr hat im Jahr 2015 eine Strategie unter anderem die fehlende
wegzudenken. Sie sind nicht für einen digitalen Binnen­ Handel sowohl auf Unterneh­ Rechtsharmonisierung im Be­
nur Grundlage vieler Wirt- markt in Europa, einen »Digi­ mer­ als auch Verbrauchersei­ reich des Online­Handels aus­
tal Single Market« vorgestellt te zu beseitigen, ist zunächst gemacht, insbesondere etwa
schaftsbereiche, sondern auch (COM/2015/192 final), um das sicherzustellen, dass die EU­ im Hinblick auf den Handel
fester Teil des Arbeits- und Potenzial dieses großen Wirt­ Bürger überhaupt über einen mit digitalen Inhalten wie
Privatlebens geworden – schaftsraums besser auszu­ (bezahlbaren) Zugang zum In­ eBooks, die dazu führt, dass
und das in allen Mitglieds- schöpfen. Diese Strategie soll ternet verfügen. Um auch die Verbraucher und Unterneh­
staaten der Europäischen die zwischen den Mitglied­ Versorgung mit Breitbandin­ mer angesichts der (mindes­
Union. Aus diesem Grund hat staaten bestehenden recht­ ternet in ländlichen Regionen tens) 28 unterschiedlichen
die Europäische Kommission lichen und tatsächlichen Bar­ zu gewährleisten, sollen In­ rechtlichen Rahmenbedin­
im Jahr 2015 eine Strategie rieren beseitigen und damit vestitionen in den Kabelnetz­ gungen verunsichert sind. Um
für einen digitalen Binnen- die Mitgliedstaaten nicht nur ausbau angeregt und insbe­ das Vertrauen in den grenz­
markt entworfen. sprichwörtlich besser vernet­ sondere die Funkfrequenzen überschreitenden Online­
Drei Wissenschaftler vom zen. Durch den Ausbau des für drahtloses Internet auf Handel zu stärken, wird
Institut für Rechtsinformatik digitalen Marktes sollen das einer einheitlichen Grundlage daher eine weitere Vereinheit­
erläutern die Hintergründe. Waren­ und Dienstleistungs­ verwaltet werden. Neben der lichung sowie die Verein­
angebot für die Bürger erwei­ fehlenden technischen Infra­ fachung der Durchsetzbarkeit
tert und mehr Absatzmög­ struktur hat sich in der Ver­ dieser Rechte angestrebt. Zwei
lichkeiten und damit letztlich gangenheit auch die (Rechts­) wichtige Richtlinienvorschlä­
auch mehr Arbeitsplätze ge­ Unsicherheit als Hemmschuh ge zu diesem Thema befinden
schaffen werden, sodass da­ für den grenzüberschreiten­ sich derzeit im Gesetzge­
mit nicht nur das Leben der den Online­Handel erwiesen. bungsverfahren (COM/2015/
über 500 Millionen EU­Bürger Nur 38 Prozent der Verbrau­ 634 final; COM/2017/637 final).
bereichert, sondern auch cher fühlten sich im Jahr 2015 Die neuen Rechte sind aber
die Gesamtwirtschaft der EU bei Online­Einkäufen bei wenig wert, wenn man sie
maßgeblich (die Rede ist von Händlern aus anderen EU­ nicht durchsetzen kann. Des­
einem Betrag von insgesamt Mitgliedstaaten sicher. Dieses halb wurde mit der Verord­
415 Mrd. Euro) gestärkt wird. Unsicherheitsgefühl war auch nung über Online­Streitbei­
Die Umsetzung dieses »Fahr­ auf Unternehmerseite zu legung in Verbraucherangele­
plans zur Vollendung des verzeichnen, von denen über­ genheiten (Verordnung (EU)
digitalen Binnenmarkts« hat haupt nur 7 Prozent ihre Wa­ Nr. 524/2013) ein Instrument
bereits zu einigen medien­ ren im gesamten EU­Ausland
wirksamen Neuregelungen angeboten haben. Als Grund
geführt. In diesem Beitrag sol­
len einige der bereits erreich­
ten Resultate vorgestellt und
die weiteren bis zum Jahr 2020
angestrebten Ziele skizziert
werden.

Ein wichtiger Aspekt des
digitalen Binnenmarkts ist der
Online­Handel. Um die
Hemmnisse vor dem grenz­
überschreitenden Online­

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