Zwischen Ausbeutung und Abschiebung
Stand: 17.11.2021 05:01 Uhr
Täglich kommen im Iran Tausende Menschen an, die aus dem Nachbarland
Afghanistan geflohen sind. Dann stehen sie buchstäblich auf der Straße. Selbst wer
Arbeit findet, lebt in Angst - denn der Iran ist selbst am Limit.
Von Katharina Willinger, ARD-Studio Teheran
"Ihr habt doch sicher gesehen, wie sich meine Landsleute in ihrer Verzweiflung an Flugzeuge
geklammert haben und dabei umgekommen sind, oder?" Firouzehs Aussage klingt weniger
nach einer Frage als nach einer traurigen Feststellung. Die 26-jährige Afghanin sitzt im
Süden der iranischen Hauptstadt Teheran in einem kleinen Innenhof und spricht über die
Erlebnisse der vergangenen Monate, über die dramatischen Ereignisse in Kabul während
der Machtergreifung der Taliban.
Wenige Tage bevor die Taliban die afghanische Hauptstadt einnahmen, entschloss sich
die junge Frau gemeinsam mit ihrem Mann Mohammad und ihren drei Kindern, zu fliehen.
"Meine Kinder hatten ständig Angst vor den Taliban", erzählt Firouzeh und gestikuliert
dabei mit den Händen. "Wir natürlich auch, ständig haben wir uns versteckt. Die Taliban
haben aus den Dörfern einfach Frauen mitgenommen, sogar junge Mädchen. Sie
vergewaltigen und töten."
Bis nach Teheran schlugen sie sich durch, dort standen sie zunächst auf der Straße und
suchten nach Arbeit, ohne Besitz, ohne Papiere und Geld. Eines Morgens kam Hossein
vorbei, ein Landsmann, der bereits seit einigen Jahren im Iran lebt. "Ich war auf dem Weg
zum Bäcker, um Brot zu kaufen", erzählt er. "Da sah ich die Familie einfach so da stehen.
Mohammad hat mich gegrüßt und mich gefragt, ob ich einen Arbeitsplatz für ihn finden
kann. Ich habe gesagt: Nein, aber ich kann dich für ein paar Tage aufnehmen."
30.000 Abschiebungen in einer Woche
Aus den Tagen sind inzwischen drei Monate geworden. Die Familie schläft nachts im
Garten eines Anwesens, in dem Hossein als Hausmeister arbeitet. Tagsüber sitzen sie in
einem nahe gelegenen Park, immer die Angst im Nacken, von der iranischen Polizei
aufgegriffen und abgeschoben zu werden. Die sozialen Medien sind voll mit Berichten
über derartige Fälle - und auch die Internationale Organisation für Migration geht davon
aus, dass allein in der letzten Oktoberwoche knapp 30.000 Afghanen trotz drohender
Gefahr und der katastrophalen humanitären Lage von den iranischen Behörden ins
Heimatland deportiert wurden.
So auch die 26 Jahre alte Alina, deren echten Namen wir hier nicht nennen. Ihr Bruder
berichtet, er sei in großer Sorge um die Schwester, die am helllichten Tag in Teheran von
der Polizei festgenommen worden sei. Die Familie gehört einer Minderheit an, die von den
Taliban verfolgt werden. Die junge Frau sei nun in Kabul auf sich alleine gestellt und halte
sich derzeit versteckt, erzählt er. Der Rest der Familie sucht nach einem Weg, sie zurück
in den Iran zu bringen.
Jan Egeland, Mitarbeiter einer norwegischen Hilfsorganisation, geht davon aus, dass allein
seit der Machtübernahme durch die Taliban mindestens 300.000 Afghanen in den Iran
geflohen sind. Weiterhin kämen 4000 bis 5000 neue Menschen täglich, so Egeland.
"Tausende von erschöpften Frauen, Kindern und Männern überqueren jeden Tag die
Grenze von Afghanistan in den Iran auf der Suche nach Sicherheit."
Millionen Afghanen im Iran - ohne Rechte
Doch angesichts einer drohenden Abschiebung ist diese Sicherheit trügerisch. Die
Flüchtlingspolitik im Iran bietet ihnen nämlich genau diese Sicherheit nicht. Denn die
Lebensrealität der meisten Afghanen im Iran ist äußerst schwierig. Bereits vor der
Machtübernahme der Taliban sollen laut der UN mehr als drei Millionen Afghanen im Iran
gelebt haben, der Großteil illegal. Vielerorts werden sie als billige Arbeitskräfte
ausgebeutet, den meisten afghanischen Kindern bleibt der Zugang zum iranischen
Bildungssystem verwehrt, auch dann wenn sie im Iran geboren sind.
Die dreifache Mutter Firouzeh möchte deshalb nicht länger im Iran bleiben. Hier habe ihre
Familie keine Zukunft. Ein bis zweimal die Woche macht sie sich auf den Weg in die
Teheraner Innenstadt zur Deutschen Botschaft. Dort versammeln sich regelmäßig
Afghanen - in der Hoffnung, Informationen über mögliche Asylchancen in Europa zu
erhalten. "Diese Länder müssen sich doch Gedanken machen, was mit uns Flüchtlingen
passiert", fragt sich Firouzeh.
Ihre Chancen und die der meisten Afghanen, auf legalem Weg nach Europa zu kommen,
stehen mehr als schlecht. Länder wie Deutschland nehmen nur Härtefalle auf: etwa
ehemalige Mitarbeiter der Bundeswehr oder deutscher Organisationen. Beides trifft auf
Firouzeh und ihre Familie nicht zu. "Ich weiß, Deutschland hat schon viele Flüchtlinge
aufgenommen", sagt sie. "Aber wenn der Iran uns rauswirft, wo sollen wir denn hin?
Wieder in den Krieg zurück?"
Quelle: https://www.tagesschau.de/ausland/asien/iran-flucht-afghanistan-101.html
Aufgabe 1) Klären Sie zunächst die Bedeutung der folgenden Begriffe:
Aufgabe 2) Lesen Sie den Text „Zwischen Ausbeutung und Abschiebung“ und bearbeiten
Sie anschließend die Aufgaben.
a) Im Text sind einige Wendungen unterstrichen. Wie könnte man sie anders formulieren.
Schreiben Sie mögliche Varianten auf.
b) Notieren Sie neben den einzelnen Absätzen kurz, worum es in diesem Teil des Textes geht.
c) Benennen Sie die Gründe dafür, dass Afghanen ihr Land verlassen.
d) Erstellen Sie einen kurzen Steckbrief von Firouzeh mit wichtigen Infos zu ihrem Leben.
e) Erläutern Sie, welche Probleme afghanische Flüchtlinge im Iran haben.
Aufgabe 3) Reflexion und Brainstorming. Beantworten Sie folgende Fragen zunächst für
sich persönlich! Diskutieren Sie dann Ihre Ergebnisse in Ihrer Gruppe.
a) Was ist ihr Heimatland?
b) Was würden Sie an Ihrem Heimatland am meisten vermissen?
c) Aus welchen Gründen würden Sie ihr Heimatland verlassen?
d) Wohin würden Sie gehen und warum.